URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
8. Dezember 2022 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 6 Abs. 2 – Bestimmung der zuständigen Justizbehörden – Entscheidung über die Aufschiebung der Übergabe der gesuchten Person, die von einem Organ erlassen wird, das keine vollstreckende Justizbehörde ist – Art. 23 – Ablauf der Fristen für die Übergabe – Folgen – Art. 12 und Art. 24 Abs. 1 – Inhafthaltung der gesuchten Person zum Zwecke der Strafverfolgung im Vollstreckungsmitgliedstaat – Art. 6, 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht der verfolgten Person, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen“
In der Rechtssache C‑492/22 PPU
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) mit Entscheidung vom 22. Juli 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Juli 2022, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen
CJ
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter), des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M. Ferreira, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. September 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
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von CJ, vertreten durch A. M. V. Bandhoe, A. G. P. de Boon, J. S. Dobosz und P. M. Langereis, Advocaten, |
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des Openbaar Ministerie, vertreten durch M. Diependaal, C. McGivern und K. van der Schaft, |
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der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. H. S. Gijzen und M. J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte, |
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der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Noë und M. Wasmeier als Bevollmächtigte, |
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 27. Oktober 2022
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 2, Art. 12 und Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584 oder Rahmenbeschluss) sowie der Art. 6, 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). |
2 |
Es ergeht im Zusammenhang mit der Vollstreckung in den Niederlanden eines Europäischen Haftbefehls, der am 31. August 2021 vom Sąd Okręgowy w Krakowie Wydział III Karny (Regionalgericht Kraków [Krakau], dritte Abteilung für Strafsachen, Polen) zur Vollstreckung einer gegen CJ verhängten Freiheitsstrafe ausgestellt wurde. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 |
In den Erwägungsgründen 8, 9 und 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:
…
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4 |
Art. 1 Abs. 1 und 3 des Rahmenbeschlusses lautet: „(1) Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt. … (3) Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“ |
5 |
Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses sieht vor: „Bei den nachstehenden Straftaten erfolgt, wenn sie im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind, eine Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit: …
…“ |
6 |
Art. 5 des Rahmenbeschlusses bestimmt: „Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde kann nach dem Recht dieses Staates an eine der folgenden Bedingungen geknüpft werden: …
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7 |
Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet: „Vollstreckende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats zuständig für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ist.“ |
8 |
In Art. 7 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses heißt es: „Jeder Mitgliedstaat kann eine oder, sofern es seine Rechtsordnung vorsieht, mehrere zentrale Behörden zur Unterstützung der zuständigen Justizbehörden benennen.“ |
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Art. 12 des Rahmenbeschlusses sieht vor: „Im Fall der Festnahme einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls entscheidet die vollstreckende Justizbehörde, ob die gesuchte Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats in Haft zu halten ist. Eine vorläufige Haftentlassung nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ist jederzeit möglich, sofern die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaates die ihres Erachtens erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht der gesuchten Person trifft.“ |
10 |
Art. 23 des Rahmenbeschlusses lautet: „(1) Die Übergabe der gesuchten Person erfolgt so bald wie möglich zu einem zwischen den betreffenden Behörden vereinbarten Zeitpunkt. (2) Die Übergabe erfolgt spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls. (3) Ist die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der in Absatz 2 genannten Frist aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich, setzen sich die vollstreckende und die ausstellende Justizbehörde unverzüglich miteinander in Verbindung und vereinbaren ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin. (4) Die Übergabe kann aus schwerwiegenden humanitären Gründen, z. B. wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung offensichtlich eine Gefährdung für Leib oder Leben der gesuchten Person darstellt, ausnahmsweise ausgesetzt werden. Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls erfolgt, sobald diese Gründe nicht mehr gegeben sind. Die vollstreckende Justizbehörde setzt die ausstellende Justizbehörde unverzüglich davon in Kenntnis und vereinbart ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin. (5) Befindet sich die betreffende Person nach Ablauf der in den Absätzen 2 bis 4 genannten Fristen noch immer in Haft, wird sie freigelassen.“ |
11 |
Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt: „Die vollstreckende Justizbehörde kann nach der Entscheidung zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls die Übergabe der gesuchten Person aufschieben, damit diese im Vollstreckungsstaat gerichtlich verfolgt werden oder, falls sie bereits verurteilt worden ist, im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats eine Strafe verbüßen kann, die wegen einer anderen als der im Europäischen Haftbefehl genannten Handlung gegen sie verhängt wurde.“ |
