Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 52024AE0782

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Strategie für die europäische Verteidigungsindustrie (JOIN(2024) 10 final)

    EESC 2024/00782

    ABl. C, C/2024/4663, 9.8.2024, ELI: http://data.europa.eu/eli/C/2024/4663/oj (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, GA, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    ELI: http://data.europa.eu/eli/C/2024/4663/oj

    European flag

    Amtsblatt
    der Europäischen Union

    DE

    Reihe C


    C/2024/4663

    9.8.2024

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Strategie für die europäische Verteidigungsindustrie

    (JOIN(2024) 10 final)

    (C/2024/4663)

    Berichterstatter:

    Maurizio MENSI

    Ko-Berichterstatter:

    Jan PIE

    Berater

    Alberto DAL FERRO (für den Berichterstatter, Gruppe III)

    Vassilis THEODOSOPOULOS (für den Ko-Berichterstatter, Gruppe I)

    Befassung

    Europäische Kommission, 27.3.2024

    Rechtsgrundlage

    Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

    Zuständiges Arbeitsorgan

    Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

    Annahme im Arbeitsorgan

    15.5.2024

    Verabschiedung im Plenum

    30.5.2024

    Plenartagung Nr.

    588

    Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    208/2/10

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Strategie für die europäische Verteidigungsindustrie als wichtigen Schritt zur Stärkung der Verteidigungsbereitschaft Europas und damit seiner Fähigkeit, seine Bürgerinnen und Bürger, sein Hoheitsgebiet, seine Grundwerte und seine Lebensweise zu schützen.

    1.2.

    Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Sicherstellung der Einsatzbereitschaft und Reaktionsfähigkeit der technisch-industriellen Basis der europäischen Verteidigung (European Defence Technological and Industrial Base, EDTIB) ein entscheidender Pfeiler der europäischen Verteidigungsbereitschaft ist, da die EDTIB der einheimische verlässliche Lieferant der topmodernen Hardware, Software und Dienstleistungen ist, die unsere Streitkräfte zur Erfüllung ihres Auftrags benötigen.

    1.3.

    Der EWSA begrüßt die Akzentverschiebung von Sofortmaßnahmen hin zu einer längerfristigen, strukturellen Reaktion, die unerlässlich ist, um die Anpassung der EDTIB an das neue Sicherheitsumfeld zu unterstützen. Insbesondere begrüßt er den Schwerpunkt, dass der europäische Bedarf stärker aus europäischen Quellen gedeckt werden muss. In dieser Hinsicht ist es nicht nur wichtig, dass die europäische Nachfrage gesteigert, konsolidiert und auf die EDTIB ausgerichtet wird, sondern auch, dass die Kapazität der EDTIB zur Deckung dieser Nachfrage verbessert wird.

    1.4.

    Der EWSA begrüßt die Schwerpunktsetzung auf der für die europäische Verteidigungsbereitschaft entscheidenden Versorgungssicherheit, die zurzeit durch die übermäßige Abhängigkeit von außereuropäischen Lieferanten und das Fehlen eines Governance-Mechanismus auf europäischer Ebene im Krisenfall ausgehöhlt wird. Darüber hinaus stellt er fest, dass die vorgeschlagene Regelung zur Versorgungssicherheit verschiedene interessante Elemente enthält, ihre Anwendung jedoch aufgrund der Komplexität der Lieferketten und der möglichen Einstufung der für die Kartierung und Überwachung relevanten Informationen als vertraulich oder geheim schwierig sein könnte.

    1.5.

    Darüber hinaus betont der EWSA, wie wichtig es für die Verwirklichung der Ziele der Strategie ist, dass Partnerschaften mit befreundeten Ländern, die dieselben Werte teilen, genutzt werden. Durch die Beteiligung der Ukraine an den Programmen der EU für die Verteidigungsindustrie und die Förderung engerer Beziehungen zwischen der technisch-industriellen Basis der europäischen und der ukrainischen Verteidigung werden sich für beide Seiten wichtige strategische Vorteile ergeben. Eine engere Abstimmung mit der NATO bei Themen von gemeinsamem Interesse wäre ebenfalls von Vorteil, vorausgesetzt, die Sicherheitsinteressen aller EU-Mitgliedstaaten finden in vollem Umfang Berücksichtigung.

