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Document 52022IE4219

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Strategischer Kompass der EU“ (Initiativstellungnahme)

EESC 2022/04219

ABl. C 140 vom 21.4.2023, p. 20–27 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, GA, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

21.4.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 140/20


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Strategischer Kompass der EU“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 140/04)

Berichterstatter:

Christian MOOS

Ko-Berichterstatter:

Peter CLEVER

Beschluss des Plenums

14.7.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 GO

 

Initiativstellungnahme

Zuständiges Arbeitsorgan

Fachgruppe Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

20.12.2022

Verabschiedung im Plenum

24.1.2023

Plenartagung Nr.

575

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

163/1/5

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1.

Der Strategische Kompass ist ein bedeutender Fortschritt. Es handelt sich dabei um ein Bündel sehr wichtiger, konkreter Projekte und Maßnahmen zur Verbesserung der europäischen Sicherheit. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Ansicht, dass er zu einer umfassenden Strategie für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik ausgebaut und die Zivilgesellschaft in diesen Prozess einbezogen werden muss.

1.2.

Der EWSA betont, dass Sicherheit weit über die Verteidigung hinausgeht und eine umfassende EU-Sicherheitsstrategie auch auf zivile und präventive Aspekte ausgerichtet sein sollte, um die konkreten Verteidigungsmaßnahmen zu unterstützen und zu ergänzen.

1.3.

Der EWSA betont die präventive Bedeutung, die der sozialen Gerechtigkeit, den wirtschaftlichen Aussichten und der ökologischen Nachhaltigkeit zukommt. Sozialer Frieden und wirtschaftliche Stabilität sind wichtige Voraussetzungen für Gewaltfreiheit. Die Begrenzung der Erderwärmung und die Beherrschung ihrer Folgen sind elementar für den Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung und den Frieden in der Welt.

1.4.

Im Strategischen Kompass wird nicht hinreichend berücksichtigt, welche Rolle die europäische Zivilgesellschaft spielen kann und muss, um eine größere Widerstandsfähigkeit gegenüber hybriden Angriffen und der systematischen Untergrabung des Zusammenhalts und der Solidarität innerhalb und zwischen den EU-Mitgliedstaaten durch feindliche Kräfte zu erreichen.

1.5.

Zivile und präventive Sicherheitspolitik gehen Hand in Hand mit militärischer Verteidigungsfähigkeit. Letztere ist als unverzichtbare Voraussetzung für Sicherheit und in ihrer abschreckenden Wirkung auch als präventiv anzusehen.

1.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Strategische Kompass ein zu positives Bild der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zeichnet.

1.7.

Die NATO ist nicht nur ein strategischer Partner der EU, sondern auch ihr entscheidender Sicherheitsgarant. Die Europäer müssen durch Maßnahmen, die ihre eigene Handlungsfähigkeit stärken, einen größeren Mehrwert für die NATO erbringen. EU und NATO haben das Potenzial ihrer Zusammenarbeit bislang nicht vollständig ausgeschöpft. Die europäische Sicherheits- und Verteidigungssäule zu stärken, bedeutet, die NATO zu stärken.

1.8.

Letztlich muss die EU mehr Verantwortung übernehmen und eine Europäische Verteidigungsunion als europäische Säule der NATO schaffen, die die Neutralität einiger ihrer Mitgliedstaaten uneingeschränkt achtet und mit ihr vereinbar ist.

1.9.

Die EU sollte zu einem besseren Verständnis der entscheidenden Bedeutung gelangen, die der transatlantischen Partnerschaft für die Sicherheit der NATO und damit für die europäische Sicherheit zukommt.

1.10.

Zu viele EU-Mitglieder haben ihre Verteidigungsverpflichtungen und -fähigkeiten über lange Zeit vernachlässigt, was zu einer dramatischen Unterausstattung, mangelnder Vorbereitung und fehlender Interoperabilität ihrer Streitkräfte geführt hat.

1.11.

Die EU-Mitgliedstaaten müssen die Entwicklung der nationalen Fähigkeiten und die Verteidigungsplanung besser abstimmen und stärker auf gemeinsame Beschaffung setzen. Eine stärkere Wirksamkeit der europäischen Verteidigungsfähigkeiten muss durch eine wesentlich bessere Koordinierung der nationalen Industriepolitik erreicht werden.

1.12.

Die europäische Handlungsfähigkeit muss durch die Einführung von Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik gestärkt werden.

1.13.

Als wichtiges zusätzliches Element des Strategischen Kompasses muss ermittelt werden, welche Rolle die europäische Zivilgesellschaft in puncto Solidarität, Zusammenarbeit und Resilienz spielen kann.

1.14.

Der EWSA schlägt öffentliche Foren für strategische Debatten auf europäischer und nationaler Ebene vor.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Ziel der vorliegenden Initiativstellungnahme ist es, die Auswirkungen des Strategischen Kompasses zu prüfen und die damit verbundenen europäischen Zielsetzungen und Möglichkeiten einer politischen Bewertung aus zivilgesellschaftlicher Perspektive zu unterziehen. Der EWSA begrüßt die Initiativen der Europäischen Union zur Stärkung der europäischen Sicherheit und Verteidigung.

