URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

6. Oktober 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen – Art. 21 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 4 und 5 – Verpflichtung, einen Personalausweis oder Reisepass mitzuführen – Verordnung (EG) Nr. 562/2006 (Schengener Grenzkodex) – Anhang VI – Überschreiten der Seegrenze eines Mitgliedstaats an Bord eines Vergnügungsboots – Vorschriften über Sanktionen im Fall des Verkehrs zwischen Mitgliedstaaten ohne Personalausweis oder Reisepass – Strafrechtliche Regelung der Tagessätze – Berechnung der Geldstrafe auf der Grundlage des durchschnittlichen Monatseinkommens des Täters – Verhältnismäßigkeit – Strafmaß im Verhältnis zur Straftat“

In der Rechtssache C‑35/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) mit Entscheidung vom 21. Januar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Januar 2020, in dem Strafverfahren gegen

A,

Beteiligte:

Syyttäjä,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter M. Ilešič, E. Juhász, C. Lycourgos (Berichterstatter) und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von A, vertreten durch U. Väänänen, asianajaja,

der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti, G. Wils, J. Tomkin und I. Koskinen als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. Juni 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 21 Abs. 1 AEUV, von Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 und Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77) sowie Art. 21 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 182, S. 1) geänderten Fassung.

2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen A und betrifft sein Überschreiten der finnischen Staatsgrenze an Bord eines Vergnügungsboots, ohne einen Personalausweis oder Pass mitzuführen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2004/38

3

In den Erwägungsgründen 1, 7 und 31 der Richtlinie 2004/38 heißt es:

„(1)

Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Bürger der Union das elementare und persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.

(7)

Unbeschadet der für die Kontrollen an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften sollten die Formalitäten im Zusammenhang mit der Freizügigkeit von Unionsbürgern im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten genau festgelegt werden.

(31)

Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und ‑freiheiten und den Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. …“

4

Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie regelt

a)

die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen;

b)

das Recht auf Daueraufenthalt der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten;

c)

die Beschränkungen der in den Buchstaben a) und b) genannten Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit.“

5

Art. 3 („Berechtigte“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“

6

Art. 4 („Recht auf Ausreise“) der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihre Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.

(3)   Die Mitgliedstaaten stellen ihren Staatsangehörigen gemäß ihren Rechtsvorschriften einen Personalausweis oder einen Reisepass aus, der ihre Staatsangehörigkeit angibt, und verlängern diese Dokumente.

…“

7

In Art. 5 („Recht auf Einreise“) der Richtlinie 2004/38 heißt es:

„(1)   Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihren Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise.

(4)   Verfügt ein Unionsbürger oder ein Familienangehöriger, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, nicht über die erforderlichen Reisedokumente oder gegebenenfalls die erforderlichen Visa, so gewährt der betreffende Mitgliedstaat dieser Person jede angemessene Möglichkeit, sich die erforderlichen Dokumente in einer angemessenen Frist zu beschaffen oder übermitteln zu lassen oder sich mit anderen Mitteln bestätigen zu lassen oder nachzuweisen, dass sie das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt genießt, bevor er eine Zurückweisung verfügt.

(5)   Der Mitgliedstaat kann von dem Betroffenen verlangen, dass er seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats innerhalb eines angemessenen und nicht diskriminierenden Zeitraums meldet. Die Nichterfüllung dieser Meldepflicht kann mit verhältnismäßigen und nicht diskriminierenden Sanktionen geahndet werden.“

8

Art. 27 („Allgemeine Grundsätze“) Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.

(2)   Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. …

…“

9

In Art. 36 („Sanktionen“) der Richtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten legen Bestimmungen über Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und treffen die zu ihrer Durchsetzung erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam und verhältnismäßig sein. …“

Verordnung Nr. 562/2006

10

Art. 1 („Gegenstand und Grundsätze“) der Verordnung Nr. 562/2006 bestimmte:

„Diese Verordnung sieht vor, dass keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union überschreiten.

Sie legt Regeln für die Grenzkontrollen in Bezug auf Personen fest, die die Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union überschreiten.“

11

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Verordnung sah vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

1.

‚Binnengrenzen‘

a)

die gemeinsamen Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen,

b)

die Flughäfen der Mitgliedstaaten für Binnenflüge,

c)

die See‑, Flussschifffahrts- und Binnenseehäfen der Mitgliedstaaten für regelmäßige interne Fährverbindungen;

2.

‚Außengrenzen‘ die Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen, der Seegrenzen und der Flughäfen sowie der Flussschifffahrts‑, See- und Binnenseehäfen, soweit sie nicht Binnengrenzen sind;

…“

12

Art. 4 („Überschreiten der Außengrenzen“) der Verordnung bestimmte:

„(1)   Die Außengrenzen dürfen nur an den Grenzübergangsstellen und während der festgesetzten Verkehrsstunden überschritten werden. Die Verkehrsstunden sind an den Grenzübergangsstellen, die nicht rund um die Uhr geöffnet sind, deutlich anzugeben.

(2)   Abweichend von Absatz 1 können Ausnahmen von der Verpflichtung, die Außengrenzen nur an den Grenzübergangsstellen und während der festgesetzten Verkehrsstunden zu überschreiten, vorgesehen werden:

c)

im Einklang mit den Sonderbestimmungen der Artikel 18 und 19 in Verbindung mit den Anhängen VI und VII.

…“

13

In Art. 7 („Grenzübertrittskontrollen von Personen“) der Verordnung Nr. 562/2006 hieß es:

„(1)   Der grenzüberschreitende Verkehr an den Außengrenzen unterliegt den Kontrollen durch die Grenzschutzbeamten. …

(2)   Alle Personen werden einer Mindestkontrolle unterzogen, die die Feststellung ihrer Identität anhand der vorgelegten oder vorgezeigten Reisedokumente ermöglicht. Eine solche Mindestkontrolle besteht aus einer raschen und einfachen Überprüfung der Gültigkeit des Dokuments, das dem rechtmäßigen Inhaber den Grenzübertritt erlaubt, und der gegebenenfalls vorhandenen Fälschungs- und Verfälschungsmerkmale, bei der gegebenenfalls technische Geräte eingesetzt und ausschließlich die Daten über gestohlene, missbräuchlich verwendete, abhanden gekommene und für ungültig erklärte Dokumente in den einschlägigen Datenbanken abgefragt werden.