12 |
Art. 26 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses sieht vor: „Der Ausstellungsmitgliedstaat rechnet die Dauer der Haft aus der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auf die Gesamtdauer des Freiheitsentzugs an, die im Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung zu verbüßen wäre.“ |
Niederländisches Recht
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Der Rahmenbeschluss 2002/584 wurde durch die Wet tot implementatie van het kaderbesluit van de Raad van de Europese Unie betreffende het Europees aanhoudingsbevel en de procedures van overlevering tussen de lidstaten van de Europese Unie (Overleveringswet) (Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten [Übergabegesetz]) vom 29. April 2004 (Stb. 2004, Nr. 195) in niederländisches Recht umgesetzt (im Folgenden: Übergabegesetz). |
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Art. 1 des Übergabegesetzes bestimmt: „In diesem Gesetz ist zu verstehen unter …
…“ |
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Art. 27 Abs. 2 des Übergabegesetzes bestimmt: „Vor Abschluss der Erörterung der Sache in der mündlichen Verhandlung entscheidet das Gericht von Amts wegen über die Inhaftierung der gesuchten Person, wenn diese in Haft oder in Polizeigewahrsam genommen worden ist.“ |
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Art. 33 des Übergabegesetzes sieht vor: „Der nach Art. 27 angeordnete Freiheitsentzug wird – vorbehaltlich einer Fortsetzung des Freiheitsentzugs aus anderen Gründen – beendet, wenn
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In Art. 34 des Übergabegesetzes heißt es: „1. Der Freiheitsentzug kann nach Art. 33 Buchst. b um höchstens zehn Tage verlängert werden. 2. Abweichend von Abs. 1 kann der Freiheitsentzug um höchstens 30 Tage verlängert werden, wenn …
…“ |
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Art. 35 des Übergabegesetzes lautet: „1. So bald wie möglich nach Erlass der Entscheidung, mit der die Übergabe ganz oder teilweise gestattet wird, spätestens jedoch zehn Tage nach Erlass dieser Entscheidung wird die gesuchte Person tatsächlich übergeben. Der Staatsanwalt bestimmt nach Rücksprache mit der ausstellenden Justizbehörde Ort und Zeitpunkt [der tatsächlichen Übergabe]. 2. Kann die tatsächliche Übergabe wegen besonderer Umstände nicht innerhalb der in Abs. 1 festgelegten Frist erfolgen, wird einvernehmlich ein neuer Zeitpunkt festgelegt. Die tatsächliche Übergabe findet dann spätestens zehn Tage nach dem festgelegten Zeitpunkt statt. 3. Die tatsächliche Übergabe kann ausnahmsweise unterbleiben, solange ihr schwerwiegende humanitäre Gründe entgegenstehen, insbesondere solange die gesuchte Person aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht reisen kann. Die ausstellende Justizbehörde wird unverzüglich davon unterrichtet. Der Staatsanwalt bestimmt nach Rücksprache mit der ausstellenden Justizbehörde den Ort und den Zeitpunkt, an dem die tatsächliche Übergabe dennoch erfolgen kann. Die tatsächliche Übergabe findet dann spätestens zehn Tage nach dem festgelegten Zeitpunkt statt. 4. Der Freiheitsentzug der gesuchten Person wird nach Ablauf der in den Abs. 1 bis 3 genannten Fristen beendet.“ |
19 |
Art. 36 dieses Gesetzes bestimmt: „1. Die Entscheidung über den Zeitpunkt und den Ort der tatsächlichen Übergabe kann vorbehalten werden, wenn und solange die gesuchte Person in den Niederlanden strafrechtlich verfolgt wird oder ein von einem niederländischen Gericht gegen sie ergangenes Strafurteil noch ganz oder teilweise vollstreckt werden kann. 2. In Fällen gemäß Abs. 1 kann der Minister nach Stellungnahme der Staatsanwaltschaft beschließen, dass und unter welchen Bedingungen die gesuchte Person der ausstellenden Justizbehörde bereits vorübergehend zur Verfügung gestellt werden kann, damit diese eine gegen die Person durch rechtskräftiges Urteil verhängte Freiheitsstrafe vollstrecken kann. 3. Zu den vom Minister festgelegten Bedingungen gehört im Fall
…“ |
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
20 |
Am 31. August 2021 erließ der Sąd Okręgowy w Krakowie Wydział III Karny (Regionalgericht Kraków, dritte Abteilung für Strafsachen, Polen) gegen CJ, einen polnischen Staatsangehörigen, einen Europäischen Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, die in Polen wegen 13 als Diebstahl in organisierter Form oder mit Waffen im Sinne von Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 einzustufender Straftaten gegen ihn verhängt worden war. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts, der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande), muss CJ noch fast die gesamte für diese Straftaten verhängte Strafe verbüßen. |
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Zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nahm das vorlegende Gericht CJ mit Entscheidung vom 2. Juni 2022 in Haft. Mit rechtskräftig gewordener Entscheidung vom 16. Juni 2022 gestattete es seine Übergabe für die in diesem Haftbefehl aufgeführten Straftaten. |
22 |
Zeitgleich mit diesem Verfahren wurde CJ in den Niederlanden wegen einer anderen Handlung als denjenigen, die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegen, strafrechtlich verfolgt. Am 15. Dezember 2021 verurteilte der Kantonrechter in de Rechtbank Den Haag (Kantonsrichter am Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) CJ wegen Führens eines Kraftfahrzeugs ohne gültige Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 360 Euro, ersatzweise zu einer Freiheitsstrafe von sieben Tagen. Diese Verurteilung ist jedoch nicht rechtskräftig, da CJ gegen das Urteil Berufung eingelegt hat. Die mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht war für November 2022 vorgesehen, und gegen das Berufungsurteil kann noch Kassationsbeschwerde eingelegt werden. Das vorlegende Gericht weist auch darauf hin, dass CJ nicht auf sein Recht verzichtet habe, an den Verhandlungen im Rahmen dieses Strafverfahrens teilzunehmen. |
23 |