2.2.

Die Zivilgesellschaft ist in Sicherheitsfragen kein passiver Zuschauer, und ihre Stimme muss gehört werden. Im Konfliktfall werden zivile Institutionen schwer getroffen, und Zivilisten leiden unter den verheerenden Folgen des Krieges.

2.3.

Aus Sicht der Zivilgesellschaft wird im Strategischen Kompass eine enge Sicherheitsperspektive angenommen, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der Verteidigung liegt. Der EWSA unterstreicht, dass Sicherheit weit über Verteidigung hinausgeht und eine EU-Strategie für Sicherheit stärker auf zivile und präventive Aspekte abheben müsste, als der Strategische Kompass es tut.

2.4.

Die EU ist die Antithese zu Gewalt und Krieg und muss dies auch bleiben. Sie muss ihre politischen, materiellen und kulturellen Ressourcen besser nutzen, um zur friedlichen Beilegung von Konflikten beizutragen und eine militärische Eskalation zu verhindern. Denn genau hier könnte die EU einen wichtigen Mehrwert erbringen, und darin liegt auch ihre bisherige Strahlkraft in der Welt. Sie muss sich wirksamer für eine Rückkehr zu multilateralen Rüstungskontrollabkommen, die Einhaltung des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen und die Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung einsetzen.

2.5.

Eine regelbasierte multilaterale Ordnung ist entscheidend für die Verteidigung der universellen Menschenrechte. Die EU muss gemeinsam mit allen gleichgesinnten Partnern weltweit alles in ihrer Macht Stehende tun, um die regelbasierte multilaterale Ordnung zu stärken und erforderlichenfalls wiederherzustellen und zu erneuern. Harte Machtpolitik und das „Recht des Stärkeren“ sind nicht mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vereinbar. Sicherheit ohne Freiheit wäre sinnlos. Sicherheit ist aber auch eine wichtige Voraussetzung für Freiheit.

2.6.

Zivile und präventive Sicherheitspolitik stehen nicht in Gegensatz zu militärischer Verteidigungsfähigkeit. Letztere ist vielmehr eine unverzichtbare Voraussetzung für Sicherheit und in ihrer abschreckenden Wirkung auch als präventiv anzusehen.

2.7.

Politische und finanzielle Investitionen in Sicherheit und Verteidigung erfordern eine fundierte und ernsthafte Bewertung a) der systemischen und b) der materiellen Stärken und Schwächen der EU sowie ihrer Fähigkeit, i) für ihre eigene Sicherheit zu sorgen, ii) Stabilität in ihrer Nachbarschaft zu schaffen, iii) globale Handelsrouten und den Zugang zu kritischen Gütern und Materialien sicherzustellen und, nicht zuletzt, iv) mithilfe ihre Mitgliedstaaten ein verlässlicher Partner mit klarem Engagement in den Bündnissen zu sein, die nicht nur für die Sicherheit Europas von wesentlicher Bedeutung sind.

2.8.

Sicherheit und Freiheit können nicht ausschließlich durch militärische Fähigkeiten erreicht werden. Sie erfordern einen ganzheitlichen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Ansatz sowie mehr Klugheit und vorausschauendes Handeln. Präventionspolitik und Konfliktbeilegung mit diplomatischen und zivilen Mitteln müssen Priorität haben, und der Einsatz militärischer Macht muss die Ultima Ratio bleiben. Dazu gehören aber auch glaubwürdige militärische Fähigkeiten sowie die unzweifelhafte Bereitschaft, diese Fähigkeiten einzusetzen, wenn dies unvermeidbar ist. Die EU muss ihre Interessen entschlossener wahrnehmen.

2.9.

Die Wahrung eines gerechten Friedens ist das oberste Ziel der globalen Sicherheitsarchitektur, und der Multilateralismus ist das beste Instrument, um dieses Ziel zu erreichen. Er gerät jedoch zunehmend unter Druck, und der EWSA schließt sich den Empfehlungen und der Forderung des Weltfriedensberichts 2022 nach Maßnahmen zur Stärkung der globalen Friedensarchitektur an (1).

2.10.

Die Umsetzung von Maßnahmen zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeiten und zur Erhöhung der Sicherheit erfordert mehr interinstitutionelle Kohärenz, die Vermeidung von Silopolitik und vor allem ein starkes Engagement der Mitgliedstaaten.

2.11.

Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine, der Rückkehr des Krieges nach Europa und der harten Machtpolitik werden effektive Abschreckungsfähigkeiten benötigt. Obwohl Großmachtpolitik niemals Ziel der EU war, muss sie sich nun, da Russland und China das internationale System und die globale Sicherheit infrage stellen, an den zunehmenden systemischen Wettbewerb zwischen den Großmächten anpassen. Russland verstößt offen gegen die Charta der Vereinten Nationen, und China verstößt — wie in Xinjiang und Hongkong deutlich sichtbar — gegen die universellen Menschenrechte.

2.12.

