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Document 52020AE5705

    Stellungnahme des Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Asyl- und Migrationsmanagement und zur Änderung der Richtlinie 2003/109/EG des Rates und der vorgeschlagenen Verordnung (EU) XXX/XXX [Asyl- und Migrationsfonds]“ (COM(2020) 610 final — 2020/0279(COD)) und „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl“ (COM(2020) 613 final — 2020/0277(COD))

    EESC 2020/05705

    ABl. C 155 vom 30.4.2021, p. 58–63 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    30.4.2021   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 155/58


    Stellungnahme des Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen:

    „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Asyl- und Migrationsmanagement und zur Änderung der Richtlinie 2003/109/EG des Rates und der vorgeschlagenen Verordnung (EU) XXX/XXX [Asyl- und Migrationsfonds]“

    (COM(2020) 610 final — 2020/0279(COD))

    und „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl“

    (COM(2020) 613 final — 2020/0277(COD))

    (2021/C 155/09)

    Berichterstatter:

    Dimitris DIMITRIADIS

    Befassung

    Europäisches Parlament, 11.11.2020

    Europäische Kommission, 27.11.2020

    Rechtsgrundlage

    Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

    Zuständige Fachgruppe

    Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

    Annahme in der Fachgruppe

    8.2.2021

    Verabschiedung auf der Plenartagung

    25.2.2021

    Plenartagung Nr.

    558

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    235/5/25

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Die Gewährleistung der Ausgewogenheit bei der Bearbeitung von Asylanträgen mit dem Ziel, dass die Personen, die internationalen Schutz benötigen, diesen Schutz auch erhalten, oder dass die Personen, die diesen Schutz nicht benötigen, tatsächlich rückgeführt werden, sollte nicht allein Aufgabe der einzelnen Mitgliedstaaten sein, sondern dies sollte von der EU als Ganzes gesteuert werden.

    1.2.

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) erkennt an, dass Migration ein menschliches und strukturelles Phänomen ist, dass unter Verfolgung leidende Menschen ein Grundrecht auf Asyl und internationalen Schutz haben und dass die Unterzeichnerstaaten der Genfer Konvention einer völkerrechtlichen Verpflichtung unterliegen. Der EWSA weist darauf hin, dass Grundrechte und personenbezogene Daten gemäß den Vorschlägen, die Gegenstand dieser Stellungnahme sind, geschützt werden sollten.

    1.3.

    Der EWSA begrüßt die verbesserte Information von Asylsuchenden über das in den geplanten Verordnungen vorgesehene Antragsverfahren und ihre einschlägigen Rechte und Pflichten. Dies wird es ihnen ermöglichen, ihre Rechte besser wahrzunehmen. Durch die Präzisierung des Geltungsbereichs des Rechtsbehelfs und die Auflage, Gerichtsentscheidungen innerhalb einer einheitlichen Frist zu treffen, wird das Recht auf Rechtsbehelf gestärkt. Die Rechtsbehelfsbestimmungen werden auch angepasst, um das Rechtsbehelfsverfahren erheblich zu beschleunigen und zu vereinheitlichen.

    1.4.

    Der EWSA begrüßt außerdem, dass das Recht auf Privat- und Familienleben und die Rechte unbegleiteter Minderjähriger gestärkt werden, indem der Anwendungsbereich der Verordnung im Rahmen der Kriterien für die Familienzusammenführung auf Geschwister sowie auf Familien, die in Transitländern gegründet wurden, ausgeweitet und der Grundsatz des Kindeswohls angewendet wird.

    1.5.

