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Document 52019IE1356

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema: „Der Gebrauchswert zählt wieder: neue Perspektiven und Herausforderungen für europäische Produkte und Dienstleistungen“ (Initiativstellungnahme)

    EESC 2019/01356

    ABl. C 97 vom 24.3.2020, p. 27–31 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    24.3.2020   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 97/27


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema: „Der Gebrauchswert zählt wieder: neue Perspektiven und Herausforderungen für europäische Produkte und Dienstleistungen“

    (Initiativstellungnahme)

    (2020/C 97/04)

    Berichterstatter:

    Dimitris DIMITRIADIS

    Beschluss des Plenums

    24.1.2019

    Rechtsgrundlage

    Artikel 32 Absatz 2 GO

    Zuständige Fachgruppe

    Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

    Annahme in der Fachgruppe

    19.11.2019

    Verabschiedung auf der Plenartagung

    11.12.2019

    Plenartagung Nr.

    548

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    191/3/4

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) vertritt die Auffassung, dass innovative, hoch spezialisierte Produkte und Dienstleistungen mit anerkannten und zertifizierten Schlüsselmerkmalen, die sowohl den Bedürfnissen der Kunden als auch den Kriterien der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit gerecht werden, zur Hauptstärke und zum Schwerpunkt der modernen europäischen Wettbewerbsfähigkeit werden können. In der vorliegenden Stellungnahme geht es darum, Europa angesichts des systemischen und sozioökonomischen Wandels in der Welt als Standort zu profilieren.

    1.2.

    Nach Ansicht des EWSA erlangt der Gebrauchswert aufgrund jüngster Entwicklungen wieder große Bedeutung im modernen Wettbewerb. Dies fördert eine nachhaltige Neuausrichtung der europäischen Produktion über alle Branchen und Industrien hinweg. Die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in Europa fallen anerkanntermaßen nicht nur sozioökonomisch stark ins Gewicht, sondern können auch die weltweite Nachfrage nach Vielfalt bedienen und damit zu einem wichtigen Faktor bei der Neupositionierung Europas in der modernen Arbeitsteilung werden.

    1.3.

    Das „Comeback des Gebrauchswerts“ passt zu den grundlegenden Qualitäten Europas, das eine erhebliche soziokulturelle, geologische und klimatische Vielfalt aufweist. Deshalb ist es so wichtig, hoch spezialisierte Produkte und Dienstleistungen anzustreben. Im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit sollten die Produktionsprozesse auch mit der politischen Ausrichtung auf die soziale und ökologische Nachhaltigkeit im Einklang stehen.

    1.4.

    Angesichts der in Schwellen- und Entwicklungsländern erzielten gewaltigen Größenvorteile und der Ablehnung sozialer und ökologischer Verantwortung bei gleichzeitiger Rückkehr zu einem aggressiven Protektionismus in vielen Industrieländern ist die Einführung spezialisierter, hochwertiger und nachhaltiger Produktionsstrukturen nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt wahrscheinlich der beste (wenn nicht der einzige) Ausweg.

    1.5.

    Deshalb empfiehlt der EWSA auf politischer Ebene Folgendes: (a) Maßnahmen der einzelnen Staaten und der EU zur Umsetzung eines Politikmix, der sich am Gebrauchswert orientiert und gebietsbezogen den örtlichen Bedingungen und Bedürfnissen angepasst ist; (b) Entwicklung einer gleichermaßen ehrgeizigen Industriepolitik für Europa, in deren Rahmen die Clusterbildung und der Kooperatismus (semi-)automonomer Hersteller gefördert wird, um in spezifischen Segmenten des Produktlebenszyklus die Vielfalt zu erhalten und dennoch Größenvorteile zu erzielen; (c) Verbreitung von Industriesymbiosen zur Förderung der Kreislaufwirtschaft; (d) Verbesserung des Zugangs zu Finanzmitteln durch Umsetzung des Aktionsplans für die Kapitalmarktunion und Förderung seiner Mikrofinanzinstrumente sowie durch grüne und gebrauchswertbezogene Konzepte im Bankwesen.