Der Officier van justitie bij het Arrondissementsparket Amsterdam (im Folgenden: Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam) beantragte daher am 17. Juni 2022 beim vorlegenden Gericht, die Haft von CJ um 30 Tage zu verlängern, da seine Übergabe wegen „besonderer Umstände“ nicht innerhalb der zehntägigen Frist erfolgen könne. |
24 |
Insoweit weist das vorlegende Gericht zum einen darauf hin, dass die Entscheidung, die Übergabe aufzuschieben, gemäß Art. 36 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 35 Abs. 1 des Übergabegesetzes dem Staatsanwalt obliege. Das vorlegende Gericht sei nicht befugt, die Rechtmäßigkeit einer solchen Entscheidung zu prüfen. |
25 |
Zum anderen stellt das vorlegende Gericht fest, dass in dem bei ihm anhängigen Verfahren eine Verlängerung der Haft nach niederländischem Recht allein mit der Aufschiebung der Übergabe gerechtfertigt werden könne. Somit beruhe der Antrag auf Verlängerung der Haft von CJ zwangsläufig darauf, dass der Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam beschlossen habe, die Übergabe wegen des in den Niederlanden laufenden Strafverfahrens aufzuschieben. |
26 |
Die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) könne nämlich auf Antrag des Staatsanwalts bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam beschließen, die gesuchte Person, solange das Strafverfahren in den Niederlanden laufe, jeweils für einen weiteren Zeitraum von bis zu 30 Tagen in Haft zu halten, sofern das Übergabeverfahren hinreichend sorgfältig durchgeführt werde und somit die Inhaftierung nicht übermäßig lang dauere. |
27 |
Am 22. Juni 2022 gab das vorlegende Gericht dem Antrag des Staatsanwalts bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam auf Inhafthaltung von CJ statt und verlängerte die Haft daher um 30 Tage. |
28 |
Am 6. Juli 2022 beantragte der Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam erneut die Verlängerung der Haft von CJ um weitere 30 Tage, und zwar weil „die tatsächliche Übergabe wegen besonderer Umstände nicht innerhalb der Frist von zehn Tagen erfolgen kann“. Er führte im Wesentlichen aus, dass diese „besonderen Umstände“ darin bestünden, dass CJ nicht darauf verzichtet habe, zur Verhandlung im Berufungsverfahren zu erscheinen. |
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Der Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam erläuterte ferner, dass er, solange das Strafverfahren gegen CJ in den Niederlanden anhängig sei, die Aufschiebung der Übergabe anordnen und regelmäßig die Verlängerung der Haft beantragen werde. Am 6. Juli 2022 gab das vorlegende Gericht seinem Antrag statt und verlängerte die Haft von CJ um weitere 30 Tage. |
30 |
In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht erstens, ob CJ in Haft gehalten werden kann, wenn die Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgeschoben wird, weil im Vollstreckungsmitgliedstaat ein Strafverfahren gegen ihn anhängig ist. |
31 |
Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass die Art. 12 und 24 des Rahmenbeschlusses 2002/584 der Inhafthaltung einer Person in der Lage von CJ bis zum Abschluss der sie betreffenden Strafverfahren in den Niederlanden nicht entgegenstünden. Diese Bestimmungen stellten somit in Verbindung mit den Art. 33 bis 36 des Übergabegesetzes eine klare und zugängliche Rechtsgrundlage dar, die den nationalen Behörden die Befugnis verleihe, eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen sei, in Haft zu halten, wenn ihre Übergabe aufgeschoben worden sei. |
32 |
Somit bleibe allein die Frage, ob die Dauer der Inhaftierung dieser Person nicht übermäßig lang werde, was gegen die Anforderungen von Art. 6 der Charta verstieße. |
33 |
Zweitens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es nach Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 Sache der „vollstreckenden Justizbehörde“ sei, die Entscheidung über die Aufschiebung der Übergabe zur Ermöglichung der Strafverfolgung im Vollstreckungsmitgliedstaat zu erlassen. Wie sich aus Rn. 24 des vorliegenden Urteils ergibt, ist im vorliegenden Fall aber der Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam die für die Entscheidung über eine etwaige Aufschiebung der Übergabe zuständige Behörde. |
34 |
Das vorlegende Gericht stellt in diesem Zusammenhang fest, dass der Gerichtshof zum einen in Rn. 67 des Urteils vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie (Urkundenfälschung) (C‑510/19, EU:C:2020:953), bereits entschieden habe, dass ein solcher Staatsanwalt wegen des Einflusses, den die Exekutive auf dieses Organ ausüben könne, nicht als „vollstreckende Justizbehörde“ eingestuft werden könne. Zum anderen habe der Gerichtshof zur Anwendung von Art. 23 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Urteil vom 28. April 2022, C und CD (Rechtliche Hindernisse der Durchführung einer Übergabeentscheidung) (C‑804/21 PPU, EU:C:2022:307), entschieden, dass die Prüfung der Frage, ob ein Fall höherer Gewalt im Sinne dieser Bestimmung vorliege, und gegebenenfalls die Festlegung eines neuen Übergabedatums Entscheidungen über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls darstellten, die nach Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses im Licht seines achten Erwägungsgrundes in die ausschließliche Zuständigkeit der vollstreckenden Justizbehörde fielen. |
35 |
Unter diesen Umständen stelle sich die Frage, ob die in Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehene Entscheidung, die Aufschiebung der Übergabe anzuordnen, eine Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls darstelle, die nach Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses von der vollstreckenden Justizbehörde zu treffen sei. |
36 |
Außerdem stellt das vorlegende Gericht fest, dass die Übergabe abgesehen von den in Art. 23 Abs. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Fällen einer Aufschiebung der Übergabe gemäß Art. 23 Abs. 2 und 5 des Rahmenbeschlusses innerhalb von zehn Tagen erfolgen müsse. Da diese Fristen im vorliegenden Fall jedoch nicht eingehalten würden, sei fraglich, ob CJ in Haft gehalten werden könne, weil die Grundlage dafür im Wesentlichen in der Entscheidung, die Übergabe aufzuschieben, liege. |