Die USA, Kanada und andere Demokratien der Welt sind wichtige Partner, wenn es darum geht, das zu wahren, wozu sich alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen förmlich und freiwillig verpflichtet haben: die universellen Menschenrechte, die nirgendwo und niemals abdingbar sein können.

2.13.

Die EU sollte zu einem besseren Verständnis der entscheidenden Bedeutung gelangen, die der transatlantischen Partnerschaft, also den Beziehungen zwischen der EU und den USA, für die NATO und damit für die europäische Sicherheit zukommt. Auch wenn die USA ihren Interessenfokus in den vergangenen Jahren immer stärker auf den asiatischen und den pazifischen Raum verlegt haben, zeigt die russische Aggression doch, dass die Weltordnung weiterhin auch in Europa gesichert und erforderlichenfalls verteidigt werden muss.

2.14.

Die NATO ist nicht nur ein strategischer Partner der EU. Sie stellt Europas militärische Verteidigung sicher, und die europäische Verteidigungssäule sollte in voller Komplementarität hierzu entwickelt werden. Russlands Überfall auf die Ukraine und die internationale Sicherheitsordnung untermauern dies in jeder Hinsicht. Mehr europäische Zusammenarbeit in der Verteidigung kann die NATO stärken und Europas Handlungsfähigkeit im Sinne eines wirksameren Beitrags zur eigenen Sicherheit und zu regionaler Stabilität erhöhen.

2.15.

Obwohl die EU als Gemeinschaft und die NATO als Bündnis nicht identisch sind, gibt es nicht nur bei den Werten und Zielen immer mehr Schnittmengen zwischen beiden. Mit dem NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens werden 23 Länder beiden Organisationen angehören. Die Europäer können und müssen durch Maßnahmen, die ihre eigene Handlungsfähigkeit stärken, einen größeren Mehrwert für die NATO erbringen. Letztlich muss die EU mehr Verantwortung für ihre Sicherheit übernehmen und eine Europäische Verteidigungsunion als europäische Säule der NATO schaffen, die die Neutralität einiger ihrer Mitgliedstaaten uneingeschränkt achtet.

2.16.

Zu viele Mitgliedstaaten haben ihre Verteidigungsfähigkeiten über allzu viele Jahre hinweg vernachlässigt. Teils zu geringe, vor allem aber ineffektive Verteidigungsausgaben haben in vielen EU-Mitgliedstaaten zu einer dramatischen Unterausstattung, mangelnden Vorbereitung und fehlenden Interoperabilität der Streitkräfte geführt. Wo diese EU-Mitgliedstaaten auch Mitglieder der NATO sind, vernachlässigen sie damit ihre Bündnispflichten.

2.17.

Die Verteidigungsfähigkeit Europas hängt nicht allein von der Höhe der dafür zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel ab, sondern vor allem von deren effizientem Einsatz. Zur Zeit führen die unterschiedlichen Waffensysteme in der EU zu Überschneidungen, hohen Kosten und Ineffizienz. Die EU-Mitgliedstaaten müssen die Entwicklung der nationalen Fähigkeiten und die Verteidigungsplanung besser abstimmen und stärker auf gemeinsame Beschaffung setzen. Auf europäischer und nationaler Ebene sollte eine kohärente Beschaffungspolitik verfolgt werden, um die zur Kostensenkung erforderlichen Skaleneffekte zu erzielen und in der Lage zu sein, ausreichende Aktivitäten zu generieren, um den Fortbestand neu entstehender Start-up-Unternehmen zu sichern (2). Die derzeitigen Praktiken auf dem europäischen Verteidigungsmarkt verdeutlichen die hohen Kosten des Verzichts auf EU-politisches Handeln.

2.18.

Trotz der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ), der Koordinierten Jährlichen Überprüfung der Verteidigung (Coordinated Annual Review on Defence — CARD) und des Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) hat die EU zu wenig Fortschritte bei der Entwicklung wirksamer gemeinsamer Strukturen erzielt, mit denen sie für ihre eigene Sicherheit sorgen könnte. Entsprechend bedeutsam ist die Erklärung von Versailles vom März 2022, die auf dem Beschluss der Staats- und Regierungschef vom Dezember 2021 gründet, wonach „die Europäische Union mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen und im Verteidigungsbereich eine strategische Vorgehensweise verfolgen und ihre Fähigkeit zum autonomen Handeln steigern wird“.

2.19.

Die Handlungsfähigkeit der EU im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik würde gestärkt, wenn im Rat bei den Beschlüssen zur Außenpolitik vom Einstimmigkeitsprinzip, das jedem der Mitgliedstaaten die Möglichkeit gibt, ein gemeinsames Handeln der anderen zu blockieren, abgerückt würde. Als Zwischenlösung könnte eine zeitlich begrenzte Testphase mit einer Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit bzw. mit verstärkten qualifizierten Mehrheiten (d. h. höheren Schwellenwerten für die qualifizierte Mehrheit) in Betracht gezogen werden. Ein kohärentes Handeln der Mitgliedstaaten wird jedoch nicht in erster Linie durch den institutionellen Rahmen verhindert. Vielmehr umgehen die Mitgliedstaaten den bestehenden institutionellen Rahmen, nutzen sein Potenzial nicht und lassen sich nicht in ihn einbinden.