    1.6.

    Zugleich bringt der EWSA sein Bedauern darüber zum Ausdruck, dass die Strategie nicht auf die Wahrnehmung seitens der Öffentlichkeit eingeht. Das ist ein großes Manko, denn die öffentliche Wahrnehmung ist ein zentraler Faktor in demokratischen Gesellschaften und freien Märkten wie den unseren und damit eine wichtige – sowohl politische als auch Marktentscheidungen beeinflussende – Triebfeder hinsichtlich der Herausforderungen, mit denen sich die EDTIB bezüglich der Nachhaltigkeit konfrontiert sieht. Diese Herausforderung muss dringend in Angriff genommen werden, unter anderem durch eine koordinierte EU-weite Kommunikationskampagne, um festgefahrenen Vorurteilen entgegenzuwirken und die europäische Öffentlichkeit dahingehend zu sensibilisieren und bei ihr um Unterstützung dafür zu werben, dass Frieden, Sicherheit, Wohlstand und die Werte Europas geschützt werden müssen, und dass die EDTIB hier einen wesentlichen Beitrag leistet.

    1.7.

    Vor diesem Hintergrund vertritt der EWSA die Auffassung, dass die Strategie, wie im Folgenden dargelegt, gewisse Schwachstellen aufweist. Was die Ziele anbelangt, so wird das entscheidende Instrument für die Umsetzung – das Programm für die europäische Verteidigungsindustrie (European Defence Industry Programme, EDIP) – wahrscheinlich nicht vor Ende 2025 einsatzbereit sein. Daher muss die Strategie durch andere, kurzfristige Maßnahmen ergänzt werden, die auf die Deckung des unmittelbaren Bedarfs abzielen.

    1.8.

    Dementsprechend appelliert der EWSA an die Mitgliedstaaten, der Aufforderung der Kommission nachzukommen und kurzfristig nach Möglichkeiten zu suchen, wie mit den verfügbaren Instrumenten umfangreiche gemeinsame Beschaffungsmaßnahmen im Verteidigungsbereich, die erhebliche Ausweitung der EDTIB und die Inangriffnahme wegweisender Verteidigungsprojekte forciert werden können.

    1.9.

    Der EWSA vertritt zudem die Auffassung, dass es sowohl aus industrieller als auch aus strategischer Sicht von größter Bedeutung ist, dafür Sorge zu tragen, dass die Verteidigungsindustrie Zugang zu Fachwissen, Technologie und Forschung hat. Das geht nicht ohne Investitionen in Ausbildung, Forschung und Strategieentwicklung. Außerdem sollte die erwähnte Kampagne, mit der die europäische Öffentlichkeit für den Beitrag der EDTIB zur Sicherheit, zum Wohlstand und zu den Werten Europas sensibilisiert werden soll, auch darauf ausgerichtet sein, dass die EDTIB künftig für junge Fachkräfte ein attraktives und diverses Arbeitsumfeld bietet. Darüber hinaus sollte im Rahmen der Kampagne auf die Beseitigung von Hindernissen in den Hochschulvorschriften (bspw. den Zivilklauseln in Hochschulen) hingewirkt werden. Es könnten auch ggf. am „militärischen Erasmus-Programm“ orientierte Initiativen zur Förderung der Mobilität von Arbeitskräften im Verteidigungsbereich geprüft werden.

    1.10.

    Der EWSA unterstreicht, dass der Erfolg der Strategie in erster Linie davon abhängt, dass sich die Mitgliedstaaten uneingeschränkt daran beteiligen und dass ihnen der Mehrwert eines europäischen Ansatzes bewusst ist. Daher fordert er die Mitgliedstaaten auf, dafür Sorge zu tragen, dass die Umsetzung unverzüglich erfolgt und mit angemessenen finanziellen Mitteln unterstützt wird. In diesem Zusammenhang unterstützt der EWSA auch die Aufforderung der Kommission an die Europäische Investitionsbank, ihre Richtlinien für die Kreditvergabe zu ändern und die Verteidigungsindustrie in vollem Umfang zu unterstützen, und begrüßt die Klarstellungen bezüglich der Nichteinbeziehung von Verteidigungsaktivitäten in die EU-Umwelttaxonomie. Industrie, Militär, Wissenschaft und Forschung müssen enger zusammenrücken und stärker zusammenarbeiten.