37 |
Für den Fall, dass der Gerichtshof entscheiden sollte, dass der Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam nicht als „vollstreckende Justizbehörde“ eingestuft werden könne und damit nicht befugt sei, eine Entscheidung über die Aufschiebung der Übergabe im Sinne von Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zu erlassen, stelle sich die Frage, welche Folgen sich daraus für die Lage von CJ ergäben. |
38 |
Drittens weist das vorlegende Gericht zum einen darauf hin, dass die tatsächliche Übergabe von CJ um mehrere Monate aufgeschoben werden könnte, da erstens der Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam beabsichtige, die Aufschiebung der Übergabe bis zum Abschluss des in den Niederlanden anhängigen Strafverfahrens zu beantragen, und zweitens gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts noch Kassationsbeschwerde eingelegt werden könne. |
39 |
Zum anderen führt das vorlegende Gericht aus, dass CJ eine Freiheitsstrafe im Ausstellungsmitgliedstaat verbüßen müsse, während er im Vollstreckungsmitgliedstaat nur wegen einer weit weniger schweren Straftat verfolgt werde, die daher wahrscheinlich zu einer milderen Strafe führen werde. In Anbetracht der möglichen Verlängerung seiner Haft in den Niederlanden und der Verpflichtung, gemäß Art. 26 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die Dauer der Haft aus der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls auf die im Ausstellungsmitgliedstaat zu verbüßende Strafe anzurechnen, würde CJ jedoch faktisch einen erheblichen Teil der Freiheitsstrafe, zu der er in Polen verurteilt worden sei, im Vollstreckungsmitgliedstaat, d. h. in den Niederlanden, verbüßen. Dies würde nicht dazu beitragen, seine Aussichten auf Resozialisierung im Ausstellungsmitgliedstaat zu erhöhen. |
40 |
Unter diesen Umständen fragt sich das vorlegende Gericht, ob es bei der Entscheidung über einen Antrag auf Verlängerung der Haft der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, nicht eine Interessenabwägung vorzunehmen hat, und zwar konkret eine Abwägung wie diejenige, die die ausstellende Justizbehörde nach Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorzunehmen hat, wenn sie über den Zeitpunkt entscheidet, zu dem die übergebene Person in den Vollstreckungsmitgliedstaat zurückkehrt, um dort ihre Freiheitsstrafe zu verbüßen. Der Gerichtshof habe diese Bestimmung im Urteil vom 11. März 2020, SF (Europäischer Haftbefehl – Garantie einer Rücküberstellung in den Vollstreckungsmitgliedstaat) (C‑314/18, EU:C:2020:191), dahin ausgelegt, dass es der ausstellenden Justizbehörde nicht freistehe, die Rücküberstellung des Betroffenen in den Vollstreckungsmitgliedstaat systematisch und automatisch auf den Zeitpunkt zu verschieben, zu dem die anderen Verfahrensabschnitte im Rahmen des Strafverfahrens, das die Straftat betreffe, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen sei, rechtskräftig abgeschlossen sein würden. |
41 |
Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts würde eine entsprechende Heranziehung dieser Rechtsprechung auf das bei ihm anhängige Verfahren bedeuten, dass die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe nicht allein deshalb aufschieben dürfe, weil die gesuchte Person nicht auf ihr Recht verzichtet habe, in dem im Vollstreckungsmitgliedstaat gegen sie geführten Strafverfahren persönlich vor Gericht zu erscheinen. |
42 |
Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
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Zum Antrag auf Anwendung des Eilvorabentscheidungsverfahrens
43 |
Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegende Vorlage zur Vorabentscheidung dem Eilvorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 23a Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. |
44 |
Zur Begründung dieses Antrags verweist das vorlegende Gericht zum einen darauf, dass sich CJ seit dem 2. Juni 2022 in Übergabehaft befinde. Zum anderen werde sich die Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen unmittelbar und entscheidend auf die Dauer der Haft von CJ auswirken. |
45 |
Hierzu ist erstens festzustellen, dass die vorliegende Vorlage zur Vorabentscheidung die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584 betrifft, der zu den von Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags erfassten Bereichen gehört. Sie kommt daher grundsätzlich für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht. |
46 |
Was zweitens die Voraussetzung der Dringlichkeit betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese Voraussetzung insbesondere dann erfüllt ist, wenn die im Ausgangsverfahren betroffene Person gegenwärtig ihrer Freiheit beraubt ist und ihre weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits abhängt, wobei hinsichtlich der Lage dieser Person auf den Zeitpunkt der Prüfung des Antrags, die Vorlage zur Vorabentscheidung dem Eilverfahren zu unterwerfen, abzustellen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Juni 2022, Valstybės sienos apsaugos tarnyba u. a., C‑72/22 PPU, EU:C:2022:505, Rn. 37). |
47 |
Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Sachverhaltsdarstellung des vorlegenden Gerichts, dass die im Ausgangsverfahren betroffene Person, CJ, zum Zeitpunkt der Prüfung des Antrags, die Vorlage zur Vorabentscheidung dem Eilverfahren zu unterwerfen, tatsächlich ihrer Freiheit beraubt war. |
48 |
Ferner soll mit den Fragen des vorlegenden Gerichts geklärt werden, unter welchen Voraussetzungen eine Person in der Lage von CJ, deren Übergabe an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgeschoben wurde, um sie im Vollstreckungsmitgliedstaat strafrechtlich zu verfolgen, in Haft gehalten werden kann. |
49 |
Unter diesen Umständen hat die Erste Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung der Generalanwältin am 3. August 2022 entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, die vorliegende Vorlage zur Vorabentscheidung dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben. |
