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Document 52014IE1568

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Lage und Arbeitsbedingungen der zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Türkei

ABl. C 242 vom 23.7.2015, p. 34–38 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

23.7.2015   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 242/34


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Lage und Arbeitsbedingungen der zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Türkei

(2015/C 242/06)

Berichterstatter:

Arno METZLER

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung am 26./27. Februar 2014, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Lage und Arbeitsbedingungen der zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Türkei“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 17. Dezember 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 504. Plenartagung am 21./22. Januar 2015 (Sitzung vom 21. Januar 2015) mit 205 Stimmen bei 2 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA regt an, dass die türkische Regierung und die türkischen Verwaltungsebenen die zivilgesellschaftlichen Organisationen als wichtigen Teil der Gesellschaft und maßgeblichen Akteur des Annäherungsprozesses der Türkei an die Werte und den Besitzstand der EU anerkennen. Ziel muss es sein, eine Gesellschaft der gelebten Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen zu schaffen. Die Türkei sollte gemeinsam mit daran arbeiten, die institutionellen und legislativen Rahmenbedingungen für eine pluralistische, partizipative Kultur der gegenseitigen Anerkennung und des Austausches zu schaffen.

1.2.

Die Grundvoraussetzung für die Arbeitsweise zivilgesellschaftlicher Organisationen, die Gewaltenteilung im Rechtsstaat, muss in allen Bereichen gewahrt bleiben. Unverhältnismäßige staatliche Eingriffe, welche die Arbeitsfähigkeit über Gebühr beeinträchtigen, wie im Rahmen von Sonderprüfungen geschehen, sind damit nicht vereinbar. Ihr Zugang zu Rechtsbehelfen muss ebenfalls gewahrt bleiben. Korruption sollte mit Nachdruck bekämpft werden.

1.3.

Ein besonderes Augenmerk im Dialog EU-Türkei sollte auf die faktische Umsetzung der Grundfreiheiten und -rechte gelegt werden, darunter

das Recht zur freien Meinungsäußerung ohne Furcht vor individueller Benachteiligung oder Strafe;

eine die Vielfalt fördernde Medienfreiheit;

die Koalitions- und Versammlungsfreiheit, auch und gerade im Umfeld konfliktträchtiger Debatten und Ereignisse;

Frauenrechte;

die Rechte von Gewerkschaften;

die Rechte von Minderheiten, etwa durch religiöse, kulturelle oder sexuelle Zugehörigkeiten;

die Rechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern.

1.4.

Eine Teilung der Gewalten zwischen Legislative, Judikative und Exekutive, insbesondere die klare Unterscheidung und Unterscheidbarkeit zwischen Regierungs- und dem Vorbehalt der Gesetze unterliegendem Verwaltungshandeln sind Grundlage für eine gesicherte Arbeitsfähigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen. Insbesondere die Unabhängigkeit von Richtern ist die Grundlage aller Rechtsstaatlichkeit.

1.5.

Der EWSA appelliert an den Rat der Europäischen Union, auf die Eröffnung von Kapitel 23 (Justiz und Grundrechte) und Kapitel 24 (Recht, Freiheit und Sicherheit) der Verhandlungen über den EU-Beitritt der Türkei hinzuarbeiten, um den Prozess in der Türkei weiter zu begleiten.

1.6.

Zugleich sollte auch das Prinzip der vertikalen Gewaltenteilung, z. B. kommunale Selbstverwaltung, eingehalten werden.

1.7.

Es wäre von Vorteil, wenn zivilgesellschaftliche Organisationen in der Türkei Informationszugänge zu staatlichen (Entscheidungs-)Prozessen erhalten. Dazu sollten regelmäßig und auf Basis transparenter Regelungen Anhörungen und Konsultationen durchgeführt werden, um die Erkenntnisse aus der Arbeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen und die Interessen der vertretenen gesellschaftlichen Gruppen in politischen und administrativen Entscheidungen berücksichtigen zu können. Die türkische Regierung und Verwaltung wird dazu ermutigt, die Zivilgesellschaft in einen strukturellen Diskussionsprozess einzubinden (Wirtschafts- und Sozialrat) und dies im Rahmen des Verfassungs-Reformprozesses auch konstitutionell zu verankern.

