URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

15. April 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2008/909/JI – Art. 8 Abs. 2 bis 4 – Art. 17 Abs. 1 und 2 – Art. 19 – Für die Zwecke eines Gesamturteils erfolgende Berücksichtigung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Verurteilung, die in dem Mitgliedstaat zu vollstrecken ist, in dem dieses Urteil ergeht – Voraussetzungen – Rahmenbeschluss 2008/675/JI – Art. 3 Abs. 3 – Begriff ‚Abänderung eines Urteils oder seiner Vollstreckung‘, die in einem neuen Strafverfahren in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat, in dem dieses Urteil ergangen ist, zu berücksichtigen ist“

In der Rechtssache C‑221/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Gdańsku (Bezirksgericht Danzig, Polen) mit Entscheidung vom 15. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 11. März 2019, in dem Verfahren

AV,

Beteiligte:

Pomorski Wydział Zamiejscowy Departamentu do Spraw Przestępczości Zorganizowanej i Korupcji Prokuratury Krajowej,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richter N. Piçarra (Berichterstatter), D. Šváby und S. Rodin sowie der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und T. Machovičová als Bevollmächtigte,

der spanischen Regierung, zunächst vertreten durch A. Rubio González, dann durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigte,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und Z. Wagner als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und L. Baumgart als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Oktober 2020

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren (ABl. 2008, L 220, S. 32) sowie Art. 8 Abs. 2 bis 4, Art. 17 Abs. 1 Satz 1 und Art. 19 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2008/909).

2

Es ergeht in einem Verfahren über den Erlass eines Gesamturteils gegen AV, das sich u. a. auf eine von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats verhängte und zu ihrer Vollstreckung in Polen anerkannte Freiheitsstrafe erstreckt.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rahmenbeschluss 2008/909

3

In den Erwägungsgründen 6 und 15 des Rahmenbeschlusses 2008/909 heißt es:

„(6)

Dieser Rahmenbeschluss sollte so umgesetzt und angewendet werden, dass die allgemeinen Grundsätze der Gleichheit, Billigkeit und Angemessenheit gewahrt werden können.

(15)

Dieser Rahmenbeschluss sollte im Einklang mit dem in Artikel [21 AEUV] niedergelegten Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, angewendet werden.“

4

Art. 1 dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:

„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck

a)

‚Urteil‘ eine rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts des Ausstellungsstaats, durch die eine Sanktion gegen eine natürliche Person verhängt wird;

b)

‚Sanktion‘ jede Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme, die aufgrund eines Strafverfahrens wegen einer Straftat für eine bestimmte Zeit oder auf unbestimmte Zeit verhängt worden ist;

c)

‚Ausstellungsstaat‘ den Mitgliedstaat, in dem ein Urteil ergangen ist;

d)

‚Vollstreckungsstaat‘ den Mitgliedstaat, dem ein Urteil zum Zwecke seiner Anerkennung und Vollstreckung übermittelt wird.“

5

Art. 3 des Rahmenbeschlusses bestimmt in den Abs. 1 und 3:

„(1)   Zweck dieses Rahmenbeschlusses ist es, im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat ein Urteil anerkennt und die verhängte Sanktion vollstreckt.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss gilt nur für die Anerkennung von Urteilen und die Vollstreckung von Sanktionen im Sinne des Rahmenbeschlusses. …“

6

Art. 8 („Anerkennung des Urteils und Vollstreckung der Sanktion“) des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„(1)   Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats erkennt ein gemäß Artikel 4 und im Verfahren gemäß Artikel 5 übermitteltes Urteil an und ergreift unverzüglich alle für die Vollstreckung der Sanktion erforderlichen Maßnahmen, es sei denn, sie beschließt, einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung gemäß Artikel 9 geltend zu machen.

(2)   Ist die Sanktion nach ihrer Dauer mit dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht vereinbar, so kann die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats eine Anpassung dieser Sanktion nur in den Fällen beschließen, in denen die Sanktion die für vergleichbare Straftaten nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehene Höchststrafe überschreitet. Die angepasste Sanktion darf nicht niedriger als die nach dem Recht des Vollstreckungsstaats für vergleichbare Straftaten vorgesehene Höchststrafe sein.

(3)   Ist die Sanktion nach ihrer Art mit dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht vereinbar, so kann die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaates diese an die nach ihrem eigenen Recht für vergleichbare Straftaten vorgesehene Strafe oder Maßnahme anpassen. Diese Strafe oder Maßnahme muss so weit wie möglich der im Ausstellungsstaat verhängten Sanktion entsprechen, weshalb deren Umwandlung in eine Geldstrafe nicht in Betracht kommt.

(4)   Die angepasste Sanktion darf nach Art oder Dauer die im Ausstellungsstaat verhängte Sanktion nicht verschärfen.“

7

Art. 12 („Entscheidung über die Vollstreckung der Sanktion und Fristen“) des Rahmenbeschlusses 2008/909 sieht in Abs. 1 vor:

„Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats entscheidet so rasch wie möglich, ob sie das Urteil anerkennt und die Sanktion vollstreckt, und setzt den Ausstellungsstaat hiervon … in Kenntnis.“

8

Art. 17 („Für die Vollstreckung maßgebliches Recht“) dieses Rahmenbeschlusses bestimmt in den Abs. 1 und 2:

„(1)   Auf die Vollstreckung einer Sanktion ist das Recht des Vollstreckungsstaats anwendbar. Nur die Behörden des Vollstreckungsstaats können vorbehaltlich der Absätze 2 und 3 über die Vollstreckungsverfahren entscheiden und die damit zusammenhängenden Maßnahmen bestimmen; dies gilt auch für die Gründe einer vorzeitigen oder bedingten Entlassung.