    2.   Hintergrund der Stellungnahme und des erörterten Legislativvorschlags

    2.1.

    Am 5. März 2024 stellten die Europäische Kommission und der Hohe Vertreter erstmals eine Strategie für die europäische Verteidigungsindustrie vor, zusammen mit dem Programm für die europäische Verteidigungsindustrie (EDIP).

    2.2.

    Ziel der Strategie ist es, die Bereitschaft und Wettbewerbsfähigkeit der technisch-industriellen Basis der europäischen Verteidigung (EDTIB) als wesentliche Voraussetzung für die europäische Verteidigungsbereitschaft im weiteren Sinne zu stärken.

    2.3.

    Der Verteidigungsbereitschaft kommt in dem neuen Sicherheitsumfeld, das durch eine drastische Zunahme regionaler und globaler Sicherheitsbedrohungen gekennzeichnet ist, eine entscheidende Bedeutung zu, insbesondere angesichts dessen, dass mit dem unrechtmäßigen und skrupellosen Großangriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 der konventionelle Krieg mit aller Wucht nach Europa zurückgekehrt ist.

    2.4.

    Vor diesem Hintergrund sehen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten mit zwei großen Herausforderungen konfrontiert. Sehr kurzfristig müssen sie in der Lage sein, die Ukraine darin zu unterstützen, der russischen Aggression standzuhalten. Darüber hinaus muss sich die EU schnellstmöglich für den Fall eines größeren Konflikts wappnen. Angesichts der wiederholten Warnungen europäischer Militärexperten, dass Russland immer mehr Ressourcen in seinen Militärapparat leitet und in den nächsten Jahren einen Mitgliedstaat der EU im großen Maßstab hybrid oder militärisch angreifen könnte, ist dies unabdingbar. Ein führender europäischer Politiker sprach in diesem Zusammenhang kürzlich sogar davon, dass Europa in eine Vorkriegsperiode eingetreten sei.

    2.5.

    Um diese Ziele zu erreichen, muss die EDTIB allzeit bereit und in der Lage sein, das gesamte Spektrum der von den europäischen Streitkräften benötigten qualitativ überlegenen Fähigkeiten bereitzustellen.

    2.6.

    Das ist jedoch bislang nicht der Fall. Durch drei Jahrzehnte unzureichender Investitionen in Rüstung und verteidigungsrelevante Ausbildung und Qualifikation in ganz Europa ist die Produktionskapazität der EDTIB erheblich geschwächt worden. Die EU-Mitgliedstaaten haben ihre begrenzten Haushaltsmittel, die zur Beschaffung von Verteidigungsgütern bestimmt waren, überwiegend dazu verwendet, außereuropäische Produkte anzuschaffen, und das in einer unkoordinierten Weise.

    2.7.

    Seit Februar 2022 sind die Ausgaben für Verteidigungsinvestitionen in der gesamten EU stark gestiegen, aber der Trend, diese Beschaffung im Ausland und auf sich alleine gestellt vorzunehmen, hat sich verschärft. Laut einer aktuellen Studie erfolgten zwischen dem Beginn des russischen Angriffskrieges und Juni 2023 im Verteidigungsbereich 78 % der Beschaffungen der EU-Mitgliedstaaten bei Anbietern außerhalb der EU. Ferner wurden nach den jüngsten Zahlen der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) im Jahr 2022 nur 18 % der gesamten Ausgaben für Ausrüstungen in der EU im Rahmen einer gemeinsamen Beschaffung getätigt. Dieser Trend wirkt sich äußerst schädlich auf die EDTIB aus, da er zu entgangenen Einnahmen und Einbußen in den Bereichen Investitionskapazität, Skaleneffekte, Know-how und Produktionskapazität führt.

    2.8.

    Um diese Herausforderung zu meistern, sieht die Strategie für die europäische Verteidigungsindustrie verschiedene Maßnahmen vor, die auf vier Säulen beruhen, nämlich: 1) die gemeinsame Planung der EDTIB sowie Investitionen in sie und die Beschaffung von ihr werden erleichtert, und für die Mitgliedstaaten werden entsprechende Anreize geschaffen (1); 2) Unterstützung der Produktions- und Innovationskapazität der EDTIB und die Schaffung eines EU-Rahmens für die Versorgungssicherheit; 3) durchgängige Berücksichtigung von verteidigungsindustriellen Erwägungen in allen Politikbereichen der EU; sowie 4) Nutzung von Partnerschaften mit der Ukraine, der NATO und anderen Partnern zur Unterstützung dieser Ziele.