(6)   Kontrollen von Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben, werden in Übereinstimmung mit der Richtlinie [2004/38] durchgeführt.

…“

14

Art. 18 („Sonderbestimmungen für die unterschiedlichen Grenzarten und die für das Überschreiten der Außengrenzen genutzten unterschiedlichen Fortbewegungsmittel“) dieser Verordnung bestimmte:

„Die Sonderbestimmungen des Anhangs VI gelten für die Kontrollen bezüglich der unterschiedlichen Grenzarten und der für das Überschreiten der Grenzübergangsstellen genutzten unterschiedlichen Fortbewegungsmittel.

Diese Sonderbestimmungen können Abweichungen von den Artikeln 4 und 5 und den Artikeln 7 bis 13 enthalten.“

15

Art. 20 („Überschreiten der Binnengrenzen“) der Verordnung sah vor:

„Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“

16

Art. 21 („Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets“) der Verordnung bestimmte:

„Die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen berührt nicht:

a)

die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat, dies gilt auch in Grenzgebieten. Im Sinne von Satz 1 darf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse insbesondere nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden, wenn die polizeilichen Maßnahmen

i)

keine Grenzkontrollen zum Ziel haben;

ii)

auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen;

iii)

in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet;

iv)

auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden;

b)

die Durchführung von Sicherheitskontrollen bei Personen in See- oder Flughäfen durch die zuständigen Behörden nach Maßgabe des nationalen Rechts, die Verantwortlichen der See- oder Flughäfen oder die Beförderungsunternehmer, sofern diese Kontrollen auch bei Personen vorgenommen werden, die Reisen innerhalb des Mitgliedstaats unternehmen;

c)

die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, in ihren Rechtsvorschriften die Verpflichtung zum Besitz oder Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen vorzusehen;

…“

17

Anhang VI („Sonderbestimmungen für die unterschiedlichen Grenzarten und die für das Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten genutzten unterschiedlichen Fortbewegungsmittel“) der Verordnung Nr. 562/2006 enthielt einen Abschnitt „Vergnügungsschifffahrt“, in dem es hieß:

„3.2.5.

Abweichend von den Artikeln 4 und 7 werden Personen an Bord von Vergnügungsschiffen, die einen in einem Mitgliedstaat gelegenen Hafen anlaufen oder aus einem solchen Hafen kommen, keinen Grenzübertrittskontrollen unterzogen und können in einen Hafen, der keine Grenzübergangsstelle ist, einreisen.

In Abwägung des Risikos der illegalen Einwanderung und insbesondere, wenn sich die Küste eines Drittstaats in unmittelbarer Nähe des Hoheitsgebiets des betreffenden Mitgliedstaats befindet, werden diese Personen jedoch einer Kontrolle unterzogen und/oder die Vergnügungsschiffe durchsucht.

3.2.7.

Bei dieser Kontrolle ist ein Dokument mit Angabe aller technischen Merkmale des Schiffes sowie der Namen der an Bord befindlichen Personen zu übergeben. Eine Kopie dieses Dokuments wird den Behörden des Einreise- und des Ausreisehafens ausgehändigt. Eine Kopie dieses Dokuments verbleibt bei den Bordpapieren, solange das Schiff sich in den Hoheitsgewässern eines der Mitgliedstaaten aufhält.“

18

Die Verordnung Nr. 562/2006, die im für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt anwendbar war, wurde durch die Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1) aufgehoben und ersetzt.

Finnisches Recht

Regelung über Reisedokumente

19

§ 1 des Passilaki (671/2006) (Passgesetz [671/2006]) sieht vor:

„Finnische Staatsangehörige haben das Recht, nach Maßgabe dieses Gesetzes aus dem Land auszureisen.

Finnischen Staatsangehörigen darf die Einreise in das Land nicht verwehrt werden.“

20

In § 2 Passgesetz heißt es:

„Finnische Staatsbürger weisen ihr Recht auf Aus- und Einreise mit einem Pass nach, sofern dieses Gesetz, die Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder ein für Finnland verbindliches internationales Abkommen nichts anderes vorsehen. Ohne Pass können finnische Staatsbürger nach Island, Norwegen, Schweden und Dänemark reisen. Durch Regierungsverordnung werden die anderen Länder bestimmt, in die finnische Staatsbürger mit einem Personalausweis … anstelle eines Passes als Reisedokument reisen dürfen.“

21

§ 28 Abs. 1 des Passgesetzes lautet:

„Muss ein finnischer Staatsbürger auf seiner Reise einen Pass oder Personalausweis mit sich führen, hat er dieses Dokument bei der Ausreise aus dem Land und bei der Einreise in das Land den Grenzkontrollbehörden auf Verlangen vorzulegen.“

22

§ 1 der Valtioneuvoston asetus matkustusoikeuden osoittamisesta eräissä tapauksissa (660/2013) (Regierungsverordnung über den Nachweis der Reiseberechtigung in bestimmten Fällen [660/2013]) bestimmt:

„Finnische Staatsbürger können aus Finnland mit einem Personalausweis … anstelle eines Passes in folgende Länder ausreisen: Niederlande, Belgien, Bulgarien, Spanien, Irland, Vereinigtes Königreich, Italien, Österreich, Griechenland, Kroatien, Zypern, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Portugal, Polen, Frankreich, Rumänien, Deutschland, San Marino, Slowakei, Slowenien, Schweiz, Tschechische Republik, Ungarn und Estland.“

Strafgesetzbuch

23

Kapitel 17 („Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“) § 7 („Verletzung der Staatsgrenze“) des Rikoslaki (39/1889) (Strafgesetzbuch [39/1889]) sieht vor:

„Wer

1)

die finnische Grenze ohne hierzu berechtigendes Reisedokument, Visum, Aufenthaltsgenehmigung oder ein anderes, einem gütigen Reisedokument gleichzustellendes Dokument oder außerhalb einer zugelassenen Grenzübergangsstelle oder unter Verstoß gegen ein anderes gesetzliches Verbot als das Einreiseverbot überschreitet oder zu überschreiten versucht,

wird wegen Verletzung der Staatsgrenze zu einer Geldstrafe oder zu einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr verurteilt.“

24

Kapitel 17 § 7 a („Verletzung der Staatsgrenze in einem minder schweren Fall“) dieses Gesetzbuchs lautet:

„Ist die Verletzung der Staatsgrenze unter Berücksichtigung der kurzen Dauer des unerlaubten Aufenthalts oder der unerlaubten Bewegung, der Art der verbotenen Handlung oder sonstiger mit der Straftat im Zusammenhang stehender Umstände insgesamt minder schwerer Natur, wird der Täter wegen Verletzung der Staatsgrenze in einem minder schweren Fall zu einer Geldstrafe verurteilt.“

25

Kapitel 2 a § 1 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs lautet:

„Die Geldstrafe wird in Form von mindestens einem und höchstens 120 Tagessätzen verhängt.“

26

Kapitel 2 a § 2 dieses Gesetzbuchs bestimmt:

„Die Höhe des Tagessatzes ist so festzusetzen, dass sie in angemessenem Verhältnis zur Zahlungsfähigkeit der zu einer Geldstrafe verurteilten Person steht.

Als angemessene Höhe des Tagessatzes gilt ein Sechzigstel des durchschnittlichen Monatseinkommens der zu einer Geldstrafe verurteilten Person nach Abzug der durch Regierungsverordnung festgelegten Steuern und Abgaben sowie eines festen Abzugsbetrags für Grundkonsum. Der Tagessatz kann reduziert werden, wenn die zu einer Geldstrafe verurteilte Person unterhaltspflichtig ist.

Wichtigste Grundlage für die Berechnung des Monatseinkommens ist das bei der letzten Besteuerung zugrunde gelegte Einkommen der zu der Geldstrafe verurteilten Person. Lässt sich das Einkommen der zu der Geldstrafe verurteilten Person aus den Steuerdaten nicht hinreichend zuverlässig ermitteln oder hat es sich seit der letzten vorgelegten Besteuerung wesentlich verändert, kann es auf der Grundlage eines anderen zugänglichen Dokuments ermittelt werden.

Die Berechnung des durchschnittlichen Monatseinkommens, die Art und Weise der Rundung der Höhe des Tagessatzes, die Höhe des festen Abzugsbetrags für Grundkonsum, die Berücksichtigung der Unterhaltspflicht sowie die Mindesthöhe des Tagessatzes werden im Einzelnen durch eine Regierungsverordnung geregelt.“

27

§ 5 der Valtioneuvoston asetus päiväsakon rahamäärästä (609/1999) (Regierungsverordnung über die Höhe des Tagessatzes [609/1999]) bestimmt:

„Der Tagessatz darf nicht auf weniger als sechs Euro festgesetzt werden.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

28

Am 25. August 2015 reiste A, ein finnischer Staatsangehöriger, an Bord eines Vergnügungsboots von Finnland nach Estland und zurück. Abfahrts- und Rückkehrort dieser Reise lagen in Finnland. Während dieser Reise durchquerte A die internationalen Gewässer zwischen diesen beiden Mitgliedstaaten.

29

Obwohl Inhaber eines gültigen finnischen Passes, führte A diesen während der Reise nicht mit sich. Daher konnte A bei einer in Helsinki bei seiner Rückkehr durchgeführten Grenzkontrolle weder diesen Pass noch ein anderes Reisedokument vorlegen. Die Identität von A konnte jedoch anhand des von ihm mitgeführten Führerscheins festgestellt werden.

30

Die Syyttäjä (Staatsanwaltschaft, Finnland) erhob vor dem Helsingin käräjäoikeus (Erstinstanzliches Gericht Helsinki, Finnland) Anklage gegen A wegen Verletzung der Staatsgrenze in einem minder schweren Fall.

31

Mit Urteil vom 5. Dezember 2016 stellte das Helsingin käräjäoikeus (Erstinstanzliches Gericht Helsinki) fest, dass A eine Straftat begangen habe, indem er die finnische Staatsgrenze überschritten habe, ohne ein gültiges Reisedokument mitzuführen, und führte aus, dass der Umstand, dass er Inhaber eines gültigen Passes sei, insoweit unerheblich sei.

32

Dieses Gericht verhängte jedoch keine Strafe, da es sich um eine minder schwere Straftat gehandelt habe und im Fall der Verhängung einer Geldstrafe deren Betrag, der gemäß der für Tagessätze geltenden Regelung auf der Grundlage des durchschnittlichen Monatseinkommens von A zu berechnen sei, überhöht gewesen wäre.

33

Die Staatsanwaltschaft legte beim Helsingin hovioikeus (Gerichtshof Helsinki, Finnland) Rechtsmittel gegen dieses Urteil ein. A legte seinerseits ein Anschlussrechtsmittel ein.

34

Mit Urteil vom 15. Juni 2018 sah der Helsingin hovioikeus (Gerichtshof Helsinki) es zwar als erwiesen an, dass A beim Überschreiten der finnischen Staatsgrenze kein Reisedokument mitgeführt habe, sprach A jedoch frei. Das Gericht war nämlich der Ansicht, dass im vorliegenden Fall der Tatbestand der Verletzung der Staatsgrenze in einem minder schweren Fall nicht erfüllt gewesen sei.

35

Gegen dieses Urteil legte die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel beim Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) ein.

36

Dieses Gericht ist der Auffassung, dass die Rechtssache aus unionsrechtlicher Sicht zu prüfen sei.

37

Es weist darauf hin, dass der Gerichtshof in Rn. 45 des Urteils vom 21. September 1999, Wijsenbeek (C‑378/97, EU:C:1999:439), entschieden habe, dass das Unionsrecht einem Mitgliedstaat nicht verbot, von einer Person bei der Einreise unter Strafandrohung zu verlangen, dass sie ihre Staatsangehörigkeit belege, soweit die Sanktionen denen für entsprechende innerstaatliche Vergehen vergleichbar und nicht unverhältnismäßig waren.

