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Document 52018IP0238

    Entschließung des Europäischen Parlaments vom 31. Mai 2018 zur Lage in Nicaragua (2018/2711(RSP))

    ABl. C 76 vom 9.3.2020, p. 164–167 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    9.3.2020   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 76/164


    P8_TA(2018)0238

    Lage in Nicaragua

    Entschließung des Europäischen Parlaments vom 31. Mai 2018 zur Lage in Nicaragua (2018/2711(RSP))

    (2020/C 76/20)

    Das Europäische Parlament,

    unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen zu Nicaragua, insbesondere die Entschließungen vom 18. Dezember 2008 (1), vom 26. November 2009 (2) und vom 16. Februar 2017 (3),

    unter Hinweis auf das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Zentralamerika von 2012,

    unter Hinweis auf das Länderstrategiepapier der EU und das Mehrjahresrichtprogramm 2014–2020 zu Nicaragua,

    unter Hinweis auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966,

    unter Hinweis auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948,

    unter Hinweis auf die EU-Leitlinien zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern vom Juni 2004,

    unter Hinweis auf die Verfassung Nicaraguas,

    unter Hinweis auf die Erklärung der Sprecherin der Vizepräsidentin der Kommission und Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (VP/HR) vom 19. November 2016 zum Endergebnis der Wahl in Nicaragua,

    unter Hinweis auf die Erklärungen der Sprecherin der VP/HR vom 22. April 2018 und 15. Mai 2018 zu Nicaragua,

    unter Hinweis auf die Pressemitteilung des Amtes des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) vom 27. April 2018 zur Menschenrechtslage in Nicaragua,

    unter Hinweis auf den Besuch der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IAMRK) vom 17. bis zum 21. Mai 2018 zur Untersuchung der Lage in Nicaragua und deren vorläufige Erklärung vom 21. Mai 2018,

    unter Hinweis auf die Erklärung der Sprecherin des OHCHR, Liz Throssell, vom 20. April 2018 zu der Gewalt im Zusammenhang mit den Protesten in Nicaragua,

    unter Hinweis auf die Pressemitteilung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) vom 14. Mai 2018 zu ihrem Besuch in Nicaragua zur Untersuchung der Lage,

    unter Hinweis auf den Bericht des Generalsekretariats der OAS vom 20. Januar 2017 und seine Erklärung vom 22. April 2018, in der die Gewalt in Nicaragua verurteilt wird,

    unter Hinweis auf die Mitteilungen der Bischofskonferenz von Nicaragua und insbesondere die jüngste Mitteilung vom 23. Mai 2018,

    gestützt auf Artikel 123 Absätze 2 und 4 seiner Geschäftsordnung,

    A.

    in der Erwägung, dass bei den friedlichen, von Studierenden angeführten Protesten gegen die von Präsident Daniel Ortega angekündigte Reform der Sozialversicherung, die am 18. April 2018 begannen, Berichten zufolge mindestens 84 Menschen getötet, mehr als 860 verletzt und mehr als 400 verhaftet wurden; in der Erwägung, dass die meisten Opfer Schussverletzungen an Kopf, Hals, Brust und Bauch aufwiesen, was stark auf außergerichtliche Hinrichtungen hindeutet; in der Erwägung, dass die Staatsorgane Nicaraguas die Demonstranten offen brandmarkten, indem sie sie als „Vandalen“bezeichneten und sie der „politischen Manipulation“bezichtigten;

    B.

    in der Erwägung, dass Daniel Ortega am 23. April 2018 ankündigte, die Sozialversicherungsreform werde doch nicht durchgeführt, dass sich jedoch die Demonstrationen zu größeren, fortgesetzten Unruhen ausweiteten, in deren Rahmen eine Übergangsregierung und die Wiederherstellung der Demokratie gefordert wurden; in der Erwägung, dass die starke Zunahme exportorientierten Raubbaus eine weitere Ursache von Unzufriedenheit und offenem Konflikt ist;

    C.

    in der Erwägung, dass am 20. April 2018 Kräfte zur Niederschlagung von Aufständen und mehrere Mitglieder der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront 600 Studierende in der erzbischöflichen Kathedrale von Managua unter Beteiligung und mit Zustimmung der Polizei angriffen, ohne dafür in irgendeiner Form strafrechtlich belangt zu werden; in der Erwägung, dass die IAMRK Angriffe auf dem Gelände von vier Hochschulen (UCA, UPOLI, UNA und UNAN) dokumentierte;