    2.9.

    Dabei wird in der Strategie festgestellt, dass die im Rahmen des derzeitigen mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) der EU für das EDIP zur Verfügung stehenden Mittel (1,5 Mrd. EUR) nur für begrenzte Anstrengungen ausreichen, sodass sie kurzfristig durch andere erhebliche Mittel und Finanzierungsquellen ergänzt werden sollten. Für die Zeit nach 2027 wird eine ehrgeizige Finanzausstattung im Rahmen des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens der EU für unerlässlich erachtet.

    2.10.

    In der Strategie werden unverbindliche mittelfristige Ziele für den Anteil des innergemeinschaftlichen Handels mit Verteidigungsgütern auf dem gesamten Verteidigungsmarkt der EU vorgeschlagen.

    3.   Allgemeine Bemerkungen

    3.1.

    Der EWSA begrüßt die Strategie für die europäische Verteidigungsindustrie als wichtigen Schritt zur Stärkung der Verteidigungsbereitschaft Europas und damit seiner Fähigkeit, seine Bürgerinnen und Bürger, sein Hoheitsgebiet, seine Grundwerte und seine Lebensweise zu schützen. Dies ist ein übergeordnetes Interesse sämtlicher Mitgliedstaaten der EU.

    3.2.

    Der EWSA vertritt darüber hinaus die Auffassung, dass die Sicherstellung der Einsatzbereitschaft und Reaktionsfähigkeit der EDTIB ein entscheidender Pfeiler der europäischen Verteidigungsbereitschaft ist.

    3.3.

    Der EWSA begrüßt die Akzentverschiebung von Sofortmaßnahmen hin zu einer längerfristigen, strukturellen Reaktion, die unerlässlich ist, um die Anpassung der EDTIB an das neue Sicherheitsumfeld zu unterstützen.

    3.4.

    Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Strategie ausgehend von den Zuständigkeiten der EU im Verteidigungsbereich alle wichtigen Aspekte des Themenkreises abdeckt – u. a. die Bündelung der Nachfrage, die Unterstützung der Industrie, auch mit Blick auf FuE und Innovation, die Versorgungssicherheit, die Einbeziehung der Verteidigungsbereitschaft in die Politik der EU und Partnerschaften – und einen belastbaren Rahmen und verlässliche Instrumente für weitere Anreize zur europäischen Zusammenarbeit bietet.

    3.5.

    Der EWSA begrüßt insbesondere die Schwerpunktsetzung, dass europäische Quellen stärker auf den europäischen Bedarf ausgerichtet werden müssen. In dieser Hinsicht ist es nicht nur wichtig, dass die europäische Nachfrage gesteigert, gebündelt und auf die EDTIB ausgerichtet wird, sondern auch, dass die Kapazität der EDTIB zur Deckung dieser Nachfrage verbessert wird.

    3.6.

    Die in der Strategie festgelegten mittelfristigen Ziele sind wichtige Fortschrittsindikatoren für die Bewertung und etwaige Kalibrierung künftiger Anstrengungen. Der EWSA bedauert jedoch, dass die Zielvorgaben nicht verpflichtend sind, und ist der Überzeugung, dass sie angesichts der bestehenden Sicherheitsrisiken zu niedrig und zu langsam angesetzt worden sind. Laut Schätzungen der Wirtschaft erfordert der Aufbau einer dem aktuellen Sicherheitsumfeld angemessenen EDTIB, dass 80 % der europäischen Haushaltsmittel, die für die Beschaffung von Verteidigungsgütern bestimmt sind, in Europa investiert werden. Daher ist dies nach Auffassung des EWSA die angemessene Zielvorgabe. Die EU sollte anstreben, dieses Ziel umgehend und spätestens bis 2040 zu erreichen.

    3.7.

    Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten sowie die Europäische Kommission und das Europäische Parlament auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um sicherzustellen, dass diese Ziele nicht nur Wunschvorstellungen bleiben, sondern vollständig verwirklicht werden. So können auch schädliche Fragmentierung und Doppelungen vermieden und knappe Ressourcen effizienter genutzt werden.

    3.8.

    Die durchgängige Berücksichtigung von Überlegungen zur Verteidigungsindustrie in allen Politikbereichen der EU ist eine wichtige Voraussetzung, um dieses Ziel zu verwirklichen. Besonders wichtig ist auch, dass sich die Kommission eindeutig äußert, wenn es um den wesentlichen Beitrag der EDTIB zu Widerstandsfähigkeit und Sicherheit und die Notwendigkeit geht, dass dieser Beitrag auch beim Zugang der Industrie zu Finanzmitteln berücksichtigt wird. Der EWSA stellt sich auch voll und ganz hinter die Aufforderung der Kommission an die Europäische Investitionsbank, ihre Richtlinien für die Kreditvergabe zu ändern und die Verteidigungsindustrie in vollem Umfang zu unterstützen, und begrüßt die Klarstellungen bezüglich der Nichteinbeziehung von Verteidigungsaktivitäten in die EU-Umwelttaxonomie.

    3.9.

    Der EWSA begrüßt ferner, dass in der Strategie die für die Verteidigungsbereitschaft entscheidende Sicherheit hinsichtlich Versorgung, kritischer Rohstoffe, Chips und Fähigkeiten Berücksichtigung findet. Gegenwärtig wird die Versorgungssicherheit in Europa durch die übermäßige Abhängigkeit von außereuropäischen Lieferanten und das Fehlen eines Governance-Mechanismus auf EU-Ebene im Krisenfall ausgehöhlt. Die vorgeschlagene Regelung zur Versorgungssicherheit enthält mehrere interessante Elemente, wie z. B. die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Krisen und abgestufte Maßnahmen sowie die mögliche Unterstützung der strategischen Bevorratung mit Basiskomponenten. Weitere Bestimmungen – bspw. die Öffnung bestehender Rahmenverträge im Krisenfall – könnten die Versorgungssicherheit ebenfalls erheblich verbessern. Gleichzeitig könnte sich die Umsetzung einer derartigen Regelung als problematisch erweisen. Aufgrund der Komplexität der Lieferketten für Verteidigungsgüter wäre eine umfassende Kartierung und Überwachung ressourcenaufwändig und schwierig, insbesondere was die Elemente betrifft, die außerhalb der Union liegen. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass die erforderlichen Informationen möglicherweise als vertraulich oder geheim eingestuft sind. Dieses Problem könnte dadurch abgemildert werden, dass vor allem öffentlich zugängliche Informationen genutzt werden und dass an die freiwillige Informationsbereitstellung appelliert wird. Dies könnte aber gleichzeitig dazu führen, dass die Informationen weniger genau, zutreffend, relevant und vollständig sind.

    3.10.

    Darüber hinaus betont der EWSA, wie wichtig es für die Verwirklichung der Ziele der Strategie ist, dass Partnerschaften mit befreundeten Ländern, die dieselben Werte teilen, genutzt werden. Durch die Beteiligung der Ukraine an den Programmen der EU für die Verteidigungsindustrie und die Förderung engerer Beziehungen zwischen der technisch-industriellen Basis der europäischen und der ukrainischen Verteidigung werden sich für beide Seiten wichtige strategische Vorteile ergeben, und zwar sowohl während des Krieges und nach dem Krieg als auch im Hinblick auf den letztendlichen Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Eine engere Abstimmung mit der NATO bei Themen von gemeinsamem Interesse wäre ebenfalls von Vorteil, vorausgesetzt, die Sicherheitsinteressen aller EU-Mitgliedstaaten finden in vollem Umfang Berücksichtigung.

    3.11.