Zu den Vorlagefragen
Zur zweiten Frage
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Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung genannte Entscheidung, die Übergabe aufzuschieben, eine Entscheidung über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls darstellt, die nach Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses von der vollstreckenden Justizbehörde zu treffen ist. Wenn ja, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob dann, wenn eine solche Entscheidung von einer anderen Stelle als der vollstreckenden Justizbehörde erlassen wurde, die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, zum Zwecke der Vollstreckung dieses Haftbefehls noch in Haft gehalten werden kann. |
51 |
Zum ersten Teil dieser Frage ist zunächst festzustellen, dass Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 seinem Wortlaut nach klar zum Ausdruck bringt, dass es Sache der vollstreckenden Justizbehörde ist, die Übergabe der gesuchten Person aufzuschieben. Ergibt sich der Sinn einer Bestimmung des Unionsrechts eindeutig aus ihrem Wortlaut, kann der Gerichtshof von dieser Auslegung nicht abweichen (Urteil vom 25. Januar 2022, VYSOČINA WIND, C‑181/20, EU:C:2022:51, Rn. 39). |
52 |
Aus Art. 7 in Verbindung mit dem neunten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 geht hervor, dass das Tätigwerden einer anderen als der vollstreckenden Justizbehörde, wie der „zentralen Behörde“ im Sinne dieses Artikels, auf die praktische und administrative Unterstützung der zuständigen Justizbehörden beschränkt bleiben muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2022, C und CD [Rechtliche Hindernisse der Durchführung einer Übergabeentscheidung], C‑804/21 PPU, EU:C:2022:307, Rn. 65). |
53 |
Die Ausübung der in Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Befugnis geht aber über den Rahmen der bloßen „praktischen und administrativen Unterstützung“ hinaus, die zentralen Behörden übertragen werden kann. Denn die Entscheidung über die Aufschiebung der Übergabe betrifft die durch den Rahmenbeschluss 2002/584 geschaffenen Mechanismen der Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden der Mitgliedstaaten in ihrem Kern, weil mit ihr die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls für einen Zeitraum ausgesetzt wird, der mindestens der Dauer dieser Aufschiebung entspricht. |
54 |
Demnach fällt eine Entscheidung über die Aufschiebung der Übergabe, da sie eine Entscheidung darstellt, die die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls betrifft, nach Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in die ausschließliche Zuständigkeit der vollstreckenden Justizbehörde. |
55 |
Was im vorliegenden Fall die Möglichkeit betrifft, den Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam als „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 einzustufen, ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof in Rn. 67 des Urteils vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie (Urkundenfälschung) (C‑510/19, EU:C:2020:953), bereits entschieden hat, dass dieser Staatsanwalt nicht unter diesen Begriff fällt, weil diese Behörde Einzelweisungen seitens des niederländischen Justizministers unterworfen werden kann. Die im Ausgangsverfahren fragliche Entscheidung, die Übergabe aufzuschieben, ist daher, da sie vom Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam getroffen wurde, offenbar nicht von einer „vollstreckenden Justizbehörde“ erlassen worden, was zu klären Sache des vorlegenden Gerichts ist. |
56 |
Sodann ist zu den Folgen einer Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Entscheidung über die Aufschiebung der Übergabe für die Inhafthaltung der gesuchten Person, die Gegenstand des zweiten Teils der zweiten Frage sind, festzustellen, dass Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 insoweit nichts zu entnehmen ist. |
57 |
Eine Entscheidung über die Aufschiebung der Übergabe der gesuchten Person, bei deren Erlass keine „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 tätig geworden ist, genügt jedoch nicht den in Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Formerfordernissen (vgl. entsprechend Urteil vom 28. April 2022, C und CD [Rechtliche Hindernisse der Durchführung einer Übergabeentscheidung], C‑804/21 PPU, EU:C:2022:307, Rn. 67 bis 69). |
58 |
Da die Entscheidung, den Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, gemäß Art. 15 des Rahmenbeschlusses 2002/584 erlassen wurde, der insbesondere vorsieht, dass die vollstreckende Justizbehörde tätig wird, ist festzustellen, dass eine solche Situation unter Art. 23 des Rahmenbeschlusses fällt, in dem die Fristen für die Übergabe festgelegt sind. |
59 |
Insoweit sieht Art. 23 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vor, dass die vollstreckende Justizbehörde, sobald die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ergangen ist, die gesuchte oder verurteilte Person so bald wie möglich zu einem zwischen den betreffenden Behörden vereinbarten Zeitpunkt zu übergeben hat. Nach Abs. 2 dieses Artikels wird die Person spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls übergeben; die Abs. 3 und 4 dieses Artikels regeln die Übergabefristen in Fällen, in denen die Übergabe aufgrund höherer Gewalt oder aus schwerwiegenden humanitären Gründen nicht erfolgen kann. Befindet sich die gesuchte Person nach Ablauf der in Art. 23 Abs. 2 bis 4 des Rahmenbeschlusses genannten Fristen noch immer in Haft, wird sie gemäß Abs. 5 dieses Artikels freigelassen. |
60 |
Wurde die Entscheidung über die Aufschiebung der Übergabe nicht von einer „vollstreckenden Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 getroffen, ist daher davon auszugehen, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, sobald die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls wirksam erlassen wurde, gemäß Art. 23 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses verpflichtet ist, die gesuchte Person freizulassen, unbeschadet der Anwendung von Maßnahmen, die diese Behörde nach Art. 12 des Rahmenbeschlusses für erforderlich hält, um eine Flucht der gesuchten Person zu verhindern. |