    Der EWSA hält es für wichtig, dass die Vorschläge den Rechtsstatus einer Verordnung — im Gegensatz zu einer Richtlinie — haben, da eine Verordnung in allen ihren Teilen verbindlich ist und gemäß den Verträgen in den Mitgliedstaaten unmittelbar gilt. Allerdings müssen alle maßgeblichen vorgeschlagenen Verordnungen im Interesse einer tragfähigen Strategie gleichzeitig erlassen werden: Sollte einer der Vorschläge nicht angenommen werden, würde sich dies direkt auf die Umsetzung der anderen auswirken. Ferner besteht angesichts früherer Verstöße gegen verbindliche EU-Rechtsvorschriften seitens einiger Mitgliedstaaten viel Raum für Zweifel an der Umsetzung mehrerer Bestimmungen der vorgeschlagenen Verordnungen.

    1.6.

    Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass die Vorschläge das Ergebnis gründlicher Konsultationen mit Interessenträgern, nationalen und lokalen Behörden (1), zivilgesellschaftlichen, nichtstaatlichen und internationalen Organisationen wie dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) (2) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) (3) sowie von Denkfabriken und Hochschulen sind.

    1.7.

    Der EWSA begrüßt, dass sich die Verordnungen auf die Grundsätze der Solidarität und der gerechten Lastenteilung stützen, ist jedoch der Ansicht, dass diese Belastung nicht durch ein entsprechendes Maß an Solidarität ausgeglichen wird. Einfach ausgedrückt: Solidarität in Form von Übernahmen kann nicht auf Freiwilligkeit beruhen. Solidarität muss verbindlicher Natur sein, und zwar in Form obligatorischer Übernahmen.

    1.8.

    Der EWSA teilt die zweifache Sorge um die Sicherheit der Menschen, die internationalen Schutz oder ein besseres Leben suchen, einerseits und um das Wohlergehen der Länder an den EU-Außengrenzen andererseits, die sich Sorgen machen, dass der Migrationsdruck ihre Kapazitäten übersteigt.

    1.9.

    Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Dublin-III-Verordnung nicht dazu angelegt war, hohen Migrationsdruck zu bewältigen oder eine gerechte Teilung der Verantwortung zwischen den Mitgliedstaaten sicherzustellen. Ebenso wenig wurden das Management gemischter Migrationsströme und der damit einhergehende Druck auf die Migrationssysteme der Mitgliedstaaten berücksichtigt.

    1.10.

    Da das Gesamtkonzept des Migrations- und Asylpakets jedoch auf Grenzkontrollen und der Verhinderung von Sekundärbewegungen beruht, erhöht es die Last der Verantwortung und den Aufwand für die Mitgliedstaaten der ersten Einreise, neben den in den Vorschlägen zum Screening vor der Einreise und zu Grenzkontrollen vorgesehenen Verpflichtungen. Diese Verpflichtungen stellen eine Belastung für die betreffenden Länder dar, denn sie erhöhen die Zahl der Personen, die an der Grenze verbleiben müssen — mit möglicherweise gravierenden Folgen für ihr eigenes Wohl wie auch das Wohl der Aufnahmegesellschaften.

    1.11.

    Der EWSA wertet es als ermutigend, dass die Tatsache anerkannt wird, dass ein umfassenderes Solidaritätskonzept erforderlich ist und Solidarität einen verbindlichen Charakter haben sollte, um auf die sich wandelnde Situation mit einem wachsenden Anteil gemischter Migrationsströme in die Union auf vorhersehbare und wirksame Weise zu reagieren und um eine gerechte Teilung der Verantwortung im Einklang mit dem Vertrag sicherzustellen. Dieser Ansatz bleibt jedoch hinter den Erwartungen an einen Solidaritätsmechanismus zurück, der den Mitgliedstaaten der ersten Einreise eine echte Entlastung bringen würde.

    1.12.

