SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 17. Juni 2021 ( 1 )

Rechtssache C‑55/20

Ministerstwo Sprawiedliwości,

Beteiligte:

Pierwszy Zastępca Prokuratora Generalnego, Prokurator Krajowy,

Rzecznik Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie

(Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie [Disziplinargericht der Rechtsanwaltskammer Warschau, Polen])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Freiheit der Erbringung von Rechtsberatungsdienstleistungen – Disziplinarverfahren gegen einen Rechtsanwalt – Jeweiliger Anwendungsbereich der Richtlinie 2006/123/EG und der Richtlinie 98/5/EG – Anwendbarkeit der Richtlinie 2006/123/EG auf Disziplinarverfahren – Genehmigungsregelungen – Begriff ‚Gericht‘ – Disziplinargericht der örtlichen Rechtsanwaltskammer mit nicht berufsmäßigen Richtern – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 19 Abs. 1 EUV – Befugnisse des untergeordneten Gerichts bei fehlender Unabhängigkeit des höheren nationalen Gerichts“

I. Einleitung

1.

Im Juli 2017 ersuchte der Prokurator Krajowy – Pierwszy Zastępca Prokuratora Generalnego (Landesstaatsanwalt – Erster Vertreter des Generalstaatsanwalts) (im Folgenden: Staatsanwaltschaft) den Rzecznik Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinarbeauftragter der Bezirksrechtsanwaltskammer Warschau; im Folgenden: Disziplinarbeauftragter der Rechtsanwaltskammer Warschau oder Disziplinarbeauftragter) um Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen den Rechtsanwalt des ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft erfüllten die Erklärungen dieses Rechtsanwalts, in denen er öffentlich zu der Möglichkeit Stellung genommen hatte, seinem Mandanten könnte die Begehung einer Straftat vorgeworfen werden, den Tatbestand einer rechtswidrigen Drohung und seien als ein Disziplinarvergehen einzustufen. Zweimal lehnte der Disziplinarbeauftragte die Einleitung eines solchen Verfahrens ab bzw. beschloss, es nicht fortzuführen. Zweimal hob der Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Bezirksrechtsanwaltskammer Warschau, Polen; im Folgenden: Disziplinargericht) nach einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft bzw. des Justizministers diese Entscheidungen auf und verwies die Sache an den Disziplinarbeauftragten zurück.

2.

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen erfolgt in der dritten „Runde“ dieses Verfahrens, in der das Disziplinargericht die Entscheidung des Disziplinarbeauftragten über die abermalige Einstellung der disziplinarischen Ermittlungen gegen diesen Rechtsanwalt zu prüfen hat, nachdem die Staatsanwaltschaft und der Justizminister wiederum Beschwerde eingelegt haben. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die Richtlinie 2006/123/EG (im Folgenden: Dienstleistungsrichtlinie) ( 2 ) und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) auf das bei ihm anhängige Disziplinarverfahren anwendbar sind. Es zeigt sich jedoch, dass das Kernproblem der beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtssache woanders liegt: Welche konkreten verfahrensrechtlichen Konsequenzen ergeben sich für das vorlegende Gericht aus dem Urteil des Gerichtshofs A. K. u. a. ( 3 ) im Hinblick darauf, dass seine Entscheidung anschließend vor der Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Oberstes Gerichts, Polen) angefochten werden kann? Wie kann das vorlegende Gericht konkret und praktisch sicherstellen, dass das Unionsrecht eingehalten wird?

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht

1. Dienstleistungsrichtlinie

3.

Im 33. Erwägungsgrund der Dienstleistungsrichtlinie heißt es, dass „[d]ie von dieser Richtlinie erfassten Dienstleistungen … einen weiten Bereich von Tätigkeiten [umfassen], die einem ständigen Wandel unterworfen sind…. Die von dieser Richtlinie erfassten Dienstleistungen umfassen ferner Dienstleistungen, die sowohl für Unternehmen als auch für Verbraucher angeboten werden, wie etwa Rechts- oder Steuerberatung …“.

4.

Gemäß dem 39. Erwägungsgrund sollte „[d]er Begriff der Genehmigungsregelung … unter anderem die Verwaltungsverfahren, in denen Genehmigungen, Lizenzen, Zulassungen oder Konzessionen erteilt werden, erfassen sowie die Verpflichtung zur Eintragung bei einer Berufskammer oder in einem Berufsregister, einer Berufsrolle oder einer Datenbank, die Zulassung durch eine Einrichtung oder den Besitz eines Ausweises, der die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Beruf bescheinigt…“.

5.

Art. 1 Abs. 5 der Dienstleistungsrichtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie berührt nicht das Strafrecht der Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten dürfen jedoch nicht unter Umgehung der Vorschriften dieser Richtlinie die Dienstleistungsfreiheit dadurch einschränken, dass sie Strafrechtsbestimmungen anwenden, die die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit gezielt regeln oder beeinflussen.“

6.

Art. 4 der Dienstleistungsrichtlinie enthält eine Reihe von Definitionen für die Zwecke dieser Richtlinie. Gemäß Art. 4 Abs. 6 bezeichnet der Begriff „Genehmigungsregelung“„jedes Verfahren, das einen Dienstleistungserbringer oder ‑empfänger verpflichtet, bei einer zuständigen Behörde eine förmliche oder stillschweigende Entscheidung über die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit zu erwirken“.

7.

Nach Art. 9 Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie in Kapitel III („Niederlassungsfreiheit für Dienstleistungserbringer“) Abschnitt 1 („Genehmigungen“) gilt dieser Abschnitt nicht für diejenigen Aspekte der Genehmigungsregelungen, die direkt oder indirekt durch andere Gemeinschaftsrechtsakte geregelt sind.

8.

Art. 10 der Dienstleistungsrichtlinie („Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung“) lautet:

„(1)   Die Genehmigungsregelungen müssen auf Kriterien beruhen, die eine willkürliche Ausübung des Ermessens der zuständigen Behörden verhindern.

(2)   Die in Absatz 1 genannten Kriterien müssen:

a)

nicht diskriminierend sein;

b)

durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein;

c)

in Bezug auf diesen Grund des Allgemeininteresses verhältnismäßig sein;

d)

klar und unzweideutig sein;

e)

objektiv sein;

f)

im Voraus bekannt gemacht werden;

g)

transparent und zugänglich sein.

(6)   Abgesehen von dem Fall, in dem eine Genehmigung erteilt wird, sind alle anderen Entscheidungen der zuständigen Behörden, einschließlich der Ablehnung oder des Widerrufs einer Genehmigung, ausführlich zu begründen; sie sind einer Überprüfung durch ein Gericht oder eine andere Rechtsbehelfsinstanz zugänglich.

…“

B.   Nationales Recht

1. Allgemeine Bestimmungen über die Rechtsanwaltskammer

9.

Art. 9 der ustawa z dnia 26 maja 1982 r. – Prawo o adwokaturze (Gesetz über die Rechtsanwaltschaft vom 26. Mai 1982) lautet:

„1.   Die Organe der Rechtsanwaltskammer sind: die Vollversammlung der Rechtsanwaltskammer, der Generalanwaltsrat, das Höhere Disziplinargericht, der Disziplinarbeauftragte und der Höhere Aufsichtsausschuss.

2.   Nur Rechtsanwälte können Mitglieder der Organe der Rechtsanwaltskammer sein.“

10.

Art. 11 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft bestimmt:

„1.   Die Wahlen zu den Organen der Rechtsanwaltskammer und zu den Organen der Rechtsanwaltsvereinigungen und Bezirksrechtsanwaltskammern erfolgen in geheimer Abstimmung ohne Begrenzung der Kandidatenzahl.

2.   Die Amtszeit der Organe der Rechtsanwaltskammer und der Organe der Rechtsanwaltsvereinigungen und Bezirksrechtsanwaltskammern beträgt vier Jahre, sie sind jedoch verpflichtet, bis zur Konstituierung neu gewählter Organe tätig zu sein.

4.   Einzelne Mitglieder der in Abs. 1 genannten Organe können vor Ablauf ihrer Amtszeit von dem Organ, das sie gewählt hat, abberufen werden.

…“

11.

Art. 58 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft lautet:

„Der Tätigkeitsbereich des Generalanwaltsrats umfasst:

(13) die Aussetzung des Rechts auf berufliche Betätigung einzelner Mitglieder der Rechtsanwaltskammer und der Bezirksrechtsanwaltskammern, mit Ausnahme der Mitglieder der Disziplinargerichte, wegen Verletzung grundlegender Pflichten und die Beantragung ihres Ausschlusses bei den zuständigen Behörden;

…“

2. Bestimmungen über Disziplinarvergehen

12.

Art. 80 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft bestimmt:

„Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter unterliegen einem Disziplinarverfahren bei Verhalten, das gegen das Gesetz, die ethischen Grundsätze oder die Würde des Berufsstandes verstößt, oder bei Verletzung ihrer Berufspflichten …“.

13.

Art. 81 Abs. 1 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft lautet:

„Disziplinarstrafen sind:

(1) Verwarnung;

(2) Verweis;

(3) Geldstrafe;

(4) Aussetzung des Rechts auf berufliche Betätigung für einen Zeitraum von drei Monaten bis zu fünf Jahren;

(6) Ausschluss aus der Rechtsanwaltskammer.“

14.

Art. 82 Abs. 2 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft sieht vor:

„Der Ausschluss aus der Rechtsanwaltskammer hat die Streichung aus dem Rechtsanwaltsverzeichnis zur Folge, ohne dass das Recht besteht, eine erneute Eintragung für einen Zeitraum von zehn Jahren ab Rechtskraft des Ausschlusses aus der Rechtsanwaltskammer zu beantragen.“

3. Bestimmungen über die Rechtspflegetätigkeiten der Disziplinargerichte der Rechtsanwaltskammern

15.

Art. 40 Nr. 2 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft lautet:

„Der Tätigkeitsbereich der Vollversammlung der Rechtsanwaltskammer umfasst … die Wahl des Vorsitzenden, des Vorsitzenden des Disziplinargerichts, des Disziplinarbeauftragten, des Vorsitzenden des Aufsichtsausschusses und der Mitglieder und stellvertretenden Mitglieder des Bezirksanwaltsrats, des Disziplinargerichts und des Aufsichtsausschusses.“

16.

Art. 91 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft bestimmt:

„1.   Disziplinarverfahren werden entschieden durch:

(1)

das Disziplinargericht der Bezirksrechtsanwaltskammer;

(2)

das Höhere Disziplinargericht.

2.   Das Disziplinargericht der Bezirksrechtsanwaltskammer verhandelt alle Rechtssachen als Gericht erster Instanz, mit Ausnahme der in Art. 85 Abs. 3 genannten Rechtssachen und der Verhandlung über eine Beschwerde gegen eine Entscheidung des Disziplinarbeauftragten, kein Disziplinarverfahren einzuleiten oder ein Disziplinarverfahren einzustellen.“

3.   Das Höhere Disziplinargericht ist zuständig

(1)

als Gericht zweiter Instanz für Rechtssachen, die in erster Instanz von Disziplinargerichten der Bezirksrechtsanwaltskammern verhandelt werden;

(2)

als Gericht erster Instanz für Disziplinarsachen von Mitgliedern des Generalanwaltsrats und der Bezirksanwaltsräte;

(3)

für sonstige in diesem Gesetz vorgesehene Rechtssachen.

…“

17.

Art. 89 Abs. 1 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft bestimmt:

„Das Disziplinargericht ist in seinen Entscheidungen unabhängig.“

4. Bestimmungen über das Verfahren vor den Disziplinargerichten der Rechtsanwaltskammer

18.

Art. 88a Abs. 4 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft lautet:

„Gegen Urteile und Beschlüsse, die ein Disziplinarverfahren beenden, können die Verfahrensbeteiligten und der Justizminister innerhalb von vierzehn Tagen nach Zustellung einer Abschrift des Urteils oder Beschlusses mit Begründung und einer Rechtsmittelbelehrung über die Frist und die Art und Weise der Einlegung eines Rechtsmittels Beschwerde einlegen.“

19.

Art. 91c des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft bestimmt:

„Eine Rechtsbeschwerde ist innerhalb von dreißig Tagen nach Zustellung des mit Gründen versehenen Urteils durch das Höhere Disziplinargericht beim Obersten Gericht einzulegen.“

20.

Art. 95n des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft bestimmt:

„In Rechtssachen, die nicht in diesem Gesetz geregelt sind, gelten für Disziplinarverfahren die folgenden Bestimmungen entsprechend:

(1) die Strafprozessordnung;

(2) die Kapitel I bis III des Strafgesetzbuchs.“

21.

Art. 100 § 8 des Kodeks postępowania karnego (im Folgenden: Strafprozessordnung) enthält folgende Bestimmung:

„Nach Verkündung oder Zustellung des Urteils oder Beschlusses sind die Verfahrensbeteiligten über ihr Recht, Rechtsmittel einzulegen, sowie über die Frist und die Art und Weise der Einlegung von Rechtsmitteln zu belehren oder darauf hinzuweisen, dass das Urteil, oder der Beschluss, nicht mit Rechtsmitteln angefochten werden kann.“

22.

Art. 521 Abs. 1 der Strafprozessordnung lautet:

„Der Generalstaatsanwalt und auch der Bürgerbeauftragte können gegen jede abschließende Entscheidung des Gerichts, die ein Verfahren beendet, Rechtsmittel einlegen.“

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

23.

Am 20. Juli 2017 beantragte die Staatsanwaltschaft beim Disziplinarbeauftragten der Rechtsanwaltskammer Warschau die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen R.G., den Anwalt des ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hatte R.G. die Grenzen der Meinungsfreiheit eines Rechtsanwalts überschritten, als er sich am 10. und 11. Oktober 2016 öffentlich zu der Möglichkeit äußerte, seinem Mandanten könnte die Begehung einer Straftat vorgeworfen werden. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft erfüllten die Äußerungen von R.G. den Tatbestand einer rechtswidrigen Drohung und eines Disziplinarvergehens.