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Im vorliegenden Fall lässt sich, wie die Generalanwältin in den Nrn. 40 und 41 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, nicht ausschließen, dass das vorlegende Gericht die Bestimmungen des Übergabegesetzes im Einklang mit den Anforderungen von Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 auslegen und die vom Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam erlassene Aufschiebungsentscheidung, nachdem es ihre Rechtswidrigkeit festgestellt hat, durch seine Entscheidung ersetzen und dabei gegebenenfalls die Inhafthaltung von CJ vorsehen kann. |
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Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zwar keine unmittelbare Wirkung hat, weil er auf der Grundlage des ehemaligen dritten Pfeilers der Union, und zwar gemäß Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU, erlassen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 69), dass sein zwingender Charakter jedoch für die nationalen Behörden und insbesondere die nationalen Gerichte eine Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung des nationalen Rechts zur Folge hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2016, Ognyanov, C‑554/14, EU:C:2016:835, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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Die nationalen Gerichte müssen bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses daher so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks des Rahmenbeschlusses auslegen, um das im Rahmenbeschluss festgelegte Ziel zu erreichen. Diese Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts ist dem System des AEU-Vertrags immanent, da den nationalen Gerichten dadurch ermöglicht wird, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, wenn sie über die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten entscheiden (Urteil vom 8. November 2016, Ognyanov, C‑554/14, EU:C:2016:835, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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Kann das vorlegende Gericht das Übergabegesetz nicht im Einklang mit den Anforderungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 auslegen, ist es nach Art. 23 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses verpflichtet, die Freilassung einer sich in der Lage von CJ befindenden Person zu verfügen, falls es feststellen sollte, dass die in Art. 23 Abs. 2 bis 4 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen überschritten wurden. |
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Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung genannte Entscheidung, die Übergabe aufzuschieben, eine Entscheidung über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls darstellt, die nach Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses von der vollstreckenden Justizbehörde zu treffen ist. Wurde eine solche Entscheidung nicht von dieser Behörde getroffen und sind die in Art. 23 Abs. 2 bis 4 des Rahmenbeschlusses genannten Fristen abgelaufen, ist die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach Art. 23 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses freizulassen. |
Zur ersten Frage
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Mit seiner ersten Frage, die an zweiter Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 und Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 6 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist und deren Übergabe an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats zum Zwecke ihrer strafrechtlichen Verfolgung im Vollstreckungsmitgliedstaat aufgeschoben wurde, dort auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls während dieser Strafverfolgung in Haft gehalten wird. |
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Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 18. November 2020, Kaplan International colleges UK, C‑77/19, EU:C:2020:934, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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Erstens ist festzustellen, dass nach Art. 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Fall der Festnahme einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls die vollstreckende Justizbehörde entscheidet, ob die gesuchte Person nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats in Haft zu halten ist. Eine vorläufige Haftentlassung nach Maßgabe dieser innerstaatlichen Rechtsvorschriften ist jederzeit möglich, sofern die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats die ihres Erachtens erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht der gesuchten Person trifft. |
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Nach Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses kann die vollstreckende Justizbehörde nach der Entscheidung zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls die Übergabe der gesuchten Person aufschieben, damit diese im Vollstreckungsmitgliedstaat gerichtlich verfolgt werden oder, falls sie bereits verurteilt worden ist, im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats eine Strafe verbüßen kann, die wegen einer anderen als der im Europäischen Haftbefehl genannten Handlung gegen sie verhängt wurde. |
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Aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen geht nicht hervor, dass sie der Inhafthaltung der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, nach dem nationalen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats entgegenstünden, wenn diese Person im Vollstreckungsmitgliedstaat wegen einer dort begangenen Straftat, bei der es sich nicht um die im Europäischen Haftbefehl bezeichnete Straftat handelt, strafrechtlich verfolgt wird. |
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Zweitens ergibt sich in Bezug auf den Zusammenhang, in dem diese Bestimmungen stehen, zwar aus Art. 23 des Rahmenbeschlusses 2002/584, dass die gesuchte Person nach Ablauf der in seinen Abs. 2 und 4 genannten Fristen nach seinem Abs. 5 spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls bzw. nach dem vereinbarten neuen Termin freizulassen ist. |