    Der EWSA regt an, dass die vorgeschlagene Politik der Rückführung in die Herkunftsländer durch ein System klarer positiver und negativer Anreize für Drittländer gestützt werden sollte. Darüber hinaus sollte die Rückführungspolitik auf einer stärkeren Rolle und Beteiligung der EU fußen, wobei nationale Maßnahmen in den Fällen unterstützend wirken, in denen der betreffende Mitgliedstaat Einfluss auf ein bestimmtes Drittland ausüben kann. In Bezug auf die so genannte „dreifache Verbindung“ (triple nexus) zwischen humanitärer Hilfe, Entwicklung und Frieden in den Herkunftsländern der Asylsuchenden müssen weitere Anstrengungen unternommen werden.

    1.13.

    Da ein so großer und wohlhabender Kontinent wie Europa in der Lage sein sollte, mehr zum wirksamen Schutz von Flüchtlingen beizutragen, würde der EWSA rasche und verbindliche Maßnahmen gemäß dem Vorschlag der Europäischen Kommission befürworten.

    1.14.

    Da die Entscheidung für Übernahmen oder für Rückkehrpatenschaften auf Freiwilligkeit beruht, könnte der EWSA einer verbindlichen Zuweisung von Übernahmen insofern zustimmen, als sich die derzeitige Situation in den Mitgliedstaaten der ersten Einreise noch weiter verschärfen würde, falls sich alle Staaten für die Finanzierung von Rückführungen, aber nicht für die Übernahmen entscheiden bzw. nur eine sehr kleine Zahl von Übernahmen akzeptieren.

    1.15.

    Der EWSA hält den Vorschlag bezüglich der Notwendigkeit, Kontrollmechanismen zur Überwachung des Verfahrens (vom Screening bis zur Rückführung) sowie zur Einhaltung der Grundrechte einzurichten, für beachtenswert. Mit solchen Mechanismen könnte u. a. der Rückgriff auf so genannte „Push-Backs“ (Zurückweisungen) vermieden werden. Zudem muss ausreichend Zeit für die Einrichtung des Mechanismus eingeplant werden, da die in der Screening-Verordnung und der Asylverfahrensverordnung vorgeschlagenen allgemeinen Verfahren innerhalb der vorgegebenen zeitlichen Rahmen nur schwerlich durchführbar scheinen.

    1.16.

    Der EWSA spricht sich dafür aus, die Verordnung zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt durch die Einführung materiellrechtlicher Bestimmungen über den Schutz personenbezogener Daten zu stärken. Darüber hinaus schlägt er vor, die Frist für die Aussetzung der internationalen Verpflichtungen eines in einer Krise befindlichen Staates so lange zu verlängern, wie diese Krise andauert.

    1.17.

    Der EWSA ist skeptisch, ob die in den vorliegenden Verordnungsvorschlägen vorgesehenen Bestimmung wirksam angewandt werden, und äußert seine Besorgnis darüber, dass Menschen, die Asyl benötigen, aufgrund der Mängel der geplanten Verfahren möglicherweise nicht in der Lage sein werden, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen.

    2.   Hintergrund

    2.1.

    Die Krise im Jahr 2015 hat erhebliche strukturelle Schwächen und Mängel bei der Gestaltung und Umsetzung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik aufgezeigt — einschließlich des Dublin-Systems, das nicht dafür ausgelegt wurde, eine langfristig tragfähige Teilung der Verantwortung für Menschen, die internationalen Schutz beantragen, in der gesamten EU zu gewährleisten. In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 28. Juni 2018 wurde eine Reform der Dublin-Verordnung gefordert, die mit Blick auf Menschen, die nach Such- und Rettungseinsätzen auf See an Land gebracht werden, auf einem ausgewogenen Verhältnis von Verantwortung und Solidarität beruht.

    2.2.

    Das neue Migrations- und Asylpaket, das zusammen mit dem Vorschlag für eine neue Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement vorgelegt wird, soll einen Neubeginn in der Migrationspolitik darstellen, der auf einem Gesamtkonzept für das Migrationsmanagement beruht. Als maßgeblicher Beitrag zu dem umfassenden Ansatz wird mit diesem Vorschlag ein gemeinsamer Rahmen für das Asyl- und Migrationsmanagement auf EU-Ebene geschaffen, der das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten fördern soll.