    Zugleich bringt der EWSA sein Bedauern darüber zum Ausdruck, dass die Strategie nicht gezielt auf die Wahrnehmung seitens der Öffentlichkeit eingeht. Das ist ein großes Manko, denn die öffentliche Wahrnehmung ist ein zentraler Faktor in demokratischen Gesellschaften und freien Märkten wie den unseren und damit eine wichtige – sowohl politische als auch Marktentscheidungen beeinflussende – Triebfeder hinsichtlich der Herausforderungen, mit denen sich die EDTIB bezüglich der Nachhaltigkeit konfrontiert sieht. Insbesondere erachtet ein erheblicher Anteil der Unionsbürgerinnen und -bürger die Verteidigungsindustrie nach wie vor als „nicht nachhaltig“ und als Belastung für die Sozialausgaben und daher als nicht förderungswürdig, wobei sie sowohl den unverzichtbaren Beitrag der Verteidigung zum öffentlichen Gut „Sicherheit“ als auch die für beide Seiten vorteilhafte gegenseitige Befruchtung von zivilen und militärischen Technologien und Innovationen übersehen. Diese Fehleinschätzungen können durch Informationsmanipulation und Einflussnahme auf unsere Gesellschaften und politischen Prozesse aus dem Ausland im Rahmen hybrider Kampagnen seitens böswilliger Akteure, insbesondere Russlands, noch verschärft werden. Aus der negativen Wahrnehmung der Rüstungsindustrie ergeben sich für die EDTIB erhebliche Herausforderungen nicht nur beim Zugang zu Finanzmitteln, sondern auch beim Zugang zu Versicherungen, Energie, Einrichtungen und Kompetenzen. Diese Herausforderung muss dringend in Angriff genommen werden, unter anderem durch eine koordinierte EU-weite Kommunikationskampagne, um festgefahrenen Vorurteilen entgegenzuwirken und die europäische Öffentlichkeit dahingehend zu sensibilisieren und bei ihr um Unterstützung dafür zu werben, dass Frieden, Sicherheit, Wohlstand und die Werte Europas geschützt werden müssen, und dass die EDTIB hier einen wesentlichen Beitrag leistet. Es ist die Pflicht der politischen Führungsspitzen, den Bürgerinnen und Bürgern in unseren freien und demokratischen Gesellschaften in Erinnerung zu rufen, dass Frieden und Freiheit nicht umsonst zu haben sind und verteidigt werden müssen. Gleichzeitig sollte das im Strategischen Kompass vorgesehene EU-Instrumentarium zur Abwehr hybrider Bedrohungen auch dazu eingesetzt werden, die EDTIB vor hybriden Bedrohungen zu schützen.

    3.12.

    Insgesamt begrüßt der EWSA, dass mit der Strategie die außergewöhnliche Herausforderung anerkannt wird, die sich für Europa aus der russischen Aggression ergibt. Zugleich sieht sich Europa aber auch mit anderen erheblichen Risiken konfrontiert, z. B. mit anhaltenden und potenziellen künftigen Konflikten in seiner Nachbarschaft und in anderen Teilen der Welt sowie mit dem potenziellen Rückzug seines wichtigsten Verbündeten. Die Strategie kommt zu einem Zeitpunkt, an dem diese Herausforderungen akut geworden sind und die seit langem erörterte Notwendigkeit, dass Europa mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernimmt, dringlich geworden ist. Der eigentliche Lackmustest für die Strategie wird daher sein, ob sie diesen Herausforderungen gewachsen ist.

    3.13.

    Vor diesem Hintergrund vertritt der EWSA die Auffassung, dass die Strategie, wie im Folgenden dargelegt, gewisse Schwachstellen aufweist. Was die Ziele anbelangt, so wird das entscheidende Instrument für die Umsetzung – das EDIP – wahrscheinlich nicht vor Ende 2025 einsatzbereit sein. Dieser Zeitrahmen ist nicht geeignet, den dringenden Bedarf der Ukraine zu decken und die kurzfristigen Fähigkeitslücken der Mitgliedstaaten zu schließen, die umgehende Maßnahmen erfordern. Daher muss die Strategie durch andere, kurzfristige Maßnahmen ergänzt werden, die auf die Deckung des unmittelbaren Bedarfs abzielen.

    3.14.