2.20.

Als Sicherheitsgarant braucht Europa möglicherweise ein neues Narrativ und konkrete Maßnahmen, die von der Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement getragen werden, um die europäische Identität und Solidarität zu stärken, ohne Gefahr zu laufen, den Nationalismus durch einen europäischen Chauvinismus zu ersetzen. Es sollte eine offene, transparente und inklusive Beteiligung der Öffentlichkeit geben.

3.   Positive Aspekte des Strategischen Kompasses

3.1.

Das Ziel des Strategischen Kompass, mehr Sicherheit durch den Aufbau von Kapazitäten („act“), bessere Vorsorge („secure“), gezielte Investitionen („invest“) und mehr Zusammenarbeit („partner“) zu erreichen sowie Partnerschaften und Bündnisse zu stärken, ist gut gewählt.

3.2.

Mit dem Strategischen Kompass soll die Entschlossenheit Europas bekräftigt werden, die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen zu wahren, den Frieden wiederherzustellen und die Freiheit in Europa zu verteidigen.

3.3.

Im Hinblick auf die Sicherheit wird China im Strategischen Kompass als „systemischer Rivale“ bezeichnet; durch seine massiven Verletzungen der universellen Menschenrechte, seine ständige Bedrohung Taiwans und seine Unterstützung für den russischen Aggressor hat sich dies bestätigt. Im Strategischen Kompass wird hervorgehoben, dass China und Russland die internationale Ordnung infrage stellen. Beide Länder erweitern ihre Kernwaffenarsenale und entwickeln neue Waffensysteme.

3.4.

Ferner werden die gefährliche Aushöhlung der Rüstungskontrollarchitektur und die nachteiligen Auswirkungen dieses „Rechtsvakuums“ auf die Sicherheit der EU hervorgehoben.

3.5.

Die EU hat in allen Regionen der Welt legitime Interessen. Im Strategischen Kompass werden nicht alle davon systematisch abgedeckt, aber es wird zu Recht festgestellt, dass die Untätigkeit Europas, wie insbesondere in den westlichen Balkanstaaten zu sehen ist, andere Mächte dazu einlädt, den Raum zu füllen.

3.6.

Im Strategischen Kompass wird betont, dass die EU mit deutlich verstärkter Dringlichkeit und Entschlossenheit handeln muss und sich die Mitgliedstaaten auf gegenseitige Unterstützung verlassen können müssen. Daher wird die Bedeutung von Artikel 42 Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) herausgestellt. Die EU sollte die Kohärenz dieser primärrechtlichen Grundlage mit der Beistandspflicht nach Artikel 5 NATO-Vertrag klären.

3.7.

Eine bessere Einsatzbereitschaft und Interoperabilität werden im Strategischen Kompass als Prioritäten bezeichnet, die im Einklang mit der NATO stehen müssen. Im Strategischen Kompass wird die EU als Wegbereiterin einer besseren europäischen Verteidigung dargestellt und angekündigt, dass sie Lücken bei den kritischen Fähigkeiten schließen, die Widerstandsfähigkeit der europäischen Gesellschaften stärken und Stabilität in der europäischen Nachbarschaft schaffen wird. Ein erster Schritt ist die Schaffung der Schnelleingreifkapazität (Rapid Deployment Capacity), die aus 5 000 Mann bestehen und bis 2025 voll einsatzfähig sein soll. Der EWSA weist darauf hin, dass es höchste Zeit ist, konkrete Ergebnisse zu erzielen, denn die EU hatte in dieser Hinsicht bereits vor über zwei Jahrzehnten ehrgeizigere Ziele avisiert, die bis heute nicht erfüllt wurden.

3.8.

Auch wenn im Strategischen Kompass nicht auf die Einführung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit in der Außenpolitik Bezug genommen wird, so wird doch zu konstruktiven Stimmenthaltungen aufgefordert, damit handlungswillige Mitgliedstaaten voranschreiten können. Hier könnte Artikel 44 EUV verstärkt genutzt werden, um im Wege der Delegation durch den Rat die Zusammenarbeit von willigen Mitgliedstaaten mit entsprechenden Fähigkeiten in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) zu ermöglichen.

3.9.

Der Strategische Kompass zielt darauf ab, zivile und militärische Missionen und Operationen im Rahmen der GSVP sinnvoll zu kombinieren. Die Bedeutung ziviler GSVP-Missionen im Zusammenhang mit nichtmilitärischen Reaktionen wird hervorgehoben. Mit dem Strategischen Kompass wird eine engere Zusammenarbeit zwischen der GSVP und den Interessenträgern im Bereich Justiz und Inneres der EU angestrebt.

3.10.

Der EWSA begrüßt, dass ein handlungsorientierter Ansatz verfolgt und konkrete Vorschläge und Schritte sowie Zieldaten und Etappenziele genannt werden, die der Rat der EU und der Europäische Rat regelmäßig überprüfen müssen.

3.11.