(2)   Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats rechnet die volle Dauer des Freiheitsentzugs, der im Zusammenhang mit der Sanktion, die mit dem Urteil verhängt wurde, bereits verbüßt wurde, auf die Gesamtdauer des zu verbüßenden Freiheitsentzugs an.“

9

Art. 19 („Amnestie, Begnadigung, Wiederaufnahme des Verfahrens“) des Rahmenbeschlusses lautet:

„(1)   Der Ausstellungsstaat wie auch der Vollstreckungsstaat können eine Amnestie oder Begnadigung gewähren.

(2)   Nur der Ausstellungsstaat kann über Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens entscheiden, in dem die Sanktion verhängt wurde, die nach diesem Rahmenbeschluss vollstreckt werden soll.“

10

Art. 21 („Unterrichtung durch den Vollstreckungsstaat“) des Rahmenbeschlusses 2008/909 sieht vor:

„Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats unterrichtet die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats unverzüglich in einer Form, die einen schriftlichen Nachweis ermöglicht, über

e)

eine etwaige Entscheidung zur Anpassung der Sanktion gemäß Artikel 8 Absatz 2 oder 3 zusammen mit einer Begründung;

f)

eine etwaige Entscheidung, die Sanktion aus den in Artikel 19 Absatz 1 genannten Gründen nicht zu vollstrecken, zusammen mit einer Begründung;

…“

Rahmenbeschluss 2008/675

11

In den Erwägungsgründen 2, 5 bis 8 und 14 des Rahmenbeschlusses 2008/675 heißt es:

„(2)

Am 29. November 2000 hat der Rat entsprechend den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere das Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen … angenommen; hierin wird Folgendes vorgesehen: ‚Annahme eines oder mehrerer Rechtsakte, in denen der Grundsatz verankert ist, dass das Gericht eines Mitgliedstaats die in den anderen Mitgliedstaaten ergangenen rechtskräftigen Entscheidungen in Strafsachen heranziehen können muss, um die strafrechtliche Vergangenheit eines Täters bewerten, eine Rückfälligkeit berücksichtigen und die Art der Strafen und die Einzelheiten des Strafvollzugs entsprechend festlegen zu können‘.

(5)

Als Grundsatz sollte gelten, dass eine in einem anderen Mitgliedstaat nach innerstaatlichem Recht ergangene Verurteilung mit gleichwertigen tatsächlichen bzw. verfahrens- oder materiellrechtlichen Wirkungen versehen werden sollte wie denjenigen, die das innerstaatliche Recht den im Inland ergangenen Verurteilungen zuerkennt. Eine Harmonisierung der in den verschiedenen Rechtsordnungen für frühere Verurteilungen vorgesehenen Rechtswirkungen durch diesen Rahmenbeschluss ist jedoch nicht beabsichtigt und in anderen Mitgliedstaaten ergangene frühere Verurteilungen müssen nur in dem Maße berücksichtigt werden wie im Inland nach innerstaatlichem Recht ergangene Verurteilungen.

(6)

Im Gegensatz zu anderen Rechtsinstrumenten bezweckt dieser Rahmenbeschluss nicht, dass in einem Mitgliedstaat gerichtliche Entscheidungen vollstreckt werden, die in anderen Mitgliedstaaten ergangen sind; vielmehr soll ermöglicht werden, dass in einem Mitgliedstaat ergangene frühere Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren in einem anderen Mitgliedstaat in dem Umfang mit Rechtsfolgen verbunden werden, wie solche Rechtsfolgen nach Maßgabe des Rechts dieses anderen Mitgliedstaats mit früheren nach innerstaatlichem Recht ergangenen Verurteilungen verbunden sind.

(7)

Eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Verurteilung sollte gleichwertige Wirkungen entfalten wie eine im Inland ergangene Entscheidung, und zwar sowohl in der Phase vor dem eigentlichen Strafverfahren als auch während des Strafverfahrens und der Strafvollstreckung.

(8)

Liegen bei einem Strafverfahren in einem Mitgliedstaat Informationen über eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene frühere Verurteilung vor, so sollte so weit wie möglich vermieden werden, dass die betreffende Person schlechter behandelt wird, als wenn die frühere Verurteilung im Inland ergangen wäre.

(14)

Die Abänderung eines Urteils oder seiner Vollstreckung umfasst unter anderem die Fälle, in denen entsprechend dem innerstaatlichen Recht des zweiten Mitgliedstaats die im früheren Urteil verhängte Strafe in einer anderen Strafe aufgeht oder in diese eingerechnet wird, die dann in dem Maße wirksam zu vollstrecken ist, in dem das erste Urteil nicht schon vollstreckt worden ist oder dessen Vollstreckung dem zweiten Mitgliedstaat nicht übertragen wurde“.