38

Das vorlegende Gericht stellt sich jedoch die Frage, ob diese Rechtsprechung in Anbetracht der nach diesem Urteil erfolgten Änderungen des Unionsrechts noch anwendbar ist.

39

Auch wenn sich nämlich aus dem Schengener Grenzkodex tatsächlich ergebe, dass jeder Mitgliedstaat eine Verpflichtung für Unionsbürger vorsehen könne, ein gültiges Reisedokument mit sich zu führen, fragt sich das vorlegende Gericht, ob und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen die Missachtung dieser Verpflichtung sanktioniert werden könne, da nicht auszuschließen sei, dass die Verhängung einer Sanktion gegen das in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehene Recht auf Freizügigkeit verstoße.

40

Um festzustellen, ob ein Verstoß gegen dieses Recht vorliege, seien insbesondere die Art. 4 und 5 der Richtlinie 2004/38 und Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 zu berücksichtigen, wobei es sich bei der letztgenannten Verordnung um den auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Schengener Grenzkodex handele.

41

Im Hinblick auf die Art. 2, 4, 7, 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 sowie Nr. 3.2.5 ihres Anhangs VI sei auch zu klären, welche Bedeutung der Umstand habe, dass der betreffende Unionsbürger zwischen zwei Mitgliedstaaten an Bord eines Vergnügungsboots gereist sei und dabei internationale Gewässer durchquert habe.

42

Für den Fall, dass das Unionsrecht der unter Strafandrohung auferlegten Verpflichtung, ein gültiges Reisedokument mitzuführen, nicht entgegensteht, stellt sich für das vorlegende Gericht ferner die Frage, ob eine Tagessatzregelung, wie sie im Strafgesetzbuch vorgesehen ist, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang steht.

43

Es gibt an, im Jahr 2014 habe bei einem durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommen von 1257 Euro der durchschnittliche Betrag eines Tagessatzes 16,70 Euro betragen. Außerdem werde ein Verstoß gegen die Vorschriften über das Überschreiten der Grenzen, wie er im Ausgangsverfahren in Rede steht, für gewöhnlich mit 15 Tagessätzen geahndet.

44

In Anbetracht der durchschnittlichen monatlichen Einkünfte von A hätte sich der Tagessatz in seinem Fall jedoch auf 6350 Euro belaufen, so dass der Gesamtbetrag der Geldstrafe, die gegen ihn hätte verhängt werden können, 95250 Euro betrüge. Dieser Betrag sei dadurch zu erklären, dass die im Ausgangsverfahren anwendbaren Rechtsvorschriften zwar einen Mindestbetrag von sechs Euro für die Höhe des Tagessatzes festlegten, aber keine Obergrenze vorsähen.

45

Unter diesen Umständen hat der Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Vorabentscheidungsfragen vorzulegen:

1.

Steht das Unionsrecht, insbesondere Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 oder das den Unionsbürgern zustehende Recht, sich auf dem Gebiet der Union frei zu bewegen, der Anwendung einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegen, die eine Person (unabhängig davon, ob sie Unionsbürger ist) unter Androhung einer Strafe verpflichtet, einen gültigen Pass oder ein anderes gültiges Reisedokument mit sich zu führen, wenn sie sich mit einem Vergnügungsboot durch internationale Gewässer aus einem Mitgliedstaat in einen anderen begibt, ohne das Hoheitsgebiet eines Drittstaats zu betreten?

2.

Steht das Unionsrecht, insbesondere Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 oder das den Unionsbürgern zustehende Recht, sich auf dem Gebiet der Union frei zu bewegen, der Anwendung einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegen, die eine Person (unabhängig davon, ob sie Unionsbürger ist) unter Androhung einer Strafe verpflichtet, einen gültigen Pass oder ein anderes gültiges Reisedokument mit sich zu führen, wenn sie in den betreffenden Mitgliedstaat aus einem anderen Mitgliedstaat mit einem Vergnügungsboot durch internationale Gewässer einreist, ohne das Hoheitsgebiet eines Drittstaats zu betreten?

3.

Sofern sich aus dem Unionsrecht kein Hindernis im Sinne der ersten oder der zweiten Frage ergibt: Ist die in Finnland für ein Überschreiten der finnischen Staatsgrenze ohne Mitführen eines gültigen Reisedokuments nach der Regelung über Tagessätze für gewöhnlich verhängte Sanktion mit dem sich aus Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ergebenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

46

Im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof ist es dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Insoweit sind aus dem gesamten von dem einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2021, Granarolo, C‑617/19, EU:C:2021:338, Rn. 32 und 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

47

Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass es im Ausgangsverfahren um eine Reise eines finnischen Staatsangehörigen an Bord eines Vergnügungsboots zwischen Finnland und Estland mit Abfahrts- und Rückkehrort in Finnland und Durchquerung internationaler Gewässer geht. Aus dieser Entscheidung ergibt sich auch, dass der Betroffene wegen Missachtung der finnischen Vorschriften strafrechtlich verfolgt wird, nach denen finnische Staatsangehörige bei Reisen zwischen Finnland und anderen Mitgliedstaaten, einschließlich der Republik Estland, verpflichtet sind, einen Personalausweis oder Pass mitzuführen.

48

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage zum einen wissen möchte, ob das in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehene und durch die Richtlinie 2004/38 konkretisierte Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit im Hinblick auf die Bestimmungen über das Überschreiten der Grenzen in der Verordnung Nr. 562/2006 dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der ein Mitgliedstaat seine Staatsangehörigen unter Androhung strafrechtlicher Sanktionen verpflichtet, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, wenn sie in einen anderen Mitgliedstaat reisen, und zum anderen, ob es insoweit von Bedeutung ist, dass die Reise an Bord eines Vergnügungsboots durchgeführt wird und dabei internationale Gewässer durchquert werden.

49

Nach Art. 21 Abs. 1 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.

50

Die Richtlinie 2004/38 soll nach ihrem Art. 1 u. a. die Bedingungen für die Ausübung dieses Rechts und seine Beschränkungen festlegen.