    Mit Blick auf jüngste Migrationskrisen werden insbesondere die folgenden Herausforderungen hervorgehoben.

    2.2.1.

    Fehlen eines integrierten Ansatzes bei der Umsetzung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik:

    Das Fehlen gleicher Bedingungen für alle Mitgliedstaaten beeinträchtigt die Bemühungen um die Gewährleistung von Verfahrenszugang, Gleichbehandlung, Klarheit und Rechtssicherheit.

    2.2.2.

    Einzelstaatliche Unzulänglichkeiten und mangelnde EU-weite Harmonisierung des Asyl- und Migrationsmanagements:

    Herausforderungen der Verknüpfung von Rückkehr und Asyl;

    eingeschränkte Anwendung von Programmen zur unterstützten freiwilligen Rückkehr;

    Fehlen gestraffter Verfahren bei der Einreise;

    Verzögerungen beim Zugang zu Asylverfahren und langsame Bearbeitung von Anträgen;

    Schwierigkeiten bei der Anwendung des Grenzverfahrens.

    2.2.3.

    Fehlen eines umfassenden und flexiblen Solidaritätsmechanismus:

    Übernahmen sind nicht die einzige wirksame Reaktion zur Bewältigung gemischter Migrationsströme.

    2.2.4.

    Ineffizienzen im Dublin-System:

    Fehlen einer tragfähigen Teilung der Verantwortung unter dem derzeitigen System;

    geltende Bestimmungen zur Verlagerung der Zuständigkeit zwischen Mitgliedstaaten tragen zu unerlaubten Migrationsbewegungen bei;

    ineffiziente Datenverarbeitung;

    verfahrensmäßige Unzulänglichkeiten des Dublin-Systems führen zu Verwaltungsaufwand.

    2.2.5.

    Fehlen gezielter Mechanismen zur Bewältigung extremer Krisensituationen:

    Schwierigkeit der EU bei der Gewährleistung des Zugangs zu Asyl- oder anderen Verfahren an Grenzen in extremen Krisensituationen.

    2.2.6.

    Fehlen eines gerechten und wirksamen Systems zur Wahrnehmung von Grundrechten und Schwierigkeiten bei der Festlegung neuer legaler Wege für Asylsuchende und bei der wirksamen Behandlung der Migrationsursachen, einschließlich humanitärer Aspekte und Fragen der Entwicklung und des Friedens.

    2.3.

    Es besteht die Hoffnung, dass diese Herausforderungen mithilfe der Vorschläge auf folgende Weise zu bewältigen sind.

    2.3.1.

    In höherem Maße effizientes, lückenloses und harmonisiertes Migrationsmanagementsystem:

    ein Gesamtkonzept für effizientes Asylmanagement (Vorschlag für eine Verordnung zur Schaffung eines gemeinsamen Rahmens für das Asyl- und Migrationsmanagement auf EU-Ebene);

    ein lückenloses Asyl- und Rückführungsverfahren und die einfachere Anwendung von beschleunigten Verfahren und Grenzverfahren;

    eine koordinierte, effektive und zügige Screening-Phase (Vorschlag für eine Verordnung zur Einführung des Screenings von Drittstaatsangehörigen, die im Zusammenhang mit der irregulären Überschreitung von EU-Außengrenzen aufgegriffen werden, die nach Such- und Rettungseinsätzen auf See an Land gebracht werden oder die an Grenzübergangsstellen um internationalen Schutz ersuchen).

    2.3.2.

    Ein gerechterer, umfassenderer Solidaritäts- und Übernahmeansatz:

    ein auf Verbindlichkeit fußender Solidaritätsmechanismus mit einem umfassenderen Anwendungsbereich (Vorschlag für eine Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement).

    2.3.3.