24.

Am 7. November 2017 lehnte der Disziplinarbeauftragte der Rechtsanwaltskammer Warschau die Einleitung von Disziplinarermittlungen ab. Am 23. Mai 2018 wurde dieser Beschluss auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft durch das Disziplinargericht der Rechtsanwaltskammer Warschau aufgehoben. Die Sache wurde an den Disziplinarbeauftragten zurückverwiesen.

25.

Am 18. Juni 2018 leitete der Disziplinarbeauftragte wegen des vorgenannten Sachverhalts Disziplinarermittlungen gegen R.G. ein. Am 28. November 2018 beschloss der Disziplinarbeauftragte, die Ermittlungen nicht fortzuführen, da er der Auffassung war, dass die Äußerungen von R.G. nicht den Tatbestand eines Disziplinarvergehens erfüllten. Am 13. Juni 2019 wurde dieser Beschluss auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft und des Justizministers durch das Disziplinargericht aufgehoben. Die Sache wurde ein zweites Mal an den Disziplinarbeauftragten zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

26.

Am 8. August 2019 stellte der Disziplinarbeauftragte die disziplinarischen Ermittlungen gegen R.G. erneut ein. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Justizminister legten gegen diese Entscheidung Beschwerde ein. Somit ist das Disziplinargericht derzeit also in der dritten Runde mit dieser Sache befasst.

27.

Unter diesen tatsächlichen und rechtlichen Umständen hat der Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Rechtsanwaltskammer Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Finden die Bestimmungen des Kapitels III der Dienstleistungsrichtlinie, insbesondere deren Art. 10 Abs. 6, auf ein Disziplinarverfahren gegen polnische Rechtsanwälte und ausländische Juristen, die in die Liste der Rechtsanwälte eingetragen sind, Anwendung, wenn einem Rechtsanwalt u. a. eine Geldstrafe auferlegt, das Recht zur Berufsausübung ausgesetzt oder er aus der Rechtsanwaltschaft ausgeschlossen werden kann und einem ausländischen Rechtsanwalt u. a. eine Geldstrafe auferlegt, sein Recht auf Rechtshilfe in der Republik Polen ausgesetzt oder ihm die Rechtshilfe in der Republik Polen verboten werden kann? Falls diese Frage bejaht wird: Finden auf das vorstehend genannte Verfahren vor den Gerichten der Rechtsanwaltskammer die Bestimmungen der [Charta], insbesondere ihr Art. 47, Anwendung, wenn gegen Entscheidungen dieser Gerichte kein Rechtsmittel bei den staatlichen Gerichten eingelegt werden kann bzw. nur der außerordentliche Rechtsbehelf der Kassation beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zulässig ist und der Sachverhalt sich im Wesentlichen nur innerhalb eines Mitgliedstaats abspielt?

2.

Wenn in dem Rechtsstreit, von dem in der ersten Frage die Rede ist, für die Prüfung der Kassation gegen eine Entscheidung oder einen Beschluss des Disziplinargerichts der Rechtsanwaltskammer oder einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung dieser Kassation nach den geltenden Bestimmungen des nationalen Rechts eine Einrichtung zuständig ist, bei der es sich nach der Auffassung dieses Gerichts, die mit der Auffassung übereinstimmt, die das Oberste Gericht im Urteil vom 5. Dezember 2019, Aktenzeichen III PO 7/18, vertreten hat, um kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta handelt, müssen dann die nationalen Bestimmungen, die die Zuständigkeit dieser Einrichtung begründen, unangewendet bleiben, so dass das Disziplinargericht der Rechtsanwaltskammer verpflichtet ist, diese Kassation oder Beschwerde einem Gericht vorzulegen, dessen Zuständigkeit begründet wäre, wenn die angeführten Bestimmungen dem nicht im Wege stünden?

3.

Wenn in dem Rechtsstreit, von dem in der ersten Frage die Rede ist, nach der Auffassung dieses Gerichts weder dem Generalstaatsanwalt noch dem Bürgerbeauftragten die Möglichkeit offensteht, Kassation gegen die Entscheidung oder den Beschluss dieses Gerichts zu erheben, und diese Auffassung

a)

im Widerspruch zu der Auffassung steht, die die Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) im Beschluss vom 27. November 2019, Aktenzeichen II DSI 67/18, in einem mit sieben Richtern besetzten Spruchkörper vertreten hat, d. h. eine Einrichtung, die nach den geltenden nationalen Bestimmungen dafür zuständig ist, über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Kassation zu entscheiden, die jedoch nach Ansicht des Disziplinargerichts der Rechtsanwaltskammer, die mit der Auffassung übereinstimmt, die das Oberste Gericht im Urteil vom 5. Dezember 2019, Aktenzeichen III PO 7/18, vertreten hat, kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta ist,

b)

mit der Auffassung übereinstimmt, die die Izba Karna Sądu Najwyższego (Strafkammer des Obersten Gerichts, Polen) vertritt, d. h. das Gericht, das für die Entscheidung über diese Beschwerde zuständig wäre, wenn die angeführten Bestimmungen dem nicht im Wege stünden,

kann (bzw. muss) das Disziplinargericht der Rechtsanwaltskammer dann die Auffassung, die die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts zum Ausdruck gebracht hat, unbeachtet lassen?

4.

Wenn in dem Rechtsstreit, von dem in der dritten Frage die Rede ist, dem Disziplinargericht der Rechtsanwaltskammer die Beschwerde des Justizminister zur Prüfung vorgelegt wird und

a)

einer der Faktoren, die nach Auffassung des Obersten Gerichts, die es im Urteil vom 5. Dezember 2019, Aktenzeichen III PO 7/18, zum Ausdruck gebracht hat, und auch nach Ansicht des Disziplinargerichts der Rechtsanwaltskammer für die Annahme sprechen, dass es sich bei Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts), d. h. der Einrichtung, von der in der dritten Frage Buchst. a die Rede ist, um kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta handelt, der Einfluss der Exekutive, insbesondere auch des Justizministers, auf ihre personelle Zusammensetzung ist,

b)

das Amt des Generalstaatsanwalts, der nach Auffassung der Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts), d. h. der Einrichtung, von der in der dritten Frage Buchst. a die Rede ist, dazu befugt wäre, Kassation gegen einen Beschluss einzulegen, der auf eine Beschwerde hin erlassen wurde, während er nach der Auffassung der Izba Karna Sądu Najwyższego (Strafkammer des Obersten Gerichts), d. h. des Gerichts, von dem in der dritten Frage Buchst. b die Rede ist, sowie nach Ansicht des Disziplinargerichts der Rechtsanwaltskammer diese Befugnis nicht besitzt, kraft Gesetzes der Justizminister ausübt,

darf sich das Disziplinargericht der Rechtsanwaltskammer dann mit dieser Beschwerde nicht befassen, wenn es nur auf diese Weise die Vereinbarkeit des Verfahrens mit Art. 47 der Charta gewährleisten und insbesondere die Einflussnahme durch eine Einrichtung verhindern kann, bei der es sich um kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne dieser Bestimmung handelt?

28.

Schriftliche Erklärungen sind von der Staatsanwaltschaft, der niederländischen und der polnischen Regierung sowie von der Europäischen Kommission eingereicht worden.

29.

Am 16. Februar 2021 hat das Disziplinargericht auf das Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellungen gemäß Art. 101 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs geantwortet.

IV. Würdigung

30.

Diese Schlussanträge gliedern sich wie folgt. Ich werde zunächst prüfen, ob das Disziplinargericht der Rechtsanwaltskammer Warschau ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV ist (A). Sodann gehe ich auf die erste Frage zur Anwendbarkeit der Dienstleistungsrichtlinie und von Art. 47 der Charta auf Disziplinarverfahren gegen Rechtsanwälte ein (B). Danach werden die Fragen 2 bis 4 behandelt, die die Befugnisse des Disziplinargerichts betreffen, die Einhaltung des Unionsrechts sicherzustellen (C).

A.   Ist das Disziplinargericht ein Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV?

31.

Nach ständiger Rechtsprechung berücksichtigt der Gerichtshof bei der Beurteilung der Frage, ob es sich bei einer vorlegenden Einrichtung um ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV handelt (wobei es sich um eine Frage handelt, die allein durch das Unionsrecht geregelt wird) die folgenden Faktoren: gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ihr ständiger Charakter, die obligatorische Gerichtsbarkeit, das streitige Verfahren, die Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie ihre Unabhängigkeit ( 4 ).

32.

Das Disziplinargericht erfüllt die meisten dieser Bedingungen. Wie in der Vorlageentscheidung erläutert und von den Beteiligten nicht bestritten, wurde das Disziplinargericht durch das polnische Gesetz über die Rechtsanwaltschaft errichtet, es ist eine ständige Einrichtung, es wendet die Verfahrensregeln an, die im Gesetz über die Rechtsanwaltschaft und in der Strafprozessordnung festgelegt sind, und seine Entscheidungen sind verbindlich und vollstreckbar. Darüber hinaus hat das Disziplinargericht offenbar eine durch nationales Recht begründete obligatorische Zuständigkeit für die ihm übertragenen Disziplinarstreitigkeiten.

33.

Während die Kommission der Ansicht ist, dass das Disziplinargericht daher ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV sei, treten aber sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die polnische Regierung dieser Schlussfolgerung entgegen.

34.

Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft ist das Disziplinargericht angesichts des Abschnitts, in dem sich das in Rede stehende Disziplinarverfahren befinde, und des Streitgegenstands kein Gericht. Im Rahmen des Ausgangsverfahrens habe der Disziplinarbeauftragte der Rechtsanwaltskammer Warschau R.G. noch nicht angeklagt, ein Disziplinarvergehen begangen zu haben. Der Abschnitt der mündlichen Hauptverhandlung sei daher noch nicht eröffnet. Darüber hinaus habe das Disziplinargericht bei der Überprüfung der Entscheidung des Disziplinarbeauftragten, das Disziplinarverfahren einzustellen, nicht über das Recht von R.G. auf Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit gemäß Kapitel III der Dienstleistungsrichtlinie zu entscheiden, sondern lediglich zu prüfen, ob die Entscheidung, mit der ein Disziplinarverfahren gegen R.G. verhindert werde, begründet sei.

35.

Nach Ansicht der polnischen Regierung ist das Disziplinargericht nicht nur kein Gericht im Sinne von Art. 179 der polnischen Verfassung, sondern es könne auch nicht als unabhängig im Sinne von Art. 267 AEUV angesehen werden. Erstens würden seine Mitglieder für eine verlängerbare Amtszeit von vier Jahren von der Vollversammlung der betreffenden Rechtsanwaltskammer gewählt. Demzufolge würden die Richter, die dem Disziplinargericht angehören, über Disziplinarsachen entscheiden, die ihre eigenen Kollegen betreffen, von denen sie gewählt worden seien und von denen sie möglicherweise wiedergewählt werden könnten. Zweitens besäßen die Mitglieder des Disziplinargerichts keine Garantie in Bezug auf ihre Amtszeit. Sie könnten vor Ablauf ihrer Amtszeit von dem Organ, das sie gewählt hat, nämlich von der Vollversammlung, der alle Rechtsanwälte der betreffenden Rechtsanwaltskammern angehören, abberufen werden. Drittens sei zweifelhaft, dass Richter, die dem Disziplinargericht angehören, unempfindlich gegenüber äußeren Einflussnahmen seien. Im vorliegenden Fall habe der Präsident des Disziplinargerichts, obwohl kein Mitglied des die Vorlageentscheidung fassenden Spruchkörpers, die Verfahrensbeteiligten darauf hingewiesen, dass sie die Aussetzung des Verfahrens für die Zwecke des Vorabentscheidungsersuchens anfechten könnten, während der den Beschluss fassende Spruchkörper die Auffassung vertrete, dass die Vorlageentscheidung nicht angefochten werden könne.

36.

Kurz gesagt, während die Staatsanwaltschaft bestreitet, dass ein echter kontradiktorischer Rechtsstreit zwischen den Beteiligten vor dem Disziplinargericht anhängig sei, ist die polnische Regierung der Ansicht, dass diese Einrichtung nicht unabhängig sei. Ich werde auf diese beiden Punkte nacheinander eingehen.

1. Kontradiktorisches Verfahren?

37.

Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV setzt nach dieser Bestimmung einen kontradiktorischen Rechtsstreit voraus. Diese Bedingung gehört zwar zu den Dorsch-Kriterien ( 5 ), es sollte fairerweise aber darauf hingewiesen werden, dass sie keine unüberwindbare Bedingung ist. Der Gerichtshof hat wiederholt erklärt, dass es sich hierbei nicht um ein absolutes Kriterium handelt ( 6 ).

38.

Zudem kann ein nationales Gericht dem Gerichtshof nur dann eine Frage vorlegen, wenn bei ihm ein Rechtsstreit anhängig ist und wenn es angerufen ist, in einem Verfahren zu befinden, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt ( 7 ). Innerhalb dieser Grenzen ist es jedoch allein Sache des vorlegenden Gerichts, zu entscheiden, wann genau es im Hinblick auf das Stadium des Ausgangsverfahrens eine Frage zur Vorabentscheidung an den Gerichtshof zu stellen für angebracht hält ( 8 ). Der Gerichtshof verlangt nur, dass der Rechtsstreit zum Zeitpunkt des Vorabentscheidungsersuchens anhängig ist ( 9 ).

39.