12

Nach Art. 1 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses „wird [in diesem] festgelegt, unter welchen Voraussetzungen in einem Mitgliedstaat in einem Strafverfahren gegen eine Person frühere Verurteilungen, die gegen dieselbe Person wegen einer anderen Tat in einem anderen Mitgliedstaat ergangen sind, berücksichtigt werden“.

13

Art. 2 des Rahmenbeschlusses definiert „Verurteilung“ als „jede rechtskräftige Entscheidung eines Strafgerichts, mit der eine Person einer Straftat schuldig gesprochen worden ist“.

14

Art. 3 („Berücksichtigung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Verurteilung in einem neuen Strafverfahren“) des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„(1)   Jeder Mitgliedstaat stellt sicher, dass nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts in einem Strafverfahren gegen eine Person frühere, in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Verurteilungen derselben Person wegen einer anderen Tat, zu denen im Rahmen geltender Rechtsinstrumente über die Rechtshilfe oder den Austausch von Informationen aus Strafregistern Auskünfte eingeholt wurden, in dem Maße berücksichtigt werden wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen und dass sie mit gleichwertigen Rechtswirkungen versehen werden wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen.

(2)   Absatz 1 findet auf das Stadium vor dem Strafverfahren, im Strafverfahren selbst und bei der Strafvollstreckung Anwendung, insbesondere im Hinblick auf die anwendbaren Verfahrensvorschriften einschließlich der Vorschriften über die Untersuchungshaft, die rechtliche Einordnung des Tatbestands, Art und Umfang der Strafe sowie die Vollstreckungsvorschriften.

(3)   Die Berücksichtigung früherer, in einem anderen Mitgliedstaat ergangener Verurteilungen nach Absatz 1 hat nicht die Wirkung, dass frühere Verurteilungen oder Entscheidungen zu ihrer Vollstreckung durch den Mitgliedstaat, in dem das neue Verfahren geführt wird, abgeändert, aufgehoben oder überprüft werden.

…“

Polnisches Recht

15

Art. 85 § 4 des Kodeks karny (Strafgesetzbuch) vom 6. Juni 1997 (Dz. U. Nr. 88, Pos. 553) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung lautet:

„Die Gesamtstrafe erstreckt sich nicht auf Strafen, die mit in Art. 114a des Strafgesetzbuchs genannten Urteilen verhängt wurden.“

16

Art. 114a § 1 des Strafgesetzbuchs bestimmt:

„Als Verurteilungen gelten auch rechtskräftige Verurteilungen für begangene Straftaten, die von in Strafsachen zuständigen Gerichten in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union erlassen wurden, es sei denn, dass diese Taten gemäß dem polnischen Strafgesetz keine Straftaten sind, gegen den Täter keine Strafe verhängt werden kann oder eine dem polnischen Strafgesetz unbekannte Strafe verhängt wurde.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17

Am 31. Juli 2018 beantragte AV, ein polnischer Staatsangehöriger, beim vorlegenden Gericht, dem Sąd Okręgowy w Gdańsku (Bezirksgericht Danzig, Polen), den Erlass eines Gesamturteils, das zwei gegen ihn verhängte Freiheitsstrafen umfasste, nämlich zum einen die vom Landgericht Lüneburg (Deutschland) mit Urteil vom 15. Februar 2017 verhängte Freiheitsstrafe, die mit Beschluss des vorlegenden Gerichts vom 12. Januar 2018 zur Vollstreckung in Polen anerkannt wurde und die AV vom 1. September 2016 bis 29. November 2021 verbüßen muss, und zum anderen die vom vorlegenden Gericht mit Urteil vom 24. Februar 2010 verhängte Freiheitsstrafe, die AV vom 29. November 2021 bis 30. März 2030 verbüßen muss.

18

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die rechtliche Einordnung der Taten, die zum Urteil des Landgerichts Lüneburg geführt hätten, der im polnischen Recht vorgenommenen entspreche und dass die Dauer der infolge der Anerkennung dieses Urteils in Polen zu vollstreckenden Freiheitsstrafe mit der Dauer der vom deutschen Gericht verhängten Strafe, nämlich fünf Jahre und drei Monate, übereinstimme.

19

In seinem Antrag auf Erlass eines Gesamturteils macht AV geltend, dass angesichts der Anerkennung des Urteils des Landgerichts Lüneburg zur Vollstreckung in Polen die Voraussetzungen für den Erlass eines Gesamturteils, das diese Verurteilung umfasse, erfüllt seien.

20

Das vorlegende Gericht stellt fest, dass das Gesamturteil an der Schnittstelle zwischen einem Urteil in der Sache selbst und der Entscheidung über die Vollstreckung einer Verurteilung liege und sich auf rechtskräftige Verurteilungen erstrecke, mit dem Ziel, die „rechtliche Reaktion“ auf die begangenen Straftaten, über die im Rahmen eines einheitlichen Verfahrens hätte entschieden werden können, zu „korrigieren“ und somit „die Bestrafung zu rationalisieren“. Es führt aus, dass das Gesamturteil keinen Eingriff in die betreffenden Einzelurteile darstelle, da es deren wesentliche Aspekte, insbesondere die Klärung der Schuldfrage des Täters in Bezug auf eine konkrete Tat, nicht berühre, sondern die Bewertung der gesamten kriminellen Aktivitäten der Person ermögliche, gegen die mehrere Verurteilungen ergangen seien, und dass nur die Dauer dieser Verurteilungen geändert werden könne. Das vorlegende Gericht weist auch darauf hin, dass der Erlass eines Gesamturteils bei Vorliegen der Voraussetzungen zwingend geboten sei.