    Vereinfachte und effizientere Bestimmungen für ein solides Migrationsmanagement:

    eine umfassendere und gerechtere Definition der Zuständigkeitskriterien, wodurch die Übertragung und Verlagerung der Zuständigkeit eingeschränkt werden (Vorschlag für eine Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement);

    eine effizientere Datenerfassung und -verarbeitung, womit die Zählung der Antragsteller anstelle der Anträge ermöglicht wird, und die Berücksichtigung einer eigenen Kategorie für Such- und Rettungseinsätze (Neufassung der Eurodac-Verordnung)

    verbesserte Verfahrenseffizienz (Vorschlag für eine Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement).

    2.3.4.

    Ein gezielter Mechanismus zur Bewältigung extremer Krisensituationen (Vorschlag für eine Verordnung zur Bewältigung von Krisensituationen).

    2.3.5.

    Die wirksamere Wahrung der Grundrechte von Migranten und Asylsuchenden (4).

    3.   Anmerkungen zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Asyl- und Migrationsmanagement und zur Änderung der Richtlinie 2003/109/EG des Rates und der vorgeschlagenen Verordnung (EU) XXX/XXX [Asyl- und Migrationsfonds]

    3.1.

    Im Paket wird zu Recht die fehlende Einheitlichkeit der Asyl- und Rückführungssysteme der Mitgliedstaaten hervorgehoben und betont, dass es notwendig ist, durch Beseitigung der Unzulänglichkeiten bei der Umsetzung für eine größere Solidarität innerhalb der EU zu sorgen und die Zusammenarbeit mit Drittstaaten zu verbessern und zu stärken. Es ist jedoch nicht klar, ob sich die im letzten Jahrzehnt entstandenen zentralen Herausforderungen für die Koordinierung mithilfe des Grundsatzes einer freiwilligen und selektiven Solidarität bewältigen lassen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Mitgliedstaaten der ersten Einreise auf unverhältnismäßige Weise belastet werden.

    3.2.

    Wie in der Stellungnahme des EWSA (SOC/649 (5)) festgestellt wurde, könnten sich die Mitgliedstaaten gemäß dem neuen Solidaritätsmechanismus an der Umsiedlung oder der geförderten Rückkehr von Personen in einer irregulären Situation beteiligen. Der EWSA bezweifelt die Umsetzbarkeit dieses Mechanismus, für den eine hypothetische freiwillige Solidarität Voraussetzung ist. Es werden keinerlei Anreize erwähnt, die notwendig wären, um die Mitgliedstaaten zur Teilnahme an diesem Mechanismus zu bewegen. Dies ist besonders bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass sich manche Mitgliedstaaten weigern, an der bisherigen Umsiedlungsregelung (6) teilzunehmen, bzw. dass es keine ausdrückliche Verpflichtung dazu gibt. Dieser auf Solidarität beruhende Mechanismus könnte auch den gegenteiligen Effekt haben, nämlich dass die betroffene Person in den unterstützenden Mitgliedstaat umgesiedelt würde, wenn die Rückführung nicht tatsächlich innerhalb von acht Monaten stattfindet. Daraus ergäben sich Lücken in der Rechenschaftspflicht bezüglich der Rechte von Rückkehrern. Ferner haben im Rahmen des vorgeschlagenen neuen Solidaritätsmechanismus die Mitgliedstaaten einen Anreiz, sich nicht an der Übernahme — der dringenderen, schwierigeren und kostenintensiveren Option — zu beteiligen, sondern sich stattdessen für die Rückführung zu entscheiden (7). Daher müssen verbindliche Solidaritätsmaßnahmen in Form obligatorischer Maßnahmen gemäß der Mitteilung der Europäischen Kommission eingeführt werden.

    3.3.