1.8.

Einigen Berufsgruppen, namentlich Freien Berufen, kommt aus Sicht des EWSA eine wichtige Bedeutung zur Verwirklichung einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Gesellschaftsordnung zu. Der Zugang zum Recht oder zu medizinischer Versorgung kann nur durch unabhängige, fachlich qualifizierte Berufsangehörige garantiert werden, denen die Bürger sich in einem vor aller Welt und Gewalt geschützten Vertrauensverhältnis anvertrauen können. Diese Vertrauensdienstleistungen etwa durch Rechtsanwälte, Ärzte oder Steuerberater bedürfen einer umfassenden Wahrung des Berufsgeheimnisses.

1.9.

Entsprechend ist eine funktionierende Selbstverwaltung dieser Berufe z. B. in Berufskammern erforderlich, welche die Wahrnehmung der besonderen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und dem Einzelnen frei von sonstigen politischen Einwirkungen gewährleisten. Verstöße hiergegen mussten im Rahmen der Erkundungsmission des EWSA festgestellt werden.

1.10.

Um Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu Partnern auf Augenhöhe wachsen zu lassen, wäre ein sozialer Dialog auf nationaler Ebene sowie auf Branchen- und Unternehmensebene in der Türkei wünschenswert. Ziel sollte auch die Verbesserung von Arbeitsbedingungen sowie Arbeitsschutz und -sicherheit sein, welche in umfassenden Rechten der Arbeitnehmer Ausdruck finden muss (1).

2.   Einleitung und Hintergrund

2.1.

Der Besuch des EWSA in Istanbul und Ankara am 9./10. September 2013 zeigte, dass die Arbeitsbedingungen der zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Türkei teilweise empfindlich beeinträchtigt waren. In einigen Fällen hatten die Vertreter und Mitarbeiter zivilgesellschaftlicher Organisationen schwerwiegende persönliche Restriktionen bis hin zu körperlicher Gewalt durch staatliche Institutionen zu erleiden.

2.2.

Mit einer weiteren Mission nach Ankara und Diyarbakır vom 1. bis 3. Juli 2014 sollten die aktuelle Situation und die Entwicklungen bezüglich der Rahmenbedingungen zivilgesellschaftlicher Arbeit in der Türkei erkundet werden. Im Gespräch mit Vertretern der türkischen Zivilgesellschaft wurde nachgefragt, ob sich seit September 2013 Veränderungen in den Arbeitsbedingungen zivilgesellschaftlicher Organisationen ergeben haben.

2.3.

Diese Reisen fanden zusätzlich zu den regelmäßigen Treffen des Gemischten Beratenden Ausschusses EU/Türkei statt, der den EU-Beitrittsprozess der Türkei begleitet. So konnten die Mitglieder des EWSA ins Gespräch mit Vertretern der Zivilgesellschaft kommen, welche dem Gemischten Beratenden Ausschuss EU/Türkei nicht vorgeschlagen worden waren.

2.4.

In den Gesprächen mit Vertretern vielfältiger zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie Vertretern der Regierung inklusive einer kommunalen Gliederung, wurde insbesondere die Wahrnehmung der Arbeitsbedingungen zivilgesellschaftlicher Organisationen in der Türkei und eventueller Veränderungen erkundet. Individuelle Erfahrungen und Interpretationen einzelner zivilgesellschaftlicher Akteure sollten dabei ein Gesamtbild zeichnen. Dieses bildet weniger die rechtsförmlichen als die wahrgenommenen faktischen Rahmenbedingungen ab, welche für das persönliche Engagement in zivilgesellschaftlichen Organisationen von maßgeblicher Bedeutung sind.

2.5.