51

Nach Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie haben unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.

52

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 54 bis 57 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich aus dem in dieser Bestimmung enthaltenen Einschub „einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen“, dass die Ausübung des Rechts der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, davon abhängt, dass sie einen gültigen Personalausweis oder Reisepass bei sich tragen.

53

Während es somit Sache der Mitgliedstaaten ist, ihren Staatsangehörigen nach Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 einen Personalausweis oder Reisepass auszustellen oder zu verlängern, wollte der Unionsgesetzgeber dadurch, dass er gemäß Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie das Recht eines Unionsbürgers, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, davon abhängig macht, dass er ein solches Dokument mit sich führt, eine Formalität im Zusammenhang mit der Freizügigkeit im Sinne des siebten Erwägungsgrundes dieser Richtlinie festlegen. Wie der Generalanwalt in Nr. 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, soll diese Formalität die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit erleichtern, indem gewährleistet wird, dass jede Person, der dieses Recht zusteht, im Rahmen einer möglichen Überprüfung ohne Schwierigkeiten als solche identifiziert wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. September 1999, Wijsenbeek, C‑378/97, EU:C:1999:439, Rn. 43, und vom 17. Februar 2005, Oulane, C‑215/03, EU:C:2005:95, Rn. 21 und 22).

54

Diese mit der Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit zusammenhängende Voraussetzung gilt nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit begibt.

55

Daraus folgt, dass ein Mitgliedstaat, der seine Staatsangehörigen verpflichtet, ihren Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, wenn sie die Staatsgrenze überschreiten, um in einen anderen Mitgliedstaat zu reisen, auf diese Weise zur Einhaltung einer Formalität beiträgt, die mit der Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit gemäß der Richtlinie 2004/38 verbunden ist. Eine solche Vorschrift des nationalen Rechts dient daher der Umsetzung dieser Richtlinie.

56

Nach Art. 36 der Richtlinie ist jeder Mitgliedstaat befugt, Bestimmungen über Sanktionen festzulegen, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie zu verhängen sind.

57

In Ermangelung einer Harmonisierung dieser Sanktionen bleiben die Mitgliedstaaten befugt, diejenigen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen, sofern sie diese Befugnis unter Beachtung des Unionsrechts und seiner allgemeinen Grundsätze ausüben (vgl. entsprechend Urteil vom 11. Februar 2021, K. M. [Gegen den Kapitän eines Schiffs verhängte Sanktionen], C‑77/20, EU:C:2021:112, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58

Folglich wahrt das Unionsrecht ungeachtet seiner Entwicklung seit der Verkündung des Urteils vom 21. September 1999, Wijsenbeek (C‑378/97, EU:C:1999:439), bei seinem gegenwärtigen Stand weiterhin die Autonomie der Mitgliedstaaten bei Sanktionen, die gegen einen Unionsbürger verhängt werden können, der eine mit der Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit verbundene Formalität missachtet. Wie der Gerichtshof in Rn. 45 des genannten Urteils festgestellt hat, können die Mitgliedstaaten in einem solchen Fall strafrechtliche Sanktionen vorsehen, sofern diese insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Dieser Grundsatz ist nunmehr in Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert, wonach das Strafmaß nicht unverhältnismäßig zur Straftat sein darf.

59

Im Übrigen dürfen nationale Strafrechtsnormen weder zu einer Diskriminierung von Personen führen, denen das Unionsrecht einen Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht, noch die vom Unionsrecht garantierten Grundfreiheiten beschränken (Urteil vom 19. November 2020, ZW, C‑454/19, EU:C:2020:947, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60

Die Rechtmäßigkeit der von einem Mitgliedstaat seinen Staatsangehörigen unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts unter Androhung einer Strafe auferlegten Verpflichtung, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, wenn sie die Staatsgrenze überschreiten, um in einen anderen Mitgliedstaat zu reisen, wird nicht durch die Klarstellung in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 entkräftet, wonach diese Bestimmung „unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften … gilt“.

61

Zwar ergibt sich aus dieser Klarstellung, dass jede Regelung über die Kontrollen an den Staatsgrenzen wie die in Art. 20 der Verordnung Nr. 562/2006, die die Abschaffung dieser Kontrollen an den Binnengrenzen des Schengen-Raums vorsieht, in vollem Umfang Anwendung finden muss. Daher kann beim Überschreiten dieser Grenzen grundsätzlich keine Kontrolle durchgeführt werden.

62

Die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen berührt jedoch nicht die in Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 vorgesehene Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Identitätskontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets durchzuführen und zu diesem Zweck die Verpflichtung zum Besitz oder Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen vorzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63

Im Übrigen stellt Anhang VI Nr. 3.2.5 der Verordnung Nr. 562/2006 zwar die Regel auf, dass Personen an Bord von Vergnügungsschiffen, die einen in einem Mitgliedstaat gelegenen Hafen anlaufen oder aus einem solchen Hafen kommen und eine Außengrenze des Schengen-Raums überschreiten, keinen Identitätskontrollen unterzogen werden; nach der Ausnahme von dieser Regel in Nr. 3.2.5 Abs. 2 können diese Personen „in Abwägung des Risikos der illegalen Einwanderung“ aber dennoch einer Kontrolle unterzogen werden.

64

Angesichts der den Mitgliedstaaten somit vorbehaltenen Befugnis, in verschiedenen in der Verordnung Nr. 562/2006 genannten Fällen die Identität von Personen zu überprüfen, ist festzustellen, dass ein Mitgliedstaat das Recht auf Freizügigkeit nicht verletzt, wenn er seine Staatsangehörigen unter Androhung von – gegebenenfalls strafrechtlichen – Sanktionen, die sowohl abschreckend sind als auch mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts im Einklang stehen, verpflichtet, ihren Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, wenn sie das Hoheitsgebiet verlassen, um sich mit einem beliebigen Verkehrsmittel und auf einem beliebigen Weg in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Eine solche Verpflichtung gewährleistet nämlich, dass diese Staatsangehörigen in der Lage sind, ihre Identität, ihre Staatsangehörigkeit und damit ihren Unionsbürgerstatus nachzuweisen, wenn einer der in der Verordnung Nr. 562/2006 vorgesehenen Fälle eintritt und Anlass zu einer Kontrolle gibt.