Im vorliegenden Fall macht die Staatsanwaltschaft geltend, dass das Verfahren vor dem Disziplinargericht nicht kontradiktorisch sei, weil der „Rechtsstreit“ den Beschluss (des Disziplinarbeauftragten) betreffe, die Disziplinarermittlungen einzustellen (im Gegensatz zu einer Entscheidung, ein solches Verfahren einzuleiten oder tatsächlich eine Disziplinarstrafe zu verhängen). Insoweit handele es sich um einen vorgeschalteten Verfahrensabschnitt ohne eine unmittelbare Auseinandersetzung zwischen R.G. und den zuständigen Disziplinarorganen. Es gebe also keinen wirklichen Rechtsstreit.

40.

Ich bin anderer Auffassung.

41.

Die Staatsanwaltschaft vermengt zwei Dinge miteinander: Damit es sich um ein kontradiktorisches Verfahren überhaupt zwischen Verfahrensbeteiligten handeln könne, müsse ein ganz spezieller Streit zwischen zwei konkreten Verfahrensbeteiligten vorliegen. Auf dieser Grundlage vertritt die Staatsanwaltschaft im Wesentlichen die Auffassung, dass, da keine „Hauptverhandlung“ in der Sache im Rahmen eines Disziplinarverfahrens zwischen zwei konkreten Parteien vorliege, es folglich keinen wirklichen Rechtsstreit, kein kontradiktorisches Verfahren, gebe.

42.

Das Vorliegen eines kontradiktorischen Rechtsstreits erfordert nach der oben dargestellten Rechtsprechung jedoch lediglich einen wirklichen Streit über eine Rechtsnorm und deren Anwendung zwischen einigen Beteiligten ( 10 ). Insoweit ist vorliegend ein solcher kontradiktorischer Rechtsstreit eindeutig gegeben, denn die Verfahrensbeteiligten sind der Disziplinarbeauftragte einerseits und die Staatsanwaltschaft und der Justizminister andererseits und der Rechtsstreit wird vor einem dritten Beteiligten, dem Disziplinargericht, geführt. Ob R.G. technisch gesehen bereits Verfahrensbeteiligter dieses Rechtsstreits ist und in welchem Verfahrensabschnitt er nach nationalem Recht als Angeklagter volle Beteiligtenrechte hat, ist für das Vorliegen eines wirklichen kontradiktorischen Rechtsstreits unerheblich.

43.

Das Gleiche gilt für das Stadium des Verfahrens: Um es nochmals zu sagen: In Bezug auf die Zulässigkeit gibt es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Begrenzung des genauen Stadiums des nationalen Verfahrens, in dem ein Vorabentscheidungsersuchen gestellt werden kann. Erforderlich ist lediglich, dass ein wirklicher Rechtsstreit ( 11 ) zwischen einigen Verfahrensbeteiligten besteht, was im Ausgangsverfahren eindeutig der Fall ist.

44.

Meines Erachtens besteht daher kein Zweifel, dass im Ausgangsverfahren ein kontradiktorischer Streit im Sinne von Art. 267 AEUV gegeben ist.

2. Unabhängigkeit

45.

Der Begriff „Unabhängigkeit“ hat zwei Aspekte. Was erstens die äußere Unabhängigkeit anbelangt, so muss die betreffende Einrichtung nach ständiger Rechtsprechung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausüben, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten ( 12 ).

46.

Die Unabsetzbarkeit der Mitglieder der betreffenden Einrichtung stellt eine Garantie dar, die für die richterliche Unabhängigkeit wesentlich ist, da sie dem Schutz der Person dient, die die Aufgabe hat, in einem Rechtsstreit zu entscheiden ( 13 ). Die Garantie der Unabsetzbarkeit der Mitglieder eines Gerichts ist daher nur gewährleistet, wenn die Fälle, in denen die Mitglieder der Einrichtung abberufen werden können, in besonderen Regelungen durch ausdrückliche gesetzliche Bestimmungen festgelegt sind, die Garantien bieten, die über das hinausgehen, was die allgemeinen Regeln des Verwaltungs- und des Arbeitsrechts im Falle einer missbräuchlichen Abberufung vorsehen ( 14 ). Diese Garantien der Unabhängigkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der genannten Stelle für Einflussnahmen von außen und an ihrer Neutralität in Bezug auf die einander gegenüberstehenden Interessen auszuräumen ( 15 ).

47.

Der zweite, der innere, Aspekt des Begriffs der Unabhängigkeit bezieht sich zumeist auf die Unparteilichkeit, die gleiche Bedingungen für die Verfahrensbeteiligten und ihre jeweiligen Interessen in Bezug auf den Verfahrensgegenstand gewährleisten soll. Dieser Aspekt erfordert Objektivität und das Fehlen jeglichen Interesses am Ausgang des Verfahrens, abgesehen von der strikten Anwendung der Rechtsstaatlichkeit. Der Begriff „Unabhängigkeit“, der der Aufgabe der Rechtsprechung innewohnt, impliziert also vor allem, dass die betreffende Stelle gegenüber der Behörde, die die angefochtene Entscheidung erlassen hat, als Dritter auftritt ( 16 ).

48.

Im vorliegenden Fall werden von der polnischen Regierung im Wesentlichen zwei Elemente im Zusammenhang mit der Zusammensetzung des Disziplinargerichts unter dem Gesichtspunkt der Unabhängigkeit als potenziell problematisch hervorgehoben: die angeblich fehlende Unabsetzbarkeit seiner Mitglieder und die Tatsache, dass es sich aus Rechtsanwälten, Mitgliedern der Anwaltskammer, zusammensetzt, die in gewisser Weise als „Laienrichter“ und nicht als Berufsrichter tätig sind.

49.

Der polnischen Regierung ist in vollem Maße darin zuzustimmen, was die Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit und das Gebot betrifft, dass eine Einrichtung, wenn sie als „Gericht“ bezeichnet werden will, das diesen Namen verdient, alle Anforderungen erfüllen muss, die sich sowohl auf die äußere als auch auf die innere Dimension des Begriffs der richterlichen Unabhängigkeit beziehen. Im vorliegenden Fall sehe ich jedoch nach den vom vorlegenden Gericht vorgenommenen Klarstellungen nicht, warum das Disziplinargericht diese Kriterien nicht erfüllen sollte, wenn es im Hinblick auf Art. 267 AEUV beurteilt wird.

50.

Erstens, beginnend mit der angeblich fehlenden Unabsetzbarkeit der Mitglieder des Disziplinargerichts, besagt Art. 11 Abs. 4 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft seinem Wortlaut nach tatsächlich, dass die einzelnen Mitglieder der Organe der Rechtsanwaltskammer, also auch des Disziplinargerichts, das eines dieser Organe ist, vor Ablauf ihrer Amtszeit von dem Organ, das sie gewählt hat, nämlich der Vollversammlung der Rechtsanwaltskammer, abgesetzt werden können ( 17 ).

51.

Es gibt aber offenbar keine sonstigen gesetzlichen Bestimmungen, oder zumindest keine, die dem Gerichtshof von einem der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis gebracht worden sind, die konkret zum Ausdruck bringen würden, wann, wie oder warum Mitglieder des Disziplinargerichts abberufen werden können. Das Fehlen derartiger Bestimmungen könnte darauf hindeuten, dass die Modalitäten für die Abberufung von Mitgliedern des Disziplinargerichts nicht durch spezifische Regeln festgelegt wurden und stattdessen die allgemeinen Regeln des Verwaltungsrechts und des Arbeitsrechts gelten. Danach wäre die Abberufung von Mitgliedern nicht auf bestimmte Ausnahmefälle beschränkt, wie dies nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs für eine Charakterisierung als „Gericht“ erforderlich wäre ( 18 ).

52.

Auf Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellung hat das Disziplinargericht jedoch erklärt, dass Art. 11 Abs. 4 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft nur auf dem Papier stehe und nie umgesetzt worden sei. Es gebe keine Bestimmung, die festlege, wie und wann die Vollversammlung der Rechtsanwaltskammer ein Mitglied des Disziplinargerichts vor Ablauf seiner Amtszeit abberufen könne. Ferner ergebe sich aus Art. 58 Nr. 13 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft, dass ein Mitglied des Disziplinargerichts nicht vor Ablauf seiner Amtszeit abberufen werden könne. Ebenso enthalte die Geschäftsordnung der Vollversammlung der Rechtsanwaltskammer keine Bestimmung über die Abberufung von Mitgliedern des Disziplinargerichts. Schließlich habe jedenfalls die Vollversammlung der Rechtsanwaltskammer Warschau noch nie ein Mitglied des Disziplinargerichts abberufen.

53.

Meines Erachtens hat das Disziplinargericht hinreichend dargelegt, dass Art. 11 Abs. 4 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft keine Wirkung entfaltet. Demnach ist davon auszugehen, dass die Mitglieder des Disziplinargerichts tatsächlich unabsetzbar sind und folglich die äußere Unabhängigkeit dieses Gerichts im Hinblick auf die Unabsetzbarkeit seiner Mitglieder kein Problem darstellt.

54.

Zweitens ist auch, diesmal im Hinblick auf die innere Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, die Ansicht vertreten worden, dass das Disziplinargericht nicht unabhängig sei, weil es sich aus Rechtsanwälten, Mitgliedern der Anwaltskammer, und nicht aus Berufsrichtern zusammensetze. Aus diesem Grund sei das Disziplinargericht kein unabhängiger Dritter, sondern eine Ansammlung von Einzelpersonen, die sowohl gewählt als auch wiedergewählt würden und daher möglicherweise von ihren Kollegen beeinflusst würden.

55.

In der Tat gibt es Bedenken, die gelegentlich im Hinblick auf Verfahren, insbesondere Disziplinarverfahren, die von Kollegen durchgeführt werden, geäußert werden. Sie reichen vom Vorwurf des Korporatismus innerhalb eines Berufsstandes bis hin zur Wahrscheinlichkeit von Interessenkonflikten. Auf der einen Seite des Spektrums gibt es den Vorwurf einer „missverstandenen Berufssolidarität“, und zwar insbesondere von Außenstehenden, die manchmal mit dem Ausgang eines Disziplinarverfahrens unzufrieden sind, die Sanktionen oft für zu milde halten und sogar meinen, dass es aufgrund des „gegenseitigen Beistands“ innerhalb des betreffenden Berufsstandes kein unabhängiges Verfahren gebe. Auf der anderen Seite dieses Spektrums wird manchmal, vielleicht häufiger, aus dem Berufsstand selbst behauptet, dass eine auf diese Weise zusammengesetzte Disziplinareinrichtung im konkreten Fall aufgrund persönlicher Neigungen, Verbindungen oder Missgunst, was zu einem persönlichen Interesse an der Bestrafung eines Kollegen führe, nicht unparteiisch sei.

56.

Solange nichts von diesem allgemeinen Vorbringen entweder auf der Ebene des Gesetzes oder in der Praxis und der Rechtsanwendung nachgewiesen ist ( 19 ) und gestattet, die Unabhängigkeit einer gerichtlichen Einrichtung in Frage zu stellen, halte ich solche Unterstellungen oder Vermutungen für die Beurteilung der Frage, ob eine nationale Einrichtung als Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen ist oder nicht, für wenig relevant. Wie ich kürzlich ausgeführt habe, erfordert die Beurteilung der Unabhängigkeit nach Art. 267 AEUV, dass der Begriff des Gerichts auf der strukturellen, institutionellen Ebene untersucht wird. Er wird geprüft, indem man das vorlegende Gericht als solches betrachtet und dabei die Funktion berücksichtigt, die dieses Organ unter den besonderen Umständen eines Falles auszuüben hat ( 20 ).

57.

Es ist nicht ersichtlich, warum in struktureller Hinsicht gerichtliche Einrichtungen, die sich aus „nicht berufsmäßigen Richtern“ zusammensetzen, per se nicht als Gerichte im Sinne von Art. 267 AEUV angesehen werden könnten, vorausgesetzt natürlich, dass sie im Rahmen ihrer rechtsprechenden Tätigkeit alle Anforderungen der richterlichen Unabhängigkeit erfüllen. Mit anderen Worten: Das Erfordernis der Unabhängigkeit ist für jedes Gericht genau dasselbe, unabhängig davon, ob es sich aus „Berufsrichtern“ oder „Laienrichtern“ oder einer Kombination aus beiden zusammensetzt.

58.

Es ist darauf hinzuweisen, dass die Wahl der Struktur des nationalen Justizsystems den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleibt ( 21 ). In dieser Hinsicht ist es in einer Reihe von Mitgliedstaaten sicherlich der Fall, dass Angelegenheiten, die die Disziplin für Angehörige bestimmter Berufe betreffen, von den Angehörigen eben dieser Berufe und damit von „nicht berufsmäßigen“ Richtern entschieden werden. Das gilt für eine Reihe von „freien“ Berufen wie Ärzte, Tierärzte, Zahnärzte, Architekten, Apotheker oder wie im vorliegenden Fall Rechtsanwälte. Die Vorteile einer solchen institutionellen Wahl liegen auf der Hand: die notwendige Fachkompetenz in Fragen der beruflichen Anforderungen und der Disziplin auf dem jeweiligen, oft komplexen Gebiet ( 22 ).

59.

Der Gerichtshof hat in der Vergangenheit nicht gezögert, Vorabentscheidungsersuchen solcher Einrichtungen zu beantworten, wenn die Voraussetzungen des Art. 267 AEUV als erfüllt angesehen wurden. In einigen Rechtssachen hat der Gerichtshof ausführlich die Rechtsnatur der betreffenden Einrichtung im Einzelnen erörtert, z. B. in Bezug auf die niederländische Commissie van Beroep Huisartsgeneeskunde (Streitsachenausschuss für Angelegenheiten der Allgemeinmedizin) ( 23 ) oder den italienischen Consiglio Nazionale Forense (Nationaler Rat der Rechtsanwaltskammern) ( 24 ). In anderen Rechtssachen hat der Gerichtshof die vorgelegte(n) Frage(n) beantwortet, ohne zunächst zu prüfen, ob sie von einem „Gericht“ gestellt wurde(n), so z. B. bei der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte (Österreich) ( 25 ), einer lokalen Kammer der Zahnärzteschaft in Frankreich ( 26 ) oder bei einem belgischen Beschwerdeausschuss der Architektenkammer ( 27 ). Der Gerichtshof hat jedoch nicht gezögert, ein Ersuchen um Vorabentscheidung abzulehnen, wenn er die Unabhängigkeit der vorlegenden Einrichtung für unzureichend hielt ( 28 ).