    Der EWSA begrüßt, dass der Zeitraum bis zum Erhalt eines langfristigen Aufenthaltsstatus für Personen, die unter internationalem Schutz stehen, von fünf auf drei Jahre verkürzt werden soll, wenn diese sich dazu entschließen, in dem Mitgliedstaat zu bleiben, der ihnen diesen Schutz gewährt. Ziel ist eindeutig die Integration in die lokalen Gemeinschaften, auch wenn eingewandt werden könnte, dass so die Freizügigkeit innerhalb der EU eingeschränkt wird; damit wird bestätigt, dass die Last weiterhin bei den Mitgliedstaaten der ersten Einreise liegt.

    3.4.

    Der EWSA begrüßt das vorgelegte Konzept der gerechten Teilung der Verantwortung, ist jedoch der Ansicht, dass diese Belastung nicht durch ein entsprechendes Maß an Solidarität ausgeglichen wird.

    3.5.

    Der EWSA begrüßt die Maßnahmen zur Verbesserung der Koordinierung zwischen nationalen Strategien zu Asyl- und Rückführungsmaßnahmen, bedauert jedoch, dass mehr Vorschläge zur Koordinierung von Rückführungsinstrumenten als zur Koordinierung der Verfahren im Bereich Asyl und Aufnahme von Flüchtlingen gemacht wurden.

    3.6.

    Der EWSA ist sich der Schwierigkeiten der Mitgliedstaaten in Bezug auf wirksame Rückführungsmaßnahmen bewusst und nimmt die Bereitschaft der Kommission zur Kenntnis, Schritte hin zu einem gemeinsamen und wirksamen europäischen Rückführungssystem zu unternehmen. Der Vorschlag beruht auf der Verbesserung der operativen Unterstützung für Rückführungsmaßnahmen. Außerdem sieht er die Ernennung nationaler Rückführungskoordinatoren vor. Der EWSA bedauert, dass Probleme bei der Durchführung von Rückführungsprogrammen nicht eindeutig ermittelt werden (8), sodass dieser als strategisch wichtig eingeschätzte Ansatz von der Kooperationsbereitschaft der Drittstaaten, d. h. der Herkunfts- oder Transitstaaten, abhängt. Die EU sollte deshalb in Bezug auf eine allgemeine Rückführungspolitik eine größere Rolle übernehmen.

    3.7.

    Der EWSA weist darauf hin, dass Solidarität ein Automatismus sein muss. Die Solidaritätspflichten der Mitgliedstaaten der ersten Einreise sind unverhältnismäßig. Die Verfahren sind nach wie vor komplex und langwierig und bieten keine Gewähr für eine Übernahme. Es gibt nur verbindliche Grenzverfahren ohne automatischen Mechanismus zur Teilung der Lasten. Die Mitgliedstaaten müssen Maßnahmen zur Stärkung der Infrastruktur (Zelte, Sachleistungen usw.), der finanziellen Unterstützung oder der freiwilligen Rückkehr ergreifen. Es gibt keine eindeutigen Kriterien für die Frage, wie die einzelnen Mitgliedstaaten einen Beitrag leisten werden. Dies ist keine wirksame Lösung, sondern verstärkt den Druck auf die Staaten der ersten Einreise nur noch weiter und nimmt lange Zeit in Anspruch (8 Monate), sodass die Gefahr besteht, dass Antragsteller untertauchen. Gebraucht wird ein Mechanismus, der in stärkerem Maße automatisch ist und eine bessere Verteilung der Antragsteller auf alle Mitgliedstaaten ermöglicht.

    3.8.