Es wird vorausgesetzt, dass eine vollständige Zufriedenheit aller zivilgesellschaftlichen Akteure mit ihren Arbeitsbedingungen auch unter optimalen Umständen nicht zu erreichen ist. Vielmehr muss eine ständige Optimierung des Umfelds für zivilgesellschaftliches Engagement durch einen Ausgleich von Interessen das Ziel im Sinne einer fortwährenden Reifung einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft sein, wie dies in allen EU-Mitgliedstaaten als lebendiger Prozess gestaltet ist.

2.6.

Der EWSA appelliert an die Türkei ebenso wie an die Europäische Union, zivilgesellschaftlichen Dialog als wesentliche Voraussetzung für eine Annäherung der Gesellschaften aneinander anzusehen und mit allen Kräften zu fördern. Dieser Prozess kann nur als gegenseitiger Lernprozess im kontinuierlichen, offenen Dialog gelingen.

3.   Institutionelle und legislative Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliche Organisationen

3.1.

Hinsichtlich der Grundprinzipien der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Selbstverwaltungen hat die Türkei deutliche Fortschritte gemacht, wenngleich noch weitere erhebliche Anstrengungen zur Umsetzung dieser Prinzipien notwendig sind. Zivilgesellschaftliche Organisationen sollten ihre Arbeit auf verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen stützen können. Dazu gehört, dass das geltende Recht ausreichend Handlungsspielraum für ihre Arbeit bietet und das Recht auch von Staat und Verwaltung entsprechend geachtet und angewandt wird. Diese Rechtssicherheit der Arbeitsbedingungen für die zivilgesellschaftlichen Organisationen und ihre Mitarbeiter muss transparent sein und garantiert werden.

3.2.

Gegenstand der Kritik war im Wesentlichen die Verfassungswirklichkeit im Sinne einer verlässlichen Achtung individueller Rechte durch staatliche Behörden. Ungeachtet formeller Rechtmäßigkeit von Verwaltungshandeln im Einzelfall oder eventueller Verstöße gegen Rechtsvorschriften schien die Transparenz der Grundlage bzw. Begründung staatlichen Handelns in einigen Fällen nicht gesichert und transparent. Dadurch wurden staatliche Maßnahmen als Willkür verstanden.

3.3.

Rechtsgrundlage einer Maßnahme, der zuständige Urheber und eine Begründung für eine Entscheidung oder Maßnahme sollten stets in einer für den Betroffenen nachvollziehbaren Weise offengelegt werden. Der unverzügliche Zugang zu Rechtsbehelfen muss dabei stets auch faktisch gewährleistet sein und dokumentiert werden.

4.   Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Handlungsfreiheit für den Einzelnen

4.1.

Auch alle Mitarbeiter zivilgesellschaftlicher Organisationen sind für ihr Handeln wie jeder andere Bürger auch verantwortlich. Ihnen dürfen aufgrund ihres Engagements keine ungerechtfertigten persönlichen Nachteile oder Restriktionen auferlegt werden. Insbesondere ihr Privatleben und das ihrer Familien bedürfen eines vollständigen Schutzes.

4.2.

Der EWSA hat festgestellt, dass Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen in mehreren Fällen durch verbale Angriffe und rechtliche Verfolgungen teilweise persönlich bedroht worden sind sowie in ihrer zivilgesellschaftlichen Arbeit ungerechtfertigt eingeschränkt wurden. Mehrere dieser beschriebenen Restriktionen fanden im Umfeld der Proteste im Gezi-Park im Mai und Juni 2013 und deren gerichtlicher Aufarbeitung statt.

4.3.

Tief bestürzt hat die EWSA-Delegation davon Kenntnis genommen, dass Ärzten nach den Protesten im Gezi-Park die Behandlung Verletzter untersagt wurde und Patientenakten als Ermittlungsakten herausverlangt worden seien. Einige Ärzte seien zudem wegen Missachtung anderslautender Weisungen von staatlichen Stellen mit Ermittlungen wegen Untreue usw. überzogen worden. Vertrauensgeschützte, unabhängige medizinische Versorgung ist unbesehen von politischen Vorkommnissen und ohne Ansehen der Person ein Menschenrecht und ist in Übereinstimmung mit dem hippokratischen Eid zu leisten. Dabei ist ebenso wie bei rechtlicher Vertretung die allseitige Achtung der Berufsgeheimnisse wesentliche Grundlage der durch Vertrauen charakterisierten Arbeit und Merkmal des Rechtsstaats. Die Achtung vor diesen Grundsätzen durch alle Amtswalter hat über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung für das Funktionieren einer rechtsstaatlichen Demokratie und das Vertrauen der Bevölkerung in die Wahrung ihrer Rechte.