    1.6.

    Berufliche Bildung und lebenslanges Lernen bieten hervorragende Chancen für die Netzwerk- und Clusterbildung. So können die Kosten der menschlichen Entwicklung gesenkt und entscheidende horizontale Fähigkeiten gestärkt werden.

    1.7.

    Tätig werden muss die Politik auch im Bereich Datenzugang und -verwaltung. Allerdings kann es sich technisch und rechtlich schwierig gestalten, sowohl die digitale Souveränität als auch die Privatsphäre natürlicher und juristischer Personen sicherzustellen. Weiterhin müssen Produkthersteller und Dienstleistungsanbieter auch die Möglichkeit haben und in der Lage sein, die notwendigen Methoden und Verfahren — ob digital oder analog — zu nutzen. Zusammen mit der Bereitstellung von Open-Source-Software (OSS) schließt sich hier der Kreis zur notwendigen beruflichen Bildung und zum lebenslangen Lernen.

    2.   Hintergrund der Stellungnahme

    2.1.

    Der „Gebrauchswert“ ist die Antwort auf die Frage: „Wozu dient ein Produkt oder eine Dienstleistung?“. In einem allgemeineren ganzheitlichen Ansatz umfasst er alle positiven oder negativen Verwendungen, egal ob diese direkt oder indirekt sind. Der Gebrauchswert bezieht sich auf alle echten, objektiven bzw. subjektiv antizipierten Merkmale eines Produkts oder einer Dienstleistung über den gesamten Lebenszyklus („von der Wiege bis zur Bahre“). Alles — ob materiell oder nicht —, was einen Gebrauchswert hat, ist ein „wirtschaftliches Gut“. In einer Zeit der „kommerzialisierten Wirtschaft“ hat der Tauschwert (der Preis) den Gebrauchswert auf dem Markt aus dem Blickfeld verdrängt, sodass der Gebrauchswert höchstens noch als durch den Tauschwert ausgedrückt wahrgenommen wurde.

    2.2.

    Aufgrund der immer schneller wachsenden Arbeitsproduktivität wandeln sich die Bedürfnisse der Menschen heute allmählich, wobei zunehmend der Wunsch nach Vielfalt im Vordergrund steht, während das Bedürfnis nach Menge auf den führenden Weltmärkten längst gesättigt ist. Die Verbraucherpräferenzen verschieben sich allgemein hin zu spezialisierten und differenzierten Produkten von zertifizierter Qualität. Dies gilt selbst in Schwellenländern in besonderen Segmenten der lokalen Nachfrage (je nach Alter, Bildungsstand, Art der Beschäftigung, Grad der Urbanisierung usw.).

    2.3.

    So überrascht es kaum, dass es bei den neuesten technologischen und verfahrenstechnischen Aktualisierungen um eine Steigerung der Produktivität geht, und zwar nicht nur, um große Quantitäten, sondern vor allem differenzierte Qualitäten herzustellen und so die Produktion besser den bestehenden Präferenzen anzupassen.

    2.4.

    Außerdem löst der immer schnellere technische Wandel einen Prozess der schrittweisen Entkommerzialisierung der Produkte aus, wenn auch in den verschiedenen Branchen in unterschiedlichem Ausmaß. Das alles führt dazu, dass der Gebrauchswert im aktuellen Wettbewerb wieder große Bedeutung erlangt. Dies könnte als Basis für eine nachhaltige Neuausrichtung der europäischen Produktion über alle Branchen hinweg dienen.

    2.5.

    Die EU-Institutionen haben diese strukturellen Veränderungen offenbar erkannt. Die Kommission konzentriert sich in ihrer Mitteilung COM(2017) 479 auf die Notwendigkeit einer intelligenten, innovativen und nachhaltigen europäischen Industrie. Der EWSA hat hierauf mit einer Stellungnahme (1) reagiert, in der er auf die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der KMU und der Förderung relevanter Innovationen hinweist.