21

Art. 85 § 4 in Verbindung mit Art. 114a des polnischen Strafgesetzbuchs in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung verbiete jedoch den Erlass eines Gesamturteils, das in Polen ergangene Verurteilungen und in anderen Mitgliedstaaten ergangene und zur Vollstreckung in Polen anerkannte Verurteilungen umfasse.

22

Ein solches Verbot führe dazu, dass sich eine Person, die mehrmals in einem einzigen Mitgliedstaat verurteilt worden sei, in einer günstigeren Lage befinde als eine Person, die in verschiedenen Mitgliedstaaten verurteilt worden sei. Dagegen gewährleiste die Berücksichtigung von in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen und gemäß dem Rahmenbeschluss 2008/909 anerkannten Verurteilungen im Rahmen eines Gesamturteils für die Zwecke ihrer Vollstreckung in dem Mitgliedstaat, in dem das Gesamturteil ergehe, auf Unionsebene die Gleichbehandlung von Personen in ähnlichen Situationen und verstärke das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten.

23

Unter diesen Umständen hat der Sąd Okręgowy w Gdańsku (Bezirksgericht Danzig) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/675 dahin auszulegen, dass unter Abänderung früherer Verurteilungen im Sinne dieser Vorschrift nicht nur die Einbeziehung einer Strafe, die durch ein in einem Mitgliedstaat erlassenes Urteil verhängt wurde, in ein Gesamturteil zu verstehen ist, sondern auch die Einbeziehung einer Strafe in dieses Urteil, die zur Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat zusammen mit einem in diesem Staat ergangenen Urteil im Rahmen eines Gesamturteils übernommen wurde?

2.

Ist im Licht der Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/909 in Art. 8 Abs. 2 bis 4, in Art. 19 Abs. 1 und 2 sowie in Art. 17 Abs. 1 Satz 1 der Erlass eines Gesamturteils möglich, das sich auf Strafen erstreckt, die durch ein in einem Mitgliedstaat erlassenes Urteil verhängt wurden, das zur Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat zusammen mit einem in diesem Staat ergangenen Urteil im Rahmen eines Gesamturteils übernommen wurde?

Zu den Vorlagefragen

Einleitende Bemerkungen

24

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die nationalen strafrechtlichen und strafprozessualen Vorschriften, die das Gesamturteil regeln, zwar grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, diese jedoch verpflichtet sind, diese Zuständigkeit im Einklang mit dem Unionsrecht auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2019, Rimšēvičs und EZB/Lettland, C‑202/18 und C‑238/18, EU:C:2019:139, Rn. 57).

25

Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich, dass nach polnischem Recht ein Gesamturteil zu erlassen ist, wenn die Voraussetzungen für die Verhängung einer Gesamtstrafe in Bezug auf mehrere rechtskräftige Verurteilungen erfüllt sind. Es zeigt sich auch, dass ein Gesamturteil nichts an dem in den betreffenden Urteilen enthaltenen Schuldspruch ändert, der endgültig ist, sondern eine Neubemessung der verhängten Strafe oder Strafen enthält.

26

Darüber hinaus ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass ein Gesamturteil wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, durch das eine oder mehrere zuvor gegen den Betroffenen verhängte Strafen zu einer einzigen Gesamtstrafe zusammengefasst werden, notwendigerweise zu einem günstigeren Ergebnis für diesen führt. Der Betroffene kann nämlich nach mehreren Verurteilungen mit einer Gesamtstrafe belegt werden, die niedriger ist als die Summe der jeweiligen, sich aus verschiedenen früheren Urteilen ergebenden Strafen. Das Gericht verfügt in einem solchen Fall über ein Ermessen bei der Strafzumessung unter Berücksichtigung der Situation oder der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen oder auch mildernder oder erschwerender Umstände.

27

Deshalb ist ein solches Gesamturteil von den Maßnahmen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zu unterscheiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 85).

28

Im vorliegenden Fall bezieht sich der Antrag von AV auf Erlass eines Gesamturteils u. a. auf die Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten, die mit Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 15. Februar 2017, das mit Beschluss des vorlegenden Gerichts zur Vollstreckung in Polen anerkannt wurde, gegen ihn verhängt wurde.

29

Da die Anerkennung dieses Urteils durch das vorlegende Gericht und die Vollstreckung der gegen AV verhängten Strafe in Polen gemäß Art. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 in dessen Regelungsbereich fällt, ist als Erstes die zweite Frage zu prüfen, die sich auf die Auslegung dieses Rahmenbeschlusses bezieht.

Zur zweiten Frage

30

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 8 Abs. 2 bis 4 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 und 2 sowie Art. 19 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen ist, dass der Erlass eines Gesamturteils gestattet ist, das sich nicht nur auf eine oder mehrere Sanktionen erstreckt, die zuvor in dem Mitgliedstaat, in dem dieses Gesamturteil ergeht, gegen den Betroffenen verhängt wurden, sondern auch auf eine oder mehrere Sanktionen, die in einem anderen Mitgliedstaat gegen ihn verhängt wurden und die nach diesem Rahmenbeschluss im ersten Mitgliedstaat vollstreckt werden.