Im Strategischen Kompass werden zudem wichtige Maßnahmen zur besseren Berücksichtigung des Ansatzes für Geschlechtergleichstellung, Frieden und Sicherheit sowie der Klimaeffizienz in GSVP-Missionen und -Operationen herausgestellt. Insbesondere wird die EU bis 2023 ihr Netz von Beratungspersonen für universelle Menschenrechts- und Gleichstellungsfragen bei ihren GSVP-Missionen und -Operationen ausbauen; mit der Umsetzung des EU-Fahrplans für Klimawandel und Verteidigung sollen Fortschritte bei der Erreichung der Klimaneutralität im Militärsektor erzielt werden.

4.   Kritische Anmerkungen zum Kompass

4.1.

Der Strategische Kompass ist ein sehr ehrgeiziges Dokument mit über 80 konkreten Maßnahmen, die bis 2025 zu ergreifen sind. In diesem Zusammenhang bedarf es eines starken politischen Willens seitens der Mitgliedstaaten. Andernfalls könnte der Eindruck entstehen, dass es der EU an Zuständigkeit in außen- und verteidigungspolitischen Fragen mangelt.

4.2.

Der Strategische Kompass ist von einem verengten Sicherheitsbegriff geprägt, denn bei Sicherheit geht es um mehr als um Verteidigung. Mehr Prävention und Vorausschau sind von entscheidender Bedeutung, um militärische Konflikte zu vermeiden. Im Mittelpunkt des Strategischen Kompasses steht die Festlegung einer Reihe konkreter Projekte und Maßnahmen. Dies wird vom EWSA begrüßt. Jedoch wird zu wenig Bezug auf konkrete geografische Räume genommen und zu wenig definiert, wo die EU auch außerhalb ihres Gebiets, etwa in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, Stabilität und Sicherheit im Sinne ihrer Werte und Ziele projizieren will. Der Strategische Kompass muss zu einer umfassenden Strategie werden, in der auch die Zivilgesellschaft einbezogen wird.

4.3.

Im Strategischen Kompass wird ein eher positives Bild von der Kohärenz der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU und ihren potenziellen Fähigkeiten gezeichnet, z. B. wenn es heißt, dass die Stärke der EU bei der Verhütung und Bewältigung externer Konflikte und Krisen in ihrer Fähigkeit liegt, sowohl militärische als auch zivile Mittel einzusetzen. Der Kompass nennt keine konkreten Beispiele, wo dies erfolgreich der Fall wäre. Eine wirklichkeitsferne Analyse kann jedoch keine solide Grundlage für eine Sicherheitsstrategie bilden. Die Selbsteinschätzung der EU als konsequenter Vorreiterin bei multilateralen Lösungen und ihr im Strategischen Kompass explizit geäußertes Eigenlob, z. B. im Zusammenhang mit der Wahrnehmung ihrer Verantwortung für die globale Sicherheit, lassen die Fähigkeit zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme vermissen.

4.4.

Die EU mag viele politische und finanzielle Ressourcen in den Multilateralismus investiert haben; doch zumindest bis zu Russlands Angriff haben die Mitgliedstaaten lediglich dann abgestimmte europäische außenpolitische Ziele verfolgt, wenn es ihren eigenen nationalen Interessen unmittelbar entsprach. Dieser grundlegende Mangel an strategischer Vorausschau kann anhand mehrerer Beispiele veranschaulicht werden; hier seien u. a. Folgende genannt: der Erweiterungsprozess im Westbalkan, die Reaktionen der Europäer auf den Krieg in Libyen, die Abhängigkeiten bei der Versorgung mit Energie, Rohstoffen und anderen Gütern, die Vertretung Europas im Rahmen der Vereinten Nationen sowie die unterschiedlich hohen Investitionen in nationale militärische Kapazitäten im Verhältnis zum BIP.

4.5.

Im Strategischen Kompass wird die NATO als wichtig für die europäische Sicherheit anerkannt, aber dies reicht nicht aus. Im Kompass ist von einer strategischen Partnerschaft mit der NATO, von Komplementarität und von Beschlussfassungsautonomie die Rede. Allerdings sind nur noch wenige Mitgliedstaaten neutral, d. h. keine NATO-Mitglieder, und das Bündnis ist mehr als lediglich ein strategischer Partner für Europa. De NATO ist und wird für eine nicht absehbare Zeit der einzige wirkliche Garant für die Sicherheit Europas sein. Die EU kann den Europäerinnen und Europäern jedoch helfen, ihren Beitrag zur europäischen Sicherheit besser zu organisieren, indem sie ihre Verteidigungsfähigkeiten bündeln und unkoordinierte nationale Alleingänge zugunsten eines gemeinsamen europäischen Ansatzes aufgeben. Trotz vieler guter Ansätze im Strategischen Kompass haben sowohl die EU als auch die NATO das Potenzial ihrer Zusammenarbeit bislang nicht vollständig ausgeschöpft.

4.6.