    2.6.

    In einer neueren Sondierungsstellungnahme fordert der EWSA einen ganzheitlichen Ansatz, der Wachstum, Klima, ökologischen Herausforderungen und gesellschaftlichen Problemen mit einem Konzept für einen fairen Übergang gerecht wird. Auf dieser Grundlage forderte der EWSA die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten darüber hinaus auf, „eine langfristige und umfassende Strategie mit einer globalen Perspektive“ zu entwickeln, in der „die Attraktivität Europas eine vorrangige Frage in einer auf Innovation und Wettbewerbsfähigkeit basierenden Industriepolitik sein […] muss“ (2).

    2.7.

    Unlängst untersuchte der EWSA in seiner Initiativstellungnahme „Eine konsistente Klima- und Energiepolitik aus Sicht der Industrie“ (3) vor dem Hintergrund des Dilemmas hoher Kosten und des Umgangs mit dem Treibhausgaseffekt die technische und rechtliche Machbarkeit von Grenzausgleichsmaßnahmen für den Binnenpreis von Treibhausgasemissionen. Darin empfahl der EWSA der Kommission, diese und weitere politische Optionen wie z. B. ein reformiertes Emissionshandelssystem (ETS), ein CO2-Grenzausgleichssystem und einen an der CO2-Intensität orientierten Mehrwertsteuersatz eingehender zu prüfen.

    2.8.

    Die vorliegende Initiativstellungnahme soll einen Schritt weitergehen. Es geht darum, welche Elemente ein umfassendes industriepolitisches Konzept beinhalten sollte, um die europäische Produktion von Gütern und Dienstleistungen im globalen Kontext neu zu positionieren, und zwar auf der Grundlage eines ökosozialen und durch einen offenen Markt gekennzeichneten Modells, das der Tradition und der Zukunft der EU gerecht wird.

    3.   Die Mikroebene

    3.1.

    Die genannten strukturellen Änderungen bringen den „Nutzen“ von KMU auf den neuesten Stand: Neben ihrer nachgewiesenen sozioökonomischen Wirkung — erhebliche zusätzliche Wertschöpfung in einer modernen Gesellschaft und Schaffung neuer Arbeitsplätze — können KMU ein wesentlicher Faktor für die Neupositionierung der europäischen Produktion werden, da sie in der Lage sind, die spezifischen Bedürfnisse von Nischenmärkten und die wachsende weltweite Nachfrage nach Vielfalt zu bedienen.

    3.2.

    Dadurch, dass die heutige Bedeutung von KMU anerkannt wird, sind diese nicht automatisch besser vor Risiken gefeit. Daher geht es in dieser Stellungnahme auch darum, neue Wege aufzuzeigen, wie kleine und mittlere europäische Hersteller dabei unterstützt werden können, größenbedingte Nachteile zu überwinden. Der EWSA bekräftigt seine Forderung, neue Methoden der Netzwerk- und der Clusterbildung sowie des Kooperatismus zu fördern. Es gilt, die Autonomie der Hersteller im Sinne der Produktion differenzierter Qualitätsprodukte zu erhalten und zugleich einige Segmente des Lebenszyklus des produzierten Outputs gemeinsam zu bedienen, um Größenvorteile zu nutzen. Das gilt zum Beispiel für die Bereiche Design und Vermarktung von Produkten, Einrichtung von Start-up-Inkubatoren oder Vorinkubatoren, Transport und Logistik, Zugang zu finanziellen Mitteln, Zugang und Verwendung von Big Data und spezialisierten Datenbanken sowie Interkonnektivität mit Blick auf die Kreislaufwirtschaft.

    3.3.