31

Insoweit ergibt sich erstens aus Art. 8 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats im Sinne von Art. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses die im Ausstellungsstaat im Sinne von Buchst. c dieser Vorschrift verhängte Sanktion nur in den Fällen anpassen kann, in denen die Sanktion nach ihrer Dauer mit dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht vereinbar ist und die nach dem Recht dieses Staates vorgesehene Höchststrafe für vergleichbare Straftaten überschreitet. Die Dauer der so angepassten Sanktion darf nicht geringer sein als die nach dem Recht des Vollstreckungsstaats für vergleichbare Straftaten vorgesehene Höchststrafe (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. März 2020, SF [Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat], C‑314/18, EU:C:2020:191, Rn. 64).

32

Ist die im Ausstellungsstaat verhängte Sanktion nach ihrer Art mit dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht vereinbar, so gestattet es Art. 8 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 der zuständigen Behörde dieses Staates auch, diese Sanktion an die nach ihrem eigenen Recht für vergleichbare Straftaten vorgesehene Strafe oder Maßnahme anzupassen, sofern die angepasste Sanktion so weit wie möglich der im Ausstellungsstaat verhängten Sanktion entspricht. Jedenfalls kommt deren Umwandlung in eine Geldstrafe nicht in Betracht.

33

Ebenso darf nach Art. 8 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 die angepasste Sanktion die im Ausstellungsstaat verhängte Sanktion hinsichtlich ihrer Art oder Dauer nicht verschärfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. März 2020, SF [Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat], C‑314/18, EU:C:2020:191, Rn. 64).

34

Darüber hinaus ist eine etwaige Entscheidung, die Sanktion gemäß Art. 8 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 anzupassen, nach dessen Art. 21 Buchst. e der zuständigen Behörde des Ausstellungsstaats zusammen mit einer Begründung schriftlich mitzuteilen.

35

Art. 8 Abs. 2 bis 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 führt daher strenge Voraussetzungen für die Anpassung der im Ausstellungsstaat verhängten Sanktion durch die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats ein, die die einzigen Ausnahmen von der grundsätzlichen Verpflichtung dieser Behörde gemäß Art. 8 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses darstellen, das ihr übermittelte Urteil anzuerkennen und unverzüglich alle für die Vollstreckung der Sanktion erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, die in Dauer und Art denen entsprechen, die in dem im Ausstellungsstaat ergangenen Urteil vorgesehen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. November 2016, Ognyanov, C‑554/14, EU:C:2016:835, Rn. 36, und vom 11. Januar 2017, Grundza, C‑289/15, EU:C:2017:4, Rn. 42).

36

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass Art. 8 Abs. 2 bis 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen ist, dass er es gestattet, dass sich ein Gesamturteil auf eine oder mehrere in anderen Mitgliedstaaten verhängte Sanktionen erstreckt, die gemäß diesem Rahmenbeschluss in dem Mitgliedstaat vollstreckt werden, in dem dieses Gesamturteil ergeht, sofern es nicht zu einer Anpassung der Dauer oder der Art dieser Strafen führt, die über die in diesen Bestimmungen vorgesehenen engen Grenzen hinausgeht.

37

Eine gegenteilige Lösung würde, wie der Generalanwalt in Nr. 115 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung zwischen Personen führen, die in einem einzigen Mitgliedstaat mehrfach verurteilt worden sind, und Personen, die in mehreren Mitgliedstaaten verurteilt worden sind, wenn in beiden Fällen die Sanktionen im selben Mitgliedstaat vollstreckt werden. Wie im sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/909 dargelegt, muss der Rahmenbeschluss jedoch so umgesetzt und angewendet werden, dass die allgemeinen Grundsätze der Gleichheit, Billigkeit und Angemessenheit gewahrt werden können.

38

Außerdem träfe eine solche Ungleichbehandlung im vorliegenden Fall einen Unionsbürger, der von dem ihm durch Art. 21 AEUV verliehenen Recht Gebrauch gemacht hat, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten. Wie jedoch im 15. Erwägungsgrund dieses Rahmenbeschlusses dargelegt, sollte dieser im Einklang mit diesem Recht angewandt werden.

39

Was zweitens Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2008/909 betrifft, ergibt sich zum einen aus Abs. 1 dieser Vorschrift, dass auf die Vollstreckung einer Sanktion nach diesem Rahmenbeschluss das Recht des Vollstreckungsstaats anwendbar ist, sobald die verurteilte Person an die zuständigen Behörden dieses Staates überstellt wurde, und dass grundsätzlich nur diese Behörden über die Vollstreckungsverfahren entscheiden und die damit zusammenhängenden Maßnahmen bestimmen können; dies gilt auch für die Gründe einer vorzeitigen oder bedingten Entlassung. Wie der Generalanwalt in Nr. 111 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, erfasst diese Bestimmung Maßnahmen, mit denen die materielle Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gewährleistet und die soziale Wiedereingliederung der verurteilten Person sichergestellt werden soll. Bei einem Gesamturteil, wie demjenigen, das Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist – das, wie sich aus Rn. 27 des vorliegenden Urteils ergibt, von Maßnahmen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zu unterscheiden ist –, kann jedoch nicht davon ausgegangen werde, dass es von Art. 17 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 erfasst wird.