    Der EWSA unterstreicht zudem, dass die Kommission und der Hohe Vertreter mit der Strategie zwar einen Paradigmenwechsel beim Ansatz der EU gegenüber der Verteidigungsindustrie ankündigen, die Strategie selbst aber nicht die kriegsbereite verteidigungsindustrielle Basis schaffen wird, die Europa braucht. Denn es sind die Mitgliedstaaten, die über die notwendigen Ressourcen und Entscheidungsbefugnisse verfügen, um eine Trendwende bei der Beschaffung von Verteidigungsgütern zu vollziehen, bei Fähigkeitsprogrammen zusammenzuarbeiten und im öffentlichen Bewusstsein die Einsicht zu verankern, dass Verteidigung ein Garant für Sicherheit ist. Die Kommission kann die Mitgliedstaaten durchaus auffordern, in diesem Sinne tätig zu werden, und sie kann entsprechende Anreize setzen, aber die derzeit verfügbaren Anreize sind begrenzt und – was die Finanzierung anbelangt – letztlich auch von der Bereitschaft der Mitgliedstaaten abhängig.

    3.15.

    Der EWSA betont, dass seit Jahrzehnten bei einer Vielzahl von verteidigungsrelevanten Themen eine große Diskrepanz zwischen den Worten und den Taten der Mitgliedstaaten besteht, von der Harmonisierung der militärischen Anforderungen und Kooperationsvorhaben bis hin zum anhaltenden, unter die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallenden Ausschluss des Verteidigungsbereichs in den Anlagerichtlinien vieler nationaler Rentenfonds, um nur einige Beispiele zu nennen. Vor allem ist die Verteidigung in den Mitgliedstaaten häufig als nachrangiges Thema statt als grundlegende Priorität betrachtet worden. Darüber hinaus sind Verteidigungshaushalte – und insbesondere ihre Investitionskomponenten – bei finanziellen Engpässen häufig dazu genutzt worden, den Staatshaushalt zu regulieren.

    3.16.

    Der EWSA stimmt auch mit der Einschätzung der Kommission überein, dass die bislang für die Umsetzung der Strategie zur Verfügung stehenden Mittel unzureichend sind. Das für das EDIP vorgeschlagene Budget in Höhe von 1,5 Mrd. EUR ist mit Blick auf den europäischen Bedarf und die europäischen Verteidigungsausgaben zu gering, um strukturelle Auswirkungen auf den Markt zu haben. Gleichzeitig ist die potenzielle Verwendung der Zufallsgewinne aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten zur Finanzierung des EDIP noch keineswegs sicher.

    3.17.

    Dementsprechend appelliert der EWSA an die Mitgliedstaaten, der Aufforderung der Kommission nachzukommen und kurzfristig nach Möglichkeiten zu suchen, wie mit den verfügbaren Instrumenten umfangreiche gemeinsame Beschaffungsmaßnahmen im Verteidigungsbereich, die erhebliche Ausweitung der EDTIB und die Inangriffnahme wegweisender Verteidigungsprojekte forciert werden können. Als besonders wichtiger Faktor für die Finanzierung entsprechender Projekte könnte sich die vorgesehene Berücksichtigung von Verteidigungsinvestitionen im Rahmen des überarbeiteten Stabilitäts- und Wachstumspakts erweisen.

    3.18.

    Der EWSA schließt sich der Einschätzung der Kommission an, dass für die Verwirklichung der Ziele der Strategie im Rahmen des nächsten MFR eine wahrhaft ehrgeizige Finanzausstattung erforderlich sein wird. Im Sinne einer auf die neue Ära des strategischen Wettbewerbs abgestimmte EDTIB sollte die EU-Haushaltslinie für Verteidigung für den Zeitraum 2028–2035 in der Größenordnung von 100 Mrd. EUR liegen. Dies wäre der notwendige Finanzrahmen für eine angemessene Finanzierung von FuE-Projekten eines gestärkten Europäischen Verteidigungsfonds und für Anreize und Förderung einer gemeinsamen Beschaffung und Erhaltung von Kapazitäten durch die Mitgliedstaaten – insbesondere der zentralen Elemente – sowie für die Unterstützung der Industrie bei der Steigerung ihrer Kapazitäten und ihrer Produktivität sowie für die Widerstandsfähigkeit der Lieferkette im Rahmen eines vollwertigen Nachfolgeprogramms des EDIP.

    3.19.