65

Daher ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass das in Art. 21 AEUV vorgesehene und durch die Richtlinie 2004/38 konkretisierte Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit im Hinblick auf die Bestimmungen über das Überschreiten der Grenzen in der Verordnung Nr. 562/2006 dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, mit der ein Mitgliedstaat seine Staatsangehörigen unter Androhung strafrechtlicher Sanktionen verpflichtet, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, wenn sie mit einem beliebigen Verkehrsmittel und auf einem beliebigen Weg in einen anderen Mitgliedstaat reisen, sofern die Modalitäten dieser Sanktionen mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, einschließlich der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Nichtdiskriminierung, vereinbar sind.

Zur zweiten Frage

66

In Anbetracht der in Rn. 47 des vorliegenden Urteils dargelegten Umstände soll mit der zweiten Frage zum einen geklärt werden, ob das in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehene und durch die Richtlinie 2004/38 konkretisierte Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit im Hinblick auf die Bestimmungen über das Überschreiten der Grenzen in der Verordnung Nr. 562/2006 dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der ein Mitgliedstaat seine Staatsangehörigen unter Androhung strafrechtlicher Sanktionen verpflichtet, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, wenn sie aus einem anderen Mitgliedstaat in sein Hoheitsgebiet einreisen, und zum anderen, ob es insoweit von Bedeutung ist, dass diese Reise an Bord eines Vergnügungsboots durchgeführt wird und dabei internationale Gewässer durchquert werden.

67

Zunächst ist festzustellen, dass die Situation, in der ein Unionsbürger die Grenze des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, bei der Einreise aus einem anderen Mitgliedstaat überschreitet, nicht durch die Richtlinie 2004/38 geregelt wird.

68

Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 regelt diese Richtlinie nämlich allein die Voraussetzungen, unter denen ein Unionsbürger in andere Mitgliedstaaten als in den seiner eigenen Staatsangehörigkeit einreisen und sich dort aufhalten darf (Urteil vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 33 und 34).

69

Unter Berücksichtigung dieser Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2004/38 und da sich aus einem völkerrechtlichen Grundsatz, der durch Art. 3 des Protokolls Nr. 4 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bekräftigt wurde, ergibt, dass ein Mitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen die Einreise in sein Hoheitsgebiet oder den Aufenthalt in diesem nicht untersagen darf (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Dezember 1974, van Duyn, 41/74, EU:C:1974:133, Rn. 22, und vom 5. Mai 2011, McCarthy, C‑434/09, EU:C:2011:277, Rn. 29), fällt die Einreise eines Unionsbürgers in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, nicht unter die in Art. 5 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen für das Recht auf Einreise.

70

Allerdings fällt die Rückkehr eines Unionsbürgers in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unter Art. 21 Abs. 1 AEUV, wenn er zuvor in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Herkunftsmitgliedstaat sein in dieser Bestimmung vorgesehenes Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

71

Daher ist zu prüfen, ob die von einem Mitgliedstaat seinen Staatsangehörigen auferlegte Verpflichtung, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, wenn sie aus einem anderen Mitgliedstaat in sein Hoheitsgebiet einreisen, geeignet ist, die Ausübung des in Art. 21 AEUV vorgesehenen Rechts auf Freizügigkeit zu behindern.

72

Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass finnische Staatsangehörige, die bei ihrer Rückkehr nach Finnland keinen Personalausweis oder Pass mit sich führen, in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einreisen dürfen, sofern sie in der Lage sind, ihre Identität auf andere Weise nachzuweisen.

73

Somit ist die Verpflichtung, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, keine Voraussetzung für das Recht auf Einreise, sondern eine Formalität zur Vereinheitlichung und damit Erleichterung der Identitätskontrollen, die in den in der Verordnung Nr. 562/2006 festgelegten Fällen durchgeführt werden können.

74

Da jeder Unionsbürger Inhaber eines Personalausweises oder eines Reisepasses ist und dieses Dokument bei Reisen in einen anderen Mitgliedstaat als den, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, mit sich führen muss, ist die durch eine nationale Regelung auferlegte Verpflichtung, dieses Dokument bei der Rückkehr in den Herkunftsmitgliedstaat mitzuführen, weder kostspielig noch belastend und kann daher nicht als Hemmnis für die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit angesehen werden, wobei zudem darauf hinzuweisen ist, dass diese Verpflichtung keine Bedingung für das Recht auf Einreise in das Hoheitsgebiet des Herkunftsmitgliedstaats ist, jedoch vorauszusetzen ist, dass die für den Fall der Missachtung dieser Verpflichtung vorgesehenen Sanktionen mit dem in Art. 49 Abs. 3 der Charta verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, einschließlich des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung, vereinbar sind, die sämtlich im Rahmen der Beurteilung einer nationalen Regelung anhand von Art. 21 Abs. 1 AEUV anwendbar sind (vgl. zu letztgenanntem Gesichtspunkt Urteil vom 8. Juni 2017, Freitag, C‑541/15, EU:C:2017:432, Rn. 31 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

75

Im Übrigen steht der Umstand, dass die betreffende Reise an Bord eines Vergnügungsboots durchgeführt wird und dieses internationale Gewässer durchquert, einer Überprüfung der Identität der Insassen dieses Boots nicht entgegen.

76

Wie in Rn. 63 des vorliegenden Urteils ausgeführt, erlaubt nämlich Anhang VI Nr. 3.2.5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 562/2006 „in Abwägung des Risikos der illegalen Einwanderung“ Kontrollen von Personen an Bord von Vergnügungsschiffen, die einen in einem Mitgliedstaat gelegenen Hafen anlaufen oder aus einem solchen Hafen kommen und eine Außengrenze des Schengen-Raums überschreiten. Die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmung würde beeinträchtigt, wenn sie dahin ausgelegt würde, dass sich die zuständigen Behörden bei diesen Kontrollen darauf beschränken müssten, das in Nr. 3.2.7 dieses Anhangs genannte Dokument mit Angabe aller technischen Merkmale des Schiffes sowie der Namen der an Bord befindlichen Personen zu überprüfen, ohne dass sie durch Überprüfung von Ausweisdokumenten die Richtigkeit der in diesem Dokument enthaltenen Namensliste prüfen könnten.