40

Zum anderen werden nach Abs. 2 dieses Artikels die zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats verpflichtet, die volle Dauer des Freiheitsentzugs, der von der verurteilten Person bereits vor ihrer Überstellung im Ausstellungsstaat verbüßt wurde, auf die Gesamtdauer des im Vollstreckungsstaat zu verbüßenden Freiheitsentzugs anzurechnen.

41

Folglich ist Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen, dass er es gestattet, dass sich ein Gesamturteil auf eine oder mehrere in anderen Mitgliedstaaten verhängte Sanktionen erstreckt, die gemäß diesem Rahmenbeschluss in dem Mitgliedstaat vollstreckt werden, in dem dieses Gesamturteil ergeht, sofern dieser die in diesem Abs. 2 vorgesehene Verpflichtung erfüllt, die volle Dauer des Freiheitsentzugs, den die verurteilte Person gegebenenfalls bereits im Ausstellungsstaat verbüßt hat, auf die Gesamtdauer des im Vollstreckungsstaat zu verbüßenden Freiheitsentzugs anzurechnen.

42

Was drittens Art. 19 des Rahmenbeschlusses 2008/909 betrifft, sieht zum einen dessen Abs. 1 vor, dass der Ausstellungsstaat wie auch der Vollstreckungsstaat eine Amnestie oder Begnadigung gewähren können. Wie aus Art. 21 Buchst. f dieses Rahmenbeschlusses hervorgeht, beenden die Amnestie und die Begnadigung die Vollstreckung einer Strafe. Ein Gesamturteil, wie es in den Rn. 25 und 26 des vorliegenden Urteils beschrieben wird, hat jedoch nicht zum Gegenstand, eine solche Vollstreckung zu beenden.

43

Zum anderen kann nach Art. 19 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 nur der Ausstellungsstaat über Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens entscheiden, in dem die Sanktion oder die freiheitsentziehende Maßnahme verhängt wurde, die nach diesem Rahmenbeschluss in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt werden soll. Ein Gesamturteil, wie es in den Rn. 25 und 26 des vorliegenden Urteils beschrieben wird, kann aber eine Überprüfung der in anderen Mitgliedstaaten verhängten Sanktionen, die nach diesem Rahmenbeschluss in dem Mitgliedstaat vollstreckt werden, in dem das Gesamturteil ergeht, weder bezwecken noch bewirken.

44

Daraus folgt, dass Art. 19 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen ist, dass er es gestattet, dass sich ein Gesamturteil auf eine oder mehrere in anderen Mitgliedstaaten verhängte Sanktionen erstreckt, die gemäß diesem Rahmenbeschluss in dem Mitgliedstaat vollstreckt werden, in dem dieses Gesamturteil ergeht, sofern es nicht zu einer Überprüfung dieser Sanktionen führt.

45

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 2 bis 4 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 und 2 sowie Art. 19 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen ist, dass der Erlass eines Gesamturteils gestattet ist, das sich nicht nur auf eine oder mehrere Sanktionen erstreckt, die zuvor in dem Mitgliedstaat, in dem dieses Gesamturteil ergeht, gegen den Betroffenen verhängt wurden, sondern auch auf eine oder mehrere Sanktionen, die in einem anderen Mitgliedstaat gegen ihn verhängt wurden und die nach diesem Rahmenbeschluss im ersten Mitgliedstaat vollstreckt werden. Ein solches Gesamturteil darf jedoch nicht zu einer Anpassung der Dauer oder der Art dieser Sanktionen führen, die über die in Art. 8 Abs. 2 bis 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 festgelegten engen Grenzen hinausgeht, zu einem Verstoß gegen die in Art. 17 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses auferlegte Verpflichtung, die volle Dauer des Freiheitsentzugs, der von der verurteilten Person gegebenenfalls bereits im Ausstellungsstaat verbüßt wurde, auf die Gesamtdauer des im Vollstreckungsstaat zu verbüßenden Freiheitsentzugs anzurechnen, oder zu einer Überprüfung der in einem anderen Mitgliedstaat gegen sie verhängten Sanktionen unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses.

Zur ersten Frage

46

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/675 im Licht seines 14. Erwägungsgrundes dahin auszulegen ist, dass er den Erlass eines Gesamturteils gestattet, das sich nicht nur auf eine oder mehrere Verurteilungen des Betroffenen erstreckt, die zuvor in dem Mitgliedstaat ausgesprochen wurden, in dem dieses Gesamturteil ergeht, sondern auch auf eine oder mehrere Verurteilungen, die in einem anderen Mitgliedstaat gegen ihn ergangen sind und nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 im ersten Mitgliedstaat vollstreckt werden, sofern dieses Gesamturteil nicht die Wirkung hat, dass die in diesem zweiten Mitgliedstaat ergangene Verurteilung oder alle Entscheidungen zu ihrer Vollstreckung im Sinne dieser Bestimmung des Rahmenbeschlusses 2008/675 abgeändert, aufgehoben oder überprüft werden.