    Ebenso ist der EWSA der Ansicht, dass die Einteilung in drei unterschiedliche Kategorien von Notlagen (Fälle von Druck oder Risiko von erhöhtem Druck, Fälle von Krisensituationen und Fälle von Such- und Rettungseinsätzen) für Solidaritätszwecke nicht praktikabel ist. Mitgliedstaaten müssen Unterstützung in einer der drei Kategorien beantragen. Die Kommission entscheidet (anhand von 21 Bewertungskriterien), ob der Antrag zulässig ist, und ersucht andere Länder um praktische Hilfe, die in zwei Hauptformen erfolgen kann: Übernahme oder Rückkehrpatenschaft. Das ist ein unzweckmäßiges und zeitaufwändiges Verfahren: Zuerst muss Solidarität beantragt werden, dann wird eine Stellungnahme dazu erarbeitet, danach kann Solidarität auf freiwilliger Basis angeboten werden und am Ende wird über verbindliche Solidarität entschieden. Sogar im Falle verbindlicher Solidarität hängt die Entscheidung der Kommission von der Stellungnahme eines Sonderausschusses ab; falls keine positive Stellungnahme abgegeben wird, werden keine Maßnahmen ergriffen.

    3.9.

    Nach Auffassung des EWSA wird — abgesehen von der Ungenauigkeit der gebotenen Begriffsbestimmungen (insbesondere in der Verordnung für Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt) — der Begriff „Migrationsdruck“ trotz seiner häufigen Nennung im Verordnungsentwurf nicht klar definiert.

    3.10.

    Auch wenn die Idee von Rückführungen durch Mitgliedstaaten entsprechend ihren Beziehungen zu Drittstaaten attraktiv erscheinen mag, funktioniert sie möglicherweise nicht, da sich die Gegebenheiten im Herkunftsland wandeln oder die betreffenden Länder Rückführungen schlichtweg verbieten könnten. Auch besteht das Problem, dass im Wesentlichen Haftbedingungen geschaffen werden: Personen, die rückgeführt werden sollen, verbleiben an der Grenze und machen den Mitgliedstaat der ersten Einreise so zu einem großen „Abschiebezentrum“. Da Rückführungen hauptsächlich von der Zusammenarbeit der Drittstaaten abhängen, mit denen die EU noch verhandeln und sich einigen muss (beispielsweise in puncto Visumerteilung), lässt sich in der Praxis nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob eine Beschleunigung der Verfahren (so wie in der Screening-Verordnung vorgesehen) tatsächlich zu einer höheren Zahl an Rückführungen beitragen würde. Damit würde nicht nur die Wahrscheinlichkeit von Menschenrechtsverstößen steigen, sondern auch der Druck auf die Bevölkerung vor Ort erhöht.

    3.11.

    Der EWSA ist sich darüber im Klaren, dass der für den Asylantrag zuständige Mitgliedstaat — die zentrale Säule des neuen Asylmanagementverfahrens — als das Land definiert werden könnte, in dem ein oder mehrere Geschwister eines Zuwanderers/einer Zuwandererin leben, in dem er/sie gearbeitet oder studiert hat oder in dem ein Visum ausgestellt wurde. Obwohl eine solche Ausweitung der Kriterien begrüßenswert ist, wird damit letztlich nur bestätigt, welche enorme Last noch auf den Mitgliedstaaten der ersten Einreise liegt.

    4.   Anmerkungen zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl

    4.1.

    Der EWSA begrüßt die Einführung einer Komponente zur Berücksichtigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl. Er ist allerdings der Ansicht, dass die betreffenden Begriffsbestimmungen unklar oder unzweckmäßig sind. Diese Tatsache — in Verbindung mit dem Fehlen oder dem Vorhandensein objektiver Indikatoren — verursachen einen Mangel an Rechtssicherheit.

    4.2.

    Der EWSA weist darauf hin, dass die Verordnung zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt zwar eine günstige Gelegenheit für verbindliche Solidarität schafft, aber eher Unterstützung in Verfahrensfragen als Solidaritätsmaßnahmen in Notlagen vorsieht. Die komplexen und bürokratischen Verfahren, die zur Umsetzung von Solidarität erforderlich sind, führen zu deren Aushöhlung. Es liegt auf der Hand, dass in Krisensituationen oder bei großem Druck Übernahmen sichergestellt werden müssen. Darüber hinaus sollten Maßnahmen ergriffen werden, um zu verhindern, dass Mitgliedstaaten überhaupt in eine Krisensituation gelangen.

