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Dokument 61988CC0293

Schlussanträge des Generalanwalts Darmon vom 7. Februar 1990.
E. M. Winter-Lutzins gegen Bestuur van de Sociale Verzekeringsbank.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Raad van Beroep Amsterdam - Niederlande.
Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer - Besondere Durchführungsmodalitäten der niederländischen Rechtsvorschriften über die allgemeine Altersversicherung - Zu berücksichtigende Versicherungszeiten im Sinne des Anhangs VI Abschnitt J Nr. 2 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71.
Rechtssache C-293/88.

Sammlung der Rechtsprechung 1990 I-01623

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:1990:52

61988C0293

Schlussanträge des Generalanwalts Darmon vom 7. Februar 1990. - E. M. WINTER-LUTZINS GEGEN BESTUUR VAN DE SOCIALE VERZEKERINGSBANK. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: RAAD VAN BEROEP AMSTERDAM - NIEDERLANDE. - SOZIALE SICHERHEIT DER WANDERARBEITNEHMER - BESONDERE BESTIMMUNGEN UEBER DIE ANWENDUNG DER NIEDERLAENDISCHEN RECHTSVORSCHRIFTEN UEBER DIE ALLGEMEINE ALTERSVERSICHERUNG - IM SINNE DES ANHANGS VI, TEIL J, NR. 2, BUCHSTABE A DER VERORDNUNG (EWG) NR. 1408/71 ZU BERUEKSICHTIGENDE VERSICHERUNGSZEITEN. - RECHTSSACHE 293/88.

Sammlung der Rechtsprechung 1990 Seite I-01623


Schlußanträge des Generalanwalts


++++

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1 . Der Raad van Beroep Amsterdam legt dem Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsstreits über die Anwendung der niederländischen Algemene Ouderdomswet ( Gesetz über die allgemeine Altersversicherung, im folgenden : AOW ) auf eine deutsche Staatsangehörige eine Frage nach der Auslegung von Vorschriften der Verordnung ( EWG ) Nr . 1408/71 des Rates ( 1 ) für den Bereich der sozialen Sicherheit zur Vorabentscheidung vor .

2 . Die am 15 . Februar 1922 geborene Frau Winter-Lutzins verließ im Dezember 1965 die Bundesrepublik Deutschland und zog gemeinsam mit ihrem am 16 . September 1917 geborenen Ehemann in die Niederlande . Dort ging sie ab 1973 mehreren Teilzeitbeschäftigungen nach, bis sie 1980 eine Leistung bei Arbeitsunfähigkeit erhielt . Ihr Ehemann erreichte das Ruhestandsalter 1982 . 1983 kehrten die Eheleute Winter-Lutzins in die Bundesrepublik Deutschland zurück . Von 1983 bis zum 15 . Februar 1987, als sie ihr 65 . Lebensjahr vollendete, blieb Frau Winter-Lutzins weiterhin nach der AOW versichert, soweit sie, obwohl nicht mehr in den Niederlanden wohnend, von einem niederländischen Sozialversicherungsträger eine Leistung bei Arbeitsunfähigkeit erhielt .

3 . Bei Vollendung ihres 65 . Lebensjahres erhielt Frau Winter-Lutzins eine Altersrente nach der AOW . Der Betrag dieser Rente wurde jedoch anhand der Versicherungsjahre errechnet, d . h . der Jahre zwischen Dezember 1965, als die Versicherte in den Niederlanden Wohnung nahm, und Februar 1987, als sie letztmals eine Leistung bei Arbeitsunfähigkeit erhielt . Frau Winter-Lutzins rief die niederländischen Gerichte an, da sich die Sociale Verzekeringsbank ( im folgenden : SVB ), der Sozialversicherungsträger in den Niederlanden, der die Leistungen nach der AOW erbringt, weigerte, ihr die "Übergangsvergünstigungen" zu gewähren . Diese wurden durch die AOW eingeführt, um eine Gleichstellung von Zeiten vor dem 1 . Januar 1957, Tag des Inkrafttretens der AOW, mit Versicherungszeiten der Altersversicherung zu ermöglichen . Ohne diese Vergünstigungen hätte niemand vor dem Jahr 2007 eine AOW-Rente zum vollen Satz von 100 % beanspruchen können, da sich die Rente nämlich auf 2 % eines Mindestlohns je Versicherungsjahr beläuft .

4 . Die rechtliche Regelung der Übergangsvergünstigungen der AOW bedarf einiger Erläuterungen . Diese Regelung ist insofern tatsächlich eine "Vergünstigung", als sie es gestattet, Zeiten zwischen dem 15 . Lebensjahr einer Person und dem 1 . Januar 1957 als Versicherungszeiten nach der AOW zu behandeln, wenn die betreffende Person insgesamt drei Voraussetzungen erfuellt .

5 . Die erste, das sogenannte "Sechsjahreserfordernis" bedeutet, daß der Versicherte nach Vollendung des 59 . Lebensjahres zumindest sechs Jahre in den Niederlanden gewohnt haben muß . Dieses in Artikel 59 Absatz 1 AOW aufgestellte Erfordernis wird indessen durch Artikel 2 der Königlichen Verordnung vom 3 . Dezember 1985 abgeschwächt, der bestimmt, daß eine Person, die nicht mehr in den Niederlanden wohnt, aber weiterhin nach der AOW versichert ist, als im Sinne des Sechsjahreserfordernisses dort wohnhaft anzusehen ist .

6 . Nach der zweiten Voraussetzung muß der Versicherte niederländischer Staatsangehöriger oder einem solchen gleichgestellt sein . Für die Gemeinschaftsangehörigen gilt dieses Erfordernis nicht .

7 . Nach der dritten, in Artikel 56 AOW aufgestellten Voraussetzung muß der Versicherte in den Niederlanden wohnen . Dieses sogenannte "aktuelle Wohnerfordernis", das ebenfalls durch eine Vorschrift einer Königlichen Verordnung abgeschwächt wird, ist nicht auf Personen anzuwenden, die zwischen dem 1 . Januar 1957 und der Vollendung ihres 65 . Lebensjahres ununterbrochen nach der AOW versichert waren .

8 . Die Lage von Frau Winter-Lutzins war bezueglich der ersten beiden Voraussetzungen nicht problematisch . Bei der ersten kam sie in den Genuß der Milderungsvorschrift, da sie nach ihrem Weggang aus den Niederlanden wegen der ihr gewährten Arbeitsunfähigkeitsrente weiterhin bis zur Vollendung des 65 . Lebensjahres nach der AOW versichert war . Im übrigen war sie aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit in der Lage, als Angehörige der EWG die zweite Voraussetzung zu erfuellen .

9 . Demgegenüber konnte Frau Winter-Lutzins weder das "aktuelle Wohnerfordernis" erfuellen, weil sie zum Zeitpunkt ihres 65 . Geburtstags, zu dem ihre Ansprüche auf die Übergangsvergünstigungen zur Prüfung anstanden, nicht mehr in den Niederlanden wohnte, noch sich auf die entsprechende Milderungsvorschrift stützen, weil sie zwischen dem 1 . Januar 1957 und Ende Dezember 1965 noch in der Bundesrepublik Deutschland wohnte und nicht nach der AOW versichert war .

10 . Vor dem nationalen Gericht machte Frau Winter-Lutzins die Unvereinbarkeit der niederländischen Regelung mit Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr . 1408/71 geltend, weil sie den Anspruch auf die "Übergangsvergünstigungen" von dem Erfordernis des Wohnens in den Niederlanden abhängig mache . Diese Vorschrift bestimmt : "Die Geldleistungen bei ... Alter ..., auf die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten Anspruch erworben worden ist, dürfen, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, nicht deshalb gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat ." Wegen der Vereinbarkeit der niederländischen Rechtsvorschriften mit Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof angerufen .

11 . Die Bedeutung einer etwaigen Unvereinbarkeit des aktuellen Wohnerfordernisses mit der Verordnung Nr . 1408/71 wird durch die Lage von Frau Winter-Lutzins klar beleuchtet . Da sie nämlich weder diese Voraussetzung erfuellt noch der diese abschwächenden Vorschrift genügt, kann sie nicht in den Genuß der "Übergangsvergünstigungen" in Form der Gleichstellung der Zeiten zwischen ihrem 15 . Geburtstag am 15 . Februar 1937 und dem 1 . Januar 1957 mit Versicherungszeiten gelangen . Das läuft bei Abrundung der Zahlen darauf hinaus, daß Frau Winter-Lutzins nach der AOW lediglich Anspruch auf Leistungen hat, die nach Maßgabe des Zeitraums zwischen Ende Dezember 1965 und ihrem 65 . Geburtstag errechnet sind, d . h . zu einem Satz von etwa 44 % des Bezugslohns, während der Satz sich auf etwa 84 % belaufen würde, wenn das Wohnerfordernis ihr nicht hätte entgegengehalten werden können .

12 . Schon die Formulierung der Ihnen vorgelegten Frage lenkt die Aufmerksamkeit auf einen besonderen Punkt . Sie werden gefragt, ob eine Voraussetzung wie das aktuelle Wohnerfordernis der AOW mit Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr . 1408/71 unvereinbar sei, "betrachtet man" eine andere Bestimmung dieser Verordnung, nämlich die sich aus Buchstaben a und f im Abschnitt "Niederlande", Nr . 2, ihres Anhangs VI ergebende . Diese Bestimmung sieht vor, daß der Berechtigte nach der AOW, der die Bedingungen, unter denen die Zeiten vor dem 1 . Januar 1957 den Versicherungszeiten gleichgestellt werden können, nicht erfuellt, gleichwohl, wenn er nach Vollendung des 59 . Lebensjahres sechs Jahre im Gebiet eines Mitgliedstaats oder mehrerer Mitgliedstaaten gewohnt hat, die Gleichstellung der Zeiten vor dem 1 . Januar 1957 verlangen kann, in denen er nach dem 15 . Lebensjahr im Gebiet der Niederlande gewohnt hat oder in denen er in den Niederlanden eine entlohnte Tätigkeit im Dienst eines in diesem Mitgliedstaat ansässigen Arbeitgebers ausgeuebt hat, während er im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnte . Man kann dies als Einrichtung eines "Hoffnungslaufs" bezeichnen, weil die Berechtigten nach der AOW, die die Voraussetzungen - insbesondere das aktuelle Wohnerfordernis - für die Übergangsvergünstigungen nicht erfuellen, trotzdem die Gleichstellung bestimmter Zeiten vor dem 1 . Januar 1957 erreichen können . Aber der "Hoffnungslauf" findet doch nur teilweise statt, weil die durch ihn ermöglichte Gleichstellung nur Zeiten betreffen kann, in denen nach der von Ihnen in Ihrem Urteil vom 25 . Februar 1986 in der Rechtssache Spruyt verwandten Formel wegen des Wohnorts oder der Beschäftigung ein "hinreichender Zusammenhang" ( 2 ) ( Verbindung ) zwischen Berechtigtem und niederländischem System bestanden hat .

13 . Halten wir an dieser Stelle fest, daß die erwähnte Bestimmung des Anhangs VI der Verordnung Nr . 1408/71 Frau Winter-Lutzins nicht in die Lage versetzen konnte, das aufgrund der Gemeinschaftsregelung zu erlangen, was ihr verweigert worden war, weil sie die Voraussetzungen nach der AOW nicht erfuellte . Sie hatte nämlich zwar nach ihrem 59 . Geburtstag mindestens sechs Jahre im Gebiet eines oderer mehrerer Mitgliedstaaten gewohnt, jedoch nichts zur Gleichstellung Geeignetes aufzuweisen, weil vor dem 1 . Januar 1957 keine "hinreichende Verbindung" zu den Niederlanden bestanden hatte . Ich muß daher darauf hinweisen, daß die Voraussetzungen, von denen nach der AOW der Anspruch auf die Übergangsvergünstigungen abhängt, je nachdem, ob sie erfuellt sind oder nicht, zur Anwendung zweier rechtlicher Regelungen führen, die bezueglich der von ihnen vermittelten Vergünstigungen spürbare Unterschiede aufweisen . Sind die Voraussetzungen, insbesondere das aktuelle Wohnerfordernis, erfuellt oder gelten sie unter Berücksichtigung der Milderungsvorschriften als erfuellt, so hat der Berechtigte nach der AOW Anspruch auf Gleichstellung des gesamten Zeitraums zwischen seinem 15 . Geburtstag und dem 1 . Januar 1957, unabhängig von einer hinreichenden Verbindung zu den Niederlanden während dieses Zeitraums . Wenn die Voraussetzungen der AOW nicht erfuellt sind oder als erfuellt gelten, dann hat der Rentenberechtigte gegebenenfalls nur Anspruch auf die Gleichstellung der Zeiten zwischen seinem 15 . Geburtstag und dem 1 . Januar 1957, in denen eine hinreichende Verbindung zu den Niederlanden tatsächlich bestanden hat .

14 . Die unterschiedliche Behandlung in Zusammenhang mit dem Umstand, ob eine Person die Voraussetzungen der AOW für die Gewährung der Übergangsvergünstigungen erfuellt oder nicht, lässt sich auch noch anders verdeutlichen . Nehmen wir an, eine andere deutsche Staatsangehörige sei unter gleichen Umständen wie Frau Winter-Lutzins bis zu ihrem 65 . Geburtstag in den Niederlanden geblieben . Obwohl wie bei Frau Winter-Lutzins vor dem 1 . Januar 1957 keine Verbindung zu den Niederlanden bestanden hätte, würden ihr gleichwohl die Zeiten zwischen ihrem 15 . Geburtstag und diesem Zeitpunkt als Versicherungszeiten angerechnet . Jahre ohne jede Verbindung zu den Niederlanden sind, wenn Sie mir diese Formulierung gestatten, entweder Gold oder Blei, je nachdem, ob man bei Vollendung des 65 . Lebensjahres, wenn der Rentenanspruch nach der AOW entsteht, das Erfordernis des "aktuellen Wohnens" in den Niederlanden erfuellt oder nicht .

15 . Eine Prüfung der Lage von Frau Winter-Lutzins im Hinblick auf die Vorschriften der AOW über die "Übergangsvergünstigungen" und der vorstehend genannten des Anhangs VI der Verordnung Nr . 1408/71 beleuchtet die schwerwiegenden Auswirkungen der Klausel des "aktuellen Wohnens ". Man könnte sogar meinen, daß die unterschiedlichen Behandlungen, die sich aus der Wirkung einer solchen Klausel ergeben können, die äusseren Merkmale einer Diskriminierung aufweisen . Heisst das nun, daß dieses Wohnerfordernis als unvereinbar mit Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr . 1408/71 zu betrachten ist? Ich bin nicht dieser Meinung . Ich schließe mich insoweit den Stellungnahmen der SVB, der niederländischen Regierung und der Kommission an und meine, daß eine Prüfung der Vorschriften im Lichte Ihres Urteils in der Rechtssache Spruyt die Feststellung gestattet, daß eine Klausel wie die des aktuellen Wohnens nicht unvereinbar mit der Verordnung Nr . 1408/71 ist . Es hat nämlich den Anschein, als ließen die vorgenannten Bestimmungen des Anhangs VI zwar bestimmte Unterschiede in der Behandlung erkennen, bezeugten aber unzweideutig den Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers, im Bereich der Übergangsvergünstigungen weitgehend den Wohnerfordernissen Raum zu geben . Diesen Gesichtspunkt möchte ich nun vertiefen .

16 . Sehen wir uns zunächst den durch den Text des Anhangs VI Abschnitt "Niederlande" Nr . 2 Buchstaben a und f ins Werk gesetzten Mechanismus selbst an . Er will eine rechtliche Regelung bereitstellen, die die Gleichstellung bestimmter Zeiten vor dem 1 . Januar 1957 mit Versicherungszeiten zugunsten solcher Personen gestattet, die nicht die Voraussetzungen erfuellen für die in der AOW geregelte Gleichstellung . Im Verhältnis zu diesen Voraussetzungen, und insbesondere zu dem "aktuellen Wohnerfordernis", scheinen die betreffenden Vorschriften des Anhangs VI eine doppelte Bedeutung aufzuweisen .

17 . Die erste, ausdrückliche Bedeutung ist die einer Abschwächung der Auswirkungen dieser Wohnerfordernisse . Obwohl eine Person nicht die Voraussetzungen für eine Gleichstellung, wie sie in der AOW vorgesehen ist, erfuellt, braucht sie doch nicht jeden Anspruchs auf eine Gleichstellung von Zeiten vor 1957 verlustig zu gehen . Wir haben es hier wirklich mit einer Abschwächung, mit einer Milderung der Wohnortklauseln der AOW zu tun . Gäbe es nicht die rechtliche Regelung des "Hoffnungslaufs" in Anhang VI, dann hätte eine Person, die nicht die Voraussetzungen der AOW erfuellte, jeden Anspruch auf eine Gleichstellung verloren .

18 . Die zweite, stillschweigende Bedeutung der betreffenden Vorschriften in Anhang VI ist die, daß die Voraussetzungen der AOW, insbesondere die des aktuellen Wohnens, im Normalfall ihre Wirkungen soweit zeitigen, als nicht die Gemeinschaftsregelung sie gemildert, abgeschwächt hat . Im Klartext heisst das, daß Anhang VI, indem er verhindert, daß die Voraussetzungen der AOW sich dahin auswirken, daß eine Person, die sie nicht erfuellt, für Zeiten vor 1957, in denen sie durch ihren Wohnort oder ihre Beschäftigung mit den Niederlanden verbunden war, keinerlei Gleichstellung beanspruchen kann, a contrario den anderen Wirkungen dieser Voraussetzungen freien Lauf lässt . Genau in diesem Punkt beschränkt Anhang VI die Tragweite des Artikels 10 Absatz 1 der Verordnung Nr . 1408/71, der Wohnortklauseln verbietet .

19 . Eben diese Auslegung haben Sie in Ihrem Urteil in der Rechtssache Spruyt vertreten . In diesem Urteil haben Sie zunächst daran erinnert, daß der Zweck der Artikel 48 bis 51 EWG-Vertrag verfehlt würde, wenn

"die Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern" ( 3 ).

Von dieser Besorgnis ausgehend haben Sie festgestellt :

"So soll Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr . 1408/71 über die Aufhebung der Wohnortklauseln das Recht des Betroffenen darauf sichern, Leistungen der sozialen Sicherheit auch nach Umzug in einen anderen Mitgliedstaat zu erhalten, und die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer dadurch fördern, daß die Betroffenen vor den Nachteilen geschützt werden, die sich aus der Verlegung ihres Wohnortes von einem Mitgliedstaat in einen anderen ergeben könnten" ( 4 ),

und hinzugefügt, daß diese Zielsetzung erfordert, daß

"der Schutz auch eine Vergünstigung erfasst, die, obgleich sie in einer Sonderregelung getroffen ist, auf eine Erhöhung des Rentenbetrags hinausläuft, auf den der Berechtigte sonst Anspruch hätte" 5 .

Sie haben damit daran erinnert, daß - wie bereits in Ihrem Urteil vom 7 . November 1973 in der Rechtssache Smieja ( 5 ) ausgeführt - der mit der in Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr . 1408/71 formulierten "Aufhebung" von Wohnortklauseln angestrebte Schutz grundsätzlich die Regelung der "Übergangsvergünstigungen" nach der AOW mit erfassen sollte . Sie haben indessen alsbald ( Randnr . 21 des Urteils ) wichtige Klarstellungen bezueglich der Modalitäten einer Anwendung dieses Grundsatzes auf eine solche Übergangsregelung wie folgt zum Ausdruck gebracht :

"Die Durchführung dieses Grundsatzes bei der Anwendung der niederländischen Rechtsvorschriften über die allgemeine Altersversicherung wird durch den Anhang VI Abschnitt I Nr . 2 der Verordnung Nr . 1408/71 im einzelnen geregelt . Die Regel des Artikels 10, wonach Wohnortklauseln unanwendbar sind, kann nämlich auf ein System der allgemeinen Altersversicherung, bei dem das Wohnen in den Niederlanden einzige Voraussetzung der Versicherung ist, nicht uneingeschränkt angewandt werden ." ( 6 )

20 . Sie sind mithin der Auffassung, daß Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr . 1408/71 auf die Regelung der Übergangsvergünstigungen in der AOW nach Maßgabe der in Anhang VI Abschnitt "Niederlande" Nr . 2 dieser Verordnung vorgesehenen Modalitäten anzuwenden ist, die erklärtermassen den in Artikel 10 Absatz 1 verankerten Grundsatz der Aufhebung der Wohnortklauseln einschränken sollen . Das läuft auf die klare Feststellung hinaus, daß die Auslegung der letztgenannten Vorschrift bezueglich ihrer Auswirkungen auf die Übergangsregelung der AOW nicht unabhängig von der Auslegung des Anhangs VI sein kann, der in Wirklichkeit deren notwendiger Vektor ist . Damit klingt, wie mir scheint, zugleich an, daß der Grundsatz der Aufhebung der Wohnortklauseln im Normalfall keine anderen Wirkungen bezueglich der Regelung der Übergangsvergünstigungen der AOW zeitigen kann als die, die mittels der in Anhang VI festgelegten Modalitäten umschrieben werden . So wird dieser Grundsatz Ausdruck finden in dem Umstand, daß die Anwendung von Wohnortklauseln nicht dazu führen kann, den Anspruch auf eine Gleichstellung von Zeiten vor 1957 zu verneinen, in denen der mehr als 15 Jahre alte Berechtigte zu den Niederlanden eine Verbindung aufwies . Die übrigen Wirkungen der Wohnortklauseln scheinen hingegen, was die Übergangsregelung der AOW betrifft, durch Anhang VI, wie Sie ihn ausgelegt haben, gestattet zu sein, und der Anwendungsbereich des Artikels 10 Absatz 1 erfährt daher in diesem Sinne eine "Einschränkung", um den Ausdruck aufzunehmen, den Sie verwendet haben .

21 . Sicherlich lässt sich der Anhang VI nicht in absoluter Weise als erschöpfende Regelung der Wirkungen des Grundsatzes der Aufhebung von Wohnortklauseln im Bereich der Übergangsvergünstigungen der AOW betrachten . Gerade der Sachverhalt, der Anlaß Ihres Urteils in der Rechtssache Spruyt war, belegt die Möglichkeit von Lücken der Regelung, die zur Entwicklung von Wirkungen - gegebenenfalls im Wege der Analogie - führen, die nicht ausdrücklich vorgesehen waren . Die Annahme, daß es in dem Ihnen vorliegenden Sachverhalt um eine solche Lücke geht, scheint mir indessen nicht möglich zu sein . Ganz im Gegenteil : Mit Ihrem Hinweis, daß nach Nr . 2 Buchstabe a des Anhangs VI, die, wie in Erinnerung gerufen sei, für Personen gilt, die nicht die Voraussetzungen der AOW erfuellen,

"die Berücksichtigung von Zeiten vor dem Inkrafttreten des Gesetzes von der zusätzlichen Voraussetzung (( abhängt )), daß es sich um Zeiten handelt, in denen der Berechtigte in den Niederlanden gewohnt oder dort eine entlohnte Tätigkeit ausgeuebt hat",

und der Feststellung, daß

"solche Zeiten einen hinreichenden Zusammenhang zum niederländischen System (( herstellen ))" 2 .

haben Sie, wie mir scheint, ausgeschlossen, daß der in Artikel 10 Absatz 1 verankerte Grundsatz sich dahin auswirken könnte, daß es Personen, die nicht die Voraussetzungen der AOW erfuellen, gestattet würde, die Gleichstellung von Zeiten zu verlangen, in denen keine hinreichende Verbindung zum niederländischen System bestand . Nach Ihrem Urteil besteht in diesem Punkt keine Lücke der Verordnung, sondern ganz im Gegenteil ein Anwendungsfall dieser Verordnung, genauer, ihres Artikels 10 Absatz 1, nach Maßgabe der in Anhang VI geregelten Modalitäten .

22 . Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr . 1408/71 ist daher im vorliegenden Fall nach Maßgabe der Einschränkungen auszulegen, die - wie Sie festgestellt haben - Anhang VI vorsieht . Die Rechtfertigung für diese Einschränkungen scheint mir in Ihrem Urteil in der Rechtssache Spruyt hinreichend beleuchtet worden zu sein . Im Bereich der Grundsätze muß der Grundsatz der Aufhebung der Wohnortklauseln definitionsgemäß bei einem System der Altersversicherung eingeschränkt werden,

"bei dem das Wohnen ... einzige Voraussetzung der Versicherung ist" ( 7 ).

Bei einem solchen System, bei dem der Wohnort nicht eine, sondern die Voraussetzung ist, würde die uneingeschränkte Anwendung eines Grundsatzes des Verbots von Wohnortklauseln in Wirklichkeit dazu führen, das System der Altersversicherung in den Niederlanden zu zerstören . Rechtsnormen sind streng auszulegen, aber nicht mit einer Strenge, die an Absurdität grenzt .

23 . Ergänzt sei noch, daß die Auslegung der Verordnung Nr . 1408/71 stets auf das grundlegende Prinzip bezogen werden muß, dessen Verwirklichung die Verordnung dient : die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer . In dem Urteil in der Rechtssache Spruyt haben Sie, wie ich in Erinnerung rufen möchte, ausgeführt, daß dieses Prinzip

"... verfehlt (( würde )), wenn die Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern" 3 .

Nach meinem Dafürhalten fordert die Beachtung dieses Prinzips keineswegs, daß man die Wirkung der Wohnortklauseln behindert, um die Gleichstellung mit Versicherungszeiten nach dem niederländischen System von Zeiten herbeizuführen, in denen eine Person keinerlei Verbindung zu diesem System aufzuweisen hat . Das Problem wäre völlig anders gelagert gewesen, wenn es um Wohnortklauseln gegangen wäre, mit denen die Gleichstellung von Zeiten, in denen eine Person eine Verbindung zum niederländischen System aufgewiesen hat, verhindert worden wäre . Anhang VI der Verordnung Nr . 1408/71 hat genau diese Auswirkung verhindert . Er hat damit dem Grundsatz der Aufhebung von Wohnortklauseln im Bereich der Übergangsvergünstigungen nach der AOW eine Tragweite verliehen, die es ermöglicht, den Anforderungen des Grundrechts auf Freizuegigkeit gerecht zu werden . Diese Anforderungen würden meiner Meinung nach verfehlt, wenn eine Wohnortklausel die Anerkennung einer Realität verhinderte, nicht aber, wenn sie die Rechtswohltat einer Fiktion vorenthielte .

24 . Es verstösst nach meiner Ansicht nicht gegen die Verordnung Nr . 1408/71, wenn man die Gleichstellung von Zeiten versagt, in denen keinerlei Verbindung zum niederländischen System bestand . Ein gewisses Gefühl der Unbilligkeit könnte aufgrund des Umstands entstehen, daß das, was den einen, die das aktuelle Wohnerfordernis erfuellen, gestattet wird, den anderen, die es nicht erfuellen, versagt wird . Wie ich vorstehend dargelegt habe, haben bei der Übergangsregelung der AOW wegen der Anwendung einer Wohnortklausel die Fiktionen unterschiedliches Gewicht . Eine unterschiedliche Behandlung hätte es nicht gegeben, wenn das niederländische Gesetz in allen Fällen lediglich die Gleichstellung von Zeiten erlaubt hätte, in denen eine Verbindung bestanden hätte . Wahrscheinlich haben Verwaltungszwänge des Altersversicherungssystems den niederländischen Gesetzgeber bewogen, gewissermassen die Vermutung aufzustellen, daß eine Person, die das aktuelle Wohnerfordernis erfuellt, zwischen ihrem 15 . Geburtstag und dem 1 . Januar 1957 eine Verbindung zu den Niederlanden gehabt hat . Vielleicht lässt sich anhand dieses Begriffs der Vermutung der Eindruck der Unbilligkeit verwischen . So könnte man sagen, daß das Recht auf Freizuegigkeit der Arbeitnehmer zwar angesichts einer Regelung wie der der Übergangsvergünstigungen der AOW die Gleichstellung von Zeiten verlangt, in denen eine Verbindung bestanden hat, daß es aber dem nationalen Gesetzgeber erlaubt ist, zugunsten der Personen, die ein aktuelles Wohnerfordernis erfuellen, die Vermutung aufzustellen, daß bei ihnen eine solche Verbindung bestanden hat .

25 . Wie immer nun die mehr oder weniger schmeichelhafte Darstellung aussehen mag, die man der im vorliegenden Fall zu Tage getretenen unterschiedlichen Behandlung angedeihen lässt, letztlich scheint mir die Feststellung auszureichen, daß sie vom Gemeinschaftsgesetzgeber im Anhang VI der Verordnung Nr . 1408/71 berücksichtigt und gebilligt worden ist und daß auch Sie, wie die Auslegung des Artikels 10 Absatz 1 und des Anhangs VI im Urteil in der Rechtssache Spruyt zeigt, auf der Grundlage des notwendigen Ausgleichs zwischen den Anforderungen des Rechts auf Freizuegigkeit der Arbeitnehmer und den Grundlagen der AOW ihr zugestimmt haben .

26 . Ich schlage Ihnen daher vor, für Recht zu erkennen :

"Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung ( EWG ) Nr . 1408/71, der auf die Übergangsvergünstigungen der niederländischen Rechtsvorschriften über die allgemeine Altersversicherung nach den in Anhang VI Abschnitt 'Niederlande' Nr . 2 der Verordnung festgelegten Modalitäten anwendbar ist, verbietet es nicht, daß nach diesen Rechtsvorschriften Personen, die ein aktuelles Wohnerfordernis nicht erfuellen, die Gleichstellung von Zeiten vor dem Inkrafttreten der Altersversicherungsregelung, in denen sie keinerlei Verbindung zu den Niederlanden aufwiesen, mit Versicherungszeiten vorenthalten bleibt ."

(*) Originalsprache : Französisch .

( 1 ) Vom 14 . Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern ( ABl . L 149, S . 2 ).

( 2 ) Rechtssache 284/84, Slg . 1986, 685, Randnr . 22 .

( 3 ) Rechtssache 284/84, a . a . O ., Randnr . 19 .

( 4 ) Rechtssache 284/84, a . a . O ., Randnr . 20 .

( 5 ) Rechtssache 51/73, Slg . 1973, 1213 .

( 6 ) Der in dieser Passage des Urteils angesprochene "Abschnitt I" ist der Abschnitt "Niederlande" des Anhangs VI; in der gegenwärtigen Fassung der Verordnung Nr . 1408/71 handelt es sich um den "Abschnitt J ".

( 7 ) Rechtssache 284/84, a . a . O ., Randnr . 21 .

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