    Ein verbesserter Zugang zu finanziellen Ressourcen und Dienstleistungen ist für europäische Unternehmen und insbesondere für KMU von entscheidender Bedeutung. Die Umsetzung des Aktionsplans für die Kapitalmarktunion ist wesentlich, da dieser Mikrofinanzinstrumente für Innovation, Start-ups und nicht börsennotierte Unternehmen vorsieht. Dadurch wird es einfacher, auf Märkten für öffentliche Aufträge tätig zu werden, Kapital zu akquirieren usw. Darüber hinaus sollten aufgrund der (direkten oder indirekten) ökologischen und sozialen Aspekte von Produkten und Dienstleistungen grüne und gebrauchswertbezogene Konzepte im Bankwesen stärker gefördert werden. Geeignete Kompetenzzentren könnten die KMU dabei unterstützen, Nachhaltigkeitsprinzipien in ihren Betrieb zu integrieren.

    3.4.

    Besondere Aufmerksamkeit sollte auch dem Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft gelten, denn die Hersteller müssen zur Zusammenarbeit und effizienten gemeinsamen Nutzung von Ressourcen veranlasst werden. Aus diesem Grund und aufgrund der Notwendigkeit, den europäischen Verbrauchern möglichst objektive Informationen zur Verfügung zu stellen, befürwortet der EWSA die Schaffung von Ökoindustrieparks und -distrikten. Gemeinschaften aus produzierendem und Dienstleistungsgewerbe können zu einer besseren ökologischen und wirtschaftlichen Bilanz beitragen, da umwelt- und ressourcenbezogene Herausforderungen in den Bereichen Energie, Wasser und Material gemeinsam angegangen werden. Diese räumliche „Symbiose“ fördert die gemeinsame Nutzung von Ressourcen zwischen Unternehmen der gleichen Branche oder sogar über verschiedene Branchen hinweg.

    3.5.

    Die Vorteile von Industriesymbiosen sind auf allen Nachhaltigkeitsebenen spürbar: Durch die Ausweitung der vor- und nachgelagerten Verflechtungen in Industrieparks und Produktionsdistrikten werden die Kosten der Abfallentsorgung und -behandlung zu einem Profitcenter, da damit die Rohstoffkosten gesenkt, die Verwendung zu wenig genutzter Ressourcen und Anlagen maximiert und die Kosten für neue Infrastruktur verteilt werden und in eine Zusammenarbeit mit Interessenträgern aus der gleichen oder sogar anderen Branchen investiert wird.

    3.6.

    Darüber hinaus wird Ressourcenmanagement zu einer Quelle der Innovation, wodurch „nutzlose“ oder „nicht verwertbare“ Ressourcen an Wert gewinnen und sich neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnen, während zugleich für eine bessere Einhaltung von Vorschriften gesorgt und das Risiko von Geldstrafen verringert wird. Gleichermaßen wichtig sind die Vorteile für die Umwelt: Durch Industriesymbiosen gehen der Rohstoffverbrauch, das Nettoabfallaufkommen und die CO2-Emissionen zurück, ohne dass die wirtschaftliche Tätigkeit beeinträchtigt wird. Diese Faktoren können als Grundlage für eine globale Zertifizierung mit Wiedererkennungswert von Endprodukten dienen, was die Qualität europäischer Produkte und Dienstleistungen weiter heben würde.

    3.7.

    Wird die Fähigkeit europäischer Unternehmen und insbesondere kleiner und mittlerer Hersteller verbessert, relevante Daten und Informationen effizient zu verwalten (Business Intelligence ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger neuer Begriff), verbessern sich ihre Überlebenschancen und ihre Fähigkeit, sich an einen globalen Markt im Wandel anzupassen:

    intelligentere Nutzung von Ressourcen, da Echtzeitdaten zum Status von Produkten wie Fahrzeugen und anderen Maschinen Unternehmen in die Lage versetzen, mögliche Ausfälle zu identifizieren und eine vorausschauende Wartung und Reparatur entsprechend zu planen. So kann die Lebensdauer von Produkten verlängert werden;

    größere Versorgungssicherheit dank des derzeitigen Übergangs zu einer Kreislaufwirtschaft. Dies sorgt für eine geringere Abhängigkeit von „unberührten“ Rohstoffen und eine zunehmende Verwendung recycelter Waren. So verringert sich das Risiko, das für Unternehmen durch volatile Rohstoffpreise entsteht, wodurch sich die Resilienz der Unternehmen verbessert;