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Wie die Generalanwältin in Nr. 66 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, stellt die aus den in Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Gründen aufgeschobene Übergabe jedoch eine Sonderregel dar, die von den in Art. 23 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Modalitäten der Durchführung der Übergabe zu unterscheiden ist. |
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Folglich gelten die in Art. 23 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Fristen nicht für den Fall einer aufgeschobenen Übergabe im Sinne von Art. 24 des Rahmenbeschlusses, so dass die vollstreckende Justizbehörde auf der Grundlage von Art. 12 des Rahmenbeschlusses beschließen kann, die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, in Haft zu halten. |
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Drittens trägt die in Rn. 70 des vorliegenden Urteils vorgenommene Auslegung der Art. 12 und 24 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dazu bei, dessen Ziele, die u. a. in der Bekämpfung der Straflosigkeit bestehen, zu erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 62). |
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Wäre es nämlich nicht möglich, eine solche Person in der Zeit bis zu dem Termin, zu dem ihre Übergabe nach Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgeschoben wurde, in Haft zu halten, würde sich die Gefahr, dass diese Person flieht und dadurch die ordnungsgemäße Vollstreckung des gegen sie ergangenen Europäischen Haftbefehls beeinträchtigt würde, unbestreitbar erhöhen. |
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Viertens wird eine solche Auslegung der Art. 12 und 24 des Rahmenbeschlusses 2002/584 auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass diese Bestimmungen im Einklang mit Art. 6 der Charta, wonach jede Person das Recht auf Freiheit und Sicherheit hat, ausgelegt werden müssen. |
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Insoweit sieht Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses ausdrücklich vor, dass dieser nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze zu achten, wie sie in Art. 6 EU niedergelegt sind und in der Charta zum Ausdruck kommen. Diese Pflicht gilt zudem für alle Mitgliedstaaten und insbesondere sowohl für den Ausstellungsmitgliedstaat als auch für den Vollstreckungsmitgliedstaat (Urteil vom 12. Februar 2019, TC, C‑492/18 PPU, EU:C:2019:108, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta sind Einschränkungen der Ausübung von Rechten wie den in Art. 6 der Charta verankerten zulässig, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt der betreffenden Rechte und Freiheiten achten sowie unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (Urteil vom 12. Februar 2019, TC, C‑492/18 PPU, EU:C:2019:108, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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Ferner geht aus Art. 52 Abs. 3 der Charta hervor, dass die in der Charta enthaltenen Rechte, soweit sie den durch die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen dort verliehen wird. Nach Art. 53 der Charta ist keine ihrer Bestimmungen als eine Einschränkung oder Verletzung u. a. der durch die EMRK anerkannten Rechte auszulegen (Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Mechanismus des durch den Rahmenbeschluss 2002/584 eingeführten Europäischen Haftbefehls dem in Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK geregelten Fall entspricht (Urteil vom 30. Juni 2022, Spetsializirana prokuratura [Informationen über die nationale Festnahmeentscheidung], C‑105/21, EU:C:2022:511, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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Zu Art. 12 des Rahmenbeschlusses ist festzustellen, dass nach dieser Bestimmung die vollstreckende Justizbehörde darüber zu entscheiden hat, ob die gesuchte oder nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats verurteilte Person in Haft zu halten ist, und eine vorläufige Haftentlassung nach Maßgabe dieses Rechts jederzeit möglich ist, sofern die zuständige Behörde die ihres Erachtens erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht dieser Person trifft. |
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Beschließt die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses, die Übergabe aufzuschieben, steht ihre Entscheidung, die gesuchte oder verurteilte Person in Haft zu halten, nur dann im Einklang mit Art. 6 der Charta, wenn das Übergabeverfahren mit hinreichender Sorgfalt durchgeführt wurde und somit keine übermäßig lange Inhaftierung vorliegt. Um sich zu vergewissern, dass dies der Fall ist, muss die Behörde eine konkrete Prüfung der betreffenden Sachlage vornehmen und dabei alle relevanten Gesichtspunkte heranziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Januar 2017, Vilkas, C‑640/15, EU:C:2017:39, Rn. 43). |
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Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 12 und Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 6 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie dem nicht entgegenstehen, dass eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist und deren Übergabe an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats zum Zwecke ihrer strafrechtlichen Verfolgung im Vollstreckungsmitgliedstaat aufgeschoben wurde, dort auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls während dieser Strafverfolgung in Haft gehalten wird. |
Zur dritten Frage
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Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, zum Zwecke ihrer strafrechtlichen Verfolgung im Vollstreckungsmitgliedstaat ausschließlich aus dem Grund aufgeschoben wird, dass diese Person nicht auf ihr Recht verzichtet hat, in dem im Vollstreckungsmitgliedstaat gegen sie geführten Strafverfahren persönlich vor Gericht zu erscheinen. Wenn ja, möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Faktoren die vollstreckende Justizbehörde bei ihrer Entscheidung über die Aufschiebung der Übergabe berücksichtigen muss. |