60.

Letztlich kommt es in all diesen Fällen in Bezug auf rechtsprechende Einrichtungen, die sich aus „nicht berufsmäßigen Richtern“ ( 29 ) zusammensetzen, auf den Grund an, aus dem die Bewertung des Kriteriums der Unabhängigkeit gemäß Art. 267 AEUV erfolgt. Bei dieser Bewertung geht es, obwohl ihr im Kern dasselbe Kriterium der Unabhängigkeit wie bei anderen Bestimmungen des Unionsrechts zugrunde liegt, nicht, wie z. B. bei Art. 47 der Charta, um eine akribische Identifizierung jedes einzelnen Verstoßes gegen individuelle Rechte, die sich aus dem Unionsrecht ergeben ( 30 ). Zweck dieser Bewertung gemäß Art. 267 AEUV ist die Feststellung geeigneter institutioneller Gegenüber in den Mitgliedstaaten, die mit dem Gerichtshof in einen Dialog treten können, um eine einheitliche Auslegung des Unionsrechts sicherzustellen. Um das ordnungsgemäße Funktionieren der unionsrechtlichen Ordnung zu gewährleisten, muss der Gerichtshof nämlich die Möglichkeit haben, sich zu Fragen der Auslegung und Gültigkeit des unionsrechtlichen Rahmens zu äußern, die sich aus nationalen Verfahren ergeben und die sich auf die Ausübung der durch das Unionsrecht gewährten Rechte auswirken können ( 31 ).

61.

Vor diesem Hintergrund hat die polnische Regierung über bloße abstrakte und auf Mutmaßungen beruhende Behauptungen hinaus nicht dargelegt, warum das Disziplinargericht das Erfordernis der Unabhängigkeit als integralem Bestandteil des Begriffs „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV nicht erfüllt. Nach den Erläuterungen des Disziplinargerichts ist nicht ersichtlich, dass es diesem an (äußerer oder innerer) Unabhängigkeit fehlt und es aus diesem Grund den Gerichtshof nicht im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens anrufen kann.

62.

Ich bin daher der Ansicht, dass das Disziplinargericht (der Rechtsanwaltskammer Warschau) berechtigt ist, dem Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV den Ausgangsrechtsstreit vorzulegen.

B.   Erste Frage: Dienstleistungsrichtlinie und Art. 47 der Charta

1. Zulässigkeit

63.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts spricht, die es in dem sachlichen und rechtlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine von einem nationalen Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage zu entscheiden, wenn die erbetene Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind ( 32 ).

64.

In diesem Zusammenhang sind sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die polnische Regierung der Auffassung, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei, weil eine Antwort für die Entscheidung des Rechtsstreits im Ausgangsverfahren nicht erforderlich sei. Sie machen geltend, dass die Fragen 2 bis 4 unzulässig seien, weil sich das vorlegende Gericht nur mit dem späteren Abschnitt des Ausgangsverfahrens befasse, nämlich mit einer hypothetischen Beschwerde bei der Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts). Auch die erste Frage sei unzulässig, weil diese Frage nur gestellt worden sei, um eine Antwort auf die Fragen 2 bis 4 zu erhalten. Darüber hinaus sei keine Bestimmung des Unionsrechts tatsächlich auf den vorliegenden Fall anwendbar, so dass sich R.G. nicht auf das Unionsrecht berufen könne.

65.

Ich bin anderer Meinung. Ich halte die erste Frage eindeutig für zulässig.

66.

Erstens kann ich mich vom Begriff her nicht mit einer „Unzulässigkeit im Wege der Assoziation“ anfreunden, wie dies von der Staatsanwaltschaft und der polnischen Regierung in Wirklichkeit vertreten wird. In der Vergangenheit hat der Gerichtshof stets jede der von den vorlegenden Gerichten gestellten Fragen unabhängig voneinander geprüft, jedenfalls in dem Maße, in dem solche Fragen logisch voneinander getrennt werden können. Jede Frage wird gesondert und für sich genommen geprüft, was häufig dazu führt, dass (wie so oft in der Rechtsprechung) in ein und demselben Verfahren einige Fragen beantwortet werden, während andere für unzulässig erklärt werden. Es gibt keine (Un-)Zulässigkeit im Wege der Assoziation.

67.

Zweitens verfolgt die Rechtsprechung bei der Zulässigkeit einen eher wohlwollenden Ansatz ( 33 ). Wenn es um die Rollenverteilung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof geht, ist es nicht Aufgabe des Gerichtshofs, die Motive eines nationalen Gerichts zu hinterfragen. Noch viel weniger angebracht ist es, einem nationalen Gericht tatsächlich Unredlichkeit zu unterstellen und auf der Grundlage dieser Vermutung die Antwort auf eine Vorlagefrage zu verweigern.

68.

Drittens besteht, was den Inhalt der ersten Frage für die Zwecke der Zulässigkeit betrifft, ein hinreichender Zusammenhang zwischen dem Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache und den fraglichen nationalen Vorschriften einerseits und der Dienstleistungsrichtlinie andererseits, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersucht. Es lässt sich nicht vertreten, dass mit der ersten Frage eine Auslegung begehrt werde, die offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht. Mit anderen Worten steht die erste Frage in einem sachlichen Zusammenhang mit einem klar bezeichneten Unionsrechtsakt, um dessen Auslegung das vorlegende Gericht ersucht ( 34 ).

69.

Viertens ist es für die Zulässigkeit nicht von Bedeutung, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens aus der Antwort des Gerichtshofs einen tatsächlichen Nutzen ziehen kann, sobald das vorlegende Gericht eine abschließende Entscheidung in der Sache erlassen hat ( 35 ). Die Zulässigkeit von einer bestimmten Antwort in der Sache abhängig zu machen, bedeutet, den sprichwörtlichen Karren vor das Pferd zu spannen ( 36 ).

70.

Zusammenfassend kann meines Erachtens nicht festgestellt werden, dass die Antwort auf die erste Frage des vorlegenden Gerichts zur Dienstleistungsrichtlinie für die von ihm im Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung ohne jede Bedeutung ist. Daraus folgt, dass die erste Frage, unbeschadet der noch zu prüfenden Zulässigkeit der Fragen 2, 3 und 4 zulässig ist.

2. Anwendbarkeit der Dienstleistungsrichtlinie

71.

Mit dem ersten Teil seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Dienstleistungsrichtlinie, insbesondere aufgrund ihres Art. 10 Abs. 6, auf Disziplinarverfahren gegen Rechtsanwälte anwendbar ist, die zu einer Entscheidung wie der über den Ausschluss aus der Rechtsanwaltschaft führen können. Für den Fall, dass dies bejaht wird, fragt das vorlegende Gericht im zweiten Teil seiner Frage, ob die Charta, einschließlich ihres Art. 47, auf solche Verfahren vor Gerichten der Rechtsanwaltskammer Anwendung findet.

72.

Meines Erachtens sind beide Teile dieser Frage zu bejahen. Um zu erläutern, warum dies meiner Ansicht nach der Fall ist, werde ich zunächst den jeweiligen Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie und der Richtlinie 98/5/EG ( 37 ) untersuchen (a), bevor ich mich der Anwendbarkeit der Dienstleistungsrichtlinie auf Rechtsdienstleistungen und insbesondere auf Disziplinarverfahren gegen Rechtsanwälte zuwende (b).

a) Der jeweilige Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie und der Richtlinie 98/5

73.

Die polnische Regierung ist der Ansicht, das Unionsrecht sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Insbesondere sei die Dienstleistungsrichtlinie nicht anwendbar, da die Richtlinie 98/5 die lex specialis sei, und diese lex specialis finde in materieller Hinsicht auf die Rechtssache keine Anwendung.

74.

Ich bin nicht dieser Ansicht.

75.

Nach Art. 3 Abs. 1 der Dienstleistungsrichtlinie „[hat, w]idersprechen Bestimmungen dieser Richtlinie einer Bestimmung eines anderen Gemeinschaftsrechtsaktes, der spezifische Aspekte der Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in bestimmten Bereichen oder bestimmten Berufen regelt, … die Bestimmung des anderen Gemeinschaftsrechtsaktes Vorrang und findet auf die betreffenden Bereiche oder Berufe Anwendung“. Art. 3 Abs. 1 nennt auch vier derartige sekundärrechtliche Rechtsakte der Union ( 38 ). Die Richtlinie 98/5 gehört zwar nicht dazu, aber die Liste der in diesem Artikel genannten Rechtsakte ist nicht erschöpfend ( 39 ).

76.

Inhaltlich enthält die Richtlinie 98/5 in der Tat Bestimmungen über Berufs- und Standesregeln (Art. 6) und Disziplinarverfahren (Art. 7) für Rechtsanwälte, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie ihre berufliche Qualifikation erworben haben, tätig sind. Insbesondere Art. 7 regelt die jeweiligen disziplinarischen Befugnisse und Pflichten der zuständigen Stellen des Herkunftsstaats und des Aufnahmestaats. Art. 9 verlangt, dass Entscheidungen über die Rücknahme der Eintragung eines Rechtsanwalts sowie Entscheidungen zur Verhängung von Disziplinarstrafen begründet werden müssen. Außerdem muss gegen diese Entscheidungen ein gerichtliches Rechtsmittel nach dem innerstaatlichen Recht eingelegt werden können.

77.

Davon abgesehen bleibt mir jedoch die Argumentation der polnischen Regierung unverständlich. Ich vermag nicht recht zu erkennen, wie eine lex specialis, nämlich die Richtlinie 98/5, die auf einen inländischen Rechtsanwalt eindeutig nicht anwendbar ist, der Anwendung einer lex generalis, nämlich der Dienstleistungsrichtlinie, entgegenstehen könnte, die eindeutig sowohl in persönlicher als auch in sachlicher Hinsicht anwendbar ist.

78.

Erstens gilt das Kapitel III der Dienstleistungsrichtlinie, das die Niederlassungsfreiheit betrifft, auch für rein innerstaatliche Sachverhalte, also für die Erbringung von Rechtsdienstleistungen durch Rechtsanwälte, die nicht von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben ( 40 ). Somit gilt Kapitel III der Dienstleistungsrichtlinie, soweit es auch auf Rechtsdienstleistungen anwendbar ist, mangels anderer Regelungen für alle Rechtsanwälte, unabhängig davon, ob sie hinsichtlich ihrer Qualifikation „rein inländische“ oder „grenzüberschreitende“ Rechtsanwälte sind.

79.

Zweitens ist die Dienstleistungsrichtlinie speziell für ausländische Rechtsanwälte nur insoweit anwendbar, als ihre allgemeinen Bestimmungen nicht gemäß Art. 3 Abs. 1 der Dienstleistungsrichtlinie durch eine spezifische Bestimmung der Richtlinie 98/5 ersetzt worden sind. Aber auch in Bezug auf ausländische Rechtsanwälte ist es fraglich, inwieweit die Richtlinie 98/5 im Hinblick auf die spezifischen Garantien der Art. 9 und 10 der Dienstleistungsrichtlinie etwas anderes vorschreibt ( 41 ).

80.

Drittens ist nicht ersichtlich, dass R.G. ein ausländischer Rechtsanwalt im Sinne der Richtlinie 98/5 ist ( 42 ), was allerdings vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist. Als inländischer Rechtsanwalt ist die Dienstleistungsrichtlinie in jedem Fall auf ihn anwendbar, während die Richtlinie 98/5 für den vorliegenden Fall in keiner Weise einschlägig ist.

81.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Richtlinie 98/5 in jedem Fall ganz einfach nichts anderes bestimmt. Dem Anschein nach gibt es keinen Konflikt mit einer unionsrechtlichen Spezialvorschrift, die die Materie des Art. 3 Abs. 1 der Dienstleistungsrichtlinie regeln würde.

b) Dienstleistungsrichtlinie und Disziplinarverfahren gegen Rechtsanwälte

82.

Alle Verfahrensbeteiligten sowie das vorlegende Gericht stimmen darin überein, dass die Dienstleistungsrichtlinie auf Rechtsdienstleistungen anwendbar ist und dass die Eintragung bei der Rechtsanwaltskammer zum Zwecke der Ausübung des Anwaltsberufs eine Zulassungsregelung im Sinne dieser Richtlinie darstellt. Keine Einigkeit besteht jedoch darüber, ob Disziplinarverfahren als Teil einer solchen Genehmigungsregelung anzusehen sind. Während das vorlegende Gericht und die Kommission der Ansicht sind, dass dies der Fall sei, sind die niederländische und die polnische Regierung anderer Meinung.

83.

Nach Art. 2 der Dienstleistungsrichtlinie, der den materiellen Anwendungsbereich der Richtlinie festlegt, fällt die Erbringung von Rechtsberatungsleistungen in den Anwendungsbereich der Richtlinie. Zwar ist die anwaltliche Vertretung zweifellos eine besondere Art von Dienstleistung, die aufgrund ihrer Bedeutung für eine ordnungsgemäße Rechtspflege ein streng regulierter Beruf ist, der besonderen berufsethischen Regeln unterliegt ( 43 ). Es bleibt aber die Tatsache, dass die Rechtsanwaltstätigkeit eine Dienstleistung im Sinne der Dienstleistungsrichtlinie ist, auch wenn sie besonderen Regeln unterliegt.