77

Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Boot bei seiner Reise die internationalen Gewässer zwischen den Hoheitsgewässern Finnlands und Estlands durchquert hat, was als Überschreitung einer Außengrenze im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Verordnung Nr. 562/2006 anzusehen ist. Außerdem wurde die Reise im August 2015 durchgeführt, ein Zeitraum, für den die Parteien des Ausgangsverfahrens ein erhöhtes Risiko der illegalen Einwanderung anerkannt haben. Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen befanden sich die zuständigen finnischen Behörden somit in einer Situation, in der sie bei der Rückkehr dieses Bootes in die Hoheitsgewässer Finnlands berechtigterweise die Identität der an Bord befindlichen Personen überprüfen konnten.

78

Wie in den Rn. 73 und 74 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verbietet das Recht auf Freizügigkeit einem Mitgliedstaat nicht, seine Staatsangehörigen zu verpflichten, einen Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, wenn sie aus einem anderen Mitgliedstaat in sein Hoheitsgebiet einreisen, um die Identitätskontrollen, die in den in der Verordnung Nr. 562/2006 festgelegten Fällen durchgeführt werden können, zu vereinheitlichen und damit zu erleichtern, vorausgesetzt, dass die für den Fall der Missachtung dieser Verpflichtung vorgesehenen Sanktionen mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts vereinbar sind. Daraus folgt, dass die Behörden dieses Mitgliedstaats im Rahmen einer gemäß Anhang VI Nr. 3.2.5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 562/2006 rechtmäßig durchgeführten Kontrolle die betroffene Person auffordern können, ihren Personalausweis oder Reisepass vorzulegen, und im Fall der Nichtvorlage eines solchen Dokuments eine Sanktion gegen sie verhängen können.

79

Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass das in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehene Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit im Hinblick auf die Bestimmungen über das Überschreiten der Grenzen in der Verordnung Nr. 562/2006 dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, mit der ein Mitgliedstaat seine Staatsangehörigen unter Androhung strafrechtlicher Sanktionen verpflichtet, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, wenn sie aus einem anderen Mitgliedstaat in sein Hoheitsgebiet einreisen, sofern diese Verpflichtung keine Bedingung für das Recht auf Einreise ist und die für den Fall der Missachtung dieser Verpflichtung vorgesehenen Sanktionen mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, einschließlich der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Nichtdiskriminierung, vereinbar sind. Eine Reise in den betreffenden Mitgliedstaat aus einem anderen Mitgliedstaat an Bord eines Vergnügungsboots und unter Durchquerung internationaler Gewässer gehört unter den in Anhang VI Nr. 3.2.5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 562/2006 vorgesehenen Voraussetzungen zu den Fällen, in denen die Vorlage eines solchen Dokuments verlangt werden kann.

Zur dritten Frage

80

Wie sich aus den in der Vorlageentscheidung angeführten Bestimmungen des Strafgesetzbuchs ergibt, begeht derjenige, der die finnische Grenze ohne Reisedokument oder anderes gleichzustellendes Dokument überschreitet oder zu überschreiten versucht, eine Straftat, die mit Geldstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft wird, wobei dann, wenn die Straftat als minder schwerer Fall eingestuft wird, die vorgesehene Strafe eine Geldstrafe in Form von Tagessätzen ist; der Betrag der Tagessätze entspricht einem Sechzigstel des durchschnittlichen Monatseinkommens des Täters abzüglich bestimmter Steuern, Abgaben und Ausgaben.

81

Außerdem ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die Geldstrafe, die bei Verletzung der Staatsgrenze in einem minder schweren Fall verhängt wird, in der Regel 15 Tagessätze beträgt und dass die letztlich verhängte Geldstrafe typischerweise etwa 20 % des monatlichen Nettoeinkommens des Täters beträgt.

82

Im vorliegenden Fall leitete die Staatsanwaltschaft gegen A ein Strafverfahren ein, weil er beim Überschreiten der finnischen Grenze weder einen gültigen Reisepass noch ein anderes Reisedokument mit sich führte, obwohl seine Identität anhand des von ihm mitgeführten Führerscheins festgestellt werden konnte.

83

Daher ist davon auszugehen, dass mit der dritten Vorlagefrage geklärt werden soll, ob Art. 21 Abs. 1 AEUV sowie die Art. 4 und 36 der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit Art. 49 Abs. 3 der Charta Strafvorschriften entgegenstehen, mit denen ein Mitgliedstaat das Überschreiten seiner Staatsgrenze ohne gültigen Personalausweis oder Reisepass mit einer Geldstrafe bestraft, die, als Richtwert, 20 % des monatlichen Nettoeinkommens des Täters betragen kann.

84

Nach der in Art. 49 Abs. 3 der Charta aufgestellten Regel muss die Härte der Sanktionen der Schwere der mit ihnen geahndeten Verstöße entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, dabei jedoch nicht die Grenzen dessen überschreitet, was zur Erreichung der mit den fraglichen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgten Ziele erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Februar 2021, K. M. [Gegen den Kapitän eines Schiffs verhängte Sanktionen], C‑77/20, EU:C:2021:112, Rn. 37 und 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

85

Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sanktionsregelung in angemessenem Verhältnis zur Erreichung des legitimen Ziels steht, das mit der Verpflichtung, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mitzuführen, verfolgt wird; gleichwohl kann der Gerichtshof ihm alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben, die ihm die Feststellung ermöglichen können, ob dies der Fall ist (vgl. entsprechend Urteile vom 28. Januar 2016, Laezza, C‑375/14, EU:C:2016:60, Rn. 37, und vom 11. Februar 2021, K. M. [Gegen den Kapitän eines Schiffs verhängte Sanktionen], C‑77/20, EU:C:2021:112, Rn. 39)

86

Wie in Rn. 53 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist die Verpflichtung zum Mitführen eines Personalausweises oder Reisepasses bei einer Reise von einem Mitgliedstaat in einen anderen eine Formalität, die die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit erleichtern soll, indem gewährleistet wird, dass jede Person, der dieses Recht zusteht, im Rahmen einer möglichen Überprüfung ohne Schwierigkeiten als solche identifiziert wird.