    Bereitstellung von Produkten als Dienstleistung und Verwendung von Sensoren zur Überwachung der Nutzung — Verbraucher zahlen dann entsprechend ihrem Verbrauch, während Unternehmen weiterhin Eigentümer des Produkts sind. So können Produkte länger genutzt werden und zahlen die Verbraucher nur für die tatsächliche Nutzung;

    erhöhte Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit, da Herausforderungen wie höhere Volatilität, Kundeninteraktion und -bindung sowie die kostspielige Entsorgung von Abfällen richtig angegangen werden;

    neue Wege des kreativen Umgangs mit Kunden, die es Unternehmen erlauben, persönlichere Beziehungen zu ihren Kunden aufzubauen und Produkte und Dienstleistungen besser auf sie zuzuschneiden.

    3.8.

    Last but not least sind Netzwerk- und Clusterbildung ebenfalls relevant, wenn es darum geht, Mitarbeitern die erforderlichen Fähigkeiten zu vermitteln. Das Cedefop hat betont, dass insbesondere beim arbeitsbasierten Lernen eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Institutionen der beruflichen Bildung, Universitäten, Forschungszentren und Unternehmen erforderlich ist. Horizontale Fähigkeiten sollten durch Ausbildung und auch lebenslanges Lernen gestärkt werden, um flexiblere Herstellungsverfahren zu schaffen und Kreativität und Innovation zu verbessern, auch im Hinblick auf die digitale Transformation usw.

    4.   Die Makroebene

    4.1.

    Die Reindustrialisierung im Sinne des Wiederaufbaus einer multisektoralen Produktionsstruktur in Europa kam nach einer Periode der Deindustrialisierung und zunehmendem Outsourcing in andere, vornehmlich außereuropäische Regionen auf. Die Wiederherstellung eines vielfältigen, produktiven und nachhaltigen „Ökosystems“ wirkt sich anerkanntermaßen in vielerlei Hinsicht positiv auf die sozioökonomische Entwicklung aus. Dies ist auf Folgendes zurückzuführen: (a) Es entstehen produktive vor- und nachgelagerte Verflechtungen; (b) lokale Märkte werden gestärkt; (c) die produktive Abhängigkeit verringert sich und die Widerstandsfähigkeit der lokalen Wirtschaft nimmt zu; und (d) es kommt zu interdisziplinären Aktivitäten im Bereich FuE, was zu mehr Innovation bei Produktionsprozessen und in Bezug auf die Eigenschaften der angebotenen Produkte und Dienstleistungen führt.

    4.2.

    Um eine Wende in der europäischen Produktion herbeizuführen und bestehende globale Trends im Bereich des „Reshoring“ (Produktionsrückverlagerung) zu nutzen, muss die europäische Wettbewerbsfähigkeit im Rahmen der aktuellen internationalisierten Märkte neu aufgestellt werden. Die globalen Wertschöpfungsketten erfahren erhebliche Veränderungen: (a) Sie schrumpfen seit der weltweiten Finanzkrise beständig; (b) „Regionalisierung“ dient als Strategie, um näher an die entscheidenden Verbrauchermärkte zu rücken; (c) die räumliche Aufteilung von Produktionsketten wird neu strukturiert.

    4.3.