84.

Gemäß Art. 9 Abs. 1 dürfen die Mitgliedstaaten die Aufnahme und die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit nur dann Genehmigungsregelungen unterwerfen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: a) die Genehmigungsregelungen sind für den betreffenden Dienstleistungserbringer nicht diskriminierend, b) die Genehmigungsregelungen sind durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt, c) das angestrebte Ziel kann nicht durch ein milderes Mittel erreicht werden.

85.

In Übereinstimmung mit allen Beteiligten besteht kein Zweifel daran, dass die Vorschriften über die Eintragung bei der Rechtsanwaltskammer Teil einer Genehmigungsregelung im Sinne der Dienstleistungsrichtlinie sind, da diese Vorschriften die Aufnahme des Berufs als Rechtsanwalt selbst betreffen ( 44 ).

86.

Ist aber auch das Disziplinarverfahren gegen einen Rechtsanwalt als ein weiteres Element dieser Genehmigungsregelung zu betrachten?

87.

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts und der Kommission ist auch ein Disziplinarverfahren gegen einen eingetragenen Rechtsanwalt Teil der Genehmigungsregelung, da Anwälte als Ergebnis eines solchen Verfahrens mit der Aussetzung des Rechts auf berufliche Betätigung oder dem Ausschluss belegt werden könnten und zehn Jahre lang nicht erneut eingetragen werden dürften. Solche Maßnahmen stellten einen Widerruf der Genehmigung im Sinne von Art. 10 Abs. 6 der Dienstleistungsrichtlinie dar.

88.

Demgegenüber vertreten die niederländische und polnische Regierung die Ansicht, dass Disziplinarverfahren, für sich betrachtet, keine „Genehmigungsregelung“ im Sinne der Dienstleistungsrichtlinie und auch nicht Teil der Genehmigungsregelung seien. Auch wenn eine Disziplinarstrafe letztlich dazu führen könne, dass die Erbringung der Dienstleistung unmöglich werde, komme sie nicht einer Ablehnung oder einem Widerruf der Genehmigung gleich. Jedenfalls sei Art. 10 Abs. 6 der Dienstleistungsrichtlinie im Ausgangsverfahren nicht anwendbar, da es im vorliegenden Rechtsstreit um die Entscheidung des Disziplinarbeauftragten gehe, das Verfahren einzustellen, und nicht um eine Entscheidung, eine Disziplinarstrafe zu verhängen. Infolgedessen könne in diesem Verfahren keine Entscheidung über die Aussetzung der beruflichen Tätigkeit oder die Ausschließung des Rechtsanwalts getroffen werden. Darüber hinaus könnten, so die niederländische Regierung, Disziplinarvorschriften im Allgemeinen nicht als „Anforderungen“ im Sinne von Art. 4 Abs. 7 der Dienstleistungsrichtlinie angesehen werden.

89.

Ich stimme dem vorlegenden Gericht und der Kommission zu.

90.

Zwar enthält die Dienstleistungsrichtlinie keine spezifischen Bestimmungen über Disziplinarvorschriften oder ‑verfahren. Dies ist aber kaum verwunderlich, da die Dienstleistungsrichtlinie (insbesondere, aber nicht nur, Kapitel III) bereichsübergreifend gilt, also weitgehend allgemein und abstrakt formuliert ist, und die Niederlassungsfreiheit für Dienstleistungserbringer und die freie Erbringung einer großen Bandbreite von Dienstleistungen sichern soll.

91.

Es ist richtig, dass ein Disziplinarverfahren gegen einen Rechtsanwalt für sich genommen kaum eine Genehmigungsregelung nach der Dienstleistungsrichtlinie darstellt. Es ist aber auch nicht nachvollziehbar, dass ein solches Verfahren, wenn es im Zusammenhang mit der Dienstleistungsrichtlinie beurteilt wird, jemals als eine eigenständige Regelung angesehen werden kann. Solche Verfahren sind aus Sicht der Dienstleistungsrichtlinie vielmehr eindeutig Teil eines Vorschriftenpakets über die Aufnahme, die Ausübung und letztlich die zwangsweise Beendigung der Erbringung von Dienstleistungen.

92.

Gemäß der Dienstleistungsrichtlinie dürfen die Mitgliedstaaten weder die Aufnahme einer unter die Dienstleistungsrichtlinie fallenden Tätigkeit noch deren Ausübung behindern. Obwohl sich die Dienstleistungsrichtlinie hauptsächlich auf die Berufsaufnahme konzentriert, enthält sie zahlreiche Bestimmungen, die sowohl die Berufsaufnahme als auch die Berufsausübung ( 45 ) oder ganz einfach die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit ( 46 ) betreffen. Das Disziplinarverfahren zielt gewissermaßen darauf ab, die Qualität der Erbringung von Rechtsberatungsdienstleistungen zu sichern. In dieser Dimension können sie in der Tat als ein Element des umfassenderen Systems zur Regelung der Aufnahme dieser Art von Dienstleistungen und ihrer Ausübung angesehen werden. Das würde bedeuten, dass Disziplinarvorschriften und ihre Anwendung im Rahmen konkreter Verfahren gemäß der Dienstleistungsrichtlinie „überwacht“ werden müssen, um sicherzustellen, dass sie mit Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie über Genehmigungsregelungen in Einklang stehen.

93.

Meines Erachtens räumt der Wortlaut von Art. 10 Abs. 6 der Dienstleistungsrichtlinie wohl jeden verbleibenden Zweifel darüber aus, ob auch Entscheidungen, die die Aufnahme einer bestimmten Art von Dienstleistungen und deren Ausübung tatsächlich „beenden“, darunterfallen oder nicht. Dort heißt es: „Abgesehen von dem Fall, in dem eine Genehmigung erteilt wird, sind alle anderen Entscheidungen der zuständigen Behörden, einschließlich der Ablehnung oder des Widerrufs einer Genehmigung, ausführlich zu begründen; sie sind einer Überprüfung durch ein Gericht oder eine andere Rechtsbehelfsinstanz zugänglich.“ ( 47 )

94.

Angesichts eines solchen Wortlauts und der Logik der Dienstleistungsrichtlinie ist nicht ersichtlich, wie behauptet werden kann, dass eine Entscheidung, mit der ein Rechtsanwalt ausgeschlossen wird, nicht einem Entzug seiner Zulassung zur Ausübung seines Berufs und damit seiner Rechtsdienstleistungen gleichkommt. Der Widerruf einer bereits erteilten Genehmigung ist nichts anderes als ein Entzug der bereits gewährten Aufnahme. Diese weit gefasste Bestimmung legt nicht nur nahe, dass jede (nachteilige) Entscheidung über die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistung unter die Dienstleistungsrichtlinie fällt, sondern auch, dass sie gerichtlich anfechtbar sein muss.

95.

An dieser Schlussfolgerung ändert auch der Verweis der polnischen Regierung auf Art. 1 Abs. 5 der Dienstleistungsrichtlinie nichts, wonach die letztgenannte Richtlinie „nicht das Strafrecht der Mitgliedstaaten [berührt]“. Disziplinarverfahren sind als solche nicht mit dem Strafrecht und dem Strafverfahren gleichzusetzen. Und selbst wenn es so wäre (was aber nicht der Fall ist), so heißt es in Art. 1 Abs. 5: „Die Mitgliedstaaten dürfen jedoch nicht unter Umgehung der Vorschriften dieser Richtlinie die Dienstleistungsfreiheit dadurch einschränken, dass sie Strafrechtsbestimmungen anwenden, die die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit gezielt regeln oder beeinflussen.“ ( 48 )

96.

In ähnlicher Weise sehe ich keine Stichhaltigkeit in dem von der polnischen Regierung vorgebrachten Argument, wonach gegenüber R.G. noch keine Entscheidung über den Ausschluss aus der Anwaltskammer verhängt worden sei und dass sie in dem konkreten Verfahren über die Überprüfung der Entscheidung des Disziplinarbeauftragten, ein angebliches Disziplinarvergehen nicht zu verfolgen, tatsächlich nicht auferlegt werden könne.

97.

In diesem Zusammenhang genügt der Hinweis, dass der normative Anwendungsbereich eines Unionsrechtsakts nicht abhängig vom späteren Ergebnis bestimmt werden kann, also danach, ob der Fall in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt oder nicht und zwar je nachdem, ob eine Person schließlich verurteilt oder freigesprochen wird ( 49 ). Im Allgemeinen reicht die Tatsache, dass bestimmte Verfahren rationae materiae in den Geltungsbereich eines Unionsrechtakts fallen, aus, damit die Gesamtheit dieser Verfahren, unabhängig vom Endergebnis oder dem Stadium, in dem sie zum Abschluss kommen, ebenfalls in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.

98.

Zusammenfassend ist in Beantwortung des ersten Teils der ersten Frage festzustellen, dass Kapitel III der Dienstleistungsrichtlinie auch für gegen Rechtsanwälte eingeleitete Disziplinarverfahren als Teil einer die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs regelnden Genehmigungsregelung gilt, dessen Ergebnis die Fähigkeit dieser Rechtsanwälte beeinträchtigen kann, weiterhin Rechtsdienstleistungen gemäß der Dienstleistungsrichtlinie zu erbringen.

3. Art. 47 der Charta

99.

Die Antwort auf den zweiten Teil der ersten Frage, in dem nach der Anwendbarkeit der Charta, insbesondere von Art. 47, auf das Verfahren vor dem vorlegenden Gericht gefragt wird, ist einfach.

100.

Nach ständiger Rechtsprechung sind die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen anwendbar. Wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, hat der im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angerufene Gerichtshof dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung der Gerichtshof sichert ( 50 ).

101.

Soweit also die Dienstleistungsrichtlinie anwendbar ist, ist die Charta, einschließlich Art. 47, im Grundsatz auch auf die Rechtssache anwendbar. Dies bedeutet, dass das vorlegende Gericht in dem bei ihm anhängigen Verfahren Art. 47 der Charta anzuwenden hat.

102.

Allerdings ist, wie von der Staatsanwaltschaft und der polnischen Regierung in ihren Schriftsätzen zur Zulässigkeit vorgetragen, zugegebenermaßen nicht ganz klar, um welches konkrete individuelle Recht aus Unionsvorschriften es sich speziell in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren handeln soll. Zwar kann der zu erwartende Ausgang des Ausgangsverfahrens möglicherweise nachteilige Auswirkungen auf die Rechtsstellung von R.G. haben (indem er infolgedessen einem Disziplinarverfahren unterworfen wird), es wurde aber bereits darauf hingewiesen, dass R.G. im Ausgangsverfahren noch nicht Verfahrensbeteiligter ist. In der Rechtssache vor dem vorlegenden Gericht geht es um einen Rechtsstreit zwischen dem Disziplinarbeauftragten auf der einen sowie der Staatsanwaltschaft und dem Justizminister auf der anderen Seite ( 51 ). So ist in der Tat nicht ohne Weiteres ersichtlich, welche dieser (wohl öffentlich-rechtlichen) Stellen im Ausgangsverfahren mit Grundrechten nach der Charta ausgestattet sein soll.

103.

Wie dem auch sei, selbst wenn Art. 47 der Charta vor dem vorlegenden Gericht mangels Auswirkung auf ein bestimmtes, durch die Charta garantiertes individuelles Recht nicht anwendbar wäre, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat, wäre immer noch Art. 19 Abs. 1 EUV, dessen Inhalt im Wesentlichen mit Art. 47 der Charta übereinstimmt ( 52 ), anwendbar ( 53 ). Anders als bei Art. 47 der Charta reicht es für die Anwendung von Art. 19 Abs. 1 EUV nämlich aus, dass ein nationales Gericht zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden kann ( 54 ).

104.

Es besteht kein Zweifel, dass das vorlegende Gericht auch im Hinblick auf die vorstehende Schlussfolgerung zur Anwendbarkeit der Dienstleistungsrichtlinie auf das Verfahren vor dem Disziplinargericht im Allgemeinen angerufen werden kann, um insoweit über Unionsrecht zu entscheiden.

C.   Fragen 2 bis 4: Befugnisse des nationalen Gerichts, um die Einhaltung des Unionsrechts sicherzustellen

105.

Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob es die nationalen Vorschriften über die Zuständigkeit der Einrichtung (nämlich der Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego [Disziplinarkammer des Obersten Gerichts]), die für ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung dieses vorlegenden Gerichts (oder für eine Beschwerde gegen einen Beschluss dieses vorlegenden Gerichts, mit dem ein solches Rechtsmittel zurückgewiesen wurde) zuständig ist, außer Acht zu lassen hat, wenn diese Einrichtung nicht im Sinne von Art. 47 der Charta unabhängig und unparteiisch ist. Ist es dann die Pflicht des vorlegenden Gerichts, eingelegte Rechtsmittel an den bisher zuständigen Spruchkörper (nämlich die Izba Karna Sądu Najwyższego [Strafsenat des Obersten Gerichts]) weiterzuleiten?

106.

Mit der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht konkreter wissen, ob es die von der Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) vertretene Rechtsauffassung über das Recht des Generalstaatsanwalts (der gleichzeitig der Justizminister ist) und des Bürgerbeauftragten, Kassation zu erheben, außer Acht lassen darf (oder muss).

107.

Mit der vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es sich über die Kassationserhebung des Justizministers (der gleichzeitig der Generalstaatsanwalt ist) hinwegzusetzen hat, wenn nur dadurch sichergestellt ist, dass das bei ihm anhängige Verfahren mit Art. 47 der Charta vereinbar ist. Es weist auf das Risiko hin, dass selbst bei Durchführung der in den Fragen 2 und 3 genannten Maßnahmen die potenzielle Erhebung der Kassation durch den Generalstaatsanwalt (der gleichzeitig der Justizminister ist) am Ende trotzdem vor der Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) verhandelt werden könnte.