87

Hinsichtlich der Geldstrafe, die nach den Angaben des vorlegenden Gerichts in den Fällen verhängt wird, in denen das Überschreiten der Staatsgrenze ohne Personalausweis oder Reisepass als minder schwerer Fall eingestuft wird, ist festzustellen, dass diese Sanktion, die typischerweise etwa 20 % des monatlichen Nettoeinkommens des Täters beträgt, nicht im Verhältnis zur Schwere der Straftat steht, wie sich insbesondere aus den Umständen des Ausgangsverfahrens ergibt, in dem, wie in Rn. 44 des vorliegenden Urteils festgestellt, der Gesamtbetrag der Geldstrafe, die für diese minder schwere Straftat verhängt werden kann, 95250 Euro betrüge, ohne dass eine Obergrenze vorgesehen wäre.

88

Zwar steht es den Mitgliedstaaten frei, eine Geldstrafe zu verhängen, um den Verstoß gegen ein Formerfordernis in Bezug auf die Ausübung eines durch das Unionsrecht verliehenen Rechts zu ahnden, doch kommt es gerade darauf an, dass diese Sanktion in angemessenem Verhältnis zur Schwere dieses Verstoßes steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. März 2021, A. [Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug], C‑895/19, EU:C:2021:216, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

89

Wird aber, wie im vorliegenden Fall, die Pflicht, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mitzuführen, von einem Freizügigkeitsberechtigten verletzt, der Inhaber eines solchen Dokuments ist, dieses aber bei seiner Reise lediglich nicht mit sich führt, so ist die Straftat, wie die finnische Regierung im Übrigen eingeräumt hat, von minderer Schwere. Folglich kann eine solche Straftat, abgesehen von Wiederholungsfällen, nicht zur Verhängung einer schweren Geldstrafe führen, wie etwa einer Geldstrafe in Höhe von 20 % des durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommens des Täters.

90

Die Härte einer solchen Sanktion überschreitet nämlich die Grenzen dessen, was zur Erreichung des in Rn. 86 des vorliegenden Urteils genannten Ziels geeignet und erforderlich ist.

91

Zwar schließt das Unionsrecht, wie der Generalanwalt in Nr. 121 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht aus, dass eine Geldstrafenregelung die Zahlungsfähigkeit des Täters dadurch berücksichtigt, dass die Geldstrafe nach der Höhe des Einkommens des Täters berechnet wird. Die Einhaltung der mit der Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit verbundenen Formalitäten durch die Unionsbürger kann jedoch auf hinreichend abschreckende Weise durch Maßnahmen sichergestellt werden, die weniger einschränkend sind als die in einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden vorgesehenen; solche Maßnahmen können insbesondere die Festsetzung von Geldstrafen, die einem niedrigeren Prozentsatz des Monatseinkommens entsprechen, und die Einführung einer Obergrenze für die Höhe der Geldstrafen sein.

92

Nach alledem ist auf die dritte Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 21 Abs. 1 AEUV sowie die Art. 4 und 36 der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie Strafvorschriften entgegenstehen, mit denen ein Mitgliedstaat das Überschreiten seiner Staatsgrenze ohne gültigen Personalausweis oder Reisepass mit einer Geldstrafe bestraft, die, als Richtwert, 20 % des monatlichen Nettoeinkommens des Täters betragen kann, da eine solche Geldstrafe nicht im Verhältnis zur minderen Schwere dieses Verstoßes steht.

Kosten

93

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens stellt das Verfahren einen Zwischenstreit in dem Verfahren vor dem vorlegenden Gericht dar; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Das in Art. 21 AEUV vorgesehene und durch die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG konkretisierte Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit ist im Hinblick auf die Bestimmungen über das Überschreiten der Grenzen in der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass es einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, mit der ein Mitgliedstaat seine Staatsangehörigen unter Androhung strafrechtlicher Sanktionen verpflichtet, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, wenn sie mit einem beliebigen Verkehrsmittel und auf einem beliebigen Weg in einen anderen Mitgliedstaat reisen, sofern die Modalitäten dieser Sanktionen mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, einschließlich der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Nichtdiskriminierung, vereinbar sind.

 

2.

Das in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehene Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit ist im Hinblick auf die Bestimmungen über das Überschreiten der Grenzen in der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass es einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, mit der ein Mitgliedstaat seine Staatsangehörigen unter Androhung strafrechtlicher Sanktionen verpflichtet, einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen, wenn sie aus einem anderen Mitgliedstaat in sein Hoheitsgebiet einreisen, sofern diese Verpflichtung keine Bedingung für das Recht auf Einreise ist und die für den Fall der Missachtung dieser Verpflichtung vorgesehenen Sanktionen mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, einschließlich der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Nichtdiskriminierung, vereinbar sind. Eine Reise in den betreffenden Mitgliedstaat aus einem anderen Mitgliedstaat an Bord eines Vergnügungsboots und unter Durchquerung internationaler Gewässer gehört unter den in Anhang VI Nr. 3.2.5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 562/2006 vorgesehenen Voraussetzungen zu den Fällen, in denen die Vorlage eines solchen Dokuments verlangt werden kann.

 

3.

Art. 21 Abs. 1 AEUV sowie die Art. 4 und 36 der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie Strafvorschriften entgegenstehen, mit denen ein Mitgliedstaat das Überschreiten seiner Staatsgrenze ohne gültigen Personalausweis oder Reisepass mit einer Geldstrafe bestraft, die, als Richtwert, 20 % des monatlichen Nettoeinkommens des Täters betragen kann, da eine solche Geldstrafe nicht im Verhältnis zur minderen Schwere dieses Verstoßes steht.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Finnisch.