4.4.

Der EWSA empfiehlt den türkischen Staatsorganen, durch transparente rechtsstaatliche Entscheidungen auf allen staatlichen Ebenen und die absolute Unabhängigkeit der Entscheidungen von legislativen, judikativen und exekutiven Organen zu versuchen, verlorenes Vertrauen aufseiten der zivilgesellschaftlichen Organisationen zurückzugewinnen.

4.5.

Die Einbindung der Zivilgesellschaft in demokratische Entscheidungsprozesse könnte im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses durch Eröffnung der Kapitel 23 (Justiz und Grundrechte) und 24 (Recht, Freiheit und Sicherheit) sowie eine ambitionierte Umsetzung der darin enthaltenen Grundrechte und -freiheiten unterstützt werden.

4.6.

Der EWSA unterstreicht, dass die Unabhängigkeit der Justiz und auch der Richter ein grundlegendes Element einer freien Zivilgesellschaft in einer Demokratie ist. Insbesondere Richter müssen frei von mittelbaren Weisungen anderer Organe oder individueller Ausübung von Druck oder der Androhung persönlicher Nachteile nach Maßgabe des Rechts unabhängig Recht sprechen können.

5.   Transparenz und Kommunikation für zivilgesellschaftliches Engagement

5.1.

Der EWSA würde es begrüßen, wenn Regierung und Verwaltung in der Türkei das Potenzial zivilgesellschaftlicher Organisationen für die Formulierung und Vermittlung politischer Entscheidung stärker nutzten, indem diese regelmäßig im Vorfeld von Entscheidungen angehört würden und ihnen zum Dialog Informationszugänge zu staatlichen Entscheidungsprozessen eröffnet würden. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen der Türkei haben mangelnde Zugangsmöglichkeiten zu staatlichen Entscheidungsprozessen beklagt. In den EU-Mitgliedstaaten werden Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen von Entscheidungsgremien regelmäßig vor Beschlussfassung angehört, um die aggregierten Einstellungen und Interessen der Mitgliedschaft dieser Organisationen in die Entscheidungsfindung einbeziehen und die Qualität und gesellschaftliche Tragfähigkeit der Entscheidungen steigern zu können. Staatliche Organe können durch Anhörungen beteiligter oder betroffener gesellschaftlicher Kreise, als feststehender Verfahrensbestandteil in Gesetz- und Verordnungsgebung, einerseits Verbesserungspotenziale im Vorhinein feststellen und andererseits auch auf eine Vermittlung der Entscheidung durch die jeweiligen Organisationen in deren Einflusskreise hinein zurückgreifen.

5.2.

Die türkische Regierung und Verwaltung werden dazu ermutigt, die Zivilgesellschaft inklusive Minderheiten auch formalisiert in einen strukturierten politischen Meinungsbildungsprozess durch Schaffung eines Wirtschafts- und Sozialrates einzubeziehen und dies im Rahmen des Verfassungs-Reformprozesses auch konstitutionell zu verankern.

5.3.

Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen sahen sich zum Zeitpunkt der Mission in der Kommunikation mit ihren Mitgliedern und der Öffentlichkeit stark eingeschränkt. Der Zugang zur Presse war durch zum Teil oligopole Strukturen der Medien und vielfach in ihrer Grundausrichtung einseitig geprägte Redaktionen schwierig bis praktisch unmöglich. Starke wirtschaftliche Abhängigkeiten und direkte Einflussnahmen auf die Medien werden berichtet. Eine Berichterstattung über die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen sei dadurch ebenso eingeschränkt wie die Möglichkeit freier Diskurse zu politischen Themen, in denen auch regierungskritische Standpunkte vertreten werden könnten.