108.

Um die Tragweite der Fragen 2, 3 und 4 richtig einschätzen zu können, bedarf es verschiedener zusätzlicher Informationen. Daher werde ich in den folgenden Abschnitten zunächst den Kontext und die jüngsten Änderungen in Bezug auf das nationale Recht und das nationale Verfahren darlegen (1) und dann die Zulässigkeit dieser Fragen prüfen (2). Nachdem ich diese Fragen umformuliert habe, möchte ich abschließend auf die Befugnisse der nationalen Gerichte hinweisen, die sich aus dem Unionsrecht ergeben und einen wirksamen gerichtlichen Schutz der aus dem Unionsrecht abgeleiteten Rechte auf nationaler Ebene gewährleisten (3).

1. Nationaler rechtlicher Rahmen und nationale Rechtsprechung

109.

Es gibt drei Elemente des nationalen rechtlichen Rahmens, wie er vom vorlegenden Gericht dargestellt wurde, die hervorzuheben sind.

110.

Erstens erinnert das vorlegende Gericht daran, dass der Gerichtshof bereits über die Frage eine Entscheidung gefällt hat, ob die Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) ein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta ist ( 55 ). Unter Bezugnahme auf dieses Urteil entschied der Sąd Najwyższy (Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych) (Oberstes Gericht [Senat für Arbeit und Sozialversicherung]) am 5. Dezember 2019, dass die Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta sei ( 56 ). Ein Faktor, der den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu dieser Schlussfolgerung veranlasste, war der Einfluss der Exekutive und insbesondere der Einfluss des Justizministers auf die Zusammensetzung dieser Einrichtung.

111.

Zweitens stellt das vorlegende Gericht in Bezug auf die Rolle des Generalstaatsanwalts/Justizministers ( 57 ) fest, dass dessen Rolle im Rahmen des Disziplinarverfahrens gegen Mitglieder der Rechtsanwaltskammer nach einer umstrittenen Auslegung des nationalen Rechts durch die Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) kürzlich ausgeweitet worden sei.

112.

Nach Angaben des vorlegenden Gerichts war in der Rechtsprechung der Izba Karna Sądu Najwyższego (Strafsenat des Obersten Gerichts) und auch in der Rechtsliteratur bis vor kurzem eindeutig die Auffassung vertreten worden, dass weder der Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt) noch der Rzecznik Praw Obywatelskich (Bürgerbeauftragter) gemäß Art. 521 der Strafprozessordnung in Verbindung mit Art. 95n Abs. 1 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft das Recht zustehe, Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Disziplinargerichte der Rechtsanwaltskammern einzulegen, mit denen eine Entscheidung des Disziplinarbeauftragten bestätigt wird, die Einleitung von Disziplinarermittlungen abzulehnen oder eine solche Ermittlung einzustellen. Das vorlegende Gericht teilt diese Auffassung in vollem Umfang.

113.

Das vorlegende Gericht weist jedoch auch darauf hin, dass im Beschluss eines mit sieben Richtern besetzten Spruchkörpers der Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) vom 27. November 2019 eine diametral entgegengesetzte Auffassung vertreten worden sei ( 58 ). Nach dieser Auffassung findet Art. 521 der Strafprozessordnung auf Disziplinarverfahren der Rechtsanwaltskammer Anwendung, und der Generalstaatsanwalt sei daher befugt, Rechtsmittel gegen eine Entscheidung des Disziplinargerichts der Rechtsanwaltskammer einzulegen, mit der die Entscheidung eines Disziplinarbeauftragten, die Disziplinarermittlungen einzustellen, bestätigt wird.

114.

Dieser Beschluss war zwar in einer anderen Sache gefasst worden, betraf aber mit R.G. denselben Rechtsanwalt. Auch hier hatte der Disziplinarbeauftragte eine Disziplinarermittlung eingestellt, und der Justizminister und die Staatsanwaltschaft hatten ebenfalls eine Beschwerde gegen dessen Entscheidung in dieser Sache eingelegt. Das Disziplinargericht bestätigte die angefochtene Entscheidung, seine Entscheidung wurde jedoch vom Justizminister/Generalstaatsanwalt im Wege der Rechtsbeschwerde angefochten.

115.

Obwohl ich nicht den Anspruch erhebe, alle nationalen verfahrensrechtlichen Details vollständig zu erfassen, verstehe ich die Grundaussage dahin, dass die Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung dem Justizminister/Generalstaatsanwalt das Recht zur Einlegung von Rechtsmitteln und indirekt sich selbst die Zuständigkeit für die Verhandlung von Rechtsmitteln gegen Entscheidungen des Disziplinarbeauftragten über die Einstellung des Disziplinarverfahrens zugesprochen hat.

116.

Drittens: In der Zusammenschau der beiden vorgenannten Elemente erhält eine zunächst harmlos erscheinende verfahrensrechtliche Änderung im nationalen Recht eine völlig neue Dimension. Durch systematische oder wiederholte Beschwerden gegen die Entscheidung, kein Disziplinarverfahren einzuleiten, können der Justizminister/Generalstaatsanwalt (oder eine auf seine Anweisung handelnde Staatsanwaltschaft) tatsächlich die Einleitung eines Disziplinarverfahrens oder dessen (möglicherweise endlose) Fortsetzung gegen bestimmte Mitglieder der Rechtsanwaltskammer durchsetzen. Solche Rechtsmittel würden letztlich von einem Spruchkörper verhandelt werden, der zuvor gerade deshalb für nicht unabhängig befunden worden war, weil die Exekutive und insbesondere der Justizminister einen unzulässigen Einfluss auf seine Zusammensetzung ausübten ( 59 ).

2. Zulässigkeit

117.

Die Staatsanwaltschaft, die polnische Regierung und die Kommission halten die Fragen 2 und 3 für unzulässig. Insbesondere die polnische Regierung ist der Ansicht, dass diese Fragen hypothetisch, weil verfrüht seien. Sollte gegen die ergangene Entscheidung des Disziplinargerichts eine Rechtsbeschwerde eingelegt werden, so sei diese beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) einzulegen, das dann die Sache dem zuständigen Spruchkörper zuweisen und diesem die Akte zuleiten würde. Nach Ansicht der Kommission sollte der Gerichtshof keine rein hypothetischen Fragen beantworten, die künftige Verfahrensfragen beträfen, die nach dem Erlass der Entscheidung des vorlegenden Gerichts zu prüfen seien.

118.

Alle Verfahrensbeteiligten sind der Ansicht, dass auch die vierte Frage unzulässig sei. Insbesondere nach Auffassung der polnischen Regierung dürfe das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 der Charta nicht dahin ausgelegt werden, dass Rechtsbehelfe vor Gerichten mit dem angeblichen Ziel, den Verfahrensbeteiligten Gewissheit zu geben, dass ihre Sache vor einem unabhängigen Gericht verhandelt werde, außer Kraft gesetzt oder unmöglich gemacht würden. Die vorlegende Einrichtung würde sich in der Lage wiederfinden, die Interessen einer Partei auf Kosten einer anderen zu schützen und damit gegen das Wesen von Art. 47 der Charta verstoßen.

119.

Ich muss zugeben, dass angesichts der Art und Weise, in der das vorlegende Gericht die Vorlagefragen formuliert hat, die Zulässigkeit der Fragen 2 bis 4 einige Probleme aufwirft.

120.

Einerseits mag eine Beantwortung der Fragen 2 bis 4 für die Erledigung des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits tatsächlich nicht erforderlich erscheinen. Mit diesen Fragen befasst sich das vorlegende Gericht offenbar mit dem nachfolgenden und möglicherweise letzten Schritt im nationalen Gerichtsverfahren. Dies steht jedoch unter dem Vorbehalt, dass seine anstehende Entscheidung in der vorliegenden Rechtssache anschließend vor der Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) angefochten wird.

121.

Insoweit erscheinen die Fragen 2 bis 4 als verfrüht. Der Umstand, dass dieses Gericht im Rahmen desselben Verfahrens zum dritten Mal eine Entscheidung des Disziplinarbeauftragten in Bezug auf R.G. zu prüfen hat, ändert nichts an der vorstehenden Schlussfolgerung. Im vorliegenden Fall ist das vorlegende Gericht nicht mit dem Problem konfrontiert, dass der Disziplinarbeauftragte nicht gewillt ist, sich an seine gerichtliche Entscheidung zu halten, nachdem die Sache an dieses Gericht zurückverwiesen worden ist. Das vorlegende Gericht macht sich vielmehr wegen der (zukünftigen) Aussicht Sorge, dass – sollte es dieses Mal entscheiden, den angefochtenen Beschluss des Disziplinarbeauftragten zu bestätigen – die Rechtssache am Ende an einen dritten Akteur in Gestalt des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), speziell die Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) gelangt.

122.

Das vorlegende Gericht befindet sich somit in einer Art Wiederholungsschleife, wobei sich die Fragen 2 bis 4 in Wirklichkeit auf eine andersartige Verfahrensrunde beziehen, die bisher noch nicht zur Entstehung gelangt ist ( 60 ).

123.

Andererseits hat das vorlegende Gericht gleichwohl bestimmte relevante Zusammenhänge zwischen den Fragen 2 bis 4 und der bei ihm anhängigen Rechtssache hergestellt.

124.

In Bezug auf die Fragen 2 und 3 weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es eine Antwort des Gerichtshofs für erforderlich hält, um klären zu können, welche Einrichtung aufgrund der Rechtsmittelbelehrung, die das vorlegende Gericht bei der Zustellung seiner Entscheidung an die Parteien erteilen muss, für die Entscheidung über ein mögliches Rechtsmittel gegen seine eigenen Entscheidungen (oder eine Beschwerde gegen die Weigerung, ein solches Rechtsmittel zuzulassen) zuständig sein wird. Nach nationalem Recht ist das vorlegende Gericht verpflichtet, die Parteien in seiner abschließenden Entscheidung über die Frist und die Art und Weise der Einlegung eines Rechtsmittels zu belehren oder ihnen mitzuteilen, dass kein Recht zur Einlegung eines Rechtsmittels besteht. Insoweit zieht das vorlegende Gericht die Möglichkeit in Betracht, das Urteil des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom 5. Dezember 2019 zu berücksichtigen und dementsprechend die Parteien zu belehren, dass Rechtsmittel bei der Izba Karna Sądu Najwyższego (Strafsenat des Obersten Gerichts) und nicht bei der Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) einzulegen seien.

125.

In Bezug auf die vierte Frage hat das vorlegende Gericht erwogen, dass es als Folge von Art. 47 der Charta von seiner Seite von der Prüfung der derzeit bei ihm anhängigen Rechtssache absehen könnte, um die mögliche spätere Rechtsbeschwerde zur Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) zu vermeiden und damit eine mögliche Einmischung durch diese auszuschließen.

126.

Daraus folgt, dass die Antworten des Gerichtshofs auf die Fragen 2 bis 4 durchaus eine gewisse Auswirkung auf die Erledigung der beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtssache haben. Allerdings bleiben einige Aspekte unklar. Es ist z. B. nicht unmittelbar ersichtlich, wie das vorlegende Gericht in der Praxis verhindern könnte, dass Rechtsmittel bei der Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) eingelegt werden, oder wie es in Anbetracht der Ausführungen der polnischen Regierung zur Verteilung der Rechtssachen innerhalb des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) es einrichten könnte, eine Rechtssache gezielt an die Izba Karna Sądu Najwyższego (Strafsenat des Obersten Gerichts) zu leiten.

127.

Schließlich ist nicht zu übersehen, dass es sich bei den Fragen 2 bis 4 in gewisser Hinsicht um Fragen nach der Auslegung der praktischen Folge(n) eines früher ergangenen Urteils des Gerichtshofs, nämlich A. K. u. a., handelt. In diesem Urteil hat der Gerichtshof in der Tat festgestellt, dass das Unionsrecht dem entgegenstehe, dass „Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung des Unionsrechts in die ausschließliche Zuständigkeit einer Einrichtung fallen können, die kein unabhängiges und unparteiisches Gericht … ist“ ( 61 ). Da die vorliegende Rechtssache, wie oben festgestellt, aufgrund der Dienstleistungsrichtlinie in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, ist es legitim, dass das vorlegende Gericht fragt: Wenn dem so ist, wie muss ich aber dann im Einzelnen verfahren? Wie kann ich konkret und in der Praxis die Einhaltung des Unionsrechts sicherstellen, um einem früheren Urteil des Gerichtshofs Folge zu leisten?

128.

Soweit als sich die Fragen 2 bis 4 also tatsächlich auf anhängige und für die bevorstehende Entscheidung des vorlegenden Gerichts relevante Sachverhalte beziehen, sind diese Fragen in der Tat zulässig. Die folgenden Merkmale des Vorabentscheidungsverfahrens sollten jedoch als Richtschnur für die Umformulierung dieser Fragen dienen.

129.

Erstens ist das in Art. 267 AEUV vorgesehene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, durch das der Gerichtshof den nationalen Gerichten Auslegungshinweise zum Unionsrecht gibt, die diese benötigen, um über bei ihnen anhängige Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden. Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens ist es nicht möglich, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen zu erstellen. Vielmehr müssen die Antworten auf die Vorlagefragen erforderlich sein, um dem vorlegenden Gericht die wirksame Lösung des Rechtsstreits in der Ausgangsrechtssache zu ermöglichen ( 62 ).

130.

Daraus folgt logischerweise, dass der Umfang möglicher Antworten, die der Gerichtshof geben kann, auf das beschränkt ist, was das nationale Gericht in einem bei ihm anhängigen Fall tun kann. Die Antwort kann sich nicht darauf erstrecken, was andere Gerichte oder Institutionen in Zukunft tun sollten. Dies schließt Hinweise für zukünftige mögliche Handlungen oder Vorgehensweisen anderer Gerichte aus.