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Insoweit ist einleitend darauf hinzuweisen, dass im Rahmenbeschluss 2008/675 nach seinem Art. 1 Abs. 1 festgelegt wird, unter welchen Voraussetzungen frühere Verurteilungen im Sinne von Art. 2 dieses Rahmenbeschlusses, die in einem Mitgliedstaat gegen eine Person ergangen sind, in einem neuen Strafverfahren gegen dieselbe Person in einem anderen Mitgliedstaat wegen einer anderen Tat zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. September 2017, Beshkov, C‑171/16, EU:C:2017:710, Rn. 25, und vom 5. Juli 2018, Lada, C‑390/16, EU:C:2018:532, Rn. 27). Wie sich aus dem zweiten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses ergibt, soll dieser eine Bewertung der strafrechtlichen Vergangenheit des Betroffenen ermöglichen.

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Der Rahmenbeschluss 2008/675 bezweckt daher, wie in seinem sechsten Erwägungsgrund ausgeführt, nicht, dass in einem Mitgliedstaat gerichtliche Entscheidungen vollstreckt werden, die in anderen Mitgliedstaaten ergangen sind (Urteil vom 21. September 2017, Beshkov, C‑171/16, EU:C:2017:710, Rn. 45).

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Er bezweckt, wie sich aus seinen Erwägungsgründen 5 bis 8 ergibt, dass jeder Mitgliedstaat sicherstellt, dass frühere, in einem anderen Mitgliedstaat ergangene strafrechtlichen Verurteilungen gleichwertige Rechtswirkungen entfalten wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen nach seinem nationalen Recht.

50

Im Einklang mit diesem Ziel wird den Mitgliedstaaten in Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses im Licht seines fünften Erwägungsgrundes die Verpflichtung auferlegt, sicherzustellen, dass in einem neuen Strafverfahren gegen eine Person frühere, in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Verurteilungen wegen anderer Taten, zu denen im Rahmen geltender Rechtsinstrumente über die Rechtshilfe oder den Austausch von Informationen aus Strafregistern Auskünfte eingeholt wurden, zum einen in dem Maß berücksichtigt werden wie nach innerstaatlichem Recht im Inland ergangene frühere Verurteilungen und dass ihnen zum anderen gleichwertige tatsächliche bzw. verfahrens- oder materiell-rechtliche Wirkungen zuerkannt werden wie nach diesem Recht im Inland ergangenen früheren Verurteilungen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. September 2017, Beshkov, C‑171/16, EU:C:2017:710, Rn. 26, und vom 5. Juli 2018, Lada, C‑390/16, EU:C:2018:532, Rn. 28).

51

Art. 3 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675 stellt klar, dass eine solche Verpflichtung auf das Stadium vor dem Strafverfahren, im Strafverfahren selbst und bei der Strafvollstreckung insbesondere im Hinblick auf die anwendbaren Verfahrensvorschriften einschließlich der Vorschriften über die rechtliche Einordnung des Tatbestands, Art und Umfang der Strafe sowie die Vollstreckungsvorschriften Anwendung findet (Urteile vom 21. September 2017, Beshkov, C‑171/16, EU:C:2017:710, Rn. 27, und vom 5. Juli 2018, Lada, C‑390/16, EU:C:2018:532, Rn. 29).

52

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass der Rahmenbeschluss 2008/675 auf ein nationales Verfahren anwendbar ist, das die Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe – für die Zwecke ihrer Vollstreckung – betrifft, die die durch das innerstaatliche Gericht gegen eine Person verhängte Strafe sowie die im Rahmen einer früheren Verurteilung durch ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats gegen dieselbe Person wegen einer anderen Tat verhängte Strafe berücksichtigt (Urteil vom 21. September 2017, Beshkov, C‑171/16, EU:C:2017:710, Rn. 29).

53

In diesem Zusammenhang kann nach Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/675 die Berücksichtigung früherer, in einem anderen Mitgliedstaat ergangener Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren nicht die Wirkung haben, dass diese früheren Verurteilungen oder Entscheidungen zu deren Vollstreckung durch den Mitgliedstaat, in dem das neue Strafverfahren geführt wird, abgeändert oder aufgehoben werden oder diese Verurteilungen, die so wie ergangen berücksichtigt werden müssen, überprüft werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. September 2017, Beshkov, C‑171/16, EU:C:2017:710, Rn. 44, und vom 5. Juli 2018, Lada, C‑390/16, EU:C:2018:532, Rn. 39).

54

Insoweit stellt der 14. Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/675 klar, dass die „Abänderung“ eines Urteils oder seiner Vollstreckung im Sinne von Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses u. a. „die Fälle [umfasst], in denen entsprechend dem innerstaatlichen Recht des zweiten Mitgliedstaats die im früheren Urteil verhängte Strafe in einer anderen Strafe aufgeht oder in diese eingerechnet wird, die dann in dem Maße wirksam zu vollstrecken ist, in dem das erste Urteil nicht schon vollstreckt worden ist oder dessen Vollstreckung dem zweiten Mitgliedstaat nicht übertragen wurde“.

55

Damit ergibt sich aus Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/675 im Licht seines 14. Erwägungsgrundes, dass erstens die Fälle, in denen eine Gesamtstrafe verhängt wird, als solche nicht vom Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses ausgenommen sind und zweitens die Verhängung einer Gesamtstrafe die frühere Verurteilung oder ihre Vollstreckung abändern kann, wenn die erste Verurteilung noch nicht vollstreckt worden ist oder nicht dem zweiten Mitgliedstaat zum Zweck ihrer Vollstreckung übertragen worden ist.