    Die Priorisierung von Qualität neben dem Preis und die Entkommerzialisierung der Waren entsprechen dem Wesen Europas als soziokulturell, geologisch und klimatisch vielfältige Region, in der — vielleicht genau aus diesem Grund — KMU in der Wirtschaft weiterhin eine entscheidende Rolle als „Verstärker“ spielen. Innovative, hoch spezialisierte Produkte und Dienstleistungen mit anerkannten und zertifizierten Schlüsselmerkmalen bereitzustellen, die den Bedürfnissen der Kunden und der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit gerecht werden, kann zur Hauptstärke und zum Schwerpunkt der modernen europäischen Wettbewerbsfähigkeit werden.

    4.4.

    Dieses Argument gewinnt noch mehr an Schlagkraft angesichts dessen, dass eine neue bipolare Welt entsteht: gewaltige Größenvorteile in Schwellen- und Entwicklungsländern und die Ablehnung sozialer und ökologischer Verantwortung bei gleichzeitiger Rückkehr zu einem aggressiven Protektionismus in vielen Industrieländern — und Europa liegt genau zwischen den Fronten (zum Beispiel im Handelskrieg zwischen den USA und China). Spektakuläre technische, soziale und demografische Veränderungen führen zu dramatischen Transformationen in der Ausgestaltung und Struktur der Weltwirtschaft und es entstehen neue lokale Märkte und neue Bedürfnisse. Sich an systemische Entwicklungen anzupassen und die oben genannten Kriterien einer spezialisierten, hochwertigen und nachhaltigen Produktion zu übernehmen, könnte ein Ausweg sein, nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt.

    5.   Maßnahmenvorschlag für die lokale, nationale und EU-Ebene

    5.1.

    Um alle Herausforderungen anzugehen, die mit der Profilierung des Standorts Europa und der Stärkung der Rolle einhergehen, die europäische Produkte und Dienstleistungen in der globalen Wirtschaft spielen, müssen die EU und die Mitgliedstaaten erheblich mehr in Forschung und Entwicklung, Bildung, Infrastruktur, Marketing und innovative Technologien investieren. Dazu bedarf es — wie von den europäischen Sozialpartnern, der Zivilgesellschaft und weiteren Interessenträgern gefordert — einer ehrgeizigen Industriepolitik für Europa, mit einem Schwerpunkt auf Innovation, intelligenter Regulierung, Sozialpartnerschaft, Freihandel und sozialer und ökologischer Verantwortung.

    5.2.

    Da sich der globale Wettbewerb rasch verändert und intensiviert, geht es zwingend auch um die Handelspolitik. Diese ist darüber hinaus ein wesentliches Instrument, um intern erzeugtes Marktversagen anzugehen. Allerdings darf die Handelspolitik nicht in eine Protektionismusspirale münden. Vielmehr sollten die nationale und die EU-Ebene einen Politikmix entwickeln und umsetzen, der sich am Gebrauchswert und lokalen Charakteristika und Bedürfnissen orientiert: (a) Standardisierungs- und Zertifizierungsmaßnahmen zum Schutz europäischer Marken im Inland und international als Werbung; (b) (pro-)aktive Wirtschaftsdiplomatie, die auf internationalen politischen, kulturellen und sozioökonomischen Beziehungen fußt; (c) das öffentliche Beschaffungswesen als Instrument zur Durchsetzung qualitativer Standards auf den europäischen Märkten; (d) Förderung notwendiger Infrastrukturinvestitionen und institutioneller Vereinbarungen, die die Wettbewerbsfähigkeit der lokalen Produktion weiter stärken.

    5.3.