Das Konzept der strategischen Autonomie Europas muss klar definiert werden, wenn es auf Sicherheits- und Verteidigungsfragen angewandt wird, wie dies im Strategischen Kompass der Fall ist. Bei der strategischen Autonomie geht es nicht um einen Alleingang der EU, sondern darum, dass diese ein besserer Partner wird, der in der Lage ist, bei Bedarf zu handeln, auch wenn möglicherweise keine Unterstützung zur Verfügung steht. Strategische Autonomie darf nicht Äquidistanz zu den Weltmächten bedeuten, wie der EWSA bereits in seiner jüngst verabschiedeten Stellungnahme zu den transatlantischen Beziehungen unterstrichen hat. Die USA sind und bleiben Europas wichtigster Verbündeter und Partner. Wie vom EWSA in seiner Stellungnahme zum Fahrplan für Sicherheits- und Verteidigungstechnologien (3) dargelegt, sollte die EU dennoch eine Verringerung der strategischen Abhängigkeiten auch im Sicherheits- und Verteidigungssektor anstreben.

4.7.

Einseitige Abhängigkeiten Europas müssen nicht nur im Bereich der Verteidigung abgebaut werden. Dies ist für die europäische Sicherheit von entscheidender Bedeutung. Gleichwohl sind nach Auffassung des EWSA wechselseitige Abhängigkeiten, insbesondere zwischen gleichgesinnten Partnern, nicht nur vorteilhaft, sondern eine unabdingbare Voraussetzung für eine regelbasierte multilaterale Ordnung.

4.8.

In Bezug auf die künftigen militärischen Fähigkeiten der EU hält der EWSA fest, dass die im Strategischen Kompass angekündigten EU-Gefechtsverbände oder die schnelle Eingreiftruppe den Konzepten für rasch einsetzbare, kleinere Streitkräfte im Rahmen international abgestimmter Missionen entsprechen. Diese Bemühungen können jedoch nicht unabhängig von einem angemessenen Beitrag Europas zu seiner eigenen Sicherheit im Rahmen der NATO gesehen werden. Mit den europäischen Anstrengungen muss die Wirksamkeit der europäischen Säule der NATO unterstützt werden. Derzeit ist unklar, wie die Mitgliedstaaten der EU und der NATO ausreichende Ressourcen sowohl für die NATO-Eingreiftruppe als auch für die schnelle Eingreiftruppe der EU bereitstellen können, falls diese Ressourcen gleichzeitig aktiviert werden müssen. Zudem bleiben die vorgestellten Maßnahmen in Bezug auf schnell einsatzfähige Truppen teilweise hinter bereits vor Jahrzehnten gefassten Beschlüssen (Helsinki 1999) zurück.

4.9.

Im Strategischen Kompass wird nicht berücksichtigt, welche Rolle die Zivilgesellschaft in Europa spielen kann und muss, um eine größere Widerstandsfähigkeit gegenüber der systematischen Untergrabung des Zusammenhalts und der Solidarität innerhalb und zwischen den EU-Mitgliedstaaten durch feindliche Kräfte zu erreichen.

4.10.

Die Aufwertung der EU als demokratischer und rechtsstaatlicher Sicherheitsgarantin erfordert nicht nur starke bzw. stärkere EU- Institutionen und mehr Vorausschau seitens der Mitgliedstaaten, sondern auch umfangreiche grenzüberschreitende gesellschaftliche Bündnisse, die ohne eine starke und lebendige gesamteuropäische organisierte Zivilgesellschaft sowie umfassend engagierte europäische Sozialpartner unvorstellbar sind.

4.11.

Zu feindlichen Angriffen gehören nicht nur Militäreinsätze, sondern auch Desinformation, Cyberangriffe, wirtschaftliche Erpressung usw. Im Strategischen Kompass wird die Entwicklung eines Instrumentariums zur Abwehr hybrider Bedrohungen der EU und eines Instrumentariums gegen Manipulation von Informationen und Einmischung aus dem Ausland sowie die Stärkung des Instrumentariums für die Cyberdiplomatie erwähnt. Dieser entscheidende Aspekt muss jedoch im Strategischen Kompass näher ausgeführt werden. Die EU braucht dringend einen institutionenübergreifenden Ansatz für die Abwehr solcher Angriffe und Einflussnahmen, an dem die repräsentative Zivilgesellschaft beteiligt werden muss, um die Grundlagen für eine wirksame Solidarität, Zusammenarbeit und Resilienz der Unionsbürgerinnen und -bürger zu schaffen, insbesondere auf lokaler Ebene, wo die Auswirkungen solcher Angriffe am unmittelbarsten zu spüren sind.

4.12.

Europas Sicherheit wird nicht nur durch militärische Angriffsmöglichkeiten im traditionellen Sinne bedroht. Auch Cyberangriffe und Sabotage gegen private Unternehmen, öffentliche Institutionen und kritische Infrastruktur sind als hybride kriegerische Angriffe anzusehen, die verheerende Schäden anrichten können. Dieser Aspekt kommt im Strategischen Kompass vor allem hinsichtlich wirksamer Schutz- und Gegenmaßnahmen zu kurz.

5.   Neukalibrierung des Kompasses

5.1.