5.4.

Der EWSA kommt zu der Einschätzung, dass weitere Schritte zur Verwirklichung einer freien, vielfältigen Medienlandschaft weiterhin notwendig sind. Repressionen gegen Journalisten aufgrund kritischer Arbeit, darunter Inhaftierungen, müssen sofort aufhören.

5.5.

Der EWSA kritisiert die zwischenzeitliche Blockade des digitalen Kurznachrichtendienstes „Twitter“. Meinungsfreiheit auch in den sozialen Medien sollte von der türkischen Regierung gestützt und als Teil des lebhaften Meinungsaustausches in einer Demokratie zugelassen werden.

6.   Gelebter Minderheitenschutz als Prüfstein für Funktionsweise der Demokratie

6.1.

Der Schutz gesellschaftlicher Minderheiten als Prüfstein für die Funktionsweise der Demokratie sollte ernst genommen werden. Diskriminierungen durch staatliche Organe sollten systematisch abgestellt und Diskriminierungen durch Dritte rechtsstaatlich bereinigt und durch gesellschaftliche Aufklärung verhindert werden. Die Einbindung der Zivilgesellschaft in demokratische Entscheidungsprozesse könnte im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses durch Eröffnung der Kapitel 23 (Justiz und Grundrechte) und 24 (Recht, Freiheit und Sicherheit) sowie eine rasche Umsetzung der darin enthaltenen Grundrechte und -freiheiten erleichtert werden.

6.2.

Auch wenn Frauen nicht sinnvoll als Minderheit bezeichnet werden können, fordert der EWSA die Türkei auf, Instrumente des Minderheitenschutzes im Sinne einer Gleichberechtigung der Geschlechter einzusetzen. Dazu sollte die Türkei die UN-Konvention zu Frauenrechten implementieren. Eine Förderung von Mädchen und Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere beim Zugang zum Arbeitsmarkt inklusive des öffentlichen Dienstes, sollte von der Türkei als politisches Ziel aufgenommen und mit Nachdruck verfolgt werden. Der türkische Staat sollte Müttern in schwierigen Lebenslagen Hilfestellung durch unabhängige fachkundige Beratung gewähren und dadurch illegale Abtreibungen reduzieren. Bewährte Praktiken der Zusammenarbeit zwischen Frauenrechtsorganisationen und dem türkischen Staat sollten fortgeführt und ausgebaut werden.

6.3.

Die Türkei sollte weiter daran arbeiten, die kurdische Minderheit als Teil der türkischen Gesellschaft zu integrieren und das kulturelle und sprachliche Leben der Kurdinnen und Kurden fördern.

6.4.

Der EWSA bittet die Türkei, Menschen unterschiedlicher sexueller Ausrichtung oder besonderer Geschlechtsidentität vor Diskriminierungen zu schützen und in die Gesellschaft zu integrieren.

6.5.

Dem EWSA wurde berichtet, dass das türkische Verfassungsprinzip der säkularen Staatlichkeit in einigen Fällen durchbrochen wird. Insbesondere seien Angaben zur Religion in offiziellen Ausweisdokumenten gefordert. Angehörige religiöser Minderheiten, darunter Aleviten, hätten Nachteile im gesellschaftlichen Leben und hinsichtlich ihrer individuellen Berufschancen zu erleiden. Die Türkei ist gebeten, sich stärker für eine diskriminierungsfreie Eingliederung religiöser Minderheiten in die Gesellschaft einzusetzen.

7.   Sozialer Dialog als Instrument und Ausdruck der Demokratie im Arbeitsleben

7.1.

Der EWSA hat Defizite in der Umsetzung einer systematischen Einbindung der Arbeitnehmer in relevante Entscheidungen vorgefunden. Gewerkschaften haben von Einschränkungen der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit als Grundbedingungen einer Organisation von Belegschaften in Gewerkschaften berichtet. Darüber hinaus werde individueller Druck auf Gewerkschafter, insbesondere Betriebsräte, ausgeübt, der das Grundrecht der Koalitionsfreiheit verletze.

7.2.

Mit Bestürzen hat der EWSA Defizite in Ausgestaltung und Umsetzung von Arbeitsschutzmaßnahmen erkannt, die auch im Vorfeld der Erkundungsmission zu Unfällen geführt hatten, wie beispielsweise das Grubenunglück im Mai 2014 in Soma. Der EWSA ruft die türkische Regierung und Verwaltung auf, unter Beteiligung der Arbeitnehmer Vorkehrungen zum Schutz von Leib und Leben der Arbeitnehmer weiterzuentwickeln und flächendeckend durchzusetzen.

8.   Kommunale Selbstverwaltung als Instrument partizipativer Demokratie

8.1.

In der Türkei ist das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung mitunter immer noch ein gegenseitiger Lernprozess, bei dem die jeweiligen Rollen und Befugnisse inkrementell definiert und ausgefüllt werden müssen. Der EWSA stellt fest, dass auch in der Türkei vertikale Gewaltenteilung als ein Instrument für die vielfältige Verknüpfung von Staatlichkeit und gesellschaftlichen Gruppen zum Einsatz kommt und demokratische Prozesse auch regional und lokal stärker zu verankern wären. Auch hier bietet es sich an, zivilgesellschaftliche Organisationen mit direktem lokalem Bezug in politische Entscheidungsprozesse einzubinden, z. B. als sachkundige Bürger und unabhängige Berater.

9.   Allgemeine gesellschaftliche Vorbedingungen für zivilgesellschaftliche Organisationen

9.1.

Staat und Medien könnten das Verständnis der Bevölkerung für die Verschiedenheit gesellschaftlicher Gruppen und die Notwendigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen und Interessenartikulation noch mehr fördern, damit auch Minderheiten als legitimer und bereichernder Teil der türkischen Gesellschaft wahrgenommen werden.

9.2.

Die Herausbildung und professionelle Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen bedarf einer gelebten pluralistischen, partizipativen Gesellschaftsstruktur. Entscheidend ist nicht nur die rechtliche Betätigungsmöglichkeit für zivilgesellschaftliche Organisationen durch institutionelle Vorkehrungen, sondern auch die Wahrung der faktischen Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliches Engagement. Ehrenamtliche Arbeit hängt neben der individuellen Überzeugung für die verfolgten Interessen und Werte auch von der Anerkennung ab, welche dem Einzelnen für sein Engagement entgegengebracht wird.

9.3.

Einige Gespräche mit zivilgesellschaftlichen Akteuren haben eine Selbstwahrnehmung eines unterlegenen Ankämpfens gegen Autoritäten anstatt einer legitimen Interessenvertretung gezeigt. Bestürzend waren teilweise Semantiken der Gegnerschaft, des Misstrauens und des Widerstandes gegen gesellschaftliche oder staatliche Kräfte. Diese Grundeinstellung steht einem gegenseitigen Verständnis und inhaltlichen Fortschritt durch gemeinsame Veränderungen entgegen und beinhaltet die Gefahr der Spaltung gesellschaftlicher Gruppen in der Türkei.

9.4.

Um ein Klima des Misstrauens und der Angst zu überwinden, sind die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen eingeladen, gemeinsam mit ihren europäischen Partnerorganisationen in einen Dialog und Trilog einzutreten, mit dem Ziel, ein Klima des gegenseitigen Respekts und Vertrauens zu stärken.

Brüssel, den 21. Januar 2015

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Siehe hierzu den in der 32. Sitzung des Gemischten Beratenden Ausschusses (GBA) EU/Türkei vom 7./8. November 2013 angenommenen Bericht über die Gewerkschaftsrechte in der Türkei (Joint Report on Trade Union Rights Situation in Turkey, Ko-Berichterstatter: Frau Annie Van Wezel und Herr Rucan Isik) (CES6717-2013_00_00_TRA_TCD), http://www.eesc.europa.eu/?i=portal.en.events-and-activities-32-eu-turkey-jcc-jointreport.30035


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