131.

Zweitens sind alle Hinweise, die der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung geben kann, strikt auf Fragen der Auslegung des Unionsrechts und nicht des nationalen Rechts beschränkt. Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, nationales Recht auszulegen und erst recht nicht, zwischen verschiedenen Auslegungssträngen des nationalen Rechts, die sich auf nationaler Ebene herausbilden, zu vermitteln. Insbesondere ist es nicht Sache dieses Gerichtshofs, vorzuschlagen, welche der gegensätzlichen Auslegungen der nationalen Verfahrensvorschriften richtig ist und welche genaue Regelung ein vorlegendes Gericht nach nationalem Recht wählen oder welchen Weg es einschlagen muss, um die Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht sicherzustellen.

132.

Innerhalb dieser Grenzen bin ich der Meinung, dass die Fragen 2 bis 4 zulässig sind. Allerdings müssen diese Fragen von einer viel höheren Abstraktionsebene aus angegangen werden, und es kann nur um die unionsrechtliche Seite dieser Fragen gehen, denen ich mich jetzt zuwende.

3. Befugnisse des nationalen Gerichts, um die Einhaltung des Unionsrechts sicherzustellen

133.

Mit den Fragen 2 bis 4 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es, um die Einhaltung des Unionsrechts sicherzustellen, befugt ist, Folgendes außer Acht zu lassen: (i) nationale Rechtsvorschriften über die Zuständigkeitsverteilung (Frage 2), (ii) eine (normalerweise verbindliche) Rechtsauslegung des nationalen Rechts durch ein höheres Gericht (Frage 3), (iii) das Rechtsmittel oder das Vorbringen des Justizministers (der gleichzeitig der Generalstaatsanwalt ist) (Frage 4).

134.

Zum ersten und zweiten Punkt gibt es in der Tat bereits eine umfangreiche Rechtsprechung des Gerichtshofs. Erstens muss ein nationales Gericht nach dem Grundsatz des Vorrangs, das Unionsrecht in seiner Gesamtheit anwenden und die Rechte schützen, die dieses dem Einzelnen verleiht. Dementsprechend ist es verpflichtet, jede Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, die dazu in Widerspruch steht, unabhängig davon, ob sie vor oder nach der Unionsregelung eingeführt wurde. Mit anderen Worten: Jede nationale Rechtsvorschrift und jede Gesetzgebungs‑, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis, die die Wirksamkeit des Unionsrechts dadurch beeinträchtigen könnte, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, zum Zeitpunkt seiner Anwendung alles Erforderliche zu tun, um nationale Rechtsvorschriften auszuschalten, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden, ist mit diesen Anforderungen, die das Wesen des Unionsrechts ausmachen, unvereinbar ( 63 ). Um diese Einhaltung sicherzustellen, kann das vorlegende Gericht entweder die nationalen Vorschriften unionsrechtskonform auslegen oder gegebenenfalls die nationalen Vorschriften, die es daran hindern, die Einhaltung sicherzustellen, unangewendet lassen ( 64 ).

135.

Was, zweitens, Rechtsauffassungen oder Urteile höherer Gerichte betrifft, so ist es in der Tat auch ständige Rechtsprechung, dass das nationale Gericht gegebenenfalls von Entscheidungen eines höheren Gerichts abweichen muss, wenn es der Ansicht ist, dass diese nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind ( 65 ). In gewisser Weise ist die Logik und Konsequenz in beiden Szenarien die gleiche: Wenn das vorlegende Gericht, oder ein sonstiges Gericht ( 66 ), daran gehindert wäre, die vollständige Einhaltung des Unionsrechts sicherzustellen, können beide Arten einer potenziellen Unvereinbarkeit, sei sie legislativen Ursprungs oder individuellen gerichtlichen Ursprungs, außer Acht gelassen werden, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Abweichung davon hinreichend begründet und erläutert wird ( 67 ).

136.

Beide oben skizzierten Stränge der Rechtsprechung sind im Zusammenhang mit Fällen individueller Unvereinbarkeit entwickelt worden, ohne dass es in diesen Fällen notwendigerweise weiter gehende strukturelle Auswirkungen gegeben hatte. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass derselbe Ansatz, vielleicht sogar erst recht, bei strukturellen Problemen Anwendung findet, z. B. im Zusammenhang mit Rechtsvorschriften, die die Zuständigkeit auf Einrichtungen übertragen, denen es strukturell an jeglicher Unabhängigkeit fehlt. Die jüngste Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt diese – in der Tat völlig folgerichtige – Fortschreibung.

137.

Erstens hat der Gerichtshof im Urteil A. K. u. a. festgestellt, dass Art. 47 der Charta dem entgegenstehe, dass Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung des Unionsrechts in die ausschließliche Zuständigkeit einer Einrichtung fallen können, die kein unabhängiges und unparteiisches Gericht ist, in der betreffenden Rechtssache: die Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts), vorbehaltlich der Überprüfung durch das nationale Gericht. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts gebietet es den nationalen Gerichten daher, die Bestimmung des nationalen Rechts, die die Zuständigkeit für die Entscheidung über Rechtsstreitigkeiten dieser Einrichtung vorbehält, unangewendet zu lassen, damit diese Rechtsstreitigkeiten von einem Gericht verhandelt werden können, das den oben genannten Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit genügt und in dem betreffenden Bereich zuständig wäre, stünde diese Bestimmung dem nicht entgegen ( 68 ).

138.

Zweitens hat sich der Gerichtshof jüngst im Urteil A.B. u. a. ( 69 ) mit der Frage der Vereinbarkeit von Änderungen des nationalen Rechts, mit denen dem vorlegenden Gericht seine Zuständigkeit entzogen worden war, mit dem Unionsrecht befasst. Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts bei einem erwiesenen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen sei, dass er das vorlegende Gericht verpflichtet, die betreffenden Änderungen unabhängig davon unangewendet zu lassen, ob diese gesetzlicher oder verfassungsrechtlicher Natur sind, und folglich seine frühere Zuständigkeit für die Entscheidung über die vor diesen Änderungen bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten weiterhin wahrzunehmen ( 70 ).

139.

Aus der dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs, die durch die jüngsten Urteile insbesondere zur Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) bestätigt worden ist, ergibt sich somit in der Tat, dass das vorlegende Gericht aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts das nationale Recht, einschließlich der Rechtsprechung der Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts), unangewendet zu lassen und stattdessen das bisherige nationale Zuständigkeitsrecht anzuwenden hat. Auch wenn sowohl in der Rechtssache A. K. u. a. als auch in der Rechtssache A. B. u. a. das vorlegende Gericht keine untere Instanz war ( 71 ), ist dieser Unterschied meines Erachtens ohne jede Bedeutung. Das Urteil A. K. u. a. ist für das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache ebenfalls relevant.

140.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass das Unionsrecht einem nationalen Gericht unter den oben genannten Bedingungen eindeutig die Befugnis gibt, nationalen Rechtsvorschriften oder gerichtlichen Auffassungen eines höheren Gerichts nicht Folge zu leisten und sie außer Acht zu lassen, wenn dies die einzige Möglichkeit ist, die Einhaltung des Unionsrechts sicherzustellen.

141.

Neu ist in der Tat die vom vorlegenden Gericht in der vierten Vorlagefrage aufgeworfene dritte Frage, mit der das vorlegende Gericht offenbar wissen möchte, ob es die bei ihm eingelegte Beschwerde einfach ignorieren kann. Dem liegt offenbar der Gedanke zugrunde, dass dann im Rechtssinn nichts vorliege. In der Tat: Wenn keine Entscheidung zu fällen ist, kann auch kein Rechtsmittel dagegen eingelegt werden. Dann gäbe es nichts, was möglicherweise zu einem nicht unabhängigen Gericht gelangen könnte.

142.

Trotz der verlockenden, radikalen Einfachheit dieses Gedankens, durchaus vergleichbar mit der Auffassung der polnischen Regierung, kann ich nur eine negative Antwort geben. Art. 47 der Charta (und dementsprechend Art. 19 Abs. 1 EUV) gewährleisten das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Selbst wenn die „nächste Ebene“ in einer Gerichtshierarchie diesem Standard nicht mehr gerecht wird, kann diese Bestimmung kaum dahin ausgelegt werden, dass sie auf die untere Ebene zurückwirkt und diese daran hindert, überhaupt eine Entscheidung zu treffen.

143.

Der Grund dafür ist meines Erachtens recht einfach, aber sehr gewichtig: das Verbot der Rechtsverweigerung. Schon seit Art. 4 des französischen Code civil gilt: „Ein Richter, der sich weigert, ein Urteil zu fällen, unter dem Vorwand, dass das Gesetz schweigt, undeutlich oder fehlerhaft ist, kann wegen Rechtsverweigerung belangt werden.“ ( 72 )

144.

Obwohl ursprünglich im Rahmen des Zivilrechts begründet und meines Wissens nie zum Teil des Unionsrechts erklärt, ist dieses Verbot noch heute ein so fundamentaler Grundstein der modernen richterlichen Funktion, dass selbst der Vorrang des Unionsrechts daran nichts ändern kann. Es kann nicht sein, dass ein Gericht mit Absicht einfach untätig bleibt und sich weigert, eine Entscheidung zu fällen, nicht nur, weil das Gesetz fehlerhaft ist, sondern auch, weil ein höheres Gericht offenbar mit einem Mangel behaftet ist. Vielmehr erlaubt das System bereits dem Gericht, seine abweichende Auffassung dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass es über die Rechtssache entscheidet und dabei gegebenenfalls die nationale Gesetzgebung oder die Vorgaben eines höheren Gerichts unangewendet lässt, aber dennoch stets eine ordnungsgemäß begründete Entscheidung fällt.

145.

Meines Erachtens ist dies das Äußerste, was der Gerichtshof tun kann, um dem vorlegenden Gericht (zumindest) einen nützlichen Hinweis zu geben, während er gleichzeitig innerhalb der Grenzen des oben dargelegten Vorabentscheidungsverfahrens bleibt ( 73 ). Um es noch einmal zu betonen: Die Aufgabe dieses Gerichtshofs ist es, das Unionsrecht auszulegen und nicht das nationale Recht. Darüber hinaus beschränkt sich auch die Prüfung der Vereinbarkeit bestimmter nationaler Vorschriften mit dem Unionsrecht in der Praxis herkömmlicherweise auf die negative Aussage der Unvereinbarkeit, aber umfasst nie positive Aussagen darüber, wie die Vereinbarkeit im Einzelnen erreicht werden soll. Letzteres ist in der Tat die ausschließliche Befugnis des vorlegenden Gerichts oder anderer zuständiger Stellen des betreffenden Mitgliedstaats.

146.

Ich räume ein, dass eine solche Aufteilung der Zuständigkeiten im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens möglicherweise nicht ideal ist, um mit insgesamt pathologischen Situationen in einem Mitgliedstaat umzugehen, in dem die normalen Regeln des rechtlichen Zusammenwirkens und des ordnungsgemäßen Umgangs miteinander außer Kraft geraten zu sein scheinen. Realistisch betrachtet hat das Vorabentscheidungsverfahren jedoch inhärente Grenzen in Bezug auf seine Möglichkeiten zur Beilegung von institutionellen Streitigkeiten in einem solchen spezifischen Kontext, in dem ein oder mehrere Akteure sich weigern, den vom Gerichtshof gegebenen Hinweisen zu folgen. In solchen Fällen bleiben das Eingreifen von dritter Seite und die externe Durchsetzung der Urteile des Gerichtshofs gemäß den Art. 258 bis 260 AEUV die geeigneteren, wenn nicht gar die einzigen Abhilfemaßnahmen.

V. Ergebnis

147.

Ich schlage vor, dass der Gerichtshof die vom Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Rechtsanwaltskammer Warschau, Polen) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt beantwortet:

Kapitel III der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt gilt auch für gegen Rechtsanwälte eingeleitete Disziplinarverfahren als Teil einer die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs regelnden Genehmigungsregelung, dessen Ergebnis die Fähigkeit dieser Rechtsanwälte beeinträchtigen kann, weiterhin Rechtsdienstleistungen gemäß dieser Richtlinie zu erbringen. Infolgedessen sind Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und gegebenenfalls Art. 19 Abs.1 EUV ebenfalls auf solche Verfahren anwendbar.

Aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts

ist ein nationales Gericht verpflichtet, die Bestimmungen des nationalen Rechts, die die Entscheidung von Rechtssachen einem Gericht vorbehalten, das kein unabhängiges und unparteiisches Gericht ist, unangewendet zu lassen, damit diese Rechtssachen von einem Gericht geprüft werden können, das die Anforderungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erfüllt und das ohne diese Bestimmungen zuständig wäre;

muss ein nationales Gericht gegebenenfalls die Entscheidungen eines höheren Gerichts außer Acht lassen, wenn es der Auffassung ist, dass sie mit dem Unionsrecht unvereinbar sind, einschließlich der Fälle, in denen sich die Unvereinbarkeit aus der fehlenden Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieses höheren Gerichts ergibt.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36).

( 3 ) Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982).

( 4 ) Vgl. z. B. Urteile vom 17. September 1997, Dorsch Consult (C‑54/96, EU:C:1997:413, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung), vom 9. Oktober 2014, TDC (C‑222/13, EU:C:2014:2265, Rn. 27), vom 6. Oktober 2015, Consorci Sanitari del Maresme (C‑203/14, EU:C:2015:664, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 24. Mai 2016, MT Højgaard und Züblin (C‑396/14, EU:C:2016:347, Rn. 23).

( 5 ) Urteil vom 17. September 1997, Dorsch Consult (C-54/96, EU:C:1997:413). Vgl. oben, Nr. 31 dieser Schlussanträge.