Der EWSA teilt voll und ganz die Auffassung, dass sich die EU auf zunehmend aggressive revisionistische Mächte einstellen muss, die gegen die UN-Charta verstoßen. Eine regelbasierte multilaterale Ordnung lässt sich wiederherstellen, wenn die liberalen Demokratien an ihren Prinzipien festhalten, diese mit diplomatischen, zivilen und militärischen Fähigkeiten untermauern und den Versuchungen, dem Druck und den Drohungen autoritärer Mächte nicht nachgeben.

5.2.

Die europäische Politik muss dem Ziel dienen, bewaffnete Konflikte zu verhindern; dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Welt deutlich weniger friedlich ist, als es nach dem Ende des Kalten Krieges schien. Daher braucht die europäische Gesellschaft einen politischen Konsens über den wirksamen Aufbau ihrer Abwehr gegen potenzielle Aggressoren, und vor allem den Aufbau ihrer Zivilschutzkapazitäten. Eine stärkere öffentliche Debatte und eine aktive Beteiligung der zivilgesellschaftlichen Akteure sind von entscheidender Bedeutung.

5.3.

Die transatlantische Partnerschaft erfordert weitaus mehr politische Investitionen. Sie geht zwar über die NATO hinaus, ist aber eine tragende Säule des Bündnisses. Die Europäer müssen mehr Anstrengungen unternehmen, um die Beziehungen zwischen der EU und den USA aufrechtzuerhalten und zu vertiefen. Eine stabile Partnerschaft mit den USA ist sowohl in Bezug auf die Handelsbeziehungen als auch auf die Sicherheit von größter Bedeutung.

5.4.

Eines der Ziele Europas ist eine kernwaffenfreie Welt. Bis dieses Ziel erreicht ist, sind die amerikanische Sicherheitsgarantie für Europa, die nukleare Abschreckung der NATO und das Abschreckungsarsenal Frankreichs für die europäische Sicherheit unverzichtbar.

5.5.

Die europäischen Partner müssen sich dringend darauf konzentrieren, die Effizienz ihrer Rüstungsausgaben zu erhöhen. Dies kann u. a. durch eine wesentlich größere Interoperabilität ihrer nationalen konventionellen militärischen Systeme erreicht werden. Die Mitgliedstaaten müssen die aktuellen Probleme und Missverständnisse in Bezug auf den Erwerb dringend benötigter kurzfristiger Verteidigungsfähigkeiten überwinden und einen gemeinsamen Ansatz zur mittel- bis langfristigen Stärkung ihrer Verteidigungssysteme durch gemeinsame Beschaffung und gemeinsame Kooperationsprojekte finden. Gemeinsame europäische Projekte sollten enge Verbündete und Partner nicht ausschließen, aber ihr Zugang zum europäischen Verteidigungsmarkt muss strikt auf Gegenseitigkeit beruhen.

5.6.

Der Anteil der Verteidigungsausgaben am BIP ist insofern wichtig, als er zwischen den westlichen Verbündeten vereinbart wurde — pacta sunt servanda! Im Hinblick auf wirksame Fähigkeiten ist es wichtiger, diese genau zu definieren und rechtzeitig zu erreichen. Ob dies einen Anteil von exakt zwei Prozent am BIP oder möglicherweise mehr erfordert, ist von untergeordneter Bedeutung. Entscheidend ist, dass ein potenzieller Aggressor die Kosten eines Angriffs als zu hoch einstuft. Die EU muss auf ihren Instrumenten und Einrichtungen wie der SSZ, der CARD, dem EDF und der Europäischen Friedensfazilität aufbauen, um die Wirksamkeit der Verteidigungsausgaben ihrer Mitgliedstaaten zu erhöhen.

5.7.

Die Beschaffung von Verteidigungsgütern und die Strukturen der europäischen Verteidigungsindustrie sind für die europäische Sicherheit von entscheidender Wichtigkeit. Sie unterliegen nicht allein den Regeln des Marktes. Die europäische Sicherheit darf jedoch nicht durch kostspielige und unwirksame Kompromisse beeinträchtigt werden. Gemeinsame Vorhaben sollten von der Lieferfähigkeit einer wettbewerbsfähigen und innovativen Industrie und nicht durch nationale Quoten bei Kooperationsprojekten bestimmt werden.

5.8.

Im Strategischen Kompass werden viele wichtige Sicherheitsaspekte abgedeckt, jedoch nicht genug auf nachrichtendienstliche Erkenntnisse eingegangen. Die EU sollte den Kompass aktualisieren und eine klare Analyse der europäischen nachrichtendienstlichen Fähigkeiten sowie konkrete Vorschläge zu deren Verbesserung aufnehmen.

5.9.

Die nationalen Verteidigungskräfte müssen gestrafft, d. h., es müssen effiziente gemeinsame Kommandostrukturen geschaffen werden, die letztlich die Grundlage für gemeinsame europäische Streitkräfte bilden. Der Militärstab der Europäischen Union und die Europäische Verteidigungsagentur müssen eingerichtet werden.

6.   Beiträge der Zivilgesellschaft zu Europas Sicherheit und Verteidigung

6.1.