    Die oben genannten intelligenten Handelsbestimmungen sollten einhergehen mit einer intelligenten Industriepolitik der EU und der Mitgliedstaaten: (a) Digitalisierung sowie IT- und KI-gestützte Anwendungen in der Produktion; (b) Investitionen in die Entwicklung stärker differenzierter und spezialisierter Produkte und Dienstleistungen; (c) Investitionen in die technische Fähigkeit, eine differenziertere Produktvielfalt effizient herzustellen; (d) Förderung der Clusterbildung und des Kooperatismus (semi-)autonomer Hersteller, um in spezifischen, sorgfältig ausgewählten Segmenten des Produktlebenszyklus die Vielfalt zu erhalten und dennoch Größenvorteile zu erzielen; (e) Verbreitung von Industriesymbiosen zur Förderung der Kreislaufwirtschaft; (f) weitere Stärkung der Verknüpfung von Produktion und FuE, auch in weniger ingenieurtechnischen Bereichen (siehe die diesbezügliche Diskussion über das neue Programm Horizont Europa 2020–2025).

    5.4.

    Insbesondere für die oben genannte Förderung einer gezielten Clusterbildung und der Industriesymbiose bedarf es regionaler branchenspezifischer Studien, um diejenigen Segmente lokaler Produktion aufzuzeigen, in denen die verschiedenen Arten der Netzwerkbildung und des Kooperatismus etabliert werden könnten.

    5.5.

    Wie bereits erwähnt, sind berufliche Bildung und lebenslanges Lernen Instrumente der Netzwerk- und der Clusterbildung, anhand derer Größenvorteile mit Blick auf die von den Arbeitgebern zu tragenden Kosten der menschlichen Entwicklung erzielt werden können. Auch können über berufliche Bildung und lebenslanges Lernen entscheidende Fähigkeiten gestärkt werden, die Kreativität, Innovation und Anpassungsfähigkeit im Produktionsprozess fördern. Im Rahmen künftiger Strategien der europäischen beruflichen Bildung und des lebenslangen Lernens müssen diese horizontalen Fähigkeiten auf allen Ebenen priorisiert werden. Dabei sind neue Lernmethoden, aktuelle Technologien und neue Finanzierungsmechanismen anzuwenden, um Betrieben dabei zu helfen, die neuesten Errungenschaften zu nutzen und sie für die Entwicklung neuer differenzierter Produkte heranzuziehen.

    5.6.

    Tätig werden muss die Politik auch im Bereich Datenzugang und -verwaltung. Hierbei geht es darum, europäische Hersteller und Dienstleistungsanbieter dabei zu unterstützen, auf die aktuelle Entwicklung der globalisierten Märkte zu reagieren und ihren Wettbewerbsvorteil bei hoch spezialisierten Waren und Dienstleistungen auszuschöpfen. Gerade für KMU ist dies besonders wichtig. Allerdings ist ein freierer Zugang zu Daten mit einem höheren Risiko des Datenmissbrauchs verbunden. Sowohl die digitale Souveränität als auch die Privatsphäre natürlicher und juristischer Personen sicherzustellen, kann eine technisch und rechtlich schwierige Aufgabe sein, ist jedoch unabdingbar.

    5.7.

    Neben dem einfacheren Zugang zu einer exponentiell wachsenden Menge an Daten müssen Produkthersteller und Dienstleistungsanbieter außerdem die Möglichkeit haben und in der Lage sein, das notwendige Instrumentarium der Datenverwaltung zu nutzen, das aus — digitalen und analogen — Methoden und Prozessen besteht. „Business Intelligence“ ist ein relativ neuer Begriff in der einschlägigen Literatur und beschreibt genau diese Fähigkeit, nämlich Informationen und Datensätze zu nutzen. Darüber hinaus sind technische und rechtliche Maßnahmen zur Bereitstellung von Open-Source-Software (OSS) zu ergreifen. Hier schließt sich der Kreis zu den nötigen horizontalen Fähigkeiten, die durch berufliche Bildung und lebenslanges Lernen vermittelt werden müssen.

    Brüssel, den 11. Dezember 2019

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Luca JAHIER


    (1)  ABl. C 227 vom 28.6.2018, S. 70.

    (2)  ABl. C 197 vom 8.6.2018, S. 10.

    (3)  ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 59.


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