    Der EWSA vertritt zudem die Auffassung, dass es sowohl aus industrieller als auch aus strategischer Sicht von größter Bedeutung ist, dafür Sorge zu tragen, dass die Verteidigungsindustrie Zugang zu Fachwissen hat. Zu diesem Zweck sollte die erwähnte Kampagne, mit der die europäische Öffentlichkeit für den Beitrag der EDTIB zur Sicherheit, zum Wohlstand und zu den Werten Europas sensibilisiert und um entsprechende Unterstützung geworben werden soll, auch darauf ausgerichtet sein, dass die EDTIB künftig für junge Fachkräfte ein attraktives und diverses Arbeitsumfeld bietet. Darüber hinaus sollte im Rahmen der Kampagne auf die Beseitigung von Hindernissen in den Hochschulvorschriften (bspw. den Zivilklauseln in Hochschulen) hingewirkt werden. Es könnten auch ggf. am militärischen Erasmus-Programm orientierte Initiativen zur Förderung der Mobilität von Arbeitskräften im Verteidigungsbereich geprüft werden.

    3.20.

    Als Fazit vertritt der EWSA die Auffassung, dass die Strategie für die europäische Verteidigungsindustrie eine wichtige Anerkennung der Herausforderungen, mit denen sich Europa konfrontiert sieht, und der dringenden Notwendigkeit umfassender Anstrengungen zur Stärkung der Einsatzbereitschaft und Wettbewerbsfähigkeit der EDTIB darstellt. Zugleich machen die zur Erreichung dieses Ziels vorgeschlagenen Maßnahmen die Grenzen der Zuständigkeiten und Ressourcen der EU im Verteidigungsbereich augenfällig.

    3.21.

    Der EWSA unterstreicht, dass der Erfolg der Strategie in erster Linie davon abhängt, dass sich die Mitgliedstaaten uneingeschränkt daran beteiligen und den Mehrwert eines europäischen Ansatzes anerkennen.

    3.22.

    Im Übrigen vertritt der EWSA die Auffassung, dass nur die Staats- und Regierungschefs die Führung übernehmen und die konkrete Einwilligung der Mitgliedstaaten herbeiführen können, die dringend erforderlich ist, um die Verteidigungsbereitschaft Europas und die Bereitschaft der Verteidigungsindustrie Europas wesentlich zu verbessern.

    3.23.

    Deshalb fordert der EWSA parallele Anstrengungen auf der Ebene des Europäischen Rates, die über die Strategie für die europäische Verteidigungsindustrie hinausgehen und sicherstellen, dass die europäische Verteidigung und die EDTIB die umfassende Unterstützung der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments erhalten, die zur Stärkung der technologischen Souveränität und strategischen Autonomie Europas im aktuellen äußerst komplexen Sicherheitsumfeld erforderlich ist.

    3.24.

    Des Weiteren betont der EWSA, dass die europäische Verteidigungsindustrie einer der Industriezweige ist, die für die künftige strategische Autonomie Europas von entscheidender Bedeutung sind, und zwar nicht nur, weil der Verteidigung an sich ein zentraler Stellenwert zukommt, sondern auch, weil die in der Verteidigung tätigen Unternehmen darüber hinaus Schlüsselakteure in Europas strategisch wichtigem Raumfahrtsektor sind und für den Schutz der kritischen digitalen Infrastruktur Europas zuverlässige hochmoderne Cybersicherheitslösungen entwickeln.

    3.25.

    In Anbetracht des zunehmend bedrohlichen geopolitischen Umfelds und der potenziellen gravierenden Folgen für die gemeinsame europäische Sicherheit, die bei einer unkoordinierten und ineffektiven Umsetzung der Strategie und anderer entsprechender Maßnahmen drohen, fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, alle Möglichkeiten auszuloten, um die bestehenden Vertragsbestimmungen vollumfänglich dazu zu nutzen, schrittweise eine gemeinsame Verteidigungspolitik zu entwerfen, die letztendlich in eine gemeinsame Verteidigung münden könnte.

    Brüssel, den 30. Mai 2024

    Der Präsident

    des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Oliver RÖPKE


    (1)  Siehe Verordnung (EU) 2023/2418 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Oktober 2023 über die Einrichtung eines Instruments zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung (EDIRPA) (ABl. L, 2023/2418, 26.10.2023, ELI: http://data.europa.eu/eli/reg/2023/2418/oj) und die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Instruments zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung“ (COM(2022) 349 final) (ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 168).


    ELI: http://data.europa.eu/eli/C/2024/4663/oj

    ISSN 1977-088X (electronic edition)


    Top