Der Strategische Kompass ist ein bedeutender Fortschritt. Er sollte um eine Strategie für die europäische Außenpolitik erweitert werden, die sich durch einen umfassenderen Sicherheitsbegriff auszeichnet, der auch in Einklang mit den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen steht und eine aktive Einbeziehung der Zivilgesellschaft vorsieht.

6.2.

Mehr nachrichtendienstliche Informationsgewinnung, Prävention und Vorausschau sind von entscheidender Bedeutung, um militärische Konflikte zu vermeiden. Viele EU-Mitgliedstaaten müssen mehr in ihre Verteidigungsfähigkeiten investieren, und die meisten haben damit begonnen. Dies muss ein langfristiges, von der Zivilgesellschaft mitgetragenes Engagement sein. Die europäische Säule der NATO muss für militärische Abschreckung sorgen. Die EU muss jedoch ihre Fähigkeit stärken, um auch mit eigenen militärischen Mitteln konkrete präventive Beiträge zu Frieden und Stabilität in der Region zu leisten.

6.3.

Die EU sollte die Mitgliedstaaten, wie im Kompass vorgeschlagen, bei der Verbesserung ihrer Zusammenarbeit unterstützen, um die ineffiziente Fragmentierung und kostspielige Doppelungen der Verteidigungsfähigkeiten zu verringern. Solange sie jedoch nicht über echte Verteidigungskompetenz verfügt, sollte sie ihre begrenzten Ressourcen weiterhin hauptsächlich in zivile Strategien und Mechanismen zur Konfliktverhütung investieren. Diesbezüglich kann die Zivilgesellschaft über ihre sozialen und wirtschaftlichen Netzwerke und dank ihres großen Potenzials im Bereich Public Diplomacy und Kulturdiplomatie einen entscheidenden Beitrag leisten.

6.4.

Eine freie und lebendige Zivilgesellschaft kann in Krisenzeiten, in denen die europäische Sicherheit gefährdet ist, als automatischer Stabilisator wirken. Dies hat sich etwa im Zusammenhang mit der russischen Aggression gezeigt, haben doch Millionen von EU-Bürgern in vielen Mitgliedstaaten ukrainische Flüchtlinge aufgenommen und unterstützt sowie insbesondere in den an die Ukraine angrenzenden EU-Mitgliedstaaten außergewöhnliche Hilfsbereitschaft bewiesen. Ein umfassendes Sicherheitskonzept muss auch europäische Notfallvorsorge und eine kontinuierliche Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen umfassen.

6.5.

Der EWSA betont die Bedeutung von sozialer Gerechtigkeit, wirtschaftlichen Aussichten und ökologischer Nachhaltigkeit für die Sicherheit. Sozialer Frieden ist eine wichtige Voraussetzung für Gewaltfreiheit. Die Begrenzung der Erderwärmung und die Beherrschung ihrer Folgen sind elementar für den Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung und den Frieden in der Welt.

6.6.

Der EWSA schlägt öffentliche Foren für strategische Debatten vor, damit die Zivilgesellschaft zur Entwicklung eines Europas beitragen kann, das vor feindlichen Angriffen schützt und widerstandsfähiger gegenüber Angriffen wird, die den Kampfgeist und die politische Stabilität in und zwischen den Mitgliedstaaten untergraben sollen. Im Kampf der Weltmächte um Vorteile sind nicht die militärische oder wirtschaftliche Stärke, sondern die grundlegenden Eigenschaften einer Gesellschaft entscheidend (4).

6.7.

Der EWSA, seine Fachgruppe Außenbeziehungen (REX) und — mit Blick auf die Verteidigungsindustrie — die Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) (5) können eine zentrale Scharnierfunktion im Dialog zwischen Politik und Gesellschaft über Sicherheit in Europa und der Welt einnehmen. Der EWSA wird weiterhin regelmäßige Aktualisierungen des Strategischen Kompasses fordern und neue damit zusammenhängende Initiativen wie das Verteidigungspaket gründlich bewerten.

6.8.

Die russische Aggression und die systemische Rivalität mit China machen deutlich, dass die EU bei der Anpassung an die geopolitischen Gegebenheiten keine Zeit verlieren darf. In liberalen Demokratien kann dies nur in enger Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und mit ihrer politischen Unterstützung erreicht werden.

Brüssel, den 24. Januar 2023

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Für unsere gemeinsame Zukunft — Gemeinsame Sicherheit 2022, Stockholm, 2022.

(2)  Fahrplan für kritische Technologien für Sicherheit und Verteidigung (COM(2022) 61 final), Ziffer 4.9.

(3)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Fahrplan für kritische Technologien für Sicherheit und Verteidigung“ (COM(2022) 61 final) (ABl. C 443 vom 22.11.2022, S. 112).

(4)  Mazarr, M. J.: „What Makes a Power Great. The Real Drivers of Rise and Fall“, in: Foreign Affairs, Juli/August 2022, S. 52.

(5)  https://www.eesc.europa.eu/en/sections-other-bodies/sections-commission/consultative-commission-industrial-change-ccmi


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