    4.3.

    Der EWSA weist darauf hin, dass die Einführung von Verfahren und Mechanismen zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl auch mit den Grundrechten und den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts sowie des Völkerrechts vereinbar sein sollte.

    4.4.

    Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass Mitgliedstaaten durch die Aktivierung des Mechanismus in Krisenzeiten in der Lage sind, ihre internationalen Verpflichtungen (z. B. zur Bearbeitung von Asylanträgen) für die Dauer von bis zu drei Monaten auszusetzen. Darüber hinaus sollte diese Frist so lange verlängert werden können, wie die Krise andauert. Es wäre nützlich, die Frage zu klären, wie Krisensituationen bestimmt werden, sowie eindeutige Richtwerte für den Fall festzulegen, dass die Kapazitäten eines Landes überschritten werden bzw. werden könnten.

    4.5.

    Der EWSA begrüßt den Vorschlag, Mitgliedstaaten mehr Zeit für die Bewältigung von Krisensituationen zu geben, gleichzeitig jedoch einen wirksamen und unverzüglichen Zugang zu den einschlägigen Verfahren und Rechten zu gewährleisten, sowie die Möglichkeit der Kommission, die Anwendung des Asylkrisenmanagementverfahrens und des Rückkehrkrisenmanagementverfahrens für einen Zeitraum von sechs Monaten zu genehmigen, der bis zu einem Zeitraum von höchstens einem Jahr verlängert werden kann. Nach Ende des betreffenden Zeitraums sollten die im Asylkrisenmanagementverfahren und im Rückkehrkrisenmanagementverfahren vorgesehenen verlängerten Fristen nicht mehr auf neue Anträge auf internationalen Schutz angewendet werden.

    4.6.

    Allerdings ist der EWSA der Auffassung, dass der begrenzte Geltungsbereich des Vorschlags, d. h. die Verlängerung oder Beschleunigung der Verfahren, seine Funktion als Mechanismus schwächt, der bei solidarischen Notfallmaßnahmen zur Anwendung kommt.

    4.7.

    Nach Ansicht des EWSA könnte dieser Vorschlag als Gelegenheit dienen, für verbindliche Solidarität zu plädieren; allerdings findet er keine Berücksichtigung im verfügenden Teil der betreffenden Verordnung. Der EWSA ist deshalb der Auffassung, dass er in den verfügenden Teil der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Asyl- und Migrationsmanagement und zur Änderung der Richtlinie 2003/109/EG des Rates und der vorgeschlagenen Verordnung (EU) XXX/XXX [Asyl- und Migrationsfonds] aufgenommen werden sollte, um jegliche Unsicherheiten zu vermeiden und das Risiko seiner Nichtannahme zu beseitigen, da hier eine wechselseitige Abhängigkeit besteht.

    Brüssel, den 25. Februar 2021

    Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Christa SCHWENG


    (1)  Beispielsweise der von 33 Organisationen und Gemeinden unterzeichnete Berliner Aktionsplan für eine neue europäische Asylpolitik vom 25. November 2019.

    (2)  Empfehlungen des UNHCR zu dem von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Migrations- und Asylpaket, Januar 2020.

    (3)  Empfehlungen der IOM zum neuen Migrations- und Asylpaket der Europäischen Union, Februar 2020.

    (4)  SWD(2020) 207 final.

    (5)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 15.

    (6)  Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-715/17, C-718/17 and C-719/17 Kommission gegen Polen, Ungarn und Tschechische Republik.

    (7)  Leider gibt es keinen Schutz vor Situationen, in denen sich Regierungen dazu entschließen, im Zuge einer populistischen Mobilisierung gegen Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlinge bei Rückführungen eine Schlüsselrolle zu spielen.

    (8)  COM(2017) 200 final.


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