    D.

    in der Erwägung, dass die hohe Zahl der Todesopfer ein Beleg für die brutale Unterdrückung seitens der Staatsorgane ist, mit der die nach dem Völkerrecht einzuhaltenden Grundsätze der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit sowie die Normen, durch die der Einsatz von Gewalt eingeschränkt wird, verletzt wurden; in der Erwägung, dass die Leiterin der nationalen Polizeibehörde Nicaraguas, Aminta Granera, aufgrund des übermäßigen Einsatzes von Gewalt zurücktrat;

    E.

    in der Erwägung, dass Medieneinrichtungen, die über die Proteste berichteten, von der Regierung willkürlich geschlossen wurden und dass Journalisten, die sich in irgendeiner Form oppositionell geäußert hatten, eingeschüchtert und festgenommen wurden; in der Erwägung, dass das massive Vorgehen der Staatsorgane Nicaraguas gegen die Redefreiheit und ihre Schikanierung führender Oppositioneller als Angriff auf die bürgerlichen Freiheiten verurteilt worden sind; in der Erwägung, dass der Journalist Ángel Gahona während einer Livesendung erschossen wurde;

    F.

    in der Erwägung, dass bei Menschenrechtsorganisationen zahlreiche Beschwerden darüber eingingen, dass verletzte Demonstranten in öffentlichen Krankenhäusern unzureichend betreut und behandelt worden seien;

    G.

    in der Erwägung, dass der Präsident der Nationalversammlung Gustavo Porras am 27. April 2018 die Einsetzung einer Wahrheitskommission ankündigte, die die Vorfälle während der Proteste untersuchen soll; in der Erwägung, dass am 6. Mai 2018 ein siebenköpfiges Gremium – darunter fünf Mitglieder der Partei von Präsident Daniel Ortega – die fünf Mitglieder der Kommission bestimmte und die Nationalversammlung ihre Ernennung bestätigte;

    H.

    in der Erwägung, dass die IAMRK Nicaragua vom 17. bis zum 21. Mai 2018 besuchte; in der Erwägung, dass sie illegale und willkürliche Verhaftungen, Folter und grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung, Zensur und Angriffe auf die Presse sowie andere Einschüchterungsversuche wie Bedrohungen, Schikanen und Verfolgung feststellte, die darauf abzielten, die Proteste niederzuschlagen und die Teilnahme der Bürger zu behindern;

    I.

    in der Erwägung, dass der von der katholischen Kirche vermittelte und am 16. Mai 2018 aufgenommene nationale Dialog zwischen Daniel Ortega einerseits und der Opposition und zivilgesellschaftlichen Gruppen Nicaraguas andererseits keine Lösung der Krise herbeiführen konnte und ausgesetzt wurde, da sich die Verhandlungsführer der Regierung weigerten, eine von den Vermittlern vorgelegte 40-Punkte-Agenda zu erörtern, die einen Fahrplan für die Durchführung demokratischer Wahlen umfasste, wozu auch Wahlrechtsreformen, die Vorziehung der Wahl und das Verbot der Wiederwahl des Präsidenten gehörten; in der Erwägung, dass die Einrichtung eines sechsköpfigen gemeinsamen Ausschusses mit drei Mitgliedern aus den Reihen der Regierung und drei Mitgliedern aus den Reihen der Bürgerallianz für Gerechtigkeit und Demokratie (Alianza Cívica por la Justicia y la Democracia) vorgeschlagen wurde;

    J.

    in der Erwägung, dass Daniel Ortega seit 2007 dreimal in Folge zum Präsidenten gewählt wurde, obwohl nach der nicaraguanischen Verfassung die unmittelbare Wiederwahl verboten ist, was belegt, dass der Staat in Korruption und Autoritarismus verfallen ist; in der Erwägung, dass die Wahlen von 2011 und 2016 wegen Unregelmäßigkeiten von den Organen der EU und der OAS heftig kritisiert wurden, da sie abgehalten wurden, ohne dass Beobachter dieser beiden Organisationen oder sonstige glaubwürdige internationale Beobachter vor Ort anwesend waren;