56

Daher kann, wie der Generalanwalt in den Nrn. 83 und 84 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, in dem Fall, in dem eine frühere in einem ersten Mitgliedstaat ergangene strafrechtliche Verurteilung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende gemäß dem Rahmenbeschluss 2008/909 einem zweiten Mitgliedstaat für die Zwecke ihrer Vollstreckung übertragen und dort anerkannt wurde, der Umstand, dass diese Verurteilung dort für die Zwecke des Erlasses eines Gesamturteils berücksichtigt wird, nicht die Wirkung haben, dass diese Verurteilung oder ihre Vollstreckung im Sinne von Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/675 „abgeändert“, „aufgehoben“ oder „überprüft“ wird, sofern das Gesamturteil in Bezug auf diese Verurteilung die Bedingungen und Grenzen berücksichtigt, die sich aus Art. 8 Abs. 2 bis 4, Art. 17 Abs. 2 und Art. 19 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 ergeben und auf die in den Rn. 36, 41 und 44 des vorliegenden Urteils hingewiesen wird.

57

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass, um sicherzustellen, dass in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen früheren Verurteilungen die gleichen Wirkungen wie früheren Verurteilungen im Inland zuerkannt werden, das Gericht, das im Rahmen eines neuen Strafverfahrens, wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zum Erlass eines Gesamturteils, angerufen wird, vorbehaltlich der Einhaltung der Bedingungen und Grenzen, auf die in vorstehender Randnummer des vorliegenden Urteils hingewiesen wird, grundsätzlich verpflichtet ist, die frühere Verurteilung durch ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats in derselben Weise zu berücksichtigen, wie eine frühere Verurteilung durch ein Gericht des Mitgliedstaats, dem es angehört.

58

Diese Auslegung wird durch das mit dem Rahmenbeschluss 2008/675 verfolgte Ziel, auf das in Rn. 49 des vorliegenden Urteils hingewiesen wurde, bestätigt, der so weit wie möglich verhindern soll, dass der Betroffene weniger günstig behandelt wird, als wenn die in Rede stehende frühere strafrechtliche Verurteilung eine innerstaatliche Verurteilung gewesen wäre.

59

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/675 im Licht seines 14. Erwägungsgrundes dahin auszulegen ist, dass er den Erlass eines Gesamturteils gestattet, das sich nicht nur auf eine oder mehrere Verurteilungen des Betroffenen erstreckt, die zuvor in dem Mitgliedstaat ausgesprochen wurden, in dem dieses Gesamturteil ergeht, sondern auch auf eine oder mehrere Verurteilungen, die in einem anderen Mitgliedstaat gegen ihn ergangen sind und die nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 im ersten Mitgliedstaat vollstreckt werden, sofern dieses Gesamturteil in Bezug auf diese letzteren Verurteilungen die Bedingungen und Grenzen einhält, die sich aus Art. 8 Abs. 2 bis 4, Art. 17 Abs. 2 und Art. 19 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses ergeben.

Kosten

60

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 8 Abs. 2 bis 4 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 und 2 sowie Art. 19 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der Erlass eines Gesamturteils gestattet ist, das sich nicht nur auf eine oder mehrere Sanktionen erstreckt, die zuvor in dem Mitgliedstaat, in dem dieses Gesamturteil ergeht, gegen den Betroffenen verhängt wurden, sondern auch auf eine oder mehrere Sanktionen, die in einem anderen Mitgliedstaat gegen ihn verhängt wurden und die nach diesem Rahmenbeschluss im ersten Mitgliedstaat vollstreckt werden. Ein solches Gesamturteil darf jedoch nicht zu einer Anpassung der Dauer oder der Art dieser Sanktionen führen, die über die in Art. 8 Abs. 2 bis 4 dieses Rahmenbeschlusses festgelegten engen Grenzen hinausgeht, zu einem Verstoß gegen die in seinem Art. 17 Abs. 2 auferlegte Verpflichtung, die volle Dauer des Freiheitsentzugs, der von der verurteilten Person gegebenenfalls bereits im Ausstellungsstaat verbüßt wurde, auf die Gesamtdauer des im Vollstreckungsstaat zu verbüßenden Freiheitsentzugs anzurechnen, oder zu einer Überprüfung der in einem anderen Mitgliedstaat gegen sie verhängten Sanktionen unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses.

 

2.

Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren ist im Licht seines 14. Erwägungsgrundes dahin auszulegen, dass er den Erlass eines Gesamturteils gestattet, das sich nicht nur auf eine oder mehrere Verurteilungen des Betroffenen erstreckt, die zuvor in dem Mitgliedstaat ausgesprochen wurden, in dem dieses Gesamturteil ergeht, sondern auch auf eine oder mehrere Verurteilungen, die in einem anderen Mitgliedstaat gegen ihn ergangen sind und die nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung im ersten Mitgliedstaat vollstreckt werden, sofern dieses Gesamturteil in Bezug auf diese letzteren Verurteilungen die Bedingungen und Grenzen einhält, die sich aus Art. 8 Abs. 2 bis 4, Art. 17 Abs. 2 und Art. 19 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses ergeben.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.