( 6 ) Vgl. z. B. Urteile vom 17. September 1997, Dorsch Consult (C‑54/96, EU:C:1997:413, Rn. 31), und vom 31. Januar 2013, D. und A. (C‑175/11, EU:C:2013:45, Rn. 88).

( 7 ) Vgl. z. B. Urteile vom 27. April 2006, Standesamt Stadt Niebüll (C‑96/04, EU:C:2006:254, Rn. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung), vom 16. Juni 2016, Pebros Servizi (C‑511/14, EU:C:2016:448, Rn. 24), und vom 4. September 2019, Salvoni (C‑347/18, EU:C:2019:661, Rn. 26).

( 8 ) Vgl. z. B. Urteile vom 17. Juli 2008, Coleman (C‑303/06, EU:C:2008:415, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 22. Dezember 2008, Les Vergers du Vieux Tauves (C‑48/07, EU:C:2008:758, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 9 ) Vgl. z. B. Urteil vom 13. April 2000, Lehtonen und Castors Braine (C‑176/96, EU:C:2000:201, Rn. 19).

( 10 ) Vgl. auch Urteil vom 25. Juni 2009, Roda Golf & Beach Resort (C‑14/08, EU:C:2009:395, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 11 ) Im Gegensatz dazu zwecks Zulässigkeit konstruierte Fälle vgl. Urteile vom 11. März 1980, Foglia (I) (104/79, EU:C:1980:73), und vom 16. Dezember 1981, Foglia (II) (244/80, EU:C:1981:302). Vgl. auch Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov (C‑614/14, EU:C:2016:514, insbesondere Rn. 12 und 26).

( 12 ) Vgl. jüngst z. B. Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Klagen) (C‑824/18, EU:C:2021:153, insbesondere Rn. 117 bis 119).

( 13 ) Vgl. z. B. Urteil vom 21. Januar 2020, Banco de Santander (C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 57 und 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 14 ) Urteil vom 21. Januar 2020, Banco de Santander (C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 60). Vgl. auch in diesem Sinne Urteil vom 9. Oktober 2014, TDC (C‑222/13, EU:C:2014:2265, Rn. 32 und 35).

( 15 ) Urteil vom 9. Oktober 2014, TDC (C‑222/13, EU:C:2014:2265, Rn. 32).

( 16 ) Vgl. z. B. Urteil vom 21. Januar 2020, Banco de Santander (C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 61 und 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 17 ) Oben in Nr. 10 dieser Schlussanträge wiedergegeben. Vgl. auch Art. 40 Abs. 2 des polnischen Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft, oben in Nr. 15 dieser Schlussanträge.

( 18 ) Vgl. z. B. Urteile vom 9. Oktober 2014, TDC (C‑222/13, EU:C:2014:2265, Rn. 33 bis 36), und vom 21. Januar 2020, Banco de Santander (C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 66 bis 68).

( 19 ) Vgl. im Einzelnen meine Schlussanträge in der Rechtssache Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19 und C‑355/19, EU:C:2020:746, Nrn. 240 bis 248).

( 20 ) Vgl. auch meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen WB u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:403, Nrn. 52 und 166).

( 21 ) Vgl. z. B. Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 130 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 22 ) Dasselbe gilt auch für die Richter selbst und die richterliche Disziplin: Eine Reihe von Disziplinarspruchkörpern für Richter in den Mitgliedstaaten sind entweder ausschließlich oder überwiegend mit Richtern besetzt. Folgt man der Argumentation der polnischen Regierung bis zum (un)logischen Ende, würde dies dann auch bedeuten, dass Disziplinarspruchkörper für Richter nicht aus (anderen) Richtern zusammengesetzt sein dürfen, da solche Gremien aus ihresgleichen zusammengesetzt wären und damit ebenfalls nicht unabhängig wären?

( 23 ) Urteil vom 6. Oktober 1981, Broekmeulen (246/80, EU:C:1981:218, Rn. 8 bis 17).

( 24 ) Urteil vom 17. Juli 2014, Torresi (C‑58/13 und C‑59/13, EU:C:2014:2088, Rn. 15 bis 30). Vgl. auch, allerdings indirekt, das vorangehende Urteil vom 30. November 1995, Gebhard (C‑55/94, EU:C:1995:411).

( 25 ) Urteil vom 22. Dezember 2010, Koller (C‑118/09, EU:C:2010:805) im Rahmen eines Rechtsstreits über die Ablehnung eines Antrags auf Zulassung zur Eignungsprüfung für den Beruf des Rechtsanwalts.

( 26 ) Beschluss vom 23. Oktober 2018, Conseil départemental de l’ordre des chirurgiens-dentistes de la Haute-Garonne (C‑296/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:857) im Rahmen eines Disziplinarverfahrens gegen einen Zahnarzt.

( 27 ) Urteil vom 8. April 1992, Bauer (C‑166/91, EU:C:1992:184), in einem Fall, in dem ein belgischer Einwohner erfolglos beantragt hatte, in die Liste der Auszubildenden einer örtlichen Architektenkammer eingetragen zu werden.

( 28 ) Vgl. z. B. Beschluss vom 28. November 2013, Devillers (C‑167/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:804).

( 29 ) Natürlich nicht nur beschränkt auf Disziplinarspruchkörper, sondern auch bei anderen rechtsprechenden Einrichtungen. Vgl. z. B. Urteil vom 30. Mai 2013, F. (C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358), auf Ersuchen des französischen Conseil constitutionnel (Verfassungsrat), der sich im Laufe seiner Geschichte hauptsächlich aus nicht berufsmäßigen Richtern zusammensetzte, oft sogar aus „Nicht-Juristen“. Vgl. auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Eurobox Promotion u. a. (C‑357/19 und C‑547/19, EU:C:2021:170, Nrn. 215 bis 219).

( 30 ) Vgl. im Einzelnen meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen WB u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:403, Nrn. 161 bis 169).

( 31 ) Vgl. in diesem Sinne z. B. Urteil vom 6. Oktober 1981, Broekmeulen (246/80, EU:C:1981:218, Rn. 16).

( 32 ) Vgl. z. B. Urteile vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a. (C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 26 und 27), und vom 9. Juli 2020, Verein für Konsumenteninformation (C‑343/19, EU:C:2020:534, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 33 ) Vgl. als ein jüngeres Beispiel Urteil vom 1. Oktober 2019, Blaise u. a. (C‑616/17, EU:C:2019:800, Rn. 31 bis 39).

( 34 ) Vgl. Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 49). Vgl. auch Beschluss vom 6. Oktober 2020, Prokuratura Rejonowa w Słubicach (C‑623/18, EU:C:2020:800).

( 35 ) Vgl. in diesem Sinne z. B. Urteil vom 1. Juni 2010, Blanco Pérez und Chao Gómez (C‑570/07 und C‑571/07, EU:C:2010:300, Rn. 38 bis 40).

( 36 ) Vgl. auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Bundesrepublik Deutschland (rote Ausschreibung von Interpol) (C‑505/19, EU:C:2020:939, Nr. 34).

( 37 ) Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde (ABl. 1998, L 77, S. 36).

( 38 ) Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1), Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. 1971, L 149, S. 2), Richtlinie 89/552/EWG des Rates vom 3. Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit (ABl. 1989, L 298, S. 23), und Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. 2005, L 255, S. 22).

( 39 ) Wie sich dies aus der in Art. 3 der Dienstleistungsrichtlinie verwendeten Formulierung „Dies gilt insbesondere für…“ und aus dem allgemeinen Zweck dieser Bestimmung ergibt.

( 40 ) Urteil vom 30. Januar 2018, X und Visser (C‑360/15 und C‑31/16, EU:C:2018:44, Rn. 110).

( 41 ) Siehe insbesondere und in diesem Sinne Art. 9 Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie über Genehmigungsregelungen: „Dieser Abschnitt gilt nicht für diejenigen Aspekte der Genehmigungsregelungen, die direkt oder indirekt durch andere Gemeinschaftsrechtsakte geregelt sind“ (Hervorhebung nur hier), was darauf hindeutet, dass er nicht für andere Aspekte von Genehmigungsregelungen gilt. Vgl. auch Urteil vom 7. Mai 2019, Monachos Eirinaios (C‑431/17, EU:C:2019:368, Rn. 30 und 31), in dem zwischen der (harmonisierten) Eintragung ausländischer Rechtsanwälte und der (nicht harmonisierten) Ausübung des Berufs im Rahmen der Richtlinie 98/5 unterschieden wird.

( 42 ) Wie dies auch am Ende der ersten Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts mit der Formulierung „…und der Sachverhalt sich im Wesentlichen nur innerhalb eines Mitgliedstaats abspielt“ angedeutet wird.

( 43 ) Vgl. auch meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen Uniwersytet Wrocławski und Polen/REA (C‑515/17 P und C‑561/17 P, EU:C:2019:774, Nrn. 103 und 104).

( 44 ) Gemäß der Begriffsbestimmung in Art. 4 Nr. 6 im Lichte des 49. Erwägungsgrundes der Dienstleistungsrichtlinie.

( 45 ) Vgl. z. B. Art. 3 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 Buchst. b, Art. 8 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1, Art. 10 Abs. 4, Art. 14 Abs. 1, Art. 15 Abs. 2 der Dienstleistungsrichtlinie.

( 46 ) Bereits in Art. 1 Abs. 1 der Dienstleistungsrichtlinie.

( 47 ) Hervorhebung nur hier.

( 48 ) Vgl. z. B. Urteil vom 4. Juli 2019, Kirschstein (C‑393/17, EU:C:2019:563, Rn. 61 bis 63). Siehe auch, wenn auch nicht verbindlich, das Handbuch zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie (S. 16).

( 49 ) Vgl. auch meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen Ministerul Public – Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Direcţia Naţională Anticorupţie u. a. (C‑357/19 und C‑547/19, EU:C:2021:170, Nrn. 109 bis 115) zu demselben Argument, das in Bezug auf den Anwendungsbereich von Art. 325 Abs. 1 AEUV vorgebracht wurde.

( 50 ) Vgl. z. B. Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung), vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund (C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 49 und 50), und vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary (C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 59 und 60).

( 51 ) Vgl. auch oben, Nr. 42 dieser Schlussanträge.

( 52 ) Vgl. z. B. Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Klagen) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 115 und 116).

( 53 ) Vgl. zum Verhältnis und zum jeweiligen Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta meine Schlussanträge in der Rechtssache WB u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:403, Nrn. 161 bis 169).

( 54 ) Vgl. z. B. Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 55 ) Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982).

( 56 ) Entscheidung Nr. III PO 7/18.

( 57 ) Vgl. zur Tatsache, dass in Polen das Amt des Justizministers mit dem des Generalstaatsanwalts zusammengelegt wurde, meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen WB u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:403). Zu einer kritischen (und in der Tat negativen) Bewertung der Verschmelzung beider Ämter vgl. Europäische Kommission für Demokratie durch Recht („Venedig-Kommission“), Stellungnahme zum Gesetz über die Staatsanwaltschaft, neueste Fassung (2017), Stellungnahme 892/2017.

( 58 ) Rechtssache Nr. II DSI 67/18.

( 59 ) Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982).

( 60 ) Vgl. in diesem Zusammenhang im Gegensatz dazu z. B. die Rechtssache Torubarov, in der sich das nationale Verfahren nach dem sukzessiven Austausch zwischen denselben Akteuren in einer Sackgasse befand, weil die Verwaltungsbehörde offensichtlich nicht bereit war, die frühere gerichtliche Entscheidung anzuwenden. Dort hat das vorlegende Gericht jedoch eine spezifische Frage zu der bereits entstandenen Sackgasse gestellt, vgl. Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov (C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 23 bis 32).

( 61 ) Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Oberste Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 171).

( 62 ) Vgl. Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 44 und 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), oder Beschluss vom 2. Juli 2020, S.A.D. Maler und Anstreicher (C‑256/19, EU:C:2020:523, Rn. 42 bis 44).

( 63 ) Vgl. z. B. Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal (106/77, EU:C:1978:49, Rn. 21 und 22), vom 19. Juni 1990, Factortame u. a. (C‑213/89, EU:C:1990:257, Rn. 20), und vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli (C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 44).

( 64 ) Vgl. mit weiteren Verweisen Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski (C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 50 ff.).

( 65 ) Vgl. z. B. Urteile vom 5. Oktober 2010, Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 30), und vom 15. Januar 2013, Križan u. a. (C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 69).

( 66 ) Der Gerichtshof hat wiederholt hervorgehoben, dass ein nationales Gericht selbstverständlich berechtigt ist, eine Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht festzustellen und die entsprechenden Konsequenzen aus dieser Feststellung zu ziehen, auch ohne dass es eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV bedarf, vgl. Urteile vom 19. Januar 2010, Kücükdeveci (C‑555/07, EU:C:2010:21, Rn. 53 bis 55), vom 5. Oktober 2010, Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 28), und vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó (C‑610/19, EU:C:2020:673, Rn. 75).

( 67 ) Vgl. im Einzelnen meine Schlussanträge in der Rechtssache Ministerul Public – Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Direcţia Naţională Anticorupţie u. a. (C‑357/19 und C‑547/19, EU:C:2021:170, Rn. 235 bis 243).

( 68 ) Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 171).

( 69 ) Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Klagen) (C‑824/18, EU:C:2021:153).

( 70 ) Ebd., Rn. 142 bis 150.

( 71 ) Aber durch den Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) bzw. den Sąd Najwyższy (Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych) (Oberstes Gericht [Arbeits- und Sozialversicherungskammer]).

( 72 ) Portalis, J.E.M., „Discours préliminaire sur le projet de Code Civil présenté le 1er pluviôse an IX (S. 12)“ in Portalis, J.E.M., Discours et rapports sur le Code civil, Caen, Fontes & Paginae, 2010, S. 70.

( 73 ) Siehe oben, Nrn. 128 bis 131 dieser Schlussanträge.