    K.

    in der Erwägung, dass nach wie vor eines der größten Probleme in staatlichen Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen die Korruption ist, an der auch Angehörige Daniel Ortegas beteiligt sind; in der Erwägung, dass Staatsbeamte häufig bestechlich sind und dass ungerechtfertigte Beschlagnahmen und willkürliche Schätzungen durch Zoll- und Steuerbehörden häufig vorkommen; in der Erwägung, dass berechtigte Bedenken im Hinblick auf Vetternwirtschaft in der nicaraguanischen Regierung lautwurden; in der Erwägung, dass Menschenrechtsgruppen die durch die Einparteienherrschaft verursachte allmähliche Konzentration der Macht und die Schwächung der Institutionen verurteilt haben;

    L.

    in der Erwägung, dass in Nicaragua in den letzten zehn Jahren Rückschritte bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verzeichnen sind; in der Erwägung, dass Aufbau und Festigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten feste Bestandteile der außenpolitischen Maßnahmen der EU, darunter auch des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union und den Ländern Zentralamerikas von 2012, sein müssen;

    1.

    verurteilt, dass friedliche Demonstranten, die die Sozialversicherungsreform ablehnen, brutal unterdrückt und eingeschüchtert wurden und dass dabei viele Menschen ihr Leben verloren haben, verschwunden sind oder willkürlich festgenommen wurden, wofür die Staatsorgane, die Streitkräfte und die Polizei Nicaraguas sowie gewalttätige regierungstreue Gruppen verantwortlich zeichnen; gemahnt alle nicaraguanischen Sicherheitskräfte an ihre Pflicht, zuallererst die Bürger vor Schaden zu bewahren;

    2.

    drückt den Angehörigen all jener, die bei den Demonstrationen getötet oder verletzt wurden, sein Beileid und seine Anteilnahme aus;

    3.

    fordert die Staatsorgane Nicaraguas auf, alle Gewaltakte gegen die Bevölkerung, die ihr Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit ausübt, einzustellen; fordert darüber hinaus die Demonstranten und die Organisationen der Zivilgesellschaft, die die Proteste anführen, auf, bei der Ausübung ihrer Rechte von Gewaltanwendung abzusehen; fordert die Staatsorgane Nicaraguas auf, alle willkürlich Verhafteten freizulassen, alle betroffenen Angehörigen zu entschädigen und zu garantieren, dass sie nicht strafrechtlich verfolgt werden; fordert die Staatsorgane auf, Abstand von öffentlichen Stellungnahmen zu nehmen, in denen Demonstranten, Menschenrechtsverfechter und Journalisten gebrandmarkt werden, und staatliche Medien nicht für öffentliche Kampagnen zu nutzen, die die Gewalt anheizen könnten;

    4.

    fordert die Staatsorgane Nicaraguas auf, unverzüglich eine unabhängige und transparente internationale Untersuchung zu gestatten, damit diejenigen strafrechtlich verfolgt werden, die für die Unterdrückung und die Todesfälle während der Proteste verantwortlich sind; begrüßt in diesem Zusammenhang den Besuch der IAMRK in Nicaragua und ist besorgt angesichts der Schlussfolgerungen ihres vorläufigen Berichts; fordert die internationale Gemeinschaft auf, aktiv daran mitzuwirken, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden;

    5.

    fordert die Regierung Nicaraguas auf, die Weisungsbefugnis des Ausschusses für die Überwachung der Umsetzung der vor der IAMRK vorgelegten Empfehlungen anzuerkennen und zu bekräftigen und einen Zeitplan für erneute Besuche der IAMRK festzulegen; fordert die Einrichtung eines öffentlichen Registers der Krankenhausaufenthalte, wie von der IAMRK gefordert;

    6.

    fordert die Staatsorgane Nicaraguas nachdrücklich auf, allen gesellschaftlichen Akteuren – auch oppositionellen Kräften, Journalisten und Menschenrechtsverfechtern, darunter Umweltaktivisten und Akteuren der Zivilgesellschaft – im Einklang mit dem Völkerrecht ausreichend Handlungsspielraum zu lassen, damit allen Konfliktparteien der Weg zu einer Aussprache über die Lage in Nicaragua geebnet wird und die Menschenrechte in dem Land geachtet werden; weist erneut darauf hin, dass die umfassende Beteiligung der Opposition, das Ende der Polarisierung im Justizwesen, die Beendigung der Straflosigkeit und die Medienvielfalt ausschlaggebend dafür sind, dass die demokratische Ordnung des Landes wiederhergestellt wird;

    7.

    bedauert, dass die Freiheit der Medien im Vorfeld und im Laufe der Proteste in Nicaragua verletzt wurde; hält es für nicht hinnehmbar, dass die Staatsorgane während der Proteste Medienunternehmen sperrten; fordert die Regierung auf, die uneingeschränkte Medien- und Meinungsfreiheit in dem Land wiederherzustellen und den Schikanen gegen Journalisten ein Ende zu setzen;

    8.

    nimmt die unlängst erfolgte Einrichtung eines nationalen Dialogs und die Einsetzung einer Wahrheitskommission zu Kenntnis, an denen unabhängige nationale Akteure aus allen Bereichen ebenso wie internationale Akteure beteiligt werden müssen; bedauert, dass die erste Gesprächsrunde des nationalen Dialogs aufgrund der von der Regierung Nicaraguas auferlegten Beschränkungen gescheitert ist, und äußert die Hoffnung, dass die soeben erfolgte Wiederaufnahme des Dialogs eine Chance zur Bewältigung der Krise und zur Beendigung der Gewalt bietet; betont, dass alle Gespräche ohne Gewalt und Repression und unter Einhaltung der Rechtsvorschriften und der Verfassung stattfinden sollten und dass dabei der Grundsatz zu berücksichtigen ist, dass alle Gesetzesänderungen im Einklang mit den gesetzlich festgelegten Verfahren vorzunehmen sind;

    9.

    verurteilt die unter Verletzung der Rechtsordnung unternommenen unrechtmäßigen Schritte, die in Verfassungsänderungen mündeten, mit denen die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten aufgehoben wurde, sodass Daniel Ortega ununterbrochen das Amt des Präsidenten innehaben konnte, was ein eindeutiger Verstoß gegen das Recht auf demokratische Wahlen ist; betont, dass starke demokratische Institutionen, Versammlungsfreiheit und politische Pluralität erforderlich sind; fordert in diesem Zusammenhang als Ausweg aus der politischen Krise eine Wahlreform, dank deren faire, transparente und glaubwürdige Wahlen abgehalten werden, die internationalen Normen genügen;

    10.

    fordert die Staatsorgane auf, die in den politischen Kreisen Nicaraguas grassierende Korruption zu bekämpfen, die das Funktionieren aller staatlichen Institutionen beeinträchtigt und ausländischen Investitionen abträglich ist; fordert, dass die Rechtsvorschriften Nicaraguas zur Bekämpfung von Korruption – einschließlich der Vorschriften über Bestechung, Amtsmissbrauch und Schmiergeldzahlungen – umgesetzt werden; ist besorgt über die Verbindungen, die zwischen Präsident Ortega und anderen Konflikten in der Region bestehen; fordert die Staatsorgane Nicaraguas auf, das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zu unterzeichnen und zu ratifizieren;

    11.

    weist darauf hin, dass Nicaragua vor dem Hintergrund des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union und den Ländern Zentralamerikas daran gemahnt werden muss, dass die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie sowie die Menschenrechte zu achten sind, wie in der Menschenrechtsklausel des Abkommens festgelegt; fordert die EU auf, die Lage zu überwachen und erforderlichenfalls zu prüfen, welche Maßnahmen ergriffen werden können; warnt davor, dass die Menschenrechtsverletzungen schwerwiegende Folgen für Politik, Wirtschaft und Investitionen haben können;

    12.

    beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, dem Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, der Parlamentarischen Versammlung Europa–Lateinamerika, dem Zentralamerikanischen Parlament, der Lima-Gruppe sowie der Regierung und dem Parlament der Republik Nicaragua zu übermitteln.

    (1)  ABl. C 45E vom 23.2.2010, S. 89.

    (2)  ABl. C 285E vom 21.10.2010, S. 74.

    (3)  Angenommene Texte, P8_TA(2017)0043.


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