ISSN 1725-2407

doi:10.3000/17252407.C_2010.354.deu

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 354

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

53. Jahrgang
28. Dezember 2010


Informationsnummer

Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

461. Plenartagung am 17./18. März 2010

2010/C 354/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2006-2010) und Follow-up-Strategie

1

2010/C 354/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Menschen mit Behinderungen: Beschäftigung und schrittweise Erreichung der Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen in der EU. Lissabon-Strategie nach 2010 (Sondierungsstellungnahme)

8

2010/C 354/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Integration von Arbeitsmigranten (Sondierungsstellungnahme)

16

2010/C 354/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die europäische Verkehrspolitik im Rahmen der Lissabon-Strategie nach 2010 und der Strategie für nachhaltige Entwicklung (Sondierungsstellungnahme)

23

2010/C 354/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Industrieller Wandel im Sektor der motorisierten Zweiräder und Zukunftsperspektiven (Initiativstellungnahme)

30

2010/C 354/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik 2013 (Initiativstellungnahme)

35

2010/C 354/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Für eine neue Ordnung der internationalen Organisationen

43

2010/C 354/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Verkehrspolitik in den Westbalkanländern

50

2010/C 354/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Organisationen der Zivilgesellschaft und der EU-Ratsvorsitz (Initiativstellungnahme)

56

2010/C 354/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Umsetzung des Vertrags von Lissabon: Partizipative Demokratie und die europäische Bürgerinitiative (Artikel 11) (Initiativstellungnahme)

59

 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

461. Plenartagung am 17./18. März 2010

2010/C 354/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines langfristigen Plans für die nördlichen Seehechtbestände und die Fischereien, die diese Bestände befischenKOM(2009) 122 endg. — 2009/0039 (CNS)

66

2010/C 354/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates mit einer Kontroll- und Durchsetzungsregelung für den Bereich des Übereinkommens über die künftige multilaterale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Fischerei im NordostatlantikKOM(2009) 151 endg. — 2009/0051 (CNS)

67

2010/C 354/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresplans für den westlichen Stöckerbestand und für die Fischereien, die diesen Bestand befischenKOM(2009) 189 endg. — 2009/0057 (CNS)

68

2010/C 354/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines langfristigen Plans für den Sardellenbestand im Golf von Biskaya und die Fischereien, die diesen Bestand befischenKOM(2009) 399 endg. — 2009/0112 (CNS)

69

2010/C 354/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Einführung einer Fangdokumentationsregelung für Roten Thun Thunnus thynnus und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1984/2003KOM(2009) 406 endg. — 2009/0116 (CNS)

70

2010/C 354/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates mit Vorschriften für die Fischerei im Übereinkommensgebiet der GFCM (Allgemeine Kommission für die Fischerei im Mittelmeer)KOM(2009) 477 endg. — 2009/0129 (CNS)

71

2010/C 354/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 247/2006 über Sondermaßnahmen im Bereich der Landwirtschaft zugunsten der Regionen in äußerster Randlage der UnionKOM(2009) 510 endg. — 2009/0138 (CNS)

72

2010/C 354/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission — Der künftige wettbewerbsrechtliche Rahmen für den Kfz SektorKOM(2009) 388 endg.

73

2010/C 354/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Überarbeitung der Innovationspolitik der Gemeinschaft in einer Welt im WandelKOM(2009) 442 endg.

80

2010/C 354/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 1998/26/EG, 2002/87/EG, 2003/6/EG, 2003/41/EG, 2003/71/EG, 2004/39/EG, 2004/109/EG, 2005/60/EG, 2006/48/EG, 2006/49/EG und 2009/65/EG im Hinblick auf die Befugnisse der Europäischen Bankaufsichtsbehörde, der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung und der Europäischen WertpapieraufsichtsbehördeKOM(2009) 576 endg. — 2009/0161 (COD)

85

2010/C 354/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 708/2007 über die Verwendung nicht heimischer und gebietsfremder Arten in der AquakulturKOM(2009) 541 endg. — 2009/0153 (CNS)

88

DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

461. Plenartagung am 17./18. März 2010

28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2006-2010) und Follow-up-Strategie“

2010/C 354/01

Berichterstatterin: Laura GONZÁLEZ DE TXABARRI ETXANIZ

Mit Schreiben vom 25. September 2009 ersuchte die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Margot WALLSTRÖM, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zum Thema

„Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2006-2010) und Follow-up-Strategie“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 23. Februar 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) mit 137 gegen 3 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen

1.1

Die Gleichstellung von Frauen und Männern ist nicht nur ein Ziel an sich, sondern auch eine der Voraussetzungen für das Erreichen der EU-Ziele für Wachstum, Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt.

1.2

Die Halbzeitbilanz des Gleichstellungsfahrplans erfolgt vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise. Noch ist offen, welche Auswirkungen und Folgen die Krise auf Frauen und Männer angesichts ihrer unterschiedlichen Position in der Gesellschaft haben wird.

1.3

Das Gleichstellungsziel muss auf politischer Ebene verfolgt werden, insbesondere im Rahmen der Sozial- und Beschäftigungspolitik, und es müssen weiterhin Anstrengungen unternommen werden, um die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die der uneingeschränkten und gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern am Arbeitsmarkt im Wege stehen.

1.4

Zur Sicherstellung und Optimierung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Frauen muss die Beschäftigung von Frauen — und die Unterstützung Selbstständiger — quantitativ und qualitativ verbessert, die Gefahr der Prekarität ihrer Beschäftigungsverhältnisse bekämpft und eine gerechte Aufteilung der familiären und häuslichen Verantwortlichkeiten begünstigt werden.

1.5

Die Lohnungleichheit hat eine strukturelle Ursache: Unterbewertung der sogenannten „weiblichen“ Fähigkeiten, Segregation in frauen- und männerspezifische Berufe und Branchen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Unterbrechungen des Erwerbslebens u.a. gesetzliche Regelungen und Tarifvereinbarungen sind wirksame Instrumente zur Bekämpfung der Lohnungleichheit, wobei die Beteiligung sämtlicher wirtschaftlicher und sozialer Akteure erforderlich ist.

1.6

Eine größere Präsenz von Frauen in Unternehmen und Politik steigert die Gleichstellung, ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit, die Überwindung von Geschlechterstereotypen und die Förderung von Frauen im Rahmen von Entscheidungsprozessen.

1.7

Frauen sind in besonderem Maße von sozialer Ausgrenzung und Armut bedroht. Die Individualisierung der sozialen Rechte, ein garantiertes Mindesteinkommen und die Anrechnung von Betreuungszeiten, die durch Unterbrechung der Erwerbsarbeit bzw. durch Teilzeitarbeit ermöglicht werden, auf künftige Leistungsansprüche sind Maßnahmen, die den Sozialschutz verbessern und das Armutsrisiko verringern.

1.8

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eine unverzichtbare Voraussetzung für die Erreichung der Gleichstellung und die Verbesserung der Beschäftigung von Frauen: qualitativ hochwertige öffentliche Sozialdienste und Verbesserung der bereits geltenden Regelungen zu Mutterschutz, Vaterschaftsurlaub und Elternzeit. Es müssen Fortschritte bei der Mitverantwortlichkeit aller sozialen Akteure für die ausgewogene Aufteilung der häuslichen und pflegerischen Pflichten gemacht werden.

1.9

Nach Ansicht des EWSA muss die gleichberechtigte Beteiligung von Frauen an Entscheidungsprozessen gefördert werden. Dazu müssen die Mitgliedstaaten (MS) sich selbst stärker in die Pflicht nehmen, indem sie klare Zielvorgaben und wirksame Maßnahmen festlegen (positive Aktion, Gleichstellungsprogramme).

1.10

Angesichts der anhaltenden geschlechterbezogenen Gewalt und des Menschenhandels ist der EWSA der Auffassung, dass das geltende Recht durchgesetzt werden muss und nationale Aktionspläne, die im Rahmen einer europäischen Gesamtstrategie zu koordinieren wären, aufzustellen und spezifische Programme aufzustocken sind.

1.11

Zur Bekämpfung der Geschlechterstereotypen erachtet es der EWSA für unverzichtbar, die Gesellschaft durch nicht geschlechterbezogene Leitbilder zu erziehen und zu bilden und dabei Männer und Frauen gleichermaßen zu schulen, mehr Frauen für das Studium naturwissenschaftlicher und technischer Fächer zu begeistern, das Ansehen der sogenannten „weiblichen“ Berufe zu verbessern und den Gebrauch von Geschlechterstereotypen in den Medien zu vermeiden.

1.12

Die Außen- und Entwicklungspolitik der EU muss zur Förderung der Rechte der Frauen auf internationaler Ebene genutzt werden, indem die Qualifizierung und Handlungskompetenz der Frauen verbessert wird.

1.13

Nach Ansicht des EWSA ist es notwendig, die Geschlechteranalyse als Querschnittsthema in alle Handlungsbereiche der Kommission uneingeschränkt zu integrieren und sie in den Haushaltsverfahren auf europäischer wie auf nationaler Ebene zur Anwendung zu bringen. Dazu sind neben auf die Gleichstellung spezialisierten Humanressourcen auch nach Geschlecht aufgeschlüsselte Indikatoren erforderlich, die ein anschauliches Bild von der Lage der Frauen und Männer vermitteln und anhand deren bewertet werden kann, wie weit der Gleichstellungsfahrplan bislang umgesetzt wurde.

1.14

In der neuen Gleichstellungsstrategie ab 2010 dürfen die Ziele keine einfachen Empfehlungen der Kommission an die einzelnen Mitgliedstaaten sein, sondern verbindliche Richtlinien mit quantifizierbaren Zielen. Dazu ist eine umfassendere politische Mitwirkung auf allen Ebenen erforderlich. Die EU muss mit gutem Beispiel vorangehen, wobei sie das bisher Geleistete einer proaktiven Prüfung unterziehen und eine Folgenabschätzung der Umsetzung vornehmen sollte.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Mit dem Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2006-2010) verpflichtet sich die Europäische Kommission, in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten die Gleichstellung voranzubringen. Der EWSA nimmt auf Vorschlag der Kommission eine Bewertung vor, untersucht die Auswirkungen der ergriffenen Maßnahmen ebenso wie den Grad ihrer Umsetzung und macht eigene Vorschläge im Hinblick auf die neue Strategie ab 2010.

2.2

Der EWSA anerkennt die umfassende Verpflichtung der EU zur Förderung der Gleichstellung: in die Römischen Verträge wurde 1957 der Grundsatz der Lohngleichheit aufgenommen, der Vertrag von Amsterdam aus dem Jahr 1997 geht zweigleisig vor, indem er einen Querschnittsansatz mit spezifischen Maßnahmen kombiniert, und der Vertrag von Lissabon enthält eine ausdrückliche Verpflichtung zur Beseitigung der Ungleichheiten und zur Förderung der Gleichstellung.

2.3

Auf internationaler Ebene ist die Europäische Union der Aktionsplattform von Peking, den Milleniumszielen und dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) beigetreten, das die Frauen in den Mittelpunkt der Menschenrechte stellt.

2.4

Trotz dieses umfassenden Regelwerks wurden die Zielvorgaben nicht erreicht und bestehen weiterhin Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen. Es wurden in keinem der sechs politischen Schwerpunktbereiche des Gleichstellungsfahrplans 2006-2010 substanzielle Fortschritte erzielt. Deshalb drängt sich die Frage auf, ob der politische Wille zum Wandel wirklich vorhanden ist. Die Einbeziehung des Gleichheitsgrundsatzes als Schlüsselfaktor für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit muss eine Priorität in der neuen EU-Strategie 2020 sein.

2.5

Die Bewertung des Gleichstellungsfahrplans 2006-2010 erfolgt vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise; ihre Auswirkungen auf die Frauen müssen untersucht werden, da sie auf dem Arbeitsmarkt und in der staatlichen Politik der Sozialausgaben, insbesondere der Ausgaben für Sozialdienste, von denen die Frauen am stärksten betroffen sind, eine unterschiedliche Stellung haben.

2.6

Die Krise hat sich zunächst auf traditionell von Männern besetzte Arbeitsplätze ausgewirkt, wie im Bau- und Verkehrswesen und in der Industrie, und erst später andere Branchen, in denen mehr Frauen tätig sind (Bankdienstleistungen, Handel etc.), ergriffen. So haben sich die Familieneinkommen oftmals ausschließlich auf die Einkünfte der Frauen beschränkt, die gewöhnlich niedriger sind als die der Männer, weil sie vorwiegend im Dienstleistungssektor tätig sind, Teilzeit- bzw. Zeitarbeitsverträge haben oder in der Schattenwirtschaft beschäftigt sind. Dies alles wirkt sich wiederum negativ auf die Volkswirtschaft aus, weil dadurch der Verbrauch der Privathaushalte reduziert und die wirtschaftliche Erholung gebremst wird.

2.7

Die Krise wirkt sich auch auf die Sozialpolitik aus; Frauen bekommen weniger und kürzer Arbeitslosengeld, da sie auf dem Arbeitsmarkt oft eine benachteiligte Stellung einnehmen. Darüber hinaus werden die Grundversorgungsdienste im Gesundheits- und Bildungswesen reduziert, und die Sozialdienste schränken ihr Angebot in Zeiten ein, in denen Familien, vor allem Frauen, sie am dringendsten brauchen. Und weil dies Bereiche sind, in denen überdurchschnittlich viele Frauen tätig sind, wird dies erneut negative Auswirkungen auf die Frauenbeschäftigung haben.

2.8

Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise dürfen nicht geschlechterneutral sein, und die neuen Politiken zur Förderung der wirtschaftlichen Erholung ebenso wie die aktuellen Strukturfondsprogramme werden die unterschiedliche gesellschaftliche Stellung von Frauen und Männern so lange berücksichtigen müssen, wie dies erforderlich sein wird.

2.9

Die Gleichstellung muss nicht nur mit Blick auf die Überwindung der aktuellen Krise und die anschließende Erholung Vorrang haben, sondern auch mit Blick auf die Bewältigung der demografischen und ökonomischen Herausforderungen die sich auf das europäische Sozialmodell und somit auch auf die Frauen und ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit auswirken.

3.   Besondere Bemerkungen — Teil I: vorrangige Bereiche für Aktionen zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern

Im Gleichstellungsfahrplan 2006-2010 werden die Verpflichtungen und Maßnahmen festgelegt, die als erforderlich erachtet werden, um die Gleichstellung voranzubringen und die Ungleichheiten zu beseitigen.

Im ersten Teil des Plans wird auf die sechs Aktionsschwerpunkte mit ihren entsprechenden Indikatoren eingegangen:

1.

gleiche wirtschaftliche Unabhängigkeit für Frauen und Männer

2.

Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben

3.

ausgewogene Repräsentanz in Entscheidungsprozessen

4.

Beseitigung aller Formen geschlechterbezogener Gewalt

5.

Beseitigung von Geschlechterstereotypen

6.

Förderung der Gleichstellung in Außen- und Entwicklungspolitik.

Im zweiten Teil geht es im Wesentlichen um bessere Entscheidungsstrukturen.

3.1   Gleiche wirtschaftliche Unabhängigkeit für Frauen und Männer

3.1.1   Die Beschäftigungsziele der Lissabon-Strategie erreichen

3.1.1.1

Viele Länder haben die in der Lissabon-Strategie angestrebte 60 %-Marke für die Frauenbeschäftigungsquote noch nicht erreicht. Während die Beschäftigungsquote von Männern bei 70,9 % liegt, erreicht sie bei den Frauen lediglich 58,8 % (1); von den über 55-jährigen Frauen gehen nur 36,8 % einer Beschäftigung nach gegenüber 55 % bei den Männern. Es sind mehr Frauen als Männer arbeitslos, doch mit Fortschreiten der Krise wird diese Kluft geringer (9,8 % gegenüber 9,6 %).

3.1.1.2

Neben der Quantität muss auch die Qualität der Beschäftigung von Frauen gesteigert werden, da sie im Niedriglohnsektor und in Beschäftigungsverhältnissen mit höherem Prekaritätsrisiko überrepräsentiert sind. Teilzeitarbeit wird vorwiegend von Frauen ausgeübt (31,5 % Frauen gegenüber 8,3 % Männern), und 14,3 % der beschäftigten Frauen haben einen befristeten Arbeitsvertrag. Andererseits sinkt bei Müttern die Beschäftigungsquote um mehr als 10 Prozentpunkte, was die ungleiche Aufteilung familiärer Pflichten und die dürftigen Infrastrukturen im Pflege- und Betreuungsbereich widerspiegelt.

3.1.1.3

Der EWSA empfiehlt, die Arbeitslosenquote und die Quote der Erwerbslosigkeit von Frauen aus familiären Gründen (2) gemeinsam zu untersuchen. Da Frauen sich um die Familie kümmern, erfüllen sie häufig nicht die Voraussetzungen, um als „arbeitslos“ eingestuft zu werden, sodass die Nichterwerbstätigkeit als verdeckte Arbeitslosigkeit erscheint.

3.1.1.4

Erforderlich ist ein multidisziplinärer Ansatz, der es ermöglicht, die Beschäftigungspolitik mit sozial- und bildungspolitischen Maßnahmen zu ergänzen; so z.B. eine Ausbildung zur Beseitigung stereotyper Rollenbilder im Beschäftigungsbereich, qualitativ hochwertige öffentliche Sozialdienste, die pflegebedürftigen Personen die entsprechende Betreuung sichern und Aufklärungskampagnen zur besseren Aufteilung der häuslichen Pflichten zwischen Frauen und Männern.

3.1.1.5

Die Kommission muss die Geschlechtergleichstellung in sämtliche Programme (wie im Programm PROGRESS) aufnehmen und darin fördern. Die Strukturfonds stellen dafür einen einzigartigen Rahmen dar und geben Aufschluss über den Grad der Umsetzung in den Ländern, ermöglichen eine jährliche Bewertung der geschlechterspezifischen Auswirkungen der genannten Maßnahmen in den einzelnen Ländern und sogar die Festlegung geeigneter Maßnahmen und Sanktionen für jene, die nicht genügend hochwertige Arbeitsplätze für Frauen sicherstellen.

3.1.2   Nivellierung der Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern

3.1.2.1

Lohngleichheit ist für die Erreichung der Gleichstellung unverzichtbar, doch liegt trotz aller legislativen Fortschritte die Lohnschere zwischen Männern und Frauen bei 17,4 % und bei Frauen über 50 Jahre sogar bei 30 %.

3.1.2.2

Die Einkommensunterschiede haben strukturelle Ursachen: Segregation in wenig angesehenen Wirtschaftssektoren und in Niedriglohnberufen, stärkere Beschäftigung in der Schattenwirtschaft und in prekären Arbeitsverhältnissen, Unterbrechung oder Reduzierung der Erwerbstätigkeit aus familiären Gründen. Diese Faktoren wirken sich negativ auf das Lohnniveau von Frauen aus.

3.1.2.3

Der EWSA (3) empfiehlt, dass jeder Mitgliedstaat seine Vorschriften für Vertrags- und Lohnbedingungen überprüft, um die direkte und indirekte Diskriminierung von Frauen zu vermeiden.

3.1.2.4

Die Rechtsvorschriften müssen Kontrollmechanismen zur Ermittlung von geschlechtsbedingter Diskriminierung umfassen und transparente Berufsklassifizierungssysteme fördern, durch welche Qualifikationen, Erfahrung und Potenzial in der gesamten Belegschaft gleichermaßen bewertet und entlohnt werden.

3.1.2.5

Tarifverhandlungen sind ein gutes Instrument, um geschlechtsunabhängige Arbeitsplatzbewertungssysteme, Bildungsurlaub für die berufliche Weiterbildung von Frauen, Freistellungen und Urlaub aus familiären Gründen, flexible Arbeitszeiten u.a. einzuführen, damit die Lohnunterschiede abgebaut werden.

3.1.3   Unternehmerinnen

3.1.3.1

Obwohl Frauen zunehmend höher qualifiziert sind, sind sie in Führungspositionen von Unternehmen weiterhin in der Minderheit. Deshalb hat die Kommission die Gleichstellung im Rahmen der sozialen Verantwortung der Unternehmen gefördert, die staatlichen Beihilfen für von Frauen gegründeten Unternehmen aufgestockt (Verordnung (EG) Nr. 800/2008) und das Netzwerk der Unternehmerinnen unterstützt. Diesem Netzwerk sollten neben Regierungen und offiziellen Institutionen auch betroffene Organisationen der Zivilgesellschaft angehören, um so einen Austausch von Erfahrungen und bewährten Verfahrensweisen zu ermöglichen.

3.1.3.2

Es wird empfohlen, den EU-Aktionsplan zur Förderung der unternehmerischen Initiative umzusetzen, um die Zahl der von Frauen gegründeten Unternehmen durch Maßnahmen wie einen besseren Zugang zur Finanzierung und Krediten, die Entwicklung von Unternehmensnetzen für Organisation und Beratung, angemessene Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, die Förderung bewährter Verfahren etc. zu steigern.

3.1.4   Die Gleichstellung im Sozialschutz und die Armutsbekämpfung

3.1.4.1

Frauen sind in besonderem Maße von sozialer Ausgrenzung und Armut bedroht. Dazu tragen ihre unterschiedliche Stellung auf dem Arbeitsmarkt und ihr Abhängigkeitsverhältnis in den Sozialschutzsystemen bei.

3.1.4.2

Die Voraussetzungen für den Zugang zum Sozialschutz müssen für Männer und Frauen harmonisiert werden. Die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit aus familiären Gründen, die Inanspruchnahme von Elternzeit zur Betreuung, Teilzeit- oder Zeitarbeit, Segregation und Lohndiskriminierung sind Faktoren, welche die Höhe und die Dauer künftiger Sozialleistungen für Frauen reduzieren, insbesondere in den Bereichen Arbeitslosigkeit und Rente. Um hier wenigstens teilweise Abhilfe zu schaffen sind u.a. die Anerkennung der für eine unentgeltliche Arbeit aufgewendeten Zeit und von beruflichen Unterbrechungen aus familiären Gründen als volle Beitragsphasen unverzichtbar.

3.1.4.3

Das staatliche Sozialschutzsystem muss ein menschenwürdiges Mindesteinkommen gewährleisten, welches das Armutsrisiko dadurch mindert, dass alten Frauen, Witwen, die eine Ehegattenrente erhalten, und alleinerziehenden Müttern besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.

3.1.4.4

Besonderes Augenmerk sollte den privaten Rentensystemen in einigen Ländern gelten, da die Voraussetzungen für die künftigen Renten auf der Grundlage des individuellen Einkommens und der Lebenserwartung festgelegt werden, wodurch insbesondere Frauen ins Hintertreffen geraten.

3.1.4.5

2010 ist das Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, das sich mit dem Ziel der Lissabon-Strategie und der Einführung der offenen Koordinierungsmethode deckt. Die neue EU-Strategie 2020 muss einige konkrete Ziele und kurz- und langfristig effiziente Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut, insbesondere von Frauen, festlegen.

3.1.5   Anerkennung der Geschlechterdimension im Bereich der Gesundheit

3.1.5.1

Nach Ansicht des EWSA ist eine neue Gesundheitsstrategie notwendig, welche die unterschiedlichen Gesundheitsbedürfnisse von Frauen und Männern miteinbezieht, auch wenn bislang keine konkreten Maßnahmen in dieser Richtung vorgesehen sind. Dazu müssen Fortschritte bei der Erforschung der Gesundheit von Frauen und ihren Krankheiten gemacht werden.

3.1.5.2

Das Altern der Bevölkerung und die Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt werden künftig die Nachfrage nach langfristigen Betreuungsdiensten erhöhen. Die Mitgliedstaaten müssen hochwertige öffentliche Gesundheits- und Sozialdienste gewährleisten; andernfalls wirkt sich das insbesondere auf Frauen negativ aus, weil sie es sind, die hauptsächlich die Betreuungsarbeit leisten.

3.1.6   Bekämpfung der Mehrfachdiskriminierung, insbesondere von Immigrantinnen und Frauen aus ethnischen Minderheiten

3.1.6.1

Der EWSA bekräftigt die Notwendigkeit, die Geschlechterperspektive in die Bereiche Migrationspolitik und Asyl aufzunehmen. Zuwanderinnen und Frauen aus ethnischen Minderheiten verdienen verstärkte Aufmerksamkeit, da sie von Ungleichbehandlungen stärker betroffen und vor allem in der gegenwärtigen Krise besonders gefährdet sind (4).

3.1.6.2

Die Feminisierung der Migrationsströme steht in direktem Bezug zur Nachfrage nach Arbeitskräften im Haushalts- und Betreuungsbereich, was in erster Linie auf die dürftigen sozialen Infrastrukturen zurückzuführen ist. Zahlreiche zugewanderte Frauen sind in Branchen tätig, die durch Informalität und Prekarietät gekennzeichnet sind. Diese Beschäftigung muss „professionalisiert“ und regularisiert werden, und es muss die berufliche Qualifikation gefördert werden, um die berufliche Integration der zugewanderten Frauen zu verbessern.

3.2   Bessere Vereinbarkeit von Beruf, Privat- und Familienleben

3.2.1

Im Bereich der Frauenbeschäftigung wurden die Ziele der Lissabon-Strategie erreicht; nicht erfüllt wurden indes die Barcelona-Ziele in Bezug auf Kinderbetreuungseinrichtungen (für mindestens 33 % der Kinder unter 3 Jahren und für mindestens 90 % der Drei- bis Sechsjährigen). Unverzichtbar sind Infrastrukturen für Pflege- und Betreuungsdienste, die verfügbare Plätze und ein flexibles Angebot aufweisen sowie eine persönliche, kompetente Betreuung gewährleisten: Infrastrukturen, die auch außerhalb der Arbeitszeiten und in Ferienzeiten zur Verfügung stehen, Kantinen, Spezialzentren je nach Grad der Pflegebedürftigkeit. Investitionen in Sozialdienste wirken sich nicht nur positiv auf die Wirtschaft und insbesondere auf die Beschäftigung aus, sondern haben auch einen hohen sozialen Nutzen.

3.2.2

Die Betreuung von Kindern und Pflegebedürftigen erfordert zeitliche Flexibilität; dementsprechend bedarf es einer Neugestaltung der Arbeitszeiten dahingehend, dass sie an die familiären und beruflichen Erfordernisse angepasst werden und für Frauen und Männer gleichermaßen zugänglich sind.

3.2.3

Viele Frauen nutzen die Teilzeitbeschäftigung als eine Maßnahme zur besseren Vereinbarung von Familie und Beruf, weil es teilweise keine ausreichenden Pflege- und Betreuungsinfrastrukturen gibt. Doch ist die Feminisierung der Teilzeitarbeit nicht nur auf familiäre Gründe zurückzuführen, sondern sie ist in vielen Fällen auch die einzige Möglichkeit für Frauen, überhaupt Zugang zur Beschäftigung zu haben (5).

3.2.4

In Bezug auf die Urlaubsregelungen ist eine Gleichstellung der individuellen Rechte von Frauen und Männern erforderlich, unabhängig von der Art ihres vertraglichen Beschäftigungsverhältnisses (als Selbstständige, zeitlich befristet, unbefristet …). In diesem Sinne begrüßt der EWSA die zwischen dem EGB, Businesseurope, dem CEEP und der UEAPME erzielte Vereinbarung über die Verlängerung der Elternzeit (6), obwohl er es für notwendig erachtet, weiter auf eine uneingeschränkte Gleichstellung hinzuwirken. Der EWSA unterstützt die Initiative der Kommission zur Verbesserung des Schutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und/oder stillenden Arbeitnehmerinnen und teilt die Ansicht, dass ein Mutterschaftsurlaub von mindestens 18 Wochen gewährleistet werden muss (7).

3.2.5

Es muss eine klare Bresche für die Mitverantwortlichkeit aller sozialen Akteure bei den häuslichen und pflegerischen Pflichten geschlagen werden, die vorwiegend von Frauen wahrgenommen werden, damit die Humanressourcen in vollem Umfang genutzt werden können. Es ist notwendig, eine Kampagne zugunsten einer besseren Aufteilung der Aufgaben in Haushalt und Familie als Ursache der Ungleichheit zu starten, und diese Art der Tätigkeit aufzuwerten.

3.3   Förderung der gleichberechtigten Beteiligung von Frauen und Männern an Entscheidungsprozessen

3.3.1

Es bedarf eines stärkeren Engagements zur Gewährleistung der Gleichstellung zwischen Frauen und Männern in Bezug auf die Entscheidungsprozesse (8) in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Technik. Die Situation der Frauen hat sich in den letzten Jahren kaum geändert. Deshalb müssen diesbezüglich klare Ziele und Fristen vorgegeben und spezifische Politiken bzw. wirksame Maßnahmen (positive Aktion, Gleichstellungsprogramme, besondere Ausbildung, Quoten, Sensibilisierungskampagnen u.a.) durchgeführt werden.

3.3.2

Die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Politik muss eine tragende Säule im europäischen Aufbauwerk sein. Bei den Europawahlen im Juni 2009 bestand das Europäische Parlament zu 35 % aus Frauen und in der Kommission gibt es 10 weibliche Kommissionsmitglieder gegenüber 17 männlichen. In den nationalen Parlamenten sind sie zu 24 % vertreten, während 25 % der Ressorts in den einzelstaatlichen Ministerien von Frauen geleitet werden (9). Im EWSA sind derzeit 23,6 % der Mitglieder Frauen gegenüber 76,4 % Männern. Hingegen sind auf den Führungsebenen (Direktoren, stellvertretende Direktoren, stellvertretende Generalsekretäre) lediglich 16,7 % Frauen im Vergleich zu 83,3 % Männern. Die paritätische Vertretung von Männern und Frauen muss eine zentrale Priorität werden, wenn man die Gleichstellung auf allen Ebenen erreichen möchte.

3.3.3

Die Fortschritte im Bereich der öffentlichen Forschung sind sehr bescheiden (39 % sind Frauen) und kaum Bewegung scheint es im Wirtschafts- und Finanzsektor zu geben (es gibt keine Frauen an der Spitze von Zentralbanken und sie stellen insgesamt auch nur 17 % der Vorstandsmitglieder und knapp 3 % in den Verwaltungsräten von Großunternehmen).

3.4   Bekämpfung geschlechterbezogener Gewalt und des Menschenhandels

3.4.1

Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist nach wie vor ein ernsthaftes Problem. Es ist ein weltweites und systemisches Phänomen, das in vielfacher Form und Gestalt auftritt. Der EWSA ist wie die Kommission besorgt über die Zahl der weiblichen Opfer von Gewalt, über das Ausmaß von Menschenhandel mit Frauen und Prostitution, insbesondere unter Emigrantinnen, und über die Straftaten, die immer noch unter dem Deckmantel der Tradition oder Religion begangen werden (10).

3.4.2

Zum Einsatz kommen müssen angemessene soziale, wirtschaftliche und rechtliche Maßnahmen, mit denen Situationen, die der Gewalt gegen Frauen Vorschub leisten, reduziert und beseitigt werden, wie z.B.: Mangel an materiellen Mitteln, ökonomische Abhängigkeit, geringes Bildungsniveau, Fortbestand der Geschlechterstereotypen, Schwierigkeiten beim Zugang zum Arbeitsmarkt u.a.

3.4.3

Besonderes Augenmerk erfordern zugewanderte Frauen, die sowohl durch ihre soziale Isolation als auch durch ihre Illegalität stärker gefährdet sind. Die Sprache, die soziokulturellen Unterschiede oder auch die Unkenntnis der bestehenden Unterstützungsstrukturen hindert sie zuweilen daran, um Hilfe zu suchen, wenn sie Opfer häuslicher Gewalt werden. Noch schlimmer sieht es bei zugewanderten Frauen ohne Aufenthaltspapiere aus, für die besondere Maßnahmen zur Beseitigung der Hindernisse und zur Gewährleistung ihrer Rechte ergriffen werden müssen.

3.4.4

Es sind spezifische Programme (abgesehen von der Weiterführung der bestehenden Programme wie z.B. Daphne) und umfangreichere Finanzmittel zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen erforderlich. Es müssen nationale Aktionspläne im Rahmen einer koordinierten Strategie auf EU-Ebene aufgestellt werden, in denen konkrete Maßnahmen und Fristen zur Gewährleistung ihrer effektiven Umsetzung vorgegeben werden. Die Mitgliedstaaten müssen es sich zur vorrangigen Aufgabe machen, geltende Rechtsvorschriften zur Vorbeugung gegen häusliche Gewalt und für den Schutz von Opfern und gefährdeten Gruppen, einschließlich Kindern, durchzusetzen. Ebenfalls notwendig sind Indikatoren, die ein anschauliches Bild aller Facetten von geschlechtsbedingter Gewalt, einschließlich sexueller Belästigung und Menschenhandel, vermitteln. Unverzichtbar sind hierfür EU-weit einheitliche statistische Daten, um dieses Thema entsprechend zu verfolgen und zu bewerten.

3.4.5

Angesichts der besorgniserregend hohen Zahl von auch geschlechterbezogenen Gewalttaten unter Jugendlichen ist die Entscheidung der Kommission relevant, die Bekämpfung geschlechterbezogener Gewalt in die Projekte des Programms „Jugend in Aktion“ einzubinden. Ebenso ist es notwendig, die Kultur der Gewaltlosigkeit und der Achtung der Menschenrechte in sämtliche Bildungs- und Ausbildungsprogramme für Kinder und Jugendliche aufzunehmen.

3.5   Beseitigung von Geschlechterstereotypen

3.5.1

Geschlechterstereotypen sind kulturelle und soziale Verhaltensweisen, die davon ausgehen, dass es traditionell „männliche“ oder „weibliche“ Rollen und Aufgaben gibt, was die Ausbildung und die Beschäftigungsoptionen berührt und eine Segregation des Arbeitsmarktes bewirkt. Stereotypen sind ein Hemmschuh für die Gleichstellung und die volle Teilhabe von Frauen und Männern an Entscheidungsprozessen.

3.5.2

Trotz ihres hohen Bildungsniveaus arbeiten Frauen nach wie vor hauptsächlich in traditionell „weiblichen“ Wirtschaftsbranchen (Gesundheit und Soziales, Bildung, Handel, öffentliche Verwaltung, Unternehmensdienstleistungen, Hotel- und Gaststättengewerbe etc.) und Berufen (als Verkäuferinnen, Haushaltshilfen, Betreuungspersonal, Verwaltungsangestellte etc.) sowie in niedrigeren Berufskategorien mit geringeren Zugangsmöglichkeiten zu höheren Stellen. Die Segregation ist in den letzten Jahren unverändert geblieben, da der Anstieg der Erwerbstätigkeit von Frauen in Bereichen registriert wird, die ohnehin von Frauen dominiert sind.

3.5.3

Zur Bekämpfung der Geschlechterstereotypen ist es erforderlich, dass:

Kinder und Jugendliche durch nicht geschlechterbezogene Leitbilder erzogen und insbesondere das Unterrichtsmaterial und die Lehrkräfte, die diese Stereotypen reproduzieren, überwacht werden. Der EWSA begrüßt, dass die Geschlechtergleichstellung als besondere Priorität in die Bildungs- und Ausbildungsprogramme der EU aufgenommen wurde;

mehr weibliche Studierende für naturwissenschaftliche und technische Fächer, in denen sie unterrepräsentiert sind, begeistert werden, damit sie auf diese Weise Zugang zu besseren Arbeitsplätzen bekommen und damit Frauen und Männer in allen Wissensbereichen ausgewogen vertreten sind;

unternehmerische Initiative, Innovation und Kreativität von Frauen gefördert wird - unabhängig davon, ob sie selbstständig, angestellt oder arbeitslos sind -, denn dies ist ein wichtiges Mittel, um zu zeigen, welche Kräfte Frauen in den Dienst der Gesellschaft stellen;

die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt gewährleistet wird, insbesondere von Müttern minderjähriger Kinder;

Frauenarbeit, insbesondere im Pflege- und Betreuungsbereich, durch Förderung von Weiterbildungsmaßnahmen aufgewertet wird;

Geschlechterstereotypen in den Medien und der Werbeindustrie beseitigt werden, wobei der Gewalt und frauenverächtlichen Bildern besonderes Augenmerk geschenkt werden sollte;

Frauen stärker auf den Entscheidungsebenen der Kommunikationsmedien vertreten sind, um eine diskriminierungsfreie Behandlung zu fördern und ein realistisches Bild von Frauen und Männern in der Gesellschaft abzugeben.

3.6   Förderung der Geschlechtergleichstellung außerhalb der EU

3.6.1

Die Kommission sollte auch in Zukunft die Förderung der Rechte von Frauen auf internationaler Ebene im Rahmen ihrer Außen- und Entwicklungspolitik weiter vorantreiben. Dabei gilt es, die Geschlechterperspektive in sämtliche Aspekte der Zusammenarbeit durch spezifische Maßnahmen für Frauen einzubeziehen, ihre Teilhabe an Entscheidungsprozessen und ihre Initiativefähigkeit zu fördern und in den Entwicklungsländern den Kapazitätenaufbau zu unterstützen, damit sie die Förderung der Gleichstellung betreiben können.

3.6.2

Es ist notwendig, die Geschlechterperspektive in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) aufzunehmen, damit in Krisensituationen Handlungsfähigkeit gegeben ist. Im Bereich der humanitären Hilfe (ECHO) sollte sich die Kommission bei Naturkatastrophen insbesondere um Frauen kümmern, die für Kinder oder Familienangehörige sorgen müssen, und in Konfliktzeiten um Frauen, die Opfer männlicher Gewalt sind.

4.   Teil II: Verbesserte Entscheidungsstrukturen zur Förderung der Gleichstellung

4.1

Die Geschlechteranalyse muss als Querschnittsthema in alle Handlungsbereiche der Kommission, einschließlich der Haushaltsverfahren, integriert werden; gleichzeitig ist eine Bewertung der Gleichstellungsfortschritte innerhalb ihres eigenen Hauses vorzunehmen. Dazu sind auf die Geschlechtergleichstellung spezialisierte Humanressourcen und einige aussagekräftige, nach Geschlecht aufgeschlüsselte Indikatoren erforderlich, die ein anschauliches Bild von der Lage der Frauen vermitteln.

4.2

Die Kommission sollte mit den Frauenorganisationen, Sozialpartnern und anderen Organisationen der Zivilgesellschaft einen offenen, ständigen Dialog führen, um die Probleme der Ungleichheit besser zu verstehen.

4.3

Der EWSA ruft die Kommission auf, alle Referate zu einem geschlechtsneutralen Sprachgebrauch in sämtlichen internen und externen Dokumenten, in den offiziellen Texten, bei der Verdolmetschung sämtlicher Sprachen ebenso wie auf ihren Webseiten anzuhalten.

5.   Teil III: Strategien ab 2010

Der EWSA formuliert auf Vorschlag der Kommission einige Vorschläge zum neuen Fahrplan für die Gleichstellung ab 2010.

5.1

Die Gleichstellung von Frauen und Männern muss im Rahmen einer globalen Sichtweise angegangen werden. Mit den EU-Politiken darf nicht nur u.a. eine stärkere Teilhabe der Frauen in allen Bereichen zur Bewältigung der demografischen Herausforderungen oder die Verbesserung des Kindeswohls angestrebt werden, sondern die entsprechenden Maßnahmen müssen ausdrücklich so angelegt sein, dass sie die unausgewogene Verteilung der familiären, betreuerischen und häuslichen Pflichten, insbesondere zwischen Frauen und Männern, aber auch zwischen sämtlichen sozialen Akteuren im Allgemeinen reduzieren.

5.2

Die Kommission muss die Geschlechtergleichstellung als Querschnittsthema prioritär in sämtlichen Ausschüssen, Referaten, Maßnahmen, Politiken und Direktionen einbeziehen. Die Geschlechterfrage ist kein Thema, das ausschließlich die Generaldirektion Beschäftigung und soziale Angelegenheiten betrifft.

5.3

Erforderlich sind Fachleute für Geschlechterfragen, die Ausbildungskurse und Materialien anbieten, mit denen das Bewusstsein, der Kenntnisstand und die Fähigkeiten der europäischen Gleichstellungsbeauftragten gesteigert werden können. Eurostat muss auch weiterhin seine statistischen Daten nach Geschlecht aufschlüsseln, die methodischen Verfahrensweisen verbessern und neue Indikatoren aufnehmen, die besser Aufschluss geben über die Lage der Frauen und somit ein vollständiges Bild über die unionsweite Situation vermitteln.

5.4

Die Geschlechterperspektive muss in die Haushaltsverfahren der EU und sämtlicher Mitgliedstaaten integriert werden. Außerdem sollte die Auswirkung des staatlichen Handelns auf Frauen und Männer in entsprechenden Studien bewertet werden.

5.5

Die Strukturfonds bieten einen einmaligen Rahmen, damit die Mitgliedstaaten die Gleichstellung in ihren operativen Programmen und den einzelnen Umsetzungsphasen der Fonds einbeziehen und gleichzeitig eine Evaluierung der geschlechtsspezifischen Auswirkungen in jedem vorrangigen Themenbereich oder Handlungsfeld dieser Programme vornehmen. Zur Verbesserung der Ergebnisse ist eine bessere Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen den Strukturfonds und den nationalen Gleichstellungsbehörden erforderlich.

5.6

Die Kommission muss für die effektive Umsetzung der Rechtsvorschriften sorgen, indem sie nachahmenswerte Verfahrensweisen vorstellt, und jene Länder mit Sanktionen belegen, die den Gleichheitsgrundsatz zwischen Frauen und Männern nicht respektieren. Sie muss die Geschlechtergleichstellung in sämtlichen Politiken und Direktionen überwachen und bewerten. Erforderlich ist dazu eine Evaluierungsmethode, mit der beobachtet und eingeschätzt werden kann, inwieweit die Zielvorgaben erreicht bzw. welche Erfolge oder Rückschritte verzeichnet wurden. Zu diesem Zweck müsste eine Evaluierungsgruppe eingesetzt werden, die systematisch die einzelstaatliche Umsetzung anhand der im Gleichstellungsfahrplan bereits erwähnten Indikatoren überwacht und bewertet.

5.7

Sollte der künftige Plan noch abgeändert werden, empfiehlt der EWSA, den ersten Bereich zu untergliedern, da er verschiedene Themenbereiche umfasst (Beschäftigung, Gesundheit, Einwanderung), die jeweils unterschiedliche Interventionsmechanismen erforderlich machen. Empfehlenswert wäre ferner ein neuer Bereich „Frauen und Umweltschutz“, da Frauen eine wesentliche Rolle bei der nachhaltigen Entwicklung spielen, da ihnen die Qualität des Lebens und seine Nachhaltigkeit für die derzeitigen und künftigen Generationen besonders am Herzen liegen (11).

5.8

Der EWSA verweist auf die bedeutende Rolle der Sozialpartner bei der Förderung der Gleichstellung im Rahmen des sozialen Dialogs und von Tarifverhandlungen. Ein gutes Beispiel ist der Aktionsrahmen für die Gleichstellung von Frauen und Männern aus dem Jahr 2005.

5.9

Das Europäische Gleichstellungsinstitut muss eine wichtige Rolle bei der Verbesserung des politischen Handelns und bei der Überarbeitung der geltenden Rechtsvorschriften im Bereich der Sensibilisierung und Gleichstellung spielen. Es muss dafür Sorge tragen und gewährleisten, dass die Gleichstellung in sämtlichen politischen Maßnahmen berücksichtigt und gefördert wird, und es muss eine verantwortungsvollere und integrativere bürgerliche und politische Teilhabe bei Geschlechterfragen anstoßen.

5.10

Die wirtschaftlichen und finanziellen Probleme, die Europa zu bewältigen hat, ebenso wie der demografische Wandel dürfen sich nicht auf das Gleichstellungsziel auswirken und es auch nicht in den Hintergrund drängen.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Quelle: Eurostat (EFT), Zahlen zur Beschäftigung 2/2009 und Zahlen zur Arbeitslosigkeit 9/2009.

(2)  Die Quote der Nichterwerbstätigkeit aufgrund der Betreuung von Familienangehörigen (Kinder und Pflegebedürftige) liegt bei Frauen zwischen 25 und 54 Jahren bei 25,1 % im Vergleich zu nur 2,4 % bei den Männern, und darüber hinaus sind aufgrund anderer familiärer Verpflichtungen 19,2 % der Frauen gegenüber 2,9 % der Männer nicht erwerbstätig (Quelle: EFT, Eurostat, 2008).

(3)  ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 54.

(4)  Siehe Stellungnahme ABl. C 182 vom 4.8.2009 und ABl. C 27 vom 3.2.2009.

(5)  2008 erklärten 31,5 % der erwerbstätigen Frauen in der EU, einer Teilzeitbeschäftigung nachzugehen (der Vergleichswert für die Männer liegt bei 8,3 %). 27,5 % der Frauen in Teilzeitarbeit gaben für diese Beschäftigungsform familiäre Gründe (Kinder oder Pflegebedürftige) an und 29,2 %, weil sie keine Ganztagsbeschäftigung gefunden haben (der Vergleichswert für die Männer liegt bei 3,3 % bzw. 22,7 %). Quelle: EFT, Eurostat.

(6)  Die Elternzeit wird von 3 auf 4 Monate verlängert, von denen ein Monat dem Vater vorbehalten ist, und gilt für alle Arbeitnehmer unabhängig von der Art des Vertrags.

(7)  ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 102.

(8)  Vor 10 Jahren (1999) unterzeichnete die Europäische Union auf der Pariser Konferenz „Frauen und Männer an der Macht“ eine Vereinbarung zur Förderung der gleichgewichtigen Teilhabe von Frauen und Männern an Entscheidungen.

(9)  Daten vom Oktober 2009.

(10)  ABl. C 110 vom 9.5.2006, S. 89.

(11)  Laut Aktionsplattform von Peking 1995.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Menschen mit Behinderungen: Beschäftigung und schrittweise Erreichung der Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen in der EU. Lissabon-Strategie nach 2010“ (Sondierungsstellungnahme)

2010/C 354/02

Berichterstatter: Miguel Ángel CABRA DE LUNA

Mit Schreiben vom 23. Juli 2009 ersuchte der Staatssekretär für die Europäische Union des spanischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und Zusammenarbeit, Diego LÓPEZ GARRIDO, im Namen des künftigen spanischen Ratsvorsitzes den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um die Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu dem Thema:

„Menschen mit Behinderungen: Beschäftigung und schrittweise Erreichung der Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen in der EU. Lissabon-Strategie nach 2010“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 23. Februar 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März (Sitzung vom 17. März 2010) mit 152 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

EU-Strategie bis 2020

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) fordert, bei der Verabschiedung der EU-Strategie bis 2020, der Beschäftigungsleitlinien und der Sozialagenda einen Abschnitt zum Thema Behinderung vorzusehen, um sicherzustellen, dass es bereichsübergreifend und in koordinierter Form in allen Gemeinschaftspolitiken berücksichtigt wird.

1.2

Der Ausschuss erinnert daran, dass die Aufnahme von Kriterien zur Förderung der Behindertenpolitik in die künftige EU-Strategie bis 2020 Auswirkungen auf die wirtschaftliche Ertragskraft der gesamten Gesellschaft haben und somit zu Fortschritten bei der sozialen Eingliederung und Nichtdiskriminierung führen wird.

1.3

Der Ausschuss hält einen „Europäischen Pakt für Menschen mit Behinderungen“ für notwendig, mit dem die Grundlage für eine neue europäische Behindertenpolitik geschaffen wird. Dieser Pakt sollte im Einklang stehen mit der künftigen Strategie der EU-Kommission für Menschen mit Behinderungen im Rahmen des Vertrags von Lissabon und des UN-Übereinkommens mit dem Zusatzprotokoll über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, dem die Europäische Union und die Mitgliedstaaten so rasch wie möglich beitreten sollten.

1.4

Der Ausschuss fordert innovationsfördernde Maßnahmen, die sich auf statistische Daten stützen und bewirken, dass die Situation der Menschen mit Behinderungen in allen europäischen und nationalen Statistiken erkennbar gemacht wird.

Beschäftigung und Menschen mit Behinderungen

1.5

Der Ausschuss setzt sich für einen alle Menschen integrierenden Markt ein und weist darauf hin, dass sich die beschäftigungspolitischen Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen auf einen Ansatz stützen müssen, der im Leben eines Menschen alle Prozesse im Zusammenhang mit der Beschäftigung umfasst („Lifestreaming“), und der sich insbesondere auf die Ausbildung, Einstellung, Arbeitsplatzsicherung und die berufliche Wiedereingliederung konzentriert. In der künftigen EU-Strategie bis 2020 und der neuen Strategie der Kommission für Menschen mit Behinderungen müssen Maßnahmen für junge Menschen mit angeborenen wie auch mit erworbenen Behinderungen Vorrang haben.

1.6

Der Ausschuss fordert die Kommission auf, innerhalb eines Jahres einen Bericht über die Umsetzung der Bestimmungen aus der Richtlinie 2000/78/EG über Behinderung und Beschäftigung vorzulegen.

1.7

Der Ausschuss erinnert daran, dass die Einstellung behinderter Menschen im regulären Arbeitsumfeld die Entwicklung entsprechender Sozialdienste und materielle und ideelle Anreize voraussetzt. Darüber hinaus erkennt er die Rolle der Unternehmen an, die überwiegend Menschen mit Behinderungen beschäftigen, und ganz allgemein die Rolle der Unternehmen der Sozialwirtschaft und diejenige der KMU, die ebenfalls Fördermaßnahmen der Sozialdienste und angemessene Anreize benötigen; damit unterstreicht der Ausschuss die Bedeutung der Sozialpartner in diesem Bereich.

1.8

Der Ausschuss fordert Sensibilisierungsmaßnahmen, die den noch immer bestehenden Vorurteilen gegenüber Arbeitnehmern mit Behinderungen entgegenwirken sollen, und weist auf die Rolle der Medien bei der Anerkennung der Vielfalt hin.

Barrierefreiheit

1.9

Der Ausschuss bekräftigt, dass die Barrierefreiheit der gesamten Gesellschaft und nicht nur den Menschen mit Behinderungen zugute kommt und den Unternehmen mehr Kunden beschert.

1.10

Was die Barrierefreiheit betrifft, empfiehlt der Ausschuss deren progressive Verwirklichung mittels gemeinsamer kurz-, mittel- und langfristiger Ziele (einschließlich einer eindeutigen und verbindlichen Frist für bereits vorhandene und neue Produkte, Dienstleistungen und Infrastrukturen).

1.11

Der Ausschuss unterstützt die Initiative Europäische Hauptstadt der allgemeinen Barrierefreiheit.

1.12

Der Ausschuss weist auf die dringende Notwendigkeit hin, Rechtsvorschriften über den barrierefreien Zugang zu den Diensten der Informationsgesellschaft zu erlassen, und bekräftigt seine Unterstützung des Prinzips „Design für alle“ und für die Entwicklung von Normen für Barrierefreiheit; er fordert einen entsprechenden konkreten Aktionsplan noch vor 2011 und befürwortet die Entwicklung eines „Europäischen Behindertenausweises“, mit dem grenzüberschreitende Reisen behinderter Menschen und die gegenseitige Anerkennung ihrer Rechte erleichtern werden sollen.

Geschlechtergleichstellung und Behinderung

1.13

Die Geschlechtergleichstellung muss als Querschnittsthema in die Konzeption, Entwicklung, Weiterverfolgung und Bewertung der Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen einbezogen werden, um der derzeitigen Situation abzuhelfen, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen häufig diskriminiert oder einfach außer Acht gelassen werden.

Sozialer Dialog und Behinderung

1.14

Der Ausschuss stellt fest, dass den Sozialpartnern für die Gewährleistung, dass die Menschen mit Behinderungen unter gleichen Bedingungen wie alle anderen Arbeitnehmer, d.h. zu angemessenen und gerechten Arbeitsbedingungen arbeiten, große Bedeutung zukommt.

1.15

Die Sozialpartner müssen den Aspekt Behinderung in allen ihren Maßnahmen und branchenübergreifenden sowie branchen- und unternehmensbezogenen Verhandlungen aufgreifen, insbesondere was die Beschäftigung, die Barrierefreiheit und den Sozialschutz angeht.

Beteiligung und ziviler Dialog

1.16

Der Ausschuss bekräftigt seine uneingeschränkte Unterstützung des Grundsatzes „Für Personen mit Behinderungen nichts ohne ihre Mitwirkung“. Dieses Prinzip muss in der EU-Strategie bis 2020 sowie auch in den öffentlich finanzierten Programmen für Behinderte angewandt werden.

1.17

Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten müssen die Förderung und Finanzierung der Zivilgesellschaft sicherstellen und damit deren Unabhängigkeit und Mitwirkung bei der Entwicklung politischer Maßnahmen und der Bereitstellung sozialer Dienste gewährleisten.

2.   Einleitung

2.1

Der Ausschuss begrüßt das Ersuchen des spanischen EU-Ratsvorsitzung um Erarbeitung der Stellungnahme zum Thema „Menschen mit Behinderungen: Beschäftigung und schrittweise Erreichung der Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen in der EU. Lissabon-Strategie nach 2010“.

2.2

Der Ausschuss hat mit seinen Stellungnahmen – angefangen mit seiner ersten spezifischen Initiativstellungnahme zum Thema „Gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderungen“, die im Juli 2002 verabschiedet wurde (1) – einen ständig verfügbaren und übergreifenden Fundus geschaffen, der der Gleichstellung und Nichtdiskriminierung der Menschen mit Behinderungen und ihrer Familien (2) zuträglich war.

2.3

Menschen mit Behinderungen machen über 16 % der Bevölkerung aus (mind. 80 Mio.) (3), eine Zahl, die mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung weiter steigen wird.

2.4

Der Ausschuss erkennt die Fortschritte sowohl im Bereich der Rechtsetzung (4) als auch bei der Durchführung gemeinschaftlicher Maßnahmen (5) an, die zusammen mit der Erklärung von Madrid aus dem Jahr 2002 (6) dazu beigetragen haben, Menschen mit Behinderungen stärker in die EU einzubeziehen. Allerdings bleibt noch Raum für Verbesserungen, sind doch bisher nur sektorspezifische und vereinzelte Fortschritte zu verzeichnen gewesen, und es hat an einer gemeinsamen Strategie gefehlt, wie im Rahmen der Halbzeitbewertung des Europäischen Aktionsplans 2003-2010 (7) festgestellt wurde. Darüber hinaus müssen auch die für europäische Maßnahmen zugunsten von Menschen mit Behinderungen zuständigen Dienststellen der Europäischen Kommission verstärkt werden.

2.5

Der Ausschuss weist auf die jüngsten Ergebnisse des Eurobarometers für 2009 (8) hin, wonach die wahrgenommene Diskriminierung aufgrund von Behinderungen stark zugenommen hat (um 8 % im letzten Jahr, d.h. von 45 % im Jahr 2008 auf 53 % im Jahr 2009) und sich über 33 % der Menschen mit Behinderungen im Jahr 2009 diskriminiert fühlten.

2.6

Der Ausschuss erkennt an, dass die Fortschritte im Bereich Behindertenmaßnahmen zu einem großen Teil den Sensibilisierungstätigkeiten und dem Druck seitens der europäischen Behindertenbewegung und der sie vertretenden Organisationen unter Schirmherrschaft des Europäischen Behindertenforums (EBF) sowie der Unterstützung der Sozialpartner zu verdanken sind.

2.7

Der Ausschuss erinnert den „Dreiervorsitz“ des Rates daran, diese Stellungnahme bei der Ausübung ihrer Präsidentschaften zu berücksichtigen.

3.   Die neue gemeinschaftliche Behindertenpolitik in der künftigen EU-Strategie bis 2020

3.1   Der Ausschuss stimmt der Kommission zu, dass die Maßnahmen im Rahmen der EU-Strategie bis 2020 „sichtbar zum sozialen Zusammenhalt und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen [und] die soziale Eingliederung fördern [müssen] […]. Dies erfordert ein Überdenken unserer Bildungssysteme und Arbeitsmärkte, die Förderung von Mobilität sowie eine neue Dynamik in Europa, die unser innovatives und kreatives Potenzial freisetzt (9).

3.2   Der Ausschuss ist der Ansicht, dass es im Rahmen der EU-Strategie bis 2020 nötig ist, einen „Europäischen Pakt für Menschen mit Behinderungen“ anzunehmen, wie es ihn bereits für die Gleichstellung der Geschlechter und für die Jugend gibt.

3.3   Dieser Pakt muss eine gemeinsame, vom Ministerrat abgesegnete Vereinbarung zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten, der EU-Kommission und dem Europäischen Behindertenforum unter Mitwirkung des EP, des EWSA, der Sozialpartner und der Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft sein. Der Pakt sollte von einem Europäischen Ausschuss für Behindertenpolitik verwaltet werden, dessen Vorsitz turnusmäßig von den einzelnen Mitgliedstaaten wahrgenommen wird und der über ein von der Kommission gestelltes Exekutivsekretariat verfügt. In den Pakt werden die notwendigen gemeinsamen Ziele der Mitgliedstaaten, entsprechende Leistungsindikatoren und die Verpflichtung zur Vorlage eines Berichts auf der jährlichen Frühjahrstagung des Rates aufgenommen (10). Auf diese Weise gäbe es für die Behindertenpolitik eine Variante der Methode der offenen Koordinierung.

3.4   Der Pakt sollte folgende Aspekte umfassen: gleichberechtigter Zugang zur Bildung, Gleichbehandlung in Bezug auf Beschäftigung und den Zugang zu Arbeit, Vorschriften über Mindestentgelte und Sozialschutz, Freizügigkeit, Eigenständigkeit, persönliche Selbstständigkeit, gleicher Zugang zu Gütern und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen, Einigung über ein Programm zugunsten des Zugangs zu neuen Technologien, zu öffentlichen Verkehrsmitteln und zur Gesundheitsversorgung sowie Berücksichtigung der Hilfsbedürfnisse jedweder Art gegenüber allen Arten von Abhängigkeit und schließlich eine Steuerpolitik, die die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen fördert und deren Mehrkosten, die mit der Ausübung ihrer Tätigkeiten im täglichen Leben verbunden sind, berücksichtigt (11).

3.5   In dem Pakt müssen die Bedürfnisse von Frauen und Mädchen mit Behinderungen, von behinderten jungen und alten Menschen, von Menschen, die für ihre persönliche Selbstständigkeit auf umfangreiche Hilfe angewiesen sind, sowie von Menschen mit Behinderungen in ländlichen Gebieten für alle Politikfelder behandelt werden. Ebenso sollte es darin um die Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation im Bereich Behinderungen gehen.

3.6   Der Pakt muss eine Vereinbarung sein, die im Rahmen des Vertrags von Lissabon, der Charta der Grundrechte und des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu konzipieren ist und sich auf drei Säulen stützt:

3.6.1   (i) Historischer Zeitpunkt für eine Überprüfung der Gemeinschaftspolitik – Den Menschen mit Behinderung und ihren Familien einen zentralen Platz in der Gemeinschaftspolitik einräumen

3.6.1.1

Der Ausschuss erwartet, dass mit der Verabschiedung der EU-Strategie bis 2020 die Koordination verbessert und die begrenzte Wirkung der derzeitigen Lissabon-Strategie und der erneuerten Sozialagenda (12) behoben wird. Zu diesem Zweck muss in die Strategie ein Abschnitt über Menschen mit Behinderungen und ihre Familien aufgenommen werden, in dem es unter anderem um Beschäftigung, Bildung, Eingliederung, Sozialschutz und Barrierefreiheit geht, und dadurch sichergestellt werden, dass das Thema Behinderung in den drei wichtigsten Prioritäten der Strategie berücksichtigt wird (13).

3.6.1.2

Der Ausschuss erinnert daran, dass die Aufnahme der Behindertenpolitik – im Rahmen der Zuständigkeiten der Gemeinschaft - in die EU-Strategie bis 2020 Auswirkungen auf die wirtschaftliche Ertragskraft der gesamten Gesellschaft haben und zu Fortschritten bei der sozialen Eingliederung und Nichtdiskriminierung führen wird; dies wird anhand jüngster Kosten-Nutzen-Analysen deutlich (14).

3.6.1.3

Der Europäische Pakt für Menschen mit Behinderungen muss mit der künftigen Strategie der Kommission für Menschen mit Behinderungen (15) in Einklang stehen, die den derzeitigen Aktionsplan für Menschen mit Behinderungen 2003-2010 ersetzen soll.

3.6.1.4

Die Europäische Beschäftigungsstrategie und die Methode der offenen Koordinierung in den Bereichen soziale Eingliederung, Sozialschutz, Renten, Bildung, Jugend usw. müssen in ihren Leitlinien und gemeinsamen Zielsetzungen den Mitgliedstaaten eigens und verstärkt vorgeben, das Thema Behinderung in die nationalen Pläne aufzunehmen, ihre Analysekapazitäten zu verbessern und die entsprechenden Ergebnisse in den regelmäßigen Berichten festzuhalten.

3.6.1.5

Die Gemeinschaftspolitik muss die Verhinderung aller Arten von schwerwiegenden Grundrechtsverletzungen unterstützen, insbesondere die Unterbringung von Menschen mit Behinderungen in großen geschlossenen Einrichtungen, getrennten Schulunterricht, die Aufhebung der Rechtsfähigkeit und Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderungen. Dabei sind die zusätzlichen Nachteile für Frauen und Mädchen mit Behinderung und stark hilfsbedürftige Menschen zu berücksichtigen (16).

3.6.1.6

Es werden innovationsfördernde Maßnahmen benötigt, die sich auf zuverlässige statistische Daten stützen. Ziel des Paktes muss es sein, die Situation der Menschen mit Behinderungen bei jedweden einschlägigen statistischen Instrumenten sichtbar zu machen (17). Dazu müssen harmonisierte Datenquellen, Indikatoren und statistische Instrumente zur Verfügung stehen, die aktuell und zuverlässig sind; unter anderem muss für die Europäische Arbeitskräfteerhebung ein ständiges Modul zum Thema Behinderung sowie ein Modul für die Messung der gesellschaftlichen Beteiligung der Menschen mit Behinderungen geschaffen werden. Darüber hinaus sind in die allgemeinen statistischen Module Fragen zu Behinderungen aufzunehmen.

3.6.1.7

Der Ausschuss fordert die Aufnahme einer Leitlinie - auf der Grundlage des UN-Übereinkommens - zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen in die „EU-Leitlinien zu den Menschenrechten und dem humanitären Völkerrecht“, die vom Rat der Europäischen Union verabschiedet werden sollen.

3.6.2   (ii) Schaffung eines geeigneten europäischen Rechtsrahmens zum Thema Behinderung

3.6.2.1

Der Ausschuss stellt fest, dass das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon neue Rechtsgrundlagen mit sich bringt. Er weist auf dessen Artikel 10, 11 und 19 sowie auf Artikel 21 und 26 der EU-Charta der Grundrechte hin, die denselben Status wie der Vertrag haben.

3.6.2.2

Das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen schafft neue Verpflichtungen für die EU. Deshalb fordert der Ausschuss:

3.6.2.2.1

dass die EU gemäß dem Beschluss des Rates (18) dem UN-Übereinkommen und dem zugehörigen Fakultativprotokoll über die Rechte von Menschen mit Behinderungen beitritt. Der Ausschuss erinnert an den rechtlichen Stellenwert dieses Übereinkommens als internationaler Vertrag und fordert die Mitgliedstaaten auf, sich dazu zu verpflichten, das Übereinkommen so schnell wie möglich zu ratifizieren;

3.6.2.2.2

im Hinblick auf das UN-Übereinkommen das gesamte Gemeinschaftsrecht in den Bereichen Binnenmarkt, Verkehr, Steuern, Wettbewerb, Gesundheit, Verbrauch, digitale und elektronische Medien, Beschäftigung, Bildung und Nichtdiskriminierung zu analysieren;

3.6.2.2.3

in der EU-Kommission unter Mitwirkung der involvierten Kommissionsmitglieder einen Koordinationsmechanismus (19) und die im Übereinkommen vorgesehene unabhängige Organisation zu schaffen (20).

3.6.2.3

Der Ausschuss begrüßt die Vorlage des aktuellen Richtlinienvorschlags gegen Diskriminierungen (21), der über den Bereich Beschäftigung hinausgeht, weist aber darauf hin, dass der Vorschlag nicht hinreichend mit dem UN-Übereinkommen in Einklang steht. Mit dieser Richtlinie, die derzeit im Rat erörtert wird, muss sichergestellt werden, dass der Begriff Diskriminierung den Menschen mit Behinderungen unter bestimmten Umständen eine Vorzugsbehandlung einräumt; ferner muss die Reichweite bei den Fragen Sozialschutz, Gesundheit und Bildung festgelegt werden, etwa, dass getrennter Schulunterricht diskriminierend ist; die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen muss ganz allgemein gelten. Die angemessenen Vorkehrungen dazu müssen in allen Bereichen getroffen werden, und für ihre Verwirklichung sollten staatliche Anreize geboten werden. Die Zugänglichkeit muss sich auch auf alle Güter und Dienstleistungen erstrecken, die öffentlich angeboten werden. Schließlich müssen die diesbezüglichen Pflichten der EU stärker in die Tat umgesetzt werden und die entsprechenden Vorschriften für neue Gebäude umgehend gelten sowie für bereits bestehende Gebäude realistische Vorgaben gemacht werden.

3.6.3   (iii) Geeignete Finanzierung für den Europäischen Pakt für Menschen mit Behinderungen

3.6.3.1

Der Ausschuss erinnert daran, dass die Bestimmungen der allgemeinen Strukturfondsverordnung über die Nichtdiskriminierung und den Zugang von Menschen mit Behinderungen als Kriterien zur Auswahl und Durchführung von EU-kofinanzierten Projekten (22) in der künftigen Kohäsionspolitik beibehalten und verschärft werden müssen. Die künftige Kohäsionspolitik muss mit entsprechender finanzieller Ausstattung Maßnahmen zugunsten und seitens der Gesamtheit der Menschen mit Behinderungen in sämtlichen Mitgliedstaaten gewährleisten. Diese Grundsätze müssen sich auch auf den EU-Haushalt und andere europäische Programme in den Bereichen Forschung, Wettbewerb, Bildung, Beschäftigung, Soziales, Entwicklungszusammenarbeit und die neuen Programme ab 2014 erstrecken.

3.6.3.2

Der Ausschuss stellt fest, dass die Einbindung der Zivilgesellschaft in die unmittelbare Verwaltung des ESF (in den Bereichen Bildung und Beschäftigung) und des EFRE zu äußerst positiven Ergebnissen geführt hat, und regt an, dieses Modell ab 2013 auch auf die operationellen Programme der Strukturfonds anzuwenden.

3.6.3.3

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass durch die Beibehaltung der finanziellen Unterstützung für europäische Behindertenorganisationen wie etwa das Europäische Behindertenforum oder Einrichtungen für die soziale Integration durch das Progress-Programm die Demokratie in der EU und die organisierte Zivilgesellschaft gestärkt wird.

4.   Die EU und die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen

4.1

Das Thema Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen muss in die Europäische Beschäftigungsstrategie aufgenommen werden. Die Lage der Beschäftigten in Europa ist schwierig, aber diejenige der Arbeitnehmer mit Behinderung noch weitaus mehr; deshalb muss unbedingt ein Arbeitsmarkt gefördert werden, der alle Personen integriert.

4.2

Der Ausschuss ist über die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderungen besorgt. Bereits vor der Krise hatten 78 % der Menschen mit einer starken Behinderung keinen Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Nichterwerbstätigkeit war bei ihnen doppelt so hoch wie bei der übrigen Bevölkerung, und ihre Beschäftigungsquote hielt sich bei 20 % unter dem Durchschnitt der Menschen ohne Behinderung (23).

4.3

Aufgrund der Krise (die zu einer Arbeitslosenquote in der EU von 10 % (24) geführt hat) verschlechtert sich für Menschen mit Behinderungen die Situation auf dem Arbeitsmarkt in zweierlei Hinsicht weiter: Erstens wird der Zugang zum Arbeitsmarkt noch schwieriger werden (25), und zweitens werden die Regierungen tendenziell dazu übergehen, ihre öffentlichen Defizite durch eine Kürzung aller Arten von Unterstützungsleistungen und Rentenzahlungen in den Griff zu bekommen. Der Ausschuss weist darauf hin, dass die Menschen mit Behinderungen nicht die hauptsächlichen Opfer der Krise sein dürfen, und spricht sich gegen eine Kürzung der entsprechenden Leistungen aus (26).

4.4

Es besteht die Gefahr, dass die Krise zu einer Erhöhung des Armutsrisikos für Menschen mit Behinderungen und ihre Familien führt. Andererseits könnte die Krise aber auch eine Chance zur Entwicklung einer integrativeren Wirtschaftstätigkeit darstellen, die Anreize bietet und die Produktivität der Unternehmen erhöht, was zu einer Verbesserung der gesamten Wirtschaft beitragen würde.

4.5

Der Ausschuss bekräftigt, dass die Förderung der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen zu den wichtigsten Zielen der europäischen Beschäftigungsstrategie gehören muss, und fordert, ein Ziel in die beschäftigungspolitischen Leitlinien aufzunehmen, das die Schlussfolgerung 34 der Frühjahrstagung des Europäischen Rates von 2006 aufgreift (27): „Ein zentrales Ziel ist die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung insbesondere von […] Menschen mit Behinderungen […]. Damit diese Ziele erreicht werden, sollte eng mit den Sozialpartnern zusammengearbeitet werden.“ Es ist ein Maßnahmenkatalog aufzustellen, den die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Plänen berücksichtigen müssen.

4.6

Die Sozialpartner spielen durch ihre Tarifverhandlungen auf allen Ebenen eine entscheidende Rolle für den Zugang der Menschen mit Behinderungen zum Arbeitsmarkt und deren Eingliederung in die Unternehmen. Sie tragen ferner zur Entwicklung von Diversity-Maßnahmen bei und handeln in Abstimmung mit Arbeitgebern, denen Anreize für diesbezügliche Unterfangen geboten werden müssen, entsprechende Pläne aus. Zu deren Umsetzung könnten Maßnahmen im Rahmen der sozialen Verantwortung der Unternehmen entwickelt werden. Diesbezüglich begrüßt der Ausschuss, dass die europäischen Sozialpartner im Dezember 2009 ihre Verhandlungen über eine eigenständige neue Vereinbarung über integrative Arbeitsmärkte erfolgreich abgeschlossen haben.

4.7

Der Ausschuss erwartet die Vorlage eines Berichts über die Umsetzung der Bestimmungen aus der Richtlinie 2000/78/EG (28) über Behinderung und Beschäftigung innerhalb eines Jahres.

4.8

Der Ausschuss weist erneut darauf hin, dass Menschen mit Behinderungen genauso gut wie alle anderen Menschen über Fähigkeiten verfügen, die es ihnen ermöglichen, voll am Arbeitsleben teilzunehmen, und die nicht abgewertet, sondern gefördert werden sollten. Die Menschen mit Behinderungen haben das gleiche Recht auf Arbeit wie alle anderen Personen.

4.9

Der Ausschuss macht darauf aufmerksam, dass - nach einer Untersuchung von EUROFUND - wegen der Zunahme psychischer Gesundheitsprobleme diese Art von Behinderung der Hauptgrund für ein frühzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt ist, die in einigen Ländern fast 40 % der vorzeitigen Versetzungen in den Ruhestand ausmachen (29). Im Hinblick auf die Situation dieser Arbeitnehmer ist ein Umdenken und eine entsprechende Sensibilisierung der Bürger und Behörden erforderlich.

4.10

Der Ausschuss erinnert daran, dass zur Anerkennung dieser Kompetenzen Verfahren zur Zertifizierung der - über informelle Erfahrungen oder eine geregelte Ausbildung - erworbenen Kenntnisse vorhanden sein müssen. Daher spricht sich der Ausschuss für die Einführung eines „Qualifikationspasses“ (30) aus, der Menschen mit Behinderungen eine berufliche Mobilität innerhalb der EU ermöglicht.

4.11

Die beschäftigungspolitischen Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen müssen alle Umstände im Zusammenhang mit der Beschäftigung umfassen („lifestreaming“ (31) und somit die Aspekte Wohnung, schulische Grundbildung, Berufsausbildung, Überschuldung der Familien, finanzielle Probleme, Gesundheit, ungünstige Lebensverhältnisse und lokale Wirtschaft sowie Einstellung, Arbeitsplatzsicherung und Wiedereingliederung berücksichtigen.

4.12

Die Freizügigkeit (ein Prinzip der Gemeinschaft) ist für Menschen mit Behinderungen nicht gegeben. Dies beeinflusst ihre Möglichkeiten, aus Arbeitsgründen in andere Länder der EU zu ziehen, und betrifft auch ihre Optionen für Studium, Ruhestand und jede sonstige Tätigkeit.

4.13

Zu den Schranken für die Freizügigkeit gehört vor allem die Tatsache, dass Rechte, wie z.B. das Recht auf persönliche Betreuung, nicht „exportiert“ werden können. Sie könnten aber verwirklicht werden, wenn konkrete Maßnahmen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und europaweite Bildungs- und Sensibilisierungskampagnen durchgeführt würden.

4.14

Der EWSA erinnert daran, dass die „aktive Eingliederung“ eine Verbindung zum Arbeitsmarkt herstellen und hinreichende Lohneinkünfte sowie den Zugang zu qualitativ hochwertigen Dienstleistungen gewährleisten muss, die zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen auch im Falle von Arbeitslosigkeit führen (32).

4.15

Der EWSA erinnert daran, dass die Eingliederung in eine reguläre Beschäftigung Arbeitsvermittlungsdienste, berufliche Bildungsmaßnahmen, Sozial- und Gesundheitsdienste und die Sicherung und Verwaltung der Einkünfte sowie Anreizsysteme erforderlich macht (33).

4.16

Der EWSA setzt auf angemessene Sozialleistungen und Steuerregelungen in der Form, dass für Menschen mit Behinderungen die Eingliederung in den Arbeitsmarkt kein Kaufkraftverlust bedeutet und sie Anreize erhalten, um an hochwertigen Arbeitsplätzen bei gerechten Entgelten zu arbeiten; auch plädiert der EWSA für finanzielle Anreize, damit Unternehmen Behinderte einstellen, für betreute Arbeitsplätze auf dem regulären Arbeitsmarkt, für Existenzgründungen von Menschen mit Behinderungen und die Förderung ihres Unternehmergeistes, u.a. durch andere Formen der Kleinstkreditvergabe (34) und schließlich für NGO, die Betreuungsdienste für behinderte Arbeitnehmer und ihre Familien erbringen.

4.17

Es sind Maßnahmen zu treffen, mit denen Arbeitnehmer mit einer erworbenen Behinderung an ihren Arbeitsplatz gehalten oder dort wieder eingesetzt werden können, damit sie den Arbeitsmarkt nicht vorzeitig verlassen müssen; ferner müssen am Arbeitsplatz und seiner Umgebung angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen getroffen werden; schließlich müssen Berufsbildungs- und Fortbildungsprogramme für Menschen mit Behinderungen gewährleistet werden, die ihnen eine reguläre Berufslaufbahn ermöglichen (35). In Ländern, in denen Quotenregelungen bestehen, muss gewährleistet werden, dass durch angemessene Verfahren und Förderungen die Einstellungsquoten erfüllt werden. Die Aufnahme sozialer Kriterien in öffentliche Ausschreibungen kann ebenfalls zur Verbesserung der Beschäftigungslage von Menschen mit Behinderungen führen.

4.18

Der Ausschuss ist der Überzeugung, dass es mehr Vorteile bringt, anstatt Arbeitslosenleistungen Arbeitsplätze zu finanzieren und Anreize zu schaffen, damit Menschen mit Behinderungen eine Arbeitsstelle suchen, oder damit Unternehmer Behinderte einstellen und schließlich auch Anreize für Existenzgründungen von Menschen mit Behinderungen.

4.19

Der Ausschuss setzt auf Maßnahmen für jugendliche Behinderte, darunter auch vorschulische Bildung, und solche zugunsten ihres Übergangs von der Ausbildung zum ersten Arbeitsplatz, wie auch auf Maßnahmen bei Fällen erworbener Behinderung, mit denen der Erhalt der Beschäftigung oder die berufliche Wiedereingliederung gewährleistet wird. Diese Gruppen müssen in der künftigen EU-Strategie 2020 Vorrang erhalten und Gegenstand der Überarbeitung der Kommissions-Strategie für Menschen mit Behinderungen werden. Der EWSA erinnert an seine Stellungnahme SOC/349, in der darauf hingewiesen wird, dass eine Strategie nicht nur für Jugendliche, sondern auch mit ihnen entwickelt werden muss (36).

4.20

Der EWSA erkennt die Rolle derjenigen Unternehmen an, die mehrheitlich Menschen mit Behinderungen einstellen, und solcher, die in diesem Bereich aktiver tätig sind, sowie generell solcher Unternehmen der Sozialwirtschaft wie etwa Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften, Vereine und Stiftungen, die die soziale Integration der Menschen mit Behinderungen und ihre Beteiligung am Arbeitsmarkt mit denselben Arbeitsrechten fördern und ihnen die Sonderbetreuung zukommen lassen, die von den einzelnen Mitgliedstaaten festgesetzt wird.

4.21

Der EWSA betont die Förderung der KMU zugunsten der Entwicklung einer integrativen Dimension ihrer Arbeitsplätze und der Entfaltung ihrer wichtigen Rolle bei der Sicherstellung von effizienten Maßnahmen zu Gunsten der Einstellung von Menschen mit Behinderungen.

4.22

Die Institutionen und Einrichtungen der Union und der Mitgliedstaaten müssen sich über die Lage im Klaren werden und bei der Einstellung von behinderten Arbeitnehmern mit gutem Beispiel vorangehen, indem sie Pläne für konkrete Maßnahmen entwickeln, mit denen die gegenwärtige, generell sehr niedrige Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderungen unter ihren Bediensteten erhöht werden kann.

4.23

Der EWSA weist auf das für Menschen mit Behinderungen wichtige Konzept der Flexicurity hin, das heißt, der verbesserten Flexibilisierung und Anpassungsfähigkeit der Beschäftigten in den Unternehmen, die Hand in Hand mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Sicherheit am Arbeitsplatz einhergeht. Eine solche Strategie muss die Vereinbarkeit des Berufs- und Privatlebens, lebenslanges Lernen und leichtere Wechsel zwischen verschiedenen Lebenslagen, Sozialbeihilfen und Arbeitsplätzen im Lebenszyklus behinderter Personen gewährleisten.

4.24

Der EWSA befürwortet die Erschließung neuer Arbeitsplätze in den Bereichen Umwelt und Sozialarbeit und die Förderung der Barrierefreiheit und des „Design für alle“, was Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen bietet.

4.25

Der EWSA plädiert für die Förderung von Arbeitnehmern mit Behinderungen, die Hilfen benötigen, wie auch für die nötigen Dienstleistungen für Familienangehörige der Menschen mit Behinderungen, damit jene weiterhin erwerbstätig bleiben können.

4.26

Sensibilisierungsmaßnahmen wirken den Klischees bezüglich behinderter Arbeitnehmer entgegen (37); sie müssen sich an die Sozialpartner, Geschäftsführer, leitenden Angestellten und sonstigen Beschäftigten wie auch an die Mitarbeiter im Gesundheitswesen und in den Behörden richten (38).

4.27

Die genannten Förderinstrumente müssen für die Unternehmen und Arbeitnehmer leicht anwendbar sein und von den öffentlichen Stellen wirksam propagiert und eingesetzt werden.

4.28

Hervorzuheben ist die entscheidende Rolle der Medien als zentrale Träger von Sensibilisierungsmaßnahmen und der Propagierung der Prinzipien der Toleranz, der gesellschaftlichen Integration und der Akzeptanz der Vielfalt der europäischen Gesellschaft.

4.29

Der EWSA unterstützt die Entwicklung von Neuerungen wie etwa den bereits erwähnten „Kompetenzausweis“ oder das „lifestreaming“ und weist auf weitere Beispiele hin:

4.29.1

Das Modell für die Dienstleistung „job coaching“, eine kontinuierliche Unterstützung im regulären Arbeitsumfeld mit Betreuung und Patenschaft;

4.29.2

Einrichtung eines Systems der Anerkennung früher erworbener Kenntnisse (39), durch das der fortschreitende Erwerb von Berufserfahrungen dokumentiert wird;

4.29.3

Betreuung während des Arbeitslebens in öffentlichen Unternehmen und Verwaltungen;

4.29.4

Verwendung neuer Technologien wie etwa audiovisueller didaktischer Materialien („Videotutorials“) (40). und allgemein Ausstattung mit unterstützenden Technologien und Gewährleistung des Zugangs zu allgemeinen Technologien am Arbeitsplatz;

4.29.5

Entwicklung eines Modells für „Disability Management“ (41). im Rahmen der allgemeinen Diversity-Maßnahmen in Unternehmen.

5.   Barrierefreiheit für Personen mit Behinderung

5.1

Der EWSA erinnert an die Entschließung des EU-Rats vom 17. März 2008, in der es heißt: „Eine derartige Zugänglichkeit stellt fraglos einen der Ecksteine einer integrativen, auf dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung beruhenden Gesellschaft dar“  (42). Hierbei spielen die Sozialpartner eine entscheidende Rolle, da die Zugänglichkeit eine Voraussetzung für eine Beschäftigung ist.

5.2

Der EWSA bekräftigt seine Sondierungsstellungnahme (43) zum Thema Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen, in der er betont, dass Menschen mit Behinderungen dieselben Rechte wie andere Bürger haben, aber verschiedene Bedürfnisse und anderen Zugang zu Dienstleistungen und Waren.

5.3

Der EWSA empfiehlt eine schrittweise Einführung gemeinsamer kurz-, mittel- und langfristiger Ziele (mit einer eindeutigen und verbindlichen Frist für neue und vorhandene Waren, Dienstleistungen und Infrastrukturen), die die Mitgliedstaaten verpflichten, dafür u.a. die Möglichkeiten der öffentlichen Ausschreibung zu nutzen.

5.4

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass für die unmittelbare Wahrnehmung der politischen und bürgerlichen Rechte Zugänglichkeit unerlässlich ist, weshalb besondere Pläne mit Normen und Sanktionen für die Barrierefreiheit entwickelt werden müssen, die für alle Behörden verbindlich sind; ferner müssen Menschen mit Behinderungen ihre Rechte einklagen können. So dürfen keine EP-Wahlen mehr ohne eine garantierte Barrierefreiheit der Wahllokale und ohne signifikanten Anteil von Menschen mit Behinderungen unter den Kandidaten stattfinden; dazu müssen in den Mitgliedstaaten die entsprechenden Maßnahmen getroffen werden.

5.5

Der EWSA weist auf die Bemühungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission um eine Gewährleistung der Zugänglichkeit hin; Ziel muss ein vollständig behindertengerechter Zugang sein (zu öffentlichen Gebäuden, Gebäuden von öffentlichem Interesse, Privatunternehmen, Waren und Dienstleistungen, Reisemöglichkeiten, zum elektronischen Handel, zu Informationen, Verkehrsmitteln, zu Technologie und Kommunikation).

5.6

Der EWSA bekräftigt, dass eine solche Zugänglichkeit für alle von Nutzen ist (ältere Menschen, Schwangere, Gehbehinderte usw.). Firmen, die leichter zugänglich sind, würden zusätzliche Kundschaft erhalten (15 % der Verbraucher). Neue Produkte eröffnen neue Märkte und sind eine Quelle für nachhaltiges Wirtschaftswachstum.

5.7

Darüber hinaus weist der EWSA darauf hin, dass das Eintreten für Barrierefreiheit auch ein Engagement für die Grundrechte der europäischen Bürger ist, wie er bereits in seiner Stellungnahme zum Thema eAccessibility  (44) erklärt hat.

5.8

Der EWSA erinnert die Europäischen Institutionen und insbesondere die Kommission daran, dass der Zugang zu ihren Gebäuden und elektronischen Informationssystemen (z.B. zu ihren Internetportalen, zu den Seiten für öffentliche Auskünfte der Kommission) eingeschränkt ist. Es wäre also ein Plan für die Zugänglichkeit aufzustellen, der von einem echten Engagement für Menschen mit Behinderungen zeugt (45).

5.9

Der EWSA fordert staatliche Hilfen (46) für Unternehmen und private Dienste, damit sie die angemessenen Vorkehrungen gemäß Richtlinie 2000/78 treffen können (47). Dabei sollte die Verwirklichung des Grundsatzes des präventiven Zugangs bei den privaten Dienstleistungen beginnen.

5.10

Als flankierende Maßnahme zur Verbesserung der Rechtsvorschriften für öffentliche Aufträge nach dem erfolgreichen Beispiel aus den USA muss mit der Entwicklung von Normen für die Barrierefreiheit fortgefahren werden. Der EWSA erinnert daran, dass für die Festlegung solcher Normen der Dialog zwischen den Institutionen, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft unerlässlich ist (48).

5.11

Der Ausschuss unterstützt die Initiative Europäische Hauptstadt der allgemeinen Barrierefreiheit, wonach europäische Städte und Regionen als Anerkennung für ihre Bemühungen um die Zugänglichkeit zu allen Einrichtungen, Waren und Dienstleistungen und für die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung der örtlichen Behörden ein Banner erhalten.

5.12

Der Ausschuss hofft, dass in den neuen Bestimmungen zur Beförderung per Seeschiff, öffentlichem Nahverkehr, Bus und Taxi die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen berücksichtigt werden und alle Transportmittel und zugehörige Infrastruktur nach dem Vorbild der geltenden Regelungen im Luft- und Bahnverkehr entsprechend angepasst werden.

5.13

Der EWSA begrüßt die Mitteilung der Kommission zum Thema e-Accessibility (49) und fordert die EU auf, die darin vorgeschlagenen Maßnahmen als strategische europäische Zielmarke für die Informationsgesellschaft aufzustellen. Es sind dringend Rechtsvorschriften zur e-Accessibility bezüglich der Zugänglichkeit zum Internet, der integrativen Kommunikation, Telekommunikationsdienste, Mobiltelefone, Computertechnologie, Bankautomaten usw. vorzulegen. Diese Ziele waren bereits 2003 in der Ministererklärung von Kreta (50) und der Erklärung von Riga vorgestellt worden. Gegenwärtig gibt es allerdings berechtigte Zweifel, dass sie sich innerhalb der festgelegten Fristen verwirklichen lassen, weshalb der EWSA fordert, noch vor 2011 einen ehrgeizigen Aktionsplan zur Erreichung dieser Ziele aufzustellen.

5.14

Der EWSA bekräftigt sein Engagement für den Grundsatz „Design für alle“ und hält eine Aufnahme dieses Konzepts sowohl in die Berufsausbildungen als auch die Universitätsausbildung für ausschlaggebend, damit es von allen Berufsgruppen angewandt wird.

5.15

Der EWSA befürwortet die Entwicklung eines „Europäischen Behindertenausweises“, der nach dem Beispiel des europäischen Parkausweises die gegenseitige Anerkennung der Rechte von Menschen mit Behinderungen bei Fahrten ins Ausland mit demselben Zugang zu Verkehrsmitteln, Kultur- und Freizeitveranstaltungen gewährt.

6.   Geschlechtszugehörigkeit und Behinderung

6.1

Der EWSA stellt fest, dass in Europa 60 % der Menschen mit Behinderungen Frauen sind, die zudem Opfer der Ungleichbehandlung sind, indem sie nicht nur hinsichtlich ihrer Rechte diskriminiert werden, sondern auch beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen (u.a. Gesundheitsversorgung, Bildung, Schutz vor Gewalt gegen Frauen).

6.2

In den letzten zehn Jahren ist die Beschäftigungsquote von Frauen mit Behinderung gleich geblieben; ein hoher Anteil unter ihnen ist nicht berufstätig oder arbeitslos, sie werden schlechter bezahlt und sie haben noch größere Schwierigkeiten, im Arbeitsmarkt unterzukommen.

6.3

Bei der Konzeption, Entwicklung, Verfolgung und Bewertung der Maßnahmen für Behinderte muss stets der Geschlechtsaspekt thematisiert werden. Es sind besondere Maßnahmen und Aktionen zu treffen, um den Zugang zu Arbeitplätzen zu gewährleisten und die Einstellung von Frauen zu fördern.

7.   Sozialer Dialog und Behinderung

7.1

Der EWSA ruft die Sozialpartner dazu auf, dafür Sorge zu tragen, dass Menschen mit Behinderungen unter den gleichen - und angemessenen und gerechten - Bedingungen wie andere Arbeitnehmer beschäftigt werden, und insbesondere auch die gleichen Aufstiegschancen und gleiches Entgelt für gleiche Arbeit erhalten und ihre Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte wahrnehmen können; er ermuntert die Menschen mit Behinderungen, in Berufsverbänden und Gewerkschaften mitzuwirken, und fordert ferner, dass auch für Arbeiten im Unterauftrag dieselben Arbeitsbedingungen gelten (51) (Artikel 27 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung).

7.2

Für die Wahrnehmung der Rechte und der Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen und ihre Nichtdiskriminierung ist der soziale Dialog bezüglich Beschäftigung, Sozialversicherung, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie anderer Zusammenhänge und der Arbeitsbeziehungen im Allgemeinen von grundlegender Bedeutung; ebenso für die Verwirklichung von konkreten Maßnahmen zugunsten der Beschäftigung und der Zugänglichkeit, bei der Aus- und Fortbildung, Förderung und Betreuung von Arbeitnehmern mit Behinderungen.

7.3

Die Sozialpartner müssen in Zusammenarbeit mit den Behindertenorganisationen den Aspekt Behinderung in allen ihren Maßnahmen und branchenübergreifenden sowie branchen- und unternehmensbezogenen Verhandlungen berücksichtigen, insbesondere was die Beschäftigung, die Barrierefreiheit und den Sozialschutz angeht.

7.4

Die Sozialpartner sollten in Bezug auf die Arbeitsbeziehungen und den Sozialschutz an der Weiterentwicklung und Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung mitwirken.

8.   Mitwirkung und „Ziviler Dialog“

8.1

Der EWSA unterstützt den Grundsatz „Für Personen mit Behinderungen nichts ohne ihre Mitwirkung“ (52) und setzt auf Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Mitsprache- und Mitwirkungsrechte und der eigenen Wahrnehmung ihrer Rechte („self-advocacy“).

8.2

Der EWSA betrachtet den zivilen Dialog mit Behindertenverbänden als den angemessenen Rahmen für die Verbesserung des Regierungshandelns in der Europäischen Union, bei dem Verfahren und verbindliche Protokolle festgelegt und in der EU Ad-hoc-Organe für die Mitwirkung und Konsultation geschaffen werden.

8.3

Die Behindertenorganisationen müssen an den regelmäßigen Berichten mitwirken, in denen die Maßnahmen zugunsten der Beschäftigung und Barrierefreiheit bewertet werden, an der Umsetzung der UN-Konvention und an den Programmen und Finanzierungsinstrumenten der Kommission, um etwa durch alternative Gutachten die Sichtweise der Zivilgesellschaft einzubringen.

8.4

Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten müssen die Förderung und Finanzierung der Entwicklung der Zivilgesellschaft sicherstellen und damit deren Unabhängigkeit und Mitwirkung an der Konzipierung politischer Maßnahmen und der Bereitstellung sozialer Dienste gewährleisten.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 241 vom 7.10.2002, S. 89.

(2)  Stellungnahmen des EWSA: ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 19; ABl. C 10 vom 15.1.2008, S. 80; ABl. C 93 vom 27.4.2007, S. 32, ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 102; ABl. C 185 vom 8.8.2006, S.46; ABl. C 88 vom 11.4.2006, S. 22; ABl. C 110 vom 9.5.2006, S. 26; ABl. C 24 vom 31.1.2006, S. 15; ABl. C 110 vom 30.4.2004, S. 26; ABl. C 133 vom 6.6.2003, S. 50; ABl. C 36 vom 8.2.2002, S. 72.

(3)  http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/microdata/eu_silc

(4)  Richtlinie des Rates 2000/78/EG vom 27. November 2000 - Verordnung des Rates (EG) Nr. 1083/2006 vom 11. Juli 2006; Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 [Amtsblatt L 204 vom 26.7.2006] und das Telekommunikationspaket KOM(2007) 697 endg. – COD 2007/0247.

(5)  Mitteilung der Kommission - Sozialpolitische Agenda KOM(2005) 33 endg. und Mitteilung der Kommission Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen: Ein Europäischer Aktionsplan, KOM(2003) 650 endg.

(6)  http://antiguo.cermi.es/graficos/declaracion-madrid.asp

(7)  http://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=3784&langId=de

(8)  Eurobarometer: Diskriminierung in der EU im Jahr 2009 (auf der Grundlage von Befragungen zwischen dem 29. Mai und dem 14. Juni 2009)

(9)  KOM(2009) 647 endg.

(10)  Entschließung des Rates (2008/ C 75/01)

(11)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 93 vom 27.4.2007

http://w3.bcn.es/fitxers/baccessible/greugecomparatiueconmic.683.pdf.

http://www.feaps.org/actualidad/23_04_09/ultima_hora/sobreesfuerzo_15_04_09.pdf

(12)  KOM(2009) 58 endg.

(13)  KOM(2009) 647 endg.

(14)  Gregorio RODRÍGUEZ CAMPO, Carlos GARCÍA SERRANO und Luis TOHARIA: „Evaluación de las políticas de empleo para las personas con discapacidad y formulación y coste económico de nuevas propuestas de integración laboral“ [„Bewertung der Beschäftigungspolitik für Menschen mit Behinderungen und Konzipierung sowie ökonomische Kosten neuer Vorschläge zur Integration in den Arbeitsmarkt“], Colección Telefónica Accessible no. 9, Ediciones Cinca, April 2009 - ISBN: 978-84-96889-48-4. Madrid, Spanien.

(15)  Entschließung des Rates (2008/ C 75/01)

(16)  http://cms.horus.be/files/99909/MediaArchive/EDF%20declaration%20on%20girls%20and%20women%20with%20disabilities.doc

(17)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 10, 15.1.2008, S. 80.

(18)  Beschluss des Rates 15540/09 vom 24. November 2009.

(19)  http://cms.horus.be/files/99909/MediaArchive/library/EDF_contribution_OHCHR_contribution_national_frameworks_for_implementation_CRPD(final).doc

(20)  http://www.efc.be/Networking/InterestGroupsAndFora/Disability/Pages/TheEuropeanConsortiumofFoundationsonHumanRightsandDisability.aspx

(21)  Vorschlag für eine Richtlinie des Rates (KOM(2008) 426 endg., 2. Juli 2008.

(22)  http://www.observatoriodeladiscapacidad.es/?q=es/informacion/agenda/18112009/presentaci_n_de_innet16_european_inclusion_network_lanzamiento_del_obser

(23)  Statistik kurz gefasst, Thema 3: Beschäftigung behinderter Menschen in Europa 2002, Eurostat 26/2003.

http://epp.eurostat.ec.europa.eu/cache/ITY_OFFPUB/KS-NK-03-026/DE/KS-NK-03-026-DE.PDF

(24)  Statisches Amt der Europäischen Union (Eurostat) - Januar 2010.

(25)  Eurobarometer,: Diskriminierung in der EU im Jahr 2009 und Stellungnahme des EWSA, ABl. C 265 vom 27.10.2007, S. 102.

(26)  http://www.cermi.es/NR/rdonlyres/6487C9F8-F423-493B-83B8-562CB09201B8/30184/EstudioCERMICrisisyDiscapacidad.doc

www.cermi.es

(27)  Schlussfolgerungen des Rates vom 23./24. März 2006.

(28)  Richtlinie des Rates 2000/78.

(29)  Untersuchung der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen auf der Grundlage von Daten der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (2007) http://www.gbe-bund.de/gbe10/pkg_isgbe5.prc_isgbe?p_uid=gastd&p_sprache=D

(30)  Europäischer Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP), http://www.ceep.eu

(31)  Europäischer Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP), http://www.ceep.eu

(32)  Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen.

(33)  Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen.

(34)  http://ec.europa.eu/social/main.jsp?langId=de&catId=89&newsId=547

(35)  Leitlinien zur Schaffung einer integrativen Gesellschaft: generelle Berücksichtigung von Menschen mit Behinderung am Beispiel der Sozialwirtschaft

http://www.socialeconomy.eu.org/IMG/pdf/Guide_on_Disability_Mainstreaming_and_Social_Economy.pdf.

(36)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 113.

(37)  http://www.fundaciononce.es

(38)  Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen http://www.eurofound.europa.eu/.

(39)  Europäischer Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP), http://www.ceep.eu.

(40)  Europäischer Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP), http://www.ceep.eu

(41)  Europäischer Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP), http://www.ceep.eu

(42)  Entschließung des Rates (2008/ C 75/01).

(43)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 93 vom 27.4.2007, S. 32.

(44)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 110 vom 9.5.2006, S. 26 und Entschließung des Rates vom 6. Februar 2003 (ABl. C 39, 2003, S.5).

(45)  KOM(2007) 501 endg.

(46)  Artikel 41 und 42 der Verordnung der Kommission (EG) Nr. 800/2008 vom 6. August 2008.

(47)  Richtlinie des Rates 2000/78 vom 27. November 2000.

(48)  http://ec.europa.eu/information_society/activities/einclusion/archive/deploy/pubproc/eso-m376/index_en.htm

http://cms.horus.be/files/99909/MediaArchive/M420%20Mandate%20Access%20Built%20Environment.pdf

(49)  KOM(2005) 425 endg., KOM(2008) 804 endg.

(50)  Ministererklärung zur digitalen Integration: Minister für Verkehr und Kommunikation der Europäischen Union, April 2003.

(51)  Artikel 27 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung.

(52)  Slogan des Europäischen Behindertenforums EDF, Generalversammlung 2009.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/16


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Integration von Arbeitsmigranten“ (Sondierungsstellungnahme)

2010/C 354/03

Berichterstatter: Luis Miguel PARIZA CASTAÑOS

Mit Schreiben vom 23. Juli 2009 ersuchte der spanische Staatssekretär für die Europäische Union beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und Zusammenarbeit, Diego LÓPEZ GARRIDO, im Namen des künftigen spanischen Ratsvorsitzes den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um die Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zum Thema

„Integration von Arbeitsmigranten“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 23. Februar 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) mit 138 gegen 5 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Vorschläge

1.1   Der EWSA stellt den europäischen Mehrwert der Beschäftigungs-, Einwanderungs- und Integrationspolitik heraus. Rein nationale Maßnahmen greifen nicht, weshalb der europäische Sockel dieser Politiken ausgebaut werden muss.

1.2   Arbeitsmigrantinnen und -migranten leisten einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung und zum Wohlstand in Europa. Aufgrund der demografischen Situation muss die EU künftig mehr neue Einwanderer aufnehmen.

1.3   Sowohl im Hinblick auf die wirtschaftliche Effizienz als auch auf den sozialen Zusammenhalt sind Verbesserungen in den Integrationsprozessen notwendig. Die Beschäftigung ist ein eine wesentliche Komponente der Integration.

1.4   Integration ist ein gegenseitiger gesellschaftlicher Prozess der reziproken Anpassung, der durch gute Verwaltung und Gesetzgebung unterstützt werden muss. Der EWSA fordert den Rat auf, eine Rahmenrichtlinie anzunehmen, die ein gemeinsames System von Rechten für alle Arbeitsmigranten gewährleistet und für bessere Rechtsvorschriften zur Verhinderung von Diskriminierungen sorgt.

1.5   Die Integration am Arbeitsplatz zu Bedingungen der Chancengleichheit und Gleichbehandlung ist ebenfalls eine Herausforderung für die Sozialpartner und muss von diesen bei den Tarifverhandlungen und im Rahmen des sozialen Dialogs - auch auf europäischer Ebene - gefördert werden. Die Arbeitsmigrantinnen und -migranten müssen eine positive Einstellung zur Integration haben.

1.6   Die Unternehmen sind in einem immer vielfältigeren Umfeld tätig. Sie sollten im Hinblick auf die kulturelle Vielfalt einen positiven Ansatz verfolgen, um die Integration zu verbessern und zugleich ihre Chancen auszubauen.

1.7   Der EWSA schlägt der Kommission vor, den Ausschuss um eine Sondierungsstellungnahme bezüglich der Einrichtung einer europäischen Plattform für den Dialog über die Steuerung der Arbeitsmigration zu ersuchen. Die Schaffung dieser Plattform ist im Stockholmer Programm vorgesehen.

2.   Gegenstand der Stellungnahme

2.1   Der spanische Ratsvorsitz hat den EWSA um Ausarbeitung einer Sondierungsstellungnahme ersucht, die eine Verbesserung der Integration der Arbeitsmigranten in der EU zum Gegenstand hat. Der Ausschuss wird sich daher in seiner Stellungnahme mit der Beschäftigungsintegration von Arbeitsmigranten und mit anderen unmittelbar oder mittelbar mit dem Arbeitsmarkt zusammenhängenden Aspekten beschäftigen.

2.2   Auf allgemeine Fragen der Einwanderungs- und Integrationspolitik wird nur insoweit eingegangen, wie sie direkt mit dieser Stellungnahme zusammenhängen. Der Ausschuss hat eine ganze Reihe von Stellungnahmen zur Integrationsthematik vorgelegt (1), die einen allgemeineren Ansatz verfolgten, und eine Initiativstellungnahme zur stärkeren Berücksichtigung der Integration in der neuen sozialpolitischen Agenda der EU im Hinblick auf die Themen allgemeine und berufliche Bildung, Geschlechtergleichstellung, Gesundheitsfürsorge, Wohnraum, Familien- und Jugendpolitik, Armut und soziale Ausgrenzung usw. erarbeitet.

2.3   Europa muss in der gemeinsamen Einwanderungspolitik den integrativen Ansatz stärken. Der Ausschuss hat eine ständige Studiengruppe „Einwanderung und Integration“ eingerichtet, die bei den Initiativen des Europäischen Integrationsforums mitwirken soll.

2.4   Der Vertrag von Lissabon bietet nunmehr eine solidere Rechtsgrundlage (2) für Maßnahmen der EU, „mit denen die Bemühungen der Mitgliedstaaten um die Integration der sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhaltenden Drittstaatsangehörigen gefördert und unterstützt werden“.

3.   Einwanderer leisten einen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung und zum Wohlstand in Europa

3.1   In den letzten Jahren hat Europa zahlreiche Menschen aufgenommen, die auf der Suche nach neuen Chancen aus Drittländern eingewandert sind. Die von vielen europäischen Regierungen praktizierte restriktive Politik beschränkt jedoch die Möglichkeiten der Unternehmen, Arbeitsmigranten legal einzustellen.

3.2   Die Europäische Kommission stellte in ihrem Bericht über die Beschäftigung in Europa 2008 (3) Folgendes fest: „Seit 2000 haben die Einwanderer einen wichtigen Beitrag zum EU-weiten Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum geleistet, indem sie Arbeitskräfte- und Qualifikationslücken füllten und die Arbeitsmarktflexibilität erhöhten“.

3.2.1   Im Gemeinsamen Beschäftigungsbericht 2009/2010 (4) konstatierte die Kommission, dass es in der EU trotz der Beschäftigungskrise in einigen Ländern und für bestimmte Fachkräfte nach wie vor einen Arbeitskräftemangel gibt. Die Kommission schlägt zudem verstärkte Bemühungen um die Integration von bereits in der EU lebenden Migranten vor, die die Krise besonders hart trifft. Überdies sollen die Unternehmen ermuntert werden, Mitarbeiter unterschiedlicher Herkunft zu beschäftigen und sog. Chartas für Vielfalt umzusetzen.

3.3   21 % des seit 2000 in der EU erreichten BIP-Wachstums und 25 % der in dieser Zeit neu geschaffenen Arbeitsplätze wurden durch den Beitrag der Einwanderer ermöglicht, wobei es in einigen Wirtschaftszweigen zu einer Stagnation oder zu einem gebremsten Wachstum gekommen wäre, hätten nicht Arbeitsmigrantinnen und -migranten einen Großteil dieser Arbeitsplätze besetzt.

3.4   Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die für die Beschäftigung von Staatsangehörigen der neuen Mitgliedstaaten bestehenden Beschränkungen in mehreren Ländern aufgehoben wurden (Vereinigtes Königreich, Irland, Schweden usw.).

3.5   Der Ausschuss möchte die Bedeutung des Unternehmergeistes vieler Einwanderer herausstellen, die Unternehmen in Europa gründen und dadurch zu mehr Beschäftigung und Wohlstand beitragen, obgleich die Einwanderungsgesetze kaum überwindbare Hürden darstellen.

3.6   Die Einwanderung in die einzelnen Mitgliedstaaten der EU ist unterschiedlich stark, wobei allerdings in den Ländern, die mehr Migranten aufnehmen, ein größeres Wachstum von Wirtschaft und Beschäftigung zu beobachten ist. In einigen Mitgliedstaaten wie Spanien, dem Vereinigten Königreich, Irland, Italien und anderen Ländern ist dieses prozentuale Wachstum besonders hoch (5).

3.7   Die verstärkte Zuwanderung in die europäischen Gesellschaften verursacht auch neue Probleme und stellt den sozialen Zusammenhalt vor eine große Herausforderung. Die europäischen Gesellschaften stehen vor zahlreichen sozialen Problemen, die die Einwanderung mit sich bringt und die im Rahmen eines umfassenden Ansatzes angegangen werden müssen, wie der EWSA in den mehreren Stellungnahmen gefordert hat.

3.8   Nach Ansicht des Ausschusses machen viele dieser sozialen Probleme (Rassismus, Kriminalität, Gewalt gegen Frauen, Ausgrenzung, schulisches Versagen usw.) deutlich, dass die Integration verbessert werden muss. Oft sind die Behörden, insbesondere auf lokaler Ebene, mit diesen Problemen überfordert.

3.9   Mitunter wird durch eine bewusst übertriebene Medienberichterstattung über Einwanderungsprobleme Unruhe in der Bevölkerung gestiftet. Auch einige Politiker nutzen die Problematik in opportunistischer und unverantwortlicher Weise für ihre Zwecke.

3.10   Der Ausschuss stellt mit Besorgnis fest, dass sich Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in vielen Bereichen der Gesellschaft ausbreiten. Extremistische Parteien und Bewegungen nutzen einwanderungsspezifische Probleme, um in der Bevölkerung Ängste zu schüren und eine Politik der Intoleranz, Gewalt und Missachtung der Menschenrechte zu propagieren.

3.11   Rassenhass ist ein Straftatbestand, wird von den führenden Kräften in Politik und Gesellschaft jedoch häufig in unannehmbarer Weise toleriert. Die Polizei und Justiz, die Meinungsführer, Medien und die Politik müssen ihre Einstellung dazu ändern, den Rassismus entschiedener bekämpfen und stärker erzieherisch auf die Gesellschaft einwirken.

4.   Die Zuwanderung nach Europa wird zunehmen

4.1   Aus der demografischen Situation in der EU lässt sich folgern, dass wegen der Bevölkerungsalterung und niedrigen Geburtenrate in Zukunft zahlreiche Arbeitsmigrantinnen und –migranten für den Arbeitsmarkt benötigt werden. Den neuesten demografischen Prognosen von Eurostat zufolge wird die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ab dem Jahr 2012 sinken, selbst wenn man für dieses Jahrzehnt eine Zuwanderung von 1,5 Mio. Menschen pro Jahr annimmt. Nimmt die Einwanderung in den nächsten zehn Jahren nicht zu, wird sich die Gesamtbevölkerung im erwerbsfähigen Alter um 14 Mio. Menschen verringern.

4.2   Auf der anderen Seite wird die internationale Arbeitsmobilität mit Sicherheit weltweit zunehmen, da zahlreiche Menschen mangels würdiger Arbeitsmöglichkeiten in ihren Heimatländern gezwungen sind, auszuwandern. Ein Teil davon möchte nach Europa kommen, um dort neue berufliche und persönliche Chancen zu suchen.

4.3   Nach Auffassung des EWSA liegt eine große Chance darin, dass neue Zuwanderer ihre Migrationspläne in Europa verwirklichen wollen.

4.4   Nach Ansicht des Ausschusses bedarf es politischer Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Integration, damit die Arbeitsmigranten ihre Chancen bekommen und die europäischen Gesellschaften den sozialen Zusammenhalt verbessern können. Denn der Erfolg der Migration sowohl für die zugewanderten Arbeitnehmer als auch für die Aufnahmegesellschaft hängt davon ab, wie die Integration verläuft.

4.5   Die Wirtschaftskrise und der Anstieg der Arbeitslosigkeit treffen alle Bereiche der Gesellschaft, inländische Arbeitnehmer wie Zuwanderer. Den Arbeitsmarktdaten in Europa zufolge sind gering qualifizierte Arbeitsmigranten, die Beschäftigungen von minderer Qualität nachgehen, die ersten Opfer der Krise, wobei Migrantinnen am stärksten von der Arbeitslosigkeit betroffen sind.

4.6   Ungeachtet der derzeitigen Rezession und der Zunahme der Arbeitslosigkeit in Europa lassen die demografischen Untersuchungen darauf schließen, dass nach Überwindung der Krise und bei Wiedererreichen des Wirtschaftswachstums und Beschäftigungsniveaus der Beitrag neuer Zuwanderer notwendig sein wird, um den Bedarf der europäischen Arbeitsmärkte ergänzend zu decken, wobei es die Besonderheiten jedes Mitgliedstaats zu berücksichtigen gilt.

5.   EU-Rechtsvorschriften über die Aufnahme von Migranten - eine noch ausstehende Aufgabe

5.1   Die EU hat vor zehn Jahren den Weg hin zu einer gemeinsamen Einwanderungspolitik eingeschlagen, wobei die größten Schwierigkeiten in der Ausarbeitung von gemeinsamen Rechtsvorschriften über die Aufnahme neuer Zuwanderer liegen, da jeder Mitgliedstaat hier eigene Gesetze mit ganz unterschiedlichen Ansätzen hat.

5.2   Die politischen Maßnahmen und Rechtsvorschriften im Bereich Einwanderung und Arbeitserlaubnis hängen mit der Entwicklung der Arbeitsmärkte zusammen, weshalb die Sozialpartner aktiv an diesen Maßnahmen und Vorschriften mitwirken müssen. Die Achtung der Menschenrechte der Zuwanderer muss allerdings auch hier den Ausgangspunkt bilden.

5.3   Nach Ansicht des Ausschusses sollten Einwanderungsvorschriften die Integration erleichtern, wobei die Arbeitsmigranten dabei als neue Bürger, als Menschen mit Rechten angesehen werden müssen, die es zu schützen gilt, und nicht nur als Arbeitskräfte zur Deckung des Bedarfs der Arbeitsmärkte.

5.4   Die Sozialpartner müssen auf den verschiedenen Ebenen beteiligt werden. Der Ausschuss nimmt den Vorschlag der Kommission, eine europäische Plattform für den Dialog über die Steuerung der Arbeitsmigration einzurichten, an der sich die Sozialpartner beteiligen können, mit Interesse zur Kenntnis.

5.5   Der EWSA hat eine gemeinsame Einwanderungspolitik und harmonisierte Rechtsvorschriften vorgeschlagen, damit die Zuwanderer regulär nach Europa kommen, dort fair behandelt werden, ihre Grundrechte geschützt werden und die Integration verbessert wird.

5.6   Europa hat seine Zuwanderer jedoch nicht mit angemessenen Rechtsvorschriften und Maßnahmen empfangen, sondern in den meisten Ländern mit einer restriktiven Politik und einem erschwerenden Recht, weshalb viele Migranten irregulär eingewandert sind und sich gezwungen sehen, in der Schattenwirtschaft zu arbeiten. Nach Ansicht des Ausschusses sollte die EU neue Initiativen für die Überführung ungeregelter Arbeit in legale Beschäftigungsverhältnisse ergreifen.

5.7   Der EWSA ist auch der Auffassung, dass durch Erleichterungen bei der legalen Einwanderung die irreguläre Migration zurückgedrängt werden kann und damit die Gefahr, dass einige Migranten ohne geregelten Status Opfer krimineller Netze von Menschenhändlern und Schleppern werden. Das Stockholmer Programm umfasst neue Verpflichtungen der EU zur Bekämpfung dieser kriminellen Netze.

5.8   Die restriktive Politik wirkt sich nach Ansicht des EWSA sehr nachteilig auf die Integration aus, da sie die Zuwanderer als unwillkommene Menschen stigmatisiert, die nicht gut akzeptiert werden.

5.9   Mitunter ging diese Politik mit einem politischen und gesellschaftlichen Diskurs einher, der Zuwanderer kriminalisiert, ausgrenzt und Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung Vorschub leistet.

5.10   Der Rahmen ist vorgegeben vom Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl, der in den nächsten Jahren im Zuge des Programms von Stockholm ausgestaltet wird. Durch den Vertrag von Lissabon wird es voraussichtlich einfacher, im Rat Beschlüsse zu fassen, und auch das Mitentscheidungsverfahren mit dem Parlament wird die Harmonisierung der Rechtsvorschriften erleichtern.

5.11   Der EWSA hätte sich eine bereichsübergreifende horizontale Rechtsvorschrift gewünscht, doch Rat und Kommission haben sich für die Ausarbeitung sektorspezifischer Richtlinien entschieden. Die jüngst eingeführte Blue Card (6) soll die Aufnahme hochqualifizierter Arbeitskräfte ermöglichen. Die Kommission plant, in den nächsten Monaten weitere neue Richtlinienvorschläge auszuarbeiten.

5.12   Für den Ausschuss ist es von grundlegender Bedeutung, dass die EU angemessene Rechtsvorschriften über die Aufnahme von Migranten erlässt, denn die Integration hängt unmittelbar mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung zusammen. Aus diesem Grund hat der EWSA (7) den Kommissionsvorschlag für eine Rahmenrichtlinie über die Rechte der Arbeitsmigranten (8) (mit einer Reihe von Verbesserungsvorschlägen) begrüßt. Die derzeitige, dem Rat vorliegende Fassung verfolgt einen Ansatz, der für die Zivilgesellschaft und den Ausschuss unzureichend und nicht akzeptabel ist.

5.13   Der Rat sollte die Rahmenrichtlinie annehmen, um ein angemessenes System von Rechten für alle Arbeitsmigranten zu gewährleisten und Diskriminierungen zu verhindern. Der Ausschuss schlägt dem spanischen Vorsitz vor, der Debatte im Rat über die Rahmenrichtlinie eine neue Richtung zu geben, damit diese schnell angenommen wird, unter der Voraussetzung, dass darin EU-weit ein angemessenes System von gemeinsamen Rechten auf der Grundlage der Gleichbehandlung vorgesehen ist, was insbesondere für die beschäftigungsrelevanten und sozialen Rechte der Arbeitsmigranten gilt.

5.14   Der EWSA hat unlängst eine Initiativstellungnahme zur Wahrung der Grundrechte in den Einwanderungsvorschriften (9) verabschiedet, in der ein weiterentwickelter Rahmen von Rechten und Pflichten vorgeschlagen wird. Überdies ist eine Änderung der Richtlinie über die Familienzusammenführung notwendig.

6.   Arbeit als grundlegender Teil des Integrationsprozesses

6.1   Integration ist ein gegenseitiger gesellschaftlicher Prozess der reziproken Anpassung, an dem sowohl die Zuwanderer als auch die Aufnahmegesellschaft beteiligt sind. Dies ist das erste der gemeinsamen Grundprinzipien für die Integration, die 2004 vom Rat angenommen wurden.

6.2   Bei der Integration müssen die Behörden, Sozialpartner und Verbände energisch vorangehen. Die Politik kann diese gesellschaftlichen Prozesse fördern, und auch die aktive Beteiligung der Zivilgesellschaft ist von entscheidender Bedeutung. In einer anderen Stellungnahme (10) hat der EWSA die wichtige Rolle der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften hervorgehoben.

6.3   Auch die Arbeitsmigrantinnen und -migranten müssen eine positive Einstellung zur Integration haben und sich die Sprache, das Recht sowie die Sitten und Bräuche des Aufnahmelandes aneignen.

6.4   Der EWSA unterstützt engagiert und gemeinsam mit der Kommission die Tätigkeit des Europäischen Integrationsforums und möchte erneut hervorheben, dass es dabei auf die Beteiligung und Konsultation der zivilgesellschaftlichen Organisationen auf den verschiedenen Verwaltungs- und Regierungsebenen ankommt.

6.5   Die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund geht über den in dieser Stellungnahme behandelten Bereich der Beschäftigung hinaus, wobei ihr in der Familie, der Schule bzw. Universität, dem Leben im Ort, Dorf oder Kiez, den religiösen Einrichtungen, Sport- und Kulturvereinen usw. besondere Bedeutung zukommt.

6.6   Die Beschäftigung ist eine wesentliche Komponente des gesellschaftlichen Integrationsprozesses, denn eine Erwerbstätigkeit unter würdigen Arbeitsbedingungen ist von entscheidender Bedeutung dafür, dass die Einwanderer wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen können, und fördert zudem die sozialen Kontakte und das gegenseitige Verständnis von Migranten und Aufnahmegesellschaft.

6.7   Die Grundlage des sozialen Europas bildet die Arbeit, wobei die Integration wesentliche Voraussetzung dafür ist. Die europäischen Unternehmen sind dabei unerlässliche Partner; für sie ist Integration ein wichtiger Belang, für den sie sich engagieren.

6.8   Die Wirtschaftskrise und der Anstieg der Arbeitslosigkeit schwächen derzeit die Integrationsprozesse und verschärfen bestimmte Konflikte in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Der EWSA hält unter diesen Umständen vermehrte Integrationsbemühungen aller Beteiligten - Zuwanderer, Behörden, Sozialpartner und Zivilgesellschaft - für erforderlich.

6.9   Die nach Europa zugewanderten Arbeitnehmer müssen gerecht behandelt werden und genießen den Schutz der internationalen Menschenrechtskonventionen und der in den Übereinkommen der ILO verankerten Grundsätze und Rechte. In einer anderen Stellungnahme (11) hat der EWSA die Rechte und Pflichten von Arbeitsmigrantinnen und -migranten aufgezählt, die seiner Ansicht nach in den europäischen Rechtsvorschriften garantiert werden müssen.

6.10   Der EWSA ist der Auffassung, dass legislative und staatliche Maßnahmen durch die Mitwirkung der Sozialpartner ergänzt werden müssen, denn die Eingliederung in die Arbeitswelt ist auch eine Frage der sozialen Einstellung und des Engagements von Gewerkschaften und Arbeitgebern.

6.11   Die staatlichen Arbeitsagenturen sollten Programme einleiten, die den Einwanderern den Zugang zu einer Beschäftigung erleichtern. Dazu gehört eine einfachere Anerkennung beruflicher Qualifikationen, eine bessere und diskriminierungsfreie Sprach- und Berufsausbildung und eine angemessene Information über die Beschäftigungsverhältnisse im Aufnahmeland.

6.12   Den Gewerkschaften, Unternehmerverbänden, Migrantenvereinigungen und anderen Organisationen der Zivilgesellschaft kommt eine sehr wichtige Rolle zu, wenn es darum geht, die Informationen weiterzuleiten und den Einwanderern den Zugang zu einer Beschäftigung zu erleichtern.

6.13   Die meisten Unternehmen in Europa sind kleine und mittelständische Firmen; diese stellen auch die Mehrheit der Arbeitsplätze für Erwerbstätige - darunter Migranten - und sind daher der Ort, an dem sich die gesellschaftlichen Integrationsprozesse zum großen Teil vollziehen.

7.   Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung als Grundpfeiler der Integration

7.1   Wesentliche Bedeutung misst der EWSA der Frage bei, wie die Behörden und Unternehmen Arbeitsmigranten aufnehmen und behandeln, denn diese werden inländischen Arbeitnehmern gegenüber oft benachteiligt.

7.2   Die Situation ist in den einzelnen Mitgliedstaaten recht unterschiedlich, weil auch das Arbeitsrecht und die gesellschaftlichen Gepflogenheiten unterschiedlich sind. Allerdings haben in Europa viele Arbeitsmigranten Nachteile und Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche, wie die fehlende Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse. Zudem sprechen sie häufig die Sprache nicht und kennen auch die Gesetze, Gepflogenheiten und sozialen Einrichtungen nicht.

7.3   Wirksame Rechtsvorschriften zur Bekämpfung von Diskriminierungen bilden den Ausgangspunkt, doch gibt es auf nationaler Ebene nach wie vor Bestimmungen, die zwischen einheimischen und zugewanderten Arbeitnehmern unterscheiden, wobei letztere insbesondere aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit oder ethnischen oder kulturellen Herkunft direkt oder indirekt diskriminiert werden.

7.4   Die Gleichbehandlung und Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen bilden die Grundpfeiler der Integrationspolitik. Ausgehend von einem auf Gegenseitigkeit beruhenden Integrationskonzept hält es der Ausschuss für erforderlich, dass die Unternehmen, Gewerkschaften und Behörden den Arbeitsmigranten eine Gleichbehandlung angedeihen lassen und jede Form der Diskriminierung verhindern.

7.5   Arbeitgeber und zugewanderte Arbeitnehmer müssen das geltende Arbeitsrecht und die Tarifverträge in den jeweiligen Unternehmen oder Branchen gemäß den einzelstaatlichen Gesetzen und der jeweiligen Praxis einhalten. Der Ausschuss weist darauf hin, dass Rassismus und Diskriminierungen kriminelle Verhaltensweisen sind und auch in den Unternehmen im Rahmen des Arbeitsrechts verfolgt werden müssen.

7.6   Im Hinblick auf eine leichtere Integration in die Arbeitswelt müssen die Arbeitsmigrantinnen und -migranten über die arbeitsrechtlichen Gesetzesvorschriften und die Tarifverträge, die ihre Rechte und Pflichten am Arbeitsplatz regeln, informiert werden.

7.7   Eine integrative Politik und Gesellschaft erleichtert den Arbeitsmigranten die Wahrnehmung von Chancen und Programmen für die Integration, die die Behörden anbieten müssen, z.B. Kurse, um sich mit der Sprache, dem Recht und den Gepflogenheiten vertraut zu machen.

7.8   Die EU-Richtlinien zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (12) und zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (13) sind wesentliche Rechtsinstrumente zur Festlegung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Praktiken zur Bekämpfung von Diskriminierungen und zur Förderung der Integration in die Arbeitswelt.

7.9   Das Europäische Parlament hat unlängst eine Entschließung zu der neuen Antidiskriminierungsrichtlinie (14), die die bereits geltenden Richtlinien ergänzt, verabschiedet. Auch der EWSA nahm Stellung, unterstützte den Vorschlag der Kommission und empfahl, Mehrfachdiskriminierung zu berücksichtigen. Mit dieser neuen Richtlinie, deren Annahme noch aussteht, wird das Prinzip der Nichtdiskriminierung auf andere Bereiche wie Bildung, Gesundheitsfürsorge, soziale Sicherheit und Wohnraum ausgedehnt.

7.10   Nach Ansicht des EWSA wurden die Antidiskriminierungsrichtlinien nicht richtig in einzelstaatliches Recht umgesetzt, weshalb es in mehreren Mitgliedstaaten keine wirksamen Rechtsvorschriften zur Bekämpfung von Diskriminierungen gibt. Die neue Richtlinie wird, wenn sie angenommen wird, ein sehr gutes Rechtsinstrument sein.

7.11   Die Sozialpartner haben eine entscheidende Bedeutung für das Funktionieren der Arbeitsmärkte und bilden die Grundpfeiler des wirtschaftlichen und sozialen Lebens in Europa; daher kommt ihnen eine wichtige Rolle bei der Integration zu. In den Tarifverhandlungen müssen sie ihrer Verantwortung für die Integration von Einwanderern gerecht werden und dafür sorgen, dass die Tarifverträge, arbeitsrechtlichen Vorschriften und Beschäftigungspraktiken frei von allen Formen mittelbarer oder unmittelbarer Diskriminierung sind.

7.12   Bei Tarifverhandlungen - insbesondere auf Unternehmensebene - muss sichergestellt werden, dass die Chancengleichheit beim Zugang zu einer Beschäftigung und bei der Einstellung durch entsprechende Mechanismen gewährleistet wird. Auf diesem Gebiet kommt es vor allem darauf an, dass Instrumente zur Verhinderung nicht nur direkter, sondern auch indirekter Diskriminierungen vorhanden sind.

7.13   Der Grundsatz der Gleichbehandlung bei der Entlohnung und den Arbeitsbedingungen ist jedoch derzeit in der Praxis für viele Arbeitsmigranten nicht gewahrt. Die Sozialpartner und die Arbeitsbehörden müssen Verfahren zur Vermeidung von Diskriminierungen erarbeiten und die Gleichbehandlung aktiv fördern.

7.14   In Europa gibt es zunehmend zweigleisige Arbeitsmodelle mit Qualitätsarbeitsplätzen für die meisten Unionsbürger und für hochqualifizierte Zuwanderer und mit Tätigkeiten minderer Qualität für die meisten Zuwanderer. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind daher ebenfalls ein diskriminierender Faktor, bei dem Einwanderer als Arbeitskräfte, die sich in einer besonders schwachen Position befinden, ausgenutzt werden.

7.15   Der EWSA hat in mehreren Stellungnahmen Verbesserungen an den einzelstaatlichen Systemen zur Anerkennung von Qualifikationen und Abschlüssen (15) sowie ein EU-weites System der Anerkennung, das Arbeitsmigranten offen steht (16), vorgeschlagen. In vielen europäischen Unternehmen üben Einwanderer Tätigkeiten aus, die unter dem Niveau ihrer Abschlüsse liegen.

7.16   Auch bei der Entwicklung ihrer beruflichen Laufbahn und Karriere müssen Einwanderer Nachteile und Diskriminierungen in Kauf nehmen. In den arbeitsrechtlichen Gesetzesvorschriften, den Tarifverträgen und der Praxis in den Unternehmen muss die Wahrung des Grundsatzes der Chancengleichheit auch im Hinblick auf die Förderung und den Aufstieg im Beruf sichergestellt werden. Dabei müssen die Sozialpartner neue Initiativen in die Wege leiten.

7.17   Berufliche und beschäftigungsbezogene Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen sind sehr wichtige Instrumente zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitsmigranten, in einigen Ländern wird Drittstaatsangehörigen jedoch der Zugang zu diesen Angeboten gesetzlich oder in der Praxis ganz oder teilweise verwehrt. Nach Ansicht des EWSA müssen die Behörden und Sozialpartner Arbeitsmigranten den gleichberechtigten Zugang zu Bildungsangeboten ermöglichen.

7.18   Einige Mitgliedstaaten führen in Zusammenarbeit mit Unternehmen Weiterbildungsprogramme in den Herkunftsländern durch, die Drittstaatsangehörige vor dem Erhalt einer Aufenthaltsgenehmigung vorbereiten und ihnen bei der späteren Integration in die Arbeitswelt in Europa helfen sollen.

7.19   Die Europäische Union hat die Frage der Übertragbarkeit von Rentenansprüchen für europäische Arbeitnehmer noch nicht befriedigend gelöst. Auch Arbeitsmigranten haben viele Probleme mit nationalen Rechtsvorschriften, die keine angemessene Garantie für die während ihrer Tätigkeit in Europa erworbenen Rentenansprüche enthalten. Dafür gibt es sehr unterschiedliche Gründe, die mit den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und den Übereinkommen mit Drittstaaten zusammenhängen.

7.20   Der Ausschuss schlägt der Europäischen Kommission vor, eine Initiative - möglicherweise legislativer Art - auf den Weg zu bringen, die die Gewährleistung der Rentenansprüche von Arbeitsmigranten in der EU bei Wohnsitzwechsel innerhalb der EU oder bei Rückkehr in ihre Herkunftsländer oder Übersiedlung in einen Drittstaat erleichtert.

7.21   Die Gewerkschaften sollten zugewanderte Arbeitnehmer als Mitglieder aufnehmen und ihnen den Zugang zu Ämtern in Vertretungsorganen und leitenden Positionen erleichtern. Die meisten europäischen Gewerkschaften haben Verfahren zur Gewährleistung der Gleichbehandlung und der Bekämpfung von Diskriminierungen eingeführt.

7.22   Nach Ansicht des EWSA sind aktive Maßnahmen und neue Verpflichtungen der Sozialpartner nötig, mit denen integrationsfreundliches Sozialverhalten, Gleichbehandlung und Diskriminierungsbekämpfung in der Arbeitswelt gefördert werden. Ein geeigneter Rahmen für die Übernahme neuer Verpflichtungen durch die Sozialpartner auf der Ebene, die sie für angemessen halten, könnte der soziale Dialog auf europäischer Ebene sein.

7.23   Die Europäische Agentur für Grundrechte hat Diskriminierungen aufgrund der ethnischen Herkunft auf den europäischen Arbeitsmärkten untersucht (17) und dabei festgestellt, dass es diese trotz der geltenden Rechtsvorschriften im großen Umfang gibt.

8.   Bewältigung der Vielfalt (Diversitätsmanagement)

8.1   Die Vielfalt der Gesellschaft in Europa nimmt immer mehr zu und wird in der Zukunft noch größer werden. Eine reibungslose Integration der Migranten in die Arbeitswelt kann nur durch einen positiven Ansatz für die kulturelle Vielfalt erreicht werden, was für Unternehmen und Arbeitnehmer von immer größerem Belang ist.

8.2   Großunternehmen haben eine eigene Unternehmenskultur, die sich allmählich zwischen den Beschäftigten, dem gesellschaftlichen Umfeld und in den Beziehungen zu den Kunden herausgebildet hat.

8.3   Europäische Unternehmen sind in zunehmend von Vielfalt geprägten Städten tätig. Der Ausschuss der Regionen und die Dubliner Eurofound-Stiftung haben über das CLIP-Netz (18) einen Erfahrungsaustausch im Hinblick auf ein besseres Diversitätsmanagement im öffentlichen Dienst geführt.

8.4   Die aus der Einwanderung herrührende kulturelle Vielfalt ist eine neue Herausforderung, der sich die Unternehmen stellen müssen, um ihre Unternehmenskultur durch die Integration neuer Arbeitnehmer auf den verschiedenen Ebenen - obere und mittlere Führungsebene und sonstige Beschäftigte - zu bereichern.

8.5   Auch die Globalisierung trägt dazu bei, dass sich die Unternehmen in einem neuen sozialen und kulturellen Umfeld bewegen müssen, um neue Märkte und Kunden mit einem anderen kulturellen Hintergrund zu erschließen.

8.6   Viele Unternehmen anerkennen den Nutzen des Diversitätsmanagements. Der sich in den letzten Jahrzehnten vollziehende Wandel hin zu einer Dienstleistungswirtschaft hat den Kontakt zwischen Unternehmen und Kunden stärker in den Mittelpunkt gerückt. Zudem hat die Globalisierung die Unternehmen veranlasst, neue Märkte in der ganzen Welt zu suchen. Damit nimmt die Vielfalt der Kunden und Nutzer zu, an die sich die Unternehmen wenden.

8.7   Durch ein gutes Diversitätsmanagement im Unternehmen können die Fähigkeiten aller Arbeitnehmer unterschiedlicher Herkunft und Kultur besser genutzt und die Außenbeziehungen des Unternehmens zu einem ebenfalls vielfältigen Markt effizienter gestaltet werden.

8.8   Unternehmen mit einem guten Diversitätsmanagement sind besser aufgestellt, um Talente aus allen Teilen der Welt anzuwerben und Kunden auf neuen Märkten zu akquirieren. Überdies können sie die Kreativität und Innovationsfähigkeit ihrer Beschäftigten verbessern, da alle Arbeitnehmer (auch die zugewanderten) günstige Rahmenbedingungen dafür vorfinden.

8.9   Kleinunternehmen haben häufig keine eigene Personalabteilung und benötigen deshalb ggf. die fachliche Unterstützung entsprechender Einrichtungen der Behörden und Unternehmerverbände.

8.10   Diversitätsmanagement basiert auf der strikten Anwendung der Grundsätze der Gleichbehandlung und Bekämpfung von Diskriminierungen. Es umfasst überdies Programme zur Eingliederung von Arbeitsmigranten, Maßnahmen, um kulturelle Unterschiede miteinander in Einklang zu bringen, Kommunikationsinstrumente, die den sprachlichen Unterschieden Rechnung tragen, Vermittlungskonzepte zur Lösung von Konflikten usw.

8.11   Erforderlich ist auch eine Schulung im Diversitätsmanagement. Die innerbetriebliche Schulung könnte auf verschiedene Zielgruppen ausgerichtet sein, nämlich Führungskräfte, Mittelmanagement und die Belegschaft insgesamt, und auch in Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen erfolgen.

8.12   Sowohl in den Unternehmen selbst als auch in den Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften sollte es besondere Stellen für Diversitätsmanagement geben, die entsprechende Initiativen vorantreiben, die Ergebnisse evaluieren und Veränderungen auf den Weg bringen.

8.13   Die Behörden sollten beim Diversitätsmanagement in den Unternehmen mitwirken und durch finanzielle und steuerliche Anreize diejenigen Unternehmen unterstützen, die entsprechende Pläne aufstellen, sowie den Austausch vorbildlicher Verfahren, die Entwicklung von Schulungsprogrammen und von Kampagnen zur Förderung von Migranten fördern.

9.   Schwierigkeiten bei der Integration in der Schattenwirtschaft und irreguläre Zuwanderung

9.1   Arbeitsmigranten ohne gültige Papiere und ohne geregelten Aufenthaltsstatus sind gezwungen, in der Schattenwirtschaft und in ungeregelten Beschäftigungsverhältnissen zu arbeiten, womit diese Wirtschaftsbereiche in den Mitgliedstaaten mit den meisten irregulären Zuwanderern immer mehr an Gewicht gewinnen.

9.2   Zuwanderer ohne aufenthaltsrechtlichen Status werden durch bestimmte Arbeitgeber oft maßlos ausgebeutet. Der EWSA hat eine Stellungnahme (19) zum Richtlinienvorschlag der Kommission über Sanktionen gegen Arbeitgeber, die Einwanderer ohne geregelten Status ausbeuten, verabschiedet.

9.3   In der Hauswirtschaft beschäftigte Hilfskräfte ohne gültige Papiere befinden sich in einer besonders schwachen Position und müssen in einigen Fällen unter Bedingungen arbeiten, die an Sklaverei grenzen. In einigen nationalen Rechtsvorschriften gibt es keine umfassende Garantie für die Arbeitnehmerrechte und sozialen Rechte bei dieser Erwerbstätigkeit. Diese Probleme wiegen umso schwerer bei Betroffenen, die keinen Aufenthaltsstatus haben oder in der Schattenwirtschaft arbeiten. Der Ausschuss schlägt der Europäischen Kommission vor, neue Initiativen zum angemessenen Schutz der beschäftigungsrelevanten und beruflichen Rechte dieser Arbeitnehmerinnen zu ergreifen.

9.4   Seit einigen Jahren werden in bestimmten nationalen Rechtsvorschriften Hilfsorganisationen, die Zuwanderer ohne geregelten Status unterstützen, um ihre soziale Ausgrenzung zu vermeiden und ihre Integration zu erleichtern, rechtlich kriminalisiert. Der Ausschuss weist darauf hin, dass diese Rechtsvorschriften den Menschenrechten und dem ethischen Grundsatz der Solidarität widersprechen. Die Europäische Kommission und die Wiener Grundrechteagentur sollten diese Situationen beurteilen und die erforderlichen Maßnahmen ergreifen.

9.5   Die gesellschaftliche Integration von Zuwanderern ohne geregelten Status gestaltet sich vergleichsweise schwieriger, weshalb der Ausschuss vorgeschlagen hat, Verfahren zur Einzelfalllegalisierung zu entwickeln und dabei das soziale und berufliche Umfeld der Betroffenen zu berücksichtigen. Dies sollte auf der Grundlage der Verpflichtung erfolgen, die der Europäische Rat im Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl eingegangen ist (20), nämlich im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften Einzelfalllegalisierungen aus humanitären und wirtschaftlichen Gründen vorzunehmen, insbesondere in Sektoren mit besonders vielen Personen ohne geregeltem Status.

10.   Initiativen im Rahmen des Stockholmer Programms

10.1   Die Kommission hat vorgeschlagen, eine europäische Plattform für den Dialog über die Steuerung der Arbeitsmigration einzurichten, an der Unternehmer, Gewerkschaften, Arbeitsagenturen und weitere Betroffene teilnehmen sollen.

10.2   Der EWSA schlägt der Kommission vor, in ähnlicher Weise wie bei der Schaffung des Europäischen Integrationsforums den Ausschuss um Vorlage einer Sondierungsstellungnahme im Jahr 2010 zu ersuchen, damit er unter Einbeziehung aller Beteiligten Vorschläge für die Gestaltung dieser Plattform vorbringen kann, an der er mitwirken möchte.

10.3   Die Kommission hat zudem vorgeschlagen, dass die EU einen Einwanderungskodex beschließt, der den legalen Einwanderern einen einheitlichen Rechtsstatus, vergleichbar dem der europäischen Bürger, garantiert. Diese Kodifizierung der bestehenden Rechtstexte wird gegebenenfalls Änderungen nach sich ziehen, die der Vereinfachung oder Ergänzung der geltenden Vorschriften oder ihrer besseren Anwendung dienen.

10.4   Nach Ansicht des EWSA sollten die EU-Rechtsvorschriften über Einwanderung mit einem horizontalen gemeinsamen Rahmen (einem europäischen Statut) von Rechten einhergehen, der die Achtung und den Schutz der Rechte und Freiheiten der Einwanderer in Europa unabhängig von ihrer Berufsgruppe und ihrem rechtlichen Status gewährleistet. Die derzeit im Rat diskutierte Rahmenrichtlinie wäre, sofern sie mit einem hohen Schutzniveau angenommen würde, ein gutes Rechtsinstrument zum Schutze der Rechte der Einwanderer.

10.5   Der Ausschuss begrüßt die Initiative der Kommission zur Aufstellung eines europäischen Einwanderungskodex, vorausgesetzt, dass mit diesem Legislativvorschlag die Grundrechte der Einwanderer in einheitlicher und den Rechten der Gemeinschaftsbürger vergleichbarer Weise garantiert werden.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. C 27 vom 3.2.2009; ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 29.

ABl. C 80 vom 30.3.2004;

ABl. C 318 vom 23.12.2006;

ABl. C 125 vom 27.5.2002;

ABl. C 208 vom 3.9.2003.

(2)  Artikel 79.

(3)  KOM(2008) 758 endg.

(4)  KOM(2009) 674 endg.

(5)  „The Economic and Fiscal Impact of Immigrants“, National Institute of Economic and Social Research, Oktober 2007, und „Coyuntura española - Los efectos de la inmigración sobre el empleo y los salarios“ Informe Mensual de la Caixa, núm 295, Oktober 2006.

(6)  Richtlinie 2009/50/EG.

(7)  ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 114.

(8)  KOM(2007) 638 endg.

(9)  ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 29.

(10)  ABl. C 318 vom 23.12.2006.

(11)  ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 29.

(12)  Richtlinie 2000/78/EG.

(13)  Richtlinie 2000/43/EG.

(14)  P6_TA(2009)0211.

(15)  Siehe insbesondere ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 90.

(16)  Vgl. u.a. ABl. C 218 vom 11.9.2009.

(17)  EU-MIDIS: European Union Minorities and Discrimination Survey, Main Results Report, Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, 9.12.2009.

(18)  Mehr als 30 europäische Städte umfassendes Netz für kommunale Maßnahmen zur Integration von Migranten unter der Verwaltung der Eurofound-Stiftung.

(19)  ABl. C 204 vom 9.8.2008.

(20)  Rat der EU, 13440/08, 24.9.2008.


28.12.2010   

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Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/23


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die europäische Verkehrspolitik im Rahmen der Lissabon-Strategie nach 2010 und der Strategie für nachhaltige Entwicklung“ (Sondierungsstellungnahme)

2010/C 354/04

Berichterstatter: Stéphane BUFFETAUT

Mit Schreiben vom 23. Juli 2009 ersuchte der spanische Ratsvorsitz der Europäischen Union den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um eine Sondierungsstellungnahme zum Thema:

„Die europäische Verkehrspolitik im Rahmen der Lissabon-Strategie nach 2010 und der Strategie für nachhaltige Entwicklung“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 24. Februar 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) mit 152 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss betont, dass Wettbewerbsfähigkeit, Zuverlässigkeit, freier Fluss und Rentabilität des Verkehrs eine Voraussetzung für den wirtschaftlichen Wohlstand in Europa sind. Der freie Personen- und Güterverkehr ist eine der Grundfreiheiten der Europäischen Union. Der Verkehr muss somit einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung der Ziele der Strategie „EU 2020“ leisten. Der Ausschuss weist außerdem darauf hin, dass der gesamte Verkehrssektor sehr hart von der derzeitigen Wirtschaftskrise getroffen wurde. Er ist sich jedoch bewusst, dass das Verkehrswesen nicht nachhaltig genug ist.

1.2   Der Ausschuss unterstützt die Bemühungen zur Schaffung einer effizienten Ko-Modalität sowie der Optimierung und Vernetzung der einzelnen Verkehrsträger, um ein integriertes Verkehrssystem zu errichten und ein reibungsloses und flüssiges Zusammenspiel zwischen den Verkehrsträgern sicherzustellen. Er unterstreicht jedoch, dass von dem Ziel einer Förderung der Verkehrsverlagerung nicht abgerückt werden darf. Ohne diese Verkehrsverlagerung wird die Entwicklung emissionsfreier Verkehrsträger auf der Stelle treten, während die Verkehrsüberlastung und die Emissionen immer weiter zunehmen werden.

1.3   Der Ausschuss verweist auf die Abhängigkeit des Verkehrssektors von fossilen Kraftstoffen; dies wirkt sich sowohl auf den Schadstoffausstoß wie auch die Versorgungssicherheit und -unabhängigkeit aus. In dem Wissen um die Endlichkeit der Ressourcen, insbesondere Erdöl, muss die EU in ihrer künftigen Verkehrspolitik unter Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit des Sektors im Rahmen der Strategie „EU 2020“ vier Ziele verfolgen: Förderung CO2-armer Verkehrsträger, Energieeffizienz, Versorgungssicherheit und –unabhängigkeit sowie Bekämpfung der Verkehrsüberlastung.

1.4   Die wichtigsten Probleme, die im Rahmen einer nachhaltigen Verkehrspolitik gelöst werden müssen, sind die zunehmende Verstädterung und die Forderung nach „Komfort“ in der täglichen Fortbewegung, der Schutz der öffentlichen Gesundheit (dies impliziert die Verringerung der CO2- und sonstigen Schadstoffemissionen), die Aufrechterhaltung einer Handelswirtschaft, die den Emissionssenkungserfordernissen Rechnung trägt, die Auszeichnung homogener Gebiete für eine echte integrierte Verkehrspolitik, die Sensibilisierung und Gewinnung der Bürger und Unternehmer für die Durchführung neuer Mobilitätsmaßnahmen und die Förderung eines Umdenkens in Sachen Mobilität. Allerdings ist klar, dass die Bemühungen der EU ins Leere laufen werden, wenn sie alleine handelt. Es bedarf eines internationalen Übereinkommens zur Verringerung der Treibhausgase, und zwar sowohl aufgrund der Erdwärmung als auch der Erschöpfung der herkömmlichen Energiequellen.

1.5   Unter diesen Umständen fordert der Ausschuss die Durchführung neuer konkreter Maßnahmen sowohl seitens der lokalen Gebietskörperschaften als auch der Mitgliedstaaten mit Unterstützung und Förderung der EU. Letztere verfügt mittels Rechtsvorschriften, der Ausrichtung des Kohäsionsfonds und des Fonds für regionale Entwicklung, neuer Leitlinien für das transeuropäische Verkehrsnetz sowie der Interventionsmaßnahmen der Europäischen Investitionsbank über Handlungsmöglichkeiten. Im Rahmen der obengenannten wichtigen Ziele könnten dazu folgende Maßnahmen zählen:

die Durchführung eines ehrgeizigen Forschungs- und Entwicklungsplans im Bereich Mobilität und Verkehr (Motorisierung, Kraftstoffe, Emissionsminderung, Energieeffizienz);

die Einrichtung einer Website für den Austausch bewährter Verfahren im Stadt- bzw. Fernverkehr;

die Einrichtung von „Park&Ride“-Anlagen und den Ausbau des öffentlichen Verkehrs durch Buslinien mit eigener Fahrspur, U-Bahn- und Straßenbahnlinien;

die Weiterentwicklung der IKT, um den öffentlichen Verkehr effizienter, zuverlässiger und sicherer zu gestalten;

die Einrichtung echter Mobilitätsmanagement-Dienste für ausreichend große Einzugsbereiche mit der Aufgabe, den freien Verkehrsfluss und eine gute Verknüpfung der einzelnen Verkehrsträger sicherzustellen und zu optimieren;

die Einrichtung von städtischen Verteilzentren in der Nähe der Hyperzentren;

die Beibehaltung städtischer Gewerbegleise;

die Förderung energieeffizienterer und emissionsärmerer Verkehrsträger und Technologien mittels steuerlicher Maßnahmen;

die Einrichtung sicherer und gut ausgestatteter Parkplätze für Kraftfahrer, die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen sowie ihrer Aus- und Weiterbildung;

die rasche Einrichtung eines vorrangig für den Güterverkehr bestimmten Schienennetzes und die Entwicklung einer echten „Dienst am Kunden“-Kultur in diesem besonderen Bereich;

die Förderung von mit Alternativkraftstoffen angetriebenen Fahrzeugen und von Biokraftstoffen der dritten Generation, gegebenenfalls mittels steuerlicher Maßnahmen;

die Aufstellung eines echten europäischen Plans für die Entwicklung von Elektrofahrzeugen, um die EU in die Lage zu versetzen, die internationalen Normen in diesem zukunftsträchtigen Sektor vorzugeben oder zu deren Festlegung beizutragen;

die Förderung des Konzepts „grüner Häfen“ und die Verwirklichung der Hochgeschwindigkeitsseewege („Meeresautobahnen“);

die Verbesserung der Arbeits- und Bildungsbedingungen für Seeleute;

die Entwicklung des Hochgeschwindigkeits-Güterverkehrs auf Binnenwasserstraßen und im Fluss-See-Verkehr sowie der Einsatz neuer Schiffstypen, die besser für die Beförderung von Sattelanhängern und Containern geeignet sind;

die Berücksichtigung der Kriterien Nachhaltigkeit und Umweltschutz bei der Wahl der Verkehrsinfrastruktur;

die Internalisierung der externen Kosten in allen Verkehrsbereichen, um jedwede Benachteiligung eines Verkehrsträgers zu vermeiden und eine Kostenwahrheit im Verkehr zu erreichen;

die Festlegung realistischer Reduzierungsziele für CO2- und sonstige Schadstoffemissionen sowie von Nachhaltigkeitszielen für den Nahverkehr seitens der verantwortlichen Behörden;

die Berücksichtigung dieser Ziele bei der Konzipierung öffentlicher Verkehrssysteme und der Wahl der Infrastruktur;

die Durchführung systematischer, zuverlässiger und realistischer Folgenabschätzungen vor der Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen.

1.6   In der Praxis muss eine neue Verkehrspolitik die Dynamik dieses Sektors und seine Wettbewerbsfähigkeit bewahren, gleichzeitig aber auch auf folgende Ziele anheben: Verringerung des Klimagas- und sonstigen Schadstoffausstoßes, Erleichterung der Verkehrsverlagerung, Verringerung der Entfernungen und Förderung eines nahtlosen Verkehrs sowie Sensibilisierung der Fahrgäste für umweltfreundlichere Verkehrsträger (im Hinblick auf die Fahrgast- bzw. Frachtkilometer).

1.7   Zur Verwirklichung dieser Ziele gibt es einfache Lösungen, die zu erschwinglichen Kosten und mit raschen, direkten und spürbaren Auswirkungen umgesetzt werden können: Einsatz der umweltfreundlichsten und am ehesten erneuerbaren Kraftstoffe, Nutzung von durch Abfallverwertung gewonnenem Biogas, Erschließung bestehender Flächen (z.B. stillgelegte Eisenbahn- oder Hafeninfrastrukturen) für Mobilitätsdienste, Verbesserung der bestehenden Knotenpunkte, Erleichterung der Schaffung von Ticketing-Verbünden im Regional- und/oder Nahverkehr, Einrichtung von Buslinien mit eigener Fahrspur, Förderung von CarSharing, Vereinfachung des Informationsaustauschs zwischen Eisenbahnunternehmen usw.

1.8   Gleichzeitig gibt es auch Lösungen, für die ein starkes politisches Engagement und ein höherer Mitteleinsatz erforderlich ist: Einrichtung von „Park&Ride“-Anlagen, die an einen glaubwürdigen alternativen Verkehrsträger angebunden sind, Aufbau eines zentralen Informationssystems zur Regulierung der Ein- und Ausfahrten der einzelnen Verkehrsträger für ein bestimmtes Gebiet, bestmögliche Anpassung der Stadtplanung zur Verringerung der erzwungenen Mobilität, Investitionen in Straßenbahn- und U-Bahn-Linien, Internalisierung der externen Kosten in die Verkehrspreise, Entwicklung von IKT zur Bereitstellung zuverlässiger Informationen für alle Beteiligten der Mobilitätskette, Bewertung der Wirksamkeit der gewählten Verkehrsträger, Entwicklung von Konzepten zur Nutzung erneuerbarer Energie und für ihren optimalen Einsatz (z.B. Strom für die Straßenbahn, Gas für bestimmte Fahrzeuge) usw.

2.   Einleitung

2.1   Für die Verwirklichung des Binnenmarktes sind effiziente und zuverlässige Personen- und Gütertransportsysteme erforderlich. Die Globalisierung des Handels war ihrerseits aufgrund der Revolution des Verkehrswesens möglich und wurde durch die Kostensenkung, die Vervielfachung der Zahl an Betreibern, den Wettbewerb und den Aufbau der Infrastruktur gefördert.

2.2   Das Verkehrswesen ist nicht nur für das Wirtschafts- und Berufsleben, sondern auch für das Privatleben unerlässlich. Es ist die Grundvoraussetzung für Austausch; Bewegungsfreiheit ist eine Grundfreiheit.

2.3   Daher sind die Verkehrstätigkeiten ein grundlegender Bestandteil der europäischen Wirtschaft. Sie erwirtschaften rund 7 % des BIP und stellen ca. 5 % aller Arbeitsplätze; außerdem entfallen 30 % des BIP des Industrie- und des Landwirtschafts- sowie 70 % des BIP des Dienstleistungssektors auf sie.

2.4   Durch den umfangreichen und von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlichen Verwaltungsaufwand entstehen verdeckte Kosten und Barrieren für den innergemeinschaftlichen Handel. Dieser Kosten- und Verwaltungsaufwand trifft insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen schwer.

2.5   Die Europäische Union verfügt über einen Verkehrssektor, der zwar wirtschaftlich effizient ist und eine hohe Wettbewerbsfähigkeit aufweist, gleichzeitig jedoch immer noch nicht nachhaltig genug ist. Ein nachhaltiges Verkehrswesen muss nicht nur die verschiedenen wirtschaftlichen Zwecke des Verkehrs gewährleisten, sondern auch dem sozialen und dem ökologischen Pfeiler der nachhaltigen Entwicklung Genüge tun.

2.6   Das Konzept des nachhaltigen Verkehrs beruht darauf, dass die Bedingungen für das Wirtschaftswachstum geschaffen werden, dabei aber auch menschenwürdige Arbeitsbedingungen und qualifizierte Arbeitsplätze für eine sozial verantwortliche Tätigkeit sichergestellt werden, die der Umwelt keinen Schaden zufügt.

2.7   Trotz aller Fortschritte bei Fahrzeugantrieb und Kraftstoffqualität sowie der freiwilligen Selbstverpflichtung der Fahrzeughersteller verzeichnet der Verkehrssektor nach wie vor den höchsten Zuwachs an Treibhausgasemissionen.

2.8   Das Güterverkehrsaufkommen nimmt stetig und schneller als das BIP zu; das Personenverkehrsaufkommen hingegen ist zwischen 1995 und 2007 jährlich zwar um durchschnittlich 1,7 % gestiegen, aber weit hinter dem BIP-Wachstum im gleichen Zeitraum (2,7 %) zurückgeblieben.

2.9   Die Verlagerung von der Straße auf andere Verkehrsträger wie die Schiene und das Wasser hat seit 2001 kaum Fortschritte gemacht, es ist sogar teilweise eine Rückverlagerung auf die Straße zu verzeichnen.

2.10   Das Verkehrswesen ist zu 97 % von fossilen Kraftstoffen abhängig, was sich sowohl auf die Umwelt als auch auf die Energieabhängigkeit verheerend auswirkt.

2.11   Es bedarf daher einer langfristigen Politik, mit der die Effizienz des Verkehrswesens gestärkt, seine Umweltauswirkungen verringert, sein Sicherheitsniveau erhöht, die Ko-Modalität ausgebaut, die Verkehrsverlagerung gefördert, die Arbeitsbedingungen verbessert und die notwendigen Investitionen ermöglicht werden.

2.12   Dies ist umso wichtiger, als in den Studien der Europäischen Kommission für 2020 eine starke Zunahme der Verkehrsströme prognostiziert wird, sollte keine Trendänderung eintreten:

der Binnenverkehr innerhalb Westeuropas soll um 33 % zunehmen;

der Binnenverkehr innerhalb Osteuropas um 77 %,

der Verkehr von West- nach Osteuropa um 68 % und

der Verkehr von Ost- nach Westeuropa um 55 %.

2.13   Sollten diese Prognosen zutreffen, ist eine allgemeine Überlastung der wichtigsten Verkehrsachsen unvermeidbar. Zuviel Verkehr wird das Ende des Verkehrs sein. Daher müssen erhebliche Anstrengungen in die Forschung und Entwicklung der Verkehrstechnologien (Motorisierung, Kraftstoffe, Energieeffizienz, Umweltschutz usw.), Infrastrukturinvestitionen, die Verbesserung der Ko-Modalität, die Neubelebung des Schienengüterverkehrs sowie den Ausbau der Binnenschifffahrt und des Seeverkehrs fließen. Es bedarf eines echten Marshall-Plans für die neuen Verkehrstechnologien und -investitionen, um die Ziele der Europäischen Kommission für die Verringerung des CO2-Ausstoßes zu erreichen. Die Verkehrsunternehmer haben das Konzept der „Optimodalität“ entwickelt, d.h. der Optimierung der technischen, wirtschaftlichen und ökologischen Leistungen der Gütertransportketten, und eine Vereinigung für Optimodalität im europäischen Transport, Cercle de l'Optimodalité en Europe (COE), gegründet. Es gilt, das Wirtschaftswachstum von den negativen Auswirkungen des Verkehrs abzukoppeln.

2.14   Außerdem stellt sich die Frage nach dem Wesen des Verkehrs sowie seines gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzens. Diese Frage ist heikel. Die Bewegungsfreiheit ist eine Grundfreiheit. Der freie Personen-, Güter- und Dienstleistungsverkehr gehört zu den Gründungsprinzipien der Europäischen Union und liegt den Bestimmungen der Welthandelsorganisation WTO zu Grunde. Und wer sollte eigentlich über Nutzen oder Nutzlosigkeit des Verkehrs entscheiden? Ist diese Frage aber deshalb sinnlos? Keineswegs, da die Kostenwahrheit im Verkehr mittlerweile unausweichlich zu sein scheint, d.h. die Internalisierung der externen Kosten der einzelnen Verkehrsträger, die heute auf die Gesellschaft abgewälzt werden, insbesondere im Bereich Umwelt, aber auch öffentliche Gesundheit und Sicherheit. Dank einer größeren Verkehrskostenwahrheit, d.h. realistischerer Kosten, könnten bestimmte Verkehrsflüsse zum Vorteil des Nahverkehrs verringert werden.

3.   Landverkehr

3.1   Die EU setzt auf die Ko-Modalität, d.h. die Optimierung der einzelnen Verkehrsträger sowie die Förderung der bestmöglichen Komplementarität und Interaktion zwischen diesen. Bei 80 % des Landverkehrs betragen die zurückgelegten Wegstrecken weniger als 100 km. Es gilt, dieser Nachfrage mit einem angemessenen Angebot zu begegnen, wofür neben dem Straßenverkehr auch der Schienennahverkehr in Frage kommt. Der Binnenschiffs- oder der Seeverkehr dürften für sehr kurze Entfernungen weniger geeignet sein. Auf alle Fälle muss die Verkehrsverlagerung dort gefördert werden, wo sie sinnvoll ist. Andernfalls wird die EU ihr Ziel eines emissionsarmen Verkehrssektors nicht erreichen können.

3.2   Stadt- und Regionalverkehr

3.2.1

Diese Verkehrsart unterliegt besonderen Sachzwängen. Auf den Nahverkehr entfallen 40 % der CO2-Emissionen und 70 % der Emissionen sonstiger Schadstoffe im Straßenverkehr. Außerdem verursacht die Verkehrsüberlastung neben den schädlichen Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt Kosten in Höhe von rund 2 % des BIP der EU. Der Ausbau des öffentlichen Verkehrs ist unumgänglich, doch muss dieser auch gewisse Kriterien erfüllen, um den Anforderungen einer echten Dienstleistung von allgemeinem Interesse gerecht zu werden und eine echte Alternative für das Privatfahrzeug zu bieten: Takt, Schnelligkeit, Sicherheit, Komfort, Zugänglichkeit, Erschwinglichkeit, Vernetzung und gute Verbindungen. Damit kann nicht nur ökologischen Problemen begegnet werden, sondern Herausforderungen in Verbindung mit dem sozialen Zusammenhalt wie der Isolation der Vorstädte.

3.2.2

Die Nutzung von elektrobetriebenen Verkehrsträgern ist wünschenswert, doch muss der verwendete Strom nachhaltig und wenn möglich emissionsfrei erzeugt werden. CarSharing und Fahrgemeinschaften müssen ebenfalls gefördert werden.

3.2.3

Es gilt, eine echte Politik der nachhaltigen Mobilität in der Stadt auf den Weg zu bringen. Dies bedeutet die Einschränkung des Individualverkehrs, möglicherweise durch die Erhebung einer Stadtmaut, vor allem aber auch durch die Verbesserung der Qualität und Zugänglichkeit des öffentlichen Verkehrs. Dazu wiederum müssen die erforderlichen Infrastrukturen und Dienste im Hinblick auf eine effiziente Intermodalität auf- und ausgebaut werden. Angesichts der Finanzlage vieler Mitgliedstaaten könnte dies in bestimmten Fällen durch öffentlich-private Partnerschaften erleichtert werden, um neue Infrastrukturen zu errichten, wie Buslinien mit eigener Fahrspur, U-Bahn- und Straßenbahn- und Oberleitungsbuslinien, neue Regionalbahnlinien oder Wiedererschließung aufgelassener Strecken, Entwicklung der verkehrsbezogenen Informations- und Kommunikationstechnologien, Modernisierung und Vereinfachung des Ticketing usw.

3.2.4

In der Praxis bieten sinnvolle Maßnahmen wie die Einrichtung von „Park&Ride“-Anlagen mit guter Anbindung an das Stadtzentrum, die Schaffung von Buslinien mit eigener Fahrspur oder die Wiedererschließung aufgelassener Eisenbahnlinien die Möglichkeit, echte Fortschritte zu erschwinglichen Kosten zu erzielen.

3.2.5

Über die weitere Verbesserung der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) kann im Wege einer echten territorialen Verkehrsmanagementpolitik der intermodale Verkehr wirksam ausgebaut werden. Diese Technologien erlauben ein fein abgestimmtes Verkehrsmanagement und sollten die Einrichtung von Systemen zur Energieverbrauchsoptimierung der Fahrzeugströme im Straßenverkehr ermöglichen. Außerdem können die Fahrgäste in Echtzeit während der gesamten Fahrt Reiseinformationen erhalten. Das Ticketing wird vereinfacht und optimiert, und die Reservierungsmodalitäten werden erleichtert. Dank dieser Technologien wird der Fahrgast seine „Routenplanung“ optimieren, den genauen Fahrplan und die Intervalle abrufen und sogar die Energiebilanz des gewählten Verkehrsträgers einsehen können. Die IKT sind daher geeignet, Synergien zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern, bei der Nutzung der Infrastrukturen und im Hinblick auf Energieeffizienz zu schaffen.

3.2.6

Die Probleme im Verkehrsmanagement betreffen oftmals nicht nur eine einzige Kommune, sondern ein weitreichenderes Gebiet rund um eine Stadt. Auf Initiative der betreffenden lokalen Gebietskörperschaften könnten in großen und zusammenhängenden geografischen Gebieten echte Mobilitätsmanagement-Dienste eingerichtet werden, z.B. in Form einer Übertragung eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags. Aufgabe dieser Mobilitätsmanagement-Dienstleister wäre es vor allem:

die Mobilität in dem betreffenden Gebiet unter Berücksichtigung u.a. der Verkehrsunternehmen vor Ort, des Verkehrsaufkommens sowie der geografischen und städtischen Merkmale zu analysieren;

das Mobilitätsangebot zu optimieren und an die ermittelten Bedürfnisse anzupassen;

bereichsübergreifende Dienste zur Erleichterung der Intermodalität zu verwalten: Information, Ticketing, e-Ticketing, Beförderung auf Abruf, Beförderung von Menschen mit eingeschränkter Mobilität, CarSharing usw.;

das Mobilitätsmanagement und seine Umweltauswirkungen zu überprüfen.

3.2.7

Die verantwortliche Behörde würde selbstverständlich das Recht behalten, die lokalen Verkehrsunternehmer auszuwählen, die Tariffierung vorzunehmen sowie ihre Verkehrs-, Beförderungs- und Raumordnungspolitik festzulegen. Sie wäre u.a. für die Transparenz der Verträge und die Festlegung zielorientierter Verträge zwischen dem Mobilitätsmanagement-Dienstleister und den betroffenen Gebietskörperschaften sowie von Kriterien für die Dienstequalität verantwortlich.

3.2.8

Der Ausschuss hat bereits die entscheidende Rolle der lokalen Gebietskörperschaften bei der Organisation des öffentlichen Verkehrs und der Raumordnung herausgestrichen. Das Subsidiaritätsprinzip ist in diesem Bereich zweifellos von Bedeutung. Die Europäische Union möchte jedoch zu Recht die nachhaltigsten Modelle für den Stadtverkehr fördern. So hat sie im Rahmen der Strukturfonds und des Kohäsionsfonds sowie des Programms CIVITAS schon Finanzmittel bereitgestellt. Sie sollte den Austausch bewährter Verfahren im Stadtverkehr fördern und im nächsten FuE-Rahmenprogramm Mittel für die Erforschung der Wechselwirkungen zwischen Verkehrs- und Stadtplanung gewähren.

3.3   Städtischer Güterverkehr

3.3.1

Diese Verkehrsart verursacht ein enormes Verkehrsaufkommen. So ist sie beispielsweise in Paris für 20 % des Verkehrsaufkommens und 26 % der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Daher muss die Stadtlogistik verbessert und die Verkehrsverlagerung auf die Schiene und die Binnenwasserstraßen wo immer möglich gefördert werden.

3.3.2

Es könnten u.a. nachstehende Ideen verfolgt werden:

Lieferbündelung durch die Einrichtung von Verteilzentren sowie Park- und Handlingflächen in der Nähe der Einrichtungen und Unternehmen;

städtische Verteilzentren zur Sicherstellung der Lieferung an ein Hyperzentrum mit beschränkter Tonnage, verpflichtender Nutzung logistischer Plattformen, Optimierung der Auslastung und Einsatz von Elektro-Fahrzeugen;

nach Möglichkeit Beibehaltung städtischer Gewerbegleise mit einer Zugangsgarantie für alle Betreiber;

Entwicklung der Hafeninfrastruktur in Großstädten, die an Flüssen gelegen sind.

3.4   Straßengüterverkehr

3.4.1

Die Zunahme des Straßengüterverkehrs bringt eine Reihe von Problemen mit sich: Anstieg der CO2-Emissionen, starke Abhängigkeit des Verkehrssektors von fossilen Kraftstoffen, Verbesserung der Infrastruktur, insbesondere in Bezug auf Sicherheitsaspekte, sowie Gewährleistung guter Arbeitsbedingungen und eines menschenwürdigen Arbeitsumfelds für die Kraftfahrer.

3.4.2

In Bezug auf die CO2-Emissionen müssen Forschung und Entwicklung zur Emissionsminderung vorangebracht werden, insbesondere durch die Entwicklung neuer Motoren und alternativer Antriebsenergien. Die Schaffung von Anreizen durch steuerliche Maßnahmen für Produkte und/oder Maßnahmen, die auf alternative Antriebsmöglichkeiten und die Verringerung des CO2-Ausstoßes ausgerichtet sind, ist umso wirksamer, wenn sie von einer ehrgeizigen Forschungspolitik begleitet wird. Diesbezüglich muss die Internalisierung der externen Kosten (1) gleichmäßig auf alle Verkehrsträger Anwendung finden.

3.4.3

Die Entwicklung technologischer Lösungen und der Einsatz der IKT im Straßengüterverkehr sind von grundlegender Bedeutung, um die Probleme dieses Sektors zu bewältigen, d.h. Verringerung der Energieabhängigkeit, der verkehrsbedingten Emissionen und der Verkehrsüberlastung. Es sollte ein klarer Rahmen für die Einführung neuer Technologien durch die Schaffung offener Standards zur Sicherstellung der Interoperabilität festgelegt werden. Außerdem müssen die FuE-Mittel für Technologien aufgestockt werden, die das Stadium der Marktreife noch nicht erreicht haben. Diese Technologien können durch bessere Logistikinformationen außerdem zur Verringerung der Zahl an Leerfahrten beitragen. Sie können auch für die Verbesserung der Verkehrssicherheit von großem Nutzen sein.

3.4.4

Auch die Infrastruktur muss verbessert werden, insbesondere durch die Einrichtung gut ausgestatteter, sicherer und überwachter Park- und Rastplätze, um die Kraftfahrer vor Diebstahl und anderen kriminellen Taten zu schützen und so während ihrer Ruhezeiten ihre Sicherheit zu gewährleisten.

3.4.5

Für die Kraftfahrer ist es wichtig, dass ihr Beruf attraktiv bleibt, indem gute Arbeitsbedingungen und ein menschenwürdiges Arbeitsumfeld geschaffen, also bspw. vorschriftsmäßige Arbeitszeiten und einheitliche Fahr- und Ruhezeiten festgelegt werden, die nicht nur Worthülsen bleiben, sondern als Rechtsvorschriften auch wirklich umgesetzt werden (2).

3.5   Schienenverkehr

3.5.1

Im Schienenpersonenverkehr sind insbesondere im Fernverkehr mit Hochgeschwindigkeitsverbindungen Verbesserungen festzustellen, der Schienengüterverkehr wird jedoch nach wie vor zu wenig genutzt. So werden nur 8 % des gesamten Güterverkehrs über diesen Verkehrsträger abgewickelt. Ganz allgemein muss dafür Sorge getragen werden, dass die Modernisierung und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Schienenverkehrs unter größtmöglicher Berücksichtigung der Sicherheitsvorschriften und Gewährleistung der Betriebskontinuität im Falle jahreszeitlich bedingter Witterungseinflüsse erfolgt.

3.5.2

Der Ausschuss begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommission zum Aufbau eines vorrangig für den Güterverkehr bestimmten Schienennetzes. Es muss eine Kultur geschaffen werden, in deren Mittelpunkt der Dienst am Kunden sowie wirtschaftliche und wettbewerbliche Überlegungen stehen. Die Liberalisierung sollte diesen Wandel begünstigen.

3.5.3

Das Konzept eines vorrangig für den Güterverkehr bestimmten Schienennetzes dient dazu, zeitliche und geografische Nischen festzulegen, in denen der Güterverkehr Vorrang genießt, ohne dabei den Personenverkehr einzuschränken.

3.5.4

Es gibt bereits einige einschlägige Beispiele in der Europäischen Union. Bestimmte Strecken sind sogar ausschließlich dem Güterverkehr vorbehalten wie die Betuwe-Strecke zwischen dem Hafen von Rotterdam und Deutschland. Darüber hinaus sei auf das New OPERA-Projekt und das Projekt Ferrmed verwiesen.

3.5.5

Der Ausbau des Güterverkehrs ist unter bestimmten Umständen durchaus möglich:

Bereitstellung eines echten Logistik-Dienstleistungsangebots anstelle einer schlichten Beförderungsleistung;

Erreichung einer Kostensenkung, um wettbewerbsfähiger sein zu können;

Sicherstellung einer höheren Zuverlässigkeit der Dienste;

Gewährleistung hinreichend kurzer Beförderungszeiten „von Tür zu Tür“;

Erhöhung der Flexibilität im Angebot und der Reaktionsfähigkeit bei Verkehrsstörungen.

3.5.6

Für den Ausbau des Güterverkehrs müssen auch intermodale Plattformen für den Huckepackverkehr entwickelt werden. Diesbezüglich steht zu begrüßen, dass die Blockierung des Baus der Eisenbahnverbindung Lyon-Turin für den Huckepackverkehr ein Ende gefunden hat. Nach einer willkürlichen Entwicklung des Huckepackverkehrs müssen nunmehr die „rollenden Autobahnen“ (wie die „Autoroute Ferroviaire Alpine“ durch den Fréjus-Tunnel oder die „Lorry-Rail“ zwischen Perpignan und Luxemburg) sowie die Hochgeschwindigkeitsseewege („Meeresautobahnen“) wie das französisch-spanische Projekt „Fres Mos“ zwischen Nantes-Saint Nazaire und Gijón gefördert werden.

3.6   Pkw-Verkehr

3.6.1

Das Energie- und Klimapaket enthält strikte Auflagen für die Fahrzeughersteller. Es müssen neue, mit alternativen Energieträgern angetriebene Fahrzeuge, namentlich Elektro- und Hybridfahrzeuge, entwickelt werden. Außerdem sollten Biokraftstoffe in Betracht gezogen werden. Die Entwicklung ist heute bei leistungsfähigeren Biokraftstoffen der dritten Generation angelangt, vor allem aus Algen, wodurch der Konkurrenz zwischen Nahrungsmittel- und Bioenergieproduktion auf landwirtschaftlichen Flächen ein Riegel vorgeschoben wird.

3.6.2

Neben den auf dem Markt verfügbaren Technologien und Fahrzeugen können auch noch in anderen Bereichen Fortschritte erzielt werden, u.a. in Bezug auf die Energie- und Raumeffizienz, zumal der verfügbare Raum durch die Verkehrsüberlastung gegenwärtig überbeansprucht wird. Dies gilt für Kurse für energieeffiziente Fahrweise, die in großen Unternehmen oder von Behörden angeboten werden, CarSharing und Fahrgemeinschaften sowie die Bereitstellung kleiner Miet-Elektrofahrzeuge in einigen Städten.

3.7   Fuß- und Radverkehr

3.7.1

In der Stadt müssen auch diese Verkehrsarten gefördert werden, sie sind allerdings aus topografischen, klimatischen und demografischen Gründen beschränkt. Die lokalen Gebietskörperschaften sollten für ein sicheres Radwegenetz sorgen, da u.a. die vom Straßenverkehr ausgehenden Gefahren dem Radverkehr im Wege stehen.

4.   Seeverkehr

4.1   Ein Großteil des internationalen Handels wird über den Seeverkehr abgewickelt. Dieser Sektor wurde von der Krise stark getroffen und verfügt heute über Überkapazitäten. Es gilt, Desinvestitionen und den Verlust von Kompetenz und Sachwissen zu verhindern, die beim Einsetzen des Konjunkturaufschwungs verheerende Folgen hätten, zumal der europäische Seeverkehr weltweit Marktführer ist, gleiche Wettbewerbsbedingungen sichergestellt und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Flotte, die ein Mehrwert für die Europäische Union ist, gewährleistet werden müssen.

4.2   Kraftstoffe

4.2.1

In Schiffen kommen sehr umweltschädliche Raffinerie-Abfallprodukte zum Einsatz. Neben der unerlässlichen technologischen Weiterentwicklung müssen auch Überlegungen mit der Branche angestellt werden, wie die Umweltverschmutzung ausgeglichen werden kann. Sollte sich das Emissionshandelssystem als ungeeignet erweisen, dann wäre zu überlegen, ob vielleicht die Einführung einer Ökosteuer in Betracht gezogen werden sollte. Diese Frage sollte in den für Meeresfragen zuständigen internationalen Gremien erörtert werden.

4.2.2

Der Ausschuss bekräftigt seine Unterstützung für Investitionen in Forschung und Entwicklung zur Ökologisierung des Schiffbaus, der Kraftstoffe und der Häfen. Er fordert erneut, dass die im FuE-Rahmenprogramm geplanten Hochgeschwindigkeitsseewege („Meeresautobahnen“) endlich verwirklicht werden.

4.3   Sicherheit

4.3.1

Gefahren der See und Schiffsunglücke sind unvermeidlich. Es muss jedoch alles getan werden, um die Sicherheit der Passagiere und der Besatzung sowohl bei der Konstruktion als auch bei der Wartung der Schiffe zu gewährleisten. Der europäische Rechtsrahmen für die Seeverkehrssicherheit zählt zu den umfassendsten weltweit. Das illegale Reinigen leerer Tanks auf hoher See muss jedoch entschlossen bekämpft und hart bestraft werden.

4.4   Aus- und Weiterbildung

4.4.1

Für die Aufrechterhaltung und Entwicklung des europäischen Seeverkehrs müssen sich nach wie vor junge Menschen finden, die sich für maritime Berufe interessieren und diese auch wirklich dauerhaft ausüben wollen. Es gilt, die Qualität der Aus- und Weiterbildung der Seeleute sowie die Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord zu verbessern. Außerdem muss die Schiffsbesetzung aufgestockt werden.

5.   Binnenschifffahrt

5.1   Die Binnenschifffahrt ist insbesondere in Nordeuropa sehr gut entwickelt, sie könnte aber auch in anderen Ländern ausgebaut werden. Nach dem Vorbild der Maßnahmen für den Seeverkehr könnten Überlegungen zum Hochgeschwindigkeits-Güterverkehr auf Binnenwasserstraßen und im Fluss-See-Verkehr angestoßen werden, zumal diese Verkehrsart drei- bis viermal energieeffizienter und emissionsärmer als der Straßenverkehr ist. Dieses innovative Konzept kann sich nur dann entfalten, wenn neue Schiffstypen zum Einsatz kommen und Hafen- und Logistikplattformen errichtet werden.

5.2   Die Entwicklung neuer Schiffstypen für die Fluss-See-Schifffahrt und die Binnenschifffahrt ist der Schlüssel zur Schaffung neuer, effizienter und rentabler Binnenschifffahrtsdienste, die den Verkehrserfordernissen sowohl hinsichtlich Ladevolumen und Geschwindigkeit als auch Hafen- und Navigationsanforderungen gewachsen sind. Die Dimensionierung dieser Schiffstypen muss optimiert werden, um insbesondere Sattelanhänger und Container befördern zu können.

6.   Luftverkehr

6.1   Der Luftverkehr ist für 3 % der CO2-Emissionen verantwortlich. Die Emissionen sind im Vergleich zum Verkehrsvolumen seit 1990 zweimal langsamer gestiegen. Der Luftverkehr wird in das Emissionshandelssystem aufgenommen werden, und die Europäische Kommission hat die Frage einer Kerosinsteuer sowie der Abführung einer Mehrwertsteuer im innergemeinschaftlichen Flugverkehr aufgeworfen.

6.2   Der Aufschwung des Luftverkehrs ist auf die Liberalisierung und die Entwicklung von Billigfluglinien zurückführen, deren Ansiedlung aber oftmals mit der Gewährung staatlicher Beihilfen einherging. Diese sollte sinnvollerweise an die Verpflichtung zu Kompensationsmaßnahmen seitens des betreffenden Luftverkehrsunternehmens gekoppelt sein.

6.3   Die Luftverkehrssicherheit ist im Rahmen der Luftverkehrspolitik von grundlegender Bedeutung. Die Europäische Union sollte die Führungsrolle beim Aufbau eines internationalen Systems für Luftverkehrssicherheit übernehmen und sich auf der Konferenz der Internationale Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) im März 2010 in Montreal auch entsprechend positionieren.

6.4   Außerdem müssen die Vorbereitungen für einen reibungslosen Übergang zur zweiten Etappe der Schaffung eines „einheitlichen europäischen Luftraums“ nach 2012 getroffen und die schwierigen Verhandlungen zwischen den USA und der EU im Luftverkehr abgeschlossen werden.

7.   Infrastruktur

7.1   Der Ausschuss hat die Förderung der transeuropäischen Verkehrsnetze stets unterstützt. Er bekräftigt an dieser Stelle erneut diese seine Unterstützung, zeigt sich jedoch angesichts der finanziellen Schwierigkeiten und der Verzögerungen besorgt.

7.2   Mit der Erweiterung hat sich der Bedarf an Verkehrsinfrastruktur in der EU erhöht. Die Anpassung der bestehenden Finanzierungsinstrumente und die Einrichtung neuer Instrumente ist zu erwägen. Sämtliche Überlegungen müssen darauf abheben, eine nachhaltige Infrastruktur zu schaffen: öffentlich-private Finanzierungen, Erschließung neuer, nicht im Haushaltsplan vorgesehener Mittel usw.

7.3   Die Verkehrsinfrastruktur ist für die sozioökonomische Entwicklung und den regionalen Zusammenhalt von grundlegender Bedeutung, sie ist jedoch auch die Grundlage für ein nachhaltiges und umweltverträgliches Verkehrswesen. Die Wahl der Infrastruktur ist daher entscheidend. Die Zugänglichkeit der Regionen und ihre Anbindung an das nationale und europäische Verkehrsgefüge muss daher über die Förderung einer nachhaltigen, umweltgerechten Infrastruktur sichergestellt werden.

7.4   Aus den künftigen Leitlinien für die TEN-V, deren Veröffentlichung für Anfang 2011 geplant ist, sollte deutlich ersichtlich sein, dass die EU auf emissionsarme Verkehrsträger setzt.

7.5   Der Ausschuss bekräftigt seine volle Unterstützung für das GALILEO-Programm und betont, dass dieses ohne weitere Verzögerungen abgeschlossen werden muss.

8.   Internalisierung der Umweltkosten

8.1   Die Internalisierung der Umweltkosten ist ein Muss, das von niemandem angezweifelt wird. Ohne diese Internalisierung muss die Gesellschaft die Kosten tragen. Außerdem können sonst absurde wirtschaftliche Verhaltensweisen gefördert werden, indem Erzeugnisse, die die Verbraucher über kurze Entfernungen erhalten könnten, über große Entfernungen zu diesem befördert werden.

Das wirkungsvollste Mittel zur Internalisierung eines großen Teils der Umweltfolgen sollte nach Ansicht des Ausschusses eine Kohlendioxidsteuer sein. Sie wäre ein starker Anreiz für die Unternehmen, selbst nach Wegen zur Minderung ihres CO2-Ausstoßes und der damit verbundenen Umweltbelastung zu suchen.

8.2   Die Ökovignette kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, doch müssen die Modalitäten für ihre Umsetzung und ihre Auswirkungen sorgfältig geprüft werden. Dieses Konzept sollte in den zuständigen internationalen Gremien (ICAO und IMO) übrigens auch für den Luft- und den Seeverkehr in Betracht gezogen werden. Die erneute Diskussion im Rahmen der Überarbeitung der „Eurovignette“-Richtlinie ist zu begrüßen, doch darf dabei nicht vergessen werden, dass der Grundsatz der Internalisierung der externen Kosten allgemein auf alle Verkehrsarten Anwendung finden muss.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Siehe Stellungnahme des Ausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 1999/62/EG über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge“ (CESE 1947/2009, noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht) sowie Stellungnahme CESE 1195/2009 des Ausschusses zur „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Strategie zur Internalisierung externer Kosten“, ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 80.

(2)  Siehe ABl. C 161 vom 13.7.2007, S. 89, ABl. C 27 vom 3.2.2009, S. 49 und ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 78.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/30


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Industrieller Wandel im Sektor der motorisierten Zweiräder und Zukunftsperspektiven“ (Initiativstellungnahme)

2010/C 354/05

Berichterstatter: Virgilio RANOCCHIARI

Ko-Berichterstatter: Patrizio PESCI

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 16. Juli 2009 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Industrieller Wandel im Sektor der motorisierten Zweiräder und Zukunftsperspektiven“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 4. Februar 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 18. März) mit 140 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Sektor der motorisierten Zweiräder spielt sowohl aus wirtschaftlicher als auch beschäftigungspolitischer Sicht eine wichtige Rolle in der EU. Die Situation der Hersteller ist sehr unterschiedlich: Einige sind weltweit in sämtlichen Segmenten oder in sehr spezialisierten Segmenten tätig, andere operieren auf nationaler oder gar lokaler Ebene und sind mitunter dem Handwerk vergleichbar. Dies gilt auch für die Zulieferindustrie, in der die KMU stark vertreten sind (1).

1.2

Die negativen Auswirkungen des durch die Krise im letzten Quartal 2008 ausgelösten Nachfragerückgangs sind im gesamten Sektor zu spüren gewesen, was gravierende Folgen für die Struktur und die Beschäftigung hatte (die Nachfrage sank um 31 %, was einen Rückgang des Umsatzes und des Auftragsvolumens um 35 % nach sich zog und sich negativ auf die Beschäftigung auswirkte). Die für 2009 vorliegenden vorläufigen Zahlen bestätigen die negative Marktentwicklung mit einem Rückgang um 21 % gegenüber 2008 und um 25 % im Vergleich zu 2007.

1.3

Der EWSA befürchtet, dass es 2010 zu einem Verlust zahlreicher weiterer Arbeitsplätze kommt, wenn nicht schnellstmöglich eine gezielte Politik zur Förderung dieses Sektors entwickelt wird.

1.4

Der EWSA hat eine öffentliche Anhörung im Rahmen der 67. Internationalen Motorradmesse (Mailand, 12. November 2009) durchgeführt, um die Meinungen der Hersteller, Zulieferer, Gewerkschaften, Nutzer, NGO und Akademiker einzuholen. Diese Anhörung hat im Wesentlichen die von der Studiengruppe vertretenen Ansichten bestätigt.

1.5

Vor diesem Hintergrund betont der EWSA Folgendes:

a)

zur Belebung der Nachfrage nach motorisierten Zweirädern in den Mitgliedstaaten sind geeignete Maßnahmen erforderlich; er fordert die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die Durchführung oder Überarbeitung dieser vorübergehenden Maßnahmen zu fördern, unter besonderer Berücksichtigung umweltfreundlicherer und sichererer Fahrzeuge;

b)

die Kommission sollte bei der Ausarbeitung des anstehenden Vorschlags für eine Verordnung über motorisierte Zweiräder vom Sektor erreichbare Ziele vorgeben, schrittweise zu verwirklichende Ziele, die mit dem Design, der industriellen Fertigung und dem Markt in Einklang stehen, mit flexiblen Lösungen für die Industrie und somit weniger Mehrkosten für die Verbraucher, unter Berücksichtigung der Konjunktur und der großen Vielfalt der Produkte;

c)

um einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten, müssen die Typgenehmigung und die Märkte stärker überwacht werden und die Freihandelsabkommen zwischen der EU und Südostasien auf Gegenseitigkeit beruhen;

d)

die Kommission sollte für den Sektor der motorisierten Zweiräder einen mit CARS 21 (2) vergleichbaren Ansatz entwickeln, um die Partnerschaft innerhalb des Sektors, die Wettbewerbsfähigkeit und die Beschäftigung zu fördern;

e)

seines Erachtens kann das siebte Rahmenprogramm zur Verwirklichung dieser Ziele beitragen; er plädiert für die Schaffung einer speziellen Plattform für den Sektor der motorisierten Zweiräder zur Unterstützung der Unternehmen, die in Europa produzieren und die europäische Produktionskette nutzen;

f)

die Industrie sollte auch weiterhin den Weg der Umstrukturierungen, Fusionen und Übernahmen gehen und die Zusammenarbeit - auch mit den Zulieferern - verstärken, um möglichst große Synergien zu erzielen;

g)

der „soziale Dialog“ muss ausgebaut werden, um die Beschäftigung im Sektor zu fördern, wobei europäische Standards für das lebenslange Lernen und die Fachbildung der Arbeitnehmer festgelegt werden sollten und gleichzeitig für einen Rückgang der prekären Arbeitsverhältnisse gesorgt werden sollte;

h)

die Kommission sollte den motorisierten Zweirädern im Rahmen der im Aktionsplan zur Mobilität in der Stadt vorgesehenen Maßnahmen große Beachtung schenken, da diese zweifelsohne zu einer nachhaltigeren Mobilität beitragen können.

2.   Der Sektor der motorisierten Zweiräder in Europa

2.1

Der Sektor der motorisierten Zweiräder spielt sowohl aus wirtschaftlicher als auch beschäftigungspolitischer Sicht eine wichtige Rolle in der EU. Er weist zwar gewisse Ähnlichkeit mit der Automobilindustrie (3) auf, zeichnet sich aber vor allem durch eine Reihe von Besonderheiten aus, da er kleiner und stärker fragmentiert ist und eine stärker diversifizierte Produktion besitzt.

2.2

Dieser Sektor hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt, da die europäischen Traditionsmarken einer wachsenden japanischen Konkurrenz ausgesetzt waren. Die japanischen Hersteller, die heute zu den wichtigsten Akteuren des Sektors gehören, haben direkt in der EU Produktionstätigkeiten entwickelt. Mit der Zeit hat sich der Sektor in Europa durch Umstrukturierungen, Fusionen und Übernahmen und die Entstehung mittelgroßer Industriekonzerne, die sich den Markt mit Nischenherstellern und zahlreichen KMU teilen, neu organisiert.

Die „traditionellen“ europäischen, japanischen und amerikanischen Hersteller sind derzeit auf dem europäischen Markt führend, aber seit den 90er Jahren sind sie einer zunehmenden Konkurrenz durch die aufstrebenden Volkswirtschaften ausgesetzt. Im Hinblick auf die Zahl der hergestellten Fahrzeuge ist die Produktion in der EU relativ gering