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Nach Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann die vollstreckende Justizbehörde nach der Entscheidung zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls die Übergabe der gesuchten Person aufschieben, damit diese im Vollstreckungsmitgliedstaat gerichtlich verfolgt werden oder, falls sie bereits verurteilt worden ist, im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats eine Strafe verbüßen kann, die wegen einer anderen als der im Europäischen Haftbefehl genannten Handlung gegen sie verhängt wurde. |
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Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht klar hervor, dass sie der vollstreckenden Justizbehörde beim Erlass einer Entscheidung über eine Aufschiebung der Übergabe ein Ermessen einräumt, dessen Ausübung nur der Voraussetzung unterliegt, dass diese Entscheidung im Hinblick auf eine Strafverfolgung im Vollstreckungsmitgliedstaat oder im Hinblick auf die Vollstreckung einer Strafe ergeht, die wegen einer anderen als der im Europäischen Haftbefehl genannten Handlung verhängt wurde. |
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Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Ausübung der in Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Befugnis nach dem Wortlaut dieser Bestimmung zwar keiner weiteren Voraussetzung unterliegt, der Rahmenbeschluss 2002/584 aber, wie aus seinem Art. 1 Abs. 3 in Verbindung mit dem zwölften Erwägungsgrund hervorgeht, im Einklang mit den Erfordernissen der Achtung der Grundrechte ausgelegt werden muss. |
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Das Recht des Angeklagten, persönlich zur Verhandlung im Strafverfahren zu erscheinen, das ein wesentlicher Bestandteil des in Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie in Art. 48 Abs. 2 der Charta verankerten Rechts auf ein faires Verfahren ist, verpflichtet die Mitgliedstaaten zu gewährleisten, dass der Angeklagte das Recht hat, während der Verhandlung im Gerichtssaal anwesend zu sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2022, HN [Verfahren eines aus dem Hoheitsgebiet abgeschobenen Angeklagten], C‑420/20, EU:C:2022:679, Rn. 54 bis 56). |
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Sollte die vollstreckende Justizbehörde eines Mitgliedstaats also beschließen, die Übergabe einer gesuchten Person, die in diesem Mitgliedstaat strafrechtlich verfolgt wird, nicht aufzuschieben, wäre der Mitgliedstaat verpflichtet, im Rahmen der Durchführung der diese Person betreffenden Verhandlung alle sich aus der Wahrung des besagten Rechts ergebenden Konsequenzen zu ziehen, um zu gewährleisten, dass die Person tatsächlich die Möglichkeit hat, in der Verhandlung anwesend zu sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2022, HN [Verfahren eines aus dem Hoheitsgebiet abgeschobenen Angeklagten], C‑420/20, EU:C:2022:679, Rn. 61). |
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Da der Erlass einer Entscheidung über die Aufschiebung der Übergabe durch die vollstreckende Justizbehörde nicht zur Folge hat, dass die die gesuchte Person betreffende Verhandlung im Vollstreckungsmitgliedstaat in ihrer Abwesenheit durchgeführt wird, kann diese Entscheidung als solche das Recht der gesuchten Person, zur Verhandlung zu erscheinen, nicht verletzen. |
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Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die vollstreckende Justizbehörde zwar keineswegs verpflichtet ist, auf der Grundlage des Rechts des Angeklagten, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen, zu beschließen, die Übergabe aufzuschieben, dass sie jedoch in Anbetracht des ihr insoweit zustehenden Ermessens auch nicht daran gehindert ist, die Übergabe aufzuschieben, um die Wahrung dieses Rechts im Rahmen des im Vollstreckungsmitgliedstaat laufenden Strafverfahrens sicherzustellen. |
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In diesem Zusammenhang gehören zu den Erwägungen, die für die Entscheidung, die Übergabe der gesuchten Person aufzuschieben, relevant sein können, u. a. das Interesse des Vollstreckungsmitgliedstaats an der Durchführung des Strafverfahrens gegen diese Person, das Interesse des Ausstellungsmitgliedstaats daran, die Übergabe der gesuchten Person zum Zwecke der Strafverfolgung oder der Strafvollstreckung in Bezug auf die im Europäischen Haftbefehl bezeichnete Straftat unverzüglich zu erwirken, und die Schwere der in diesen Mitgliedstaaten begangenen Straftaten. |
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Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 24 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die Möglichkeit hat, anstelle einer Aufschiebung der Übergabe die gesuchte Person dem Ausstellungsmitgliedstaat vorübergehend unter Bedingungen zu übergeben, die von der vollstreckenden und der ausstellenden Justizbehörde vereinbart werden. Insoweit könnte insbesondere vereinbart werden, dass die gesuchte Person zum Zwecke der Strafverfolgung im Vollstreckungsmitgliedstaat dorthin rücküberstellt wird. |
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Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dem nicht entgegensteht, dass die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, zum Zwecke ihrer strafrechtlichen Verfolgung im Vollstreckungsmitgliedstaat ausschließlich aus dem Grund aufgeschoben wird, dass diese Person nicht auf ihr Recht verzichtet hat, in dem im Vollstreckungsmitgliedstaat gegen sie geführten Strafverfahren persönlich vor Gericht zu erscheinen. |
Kosten
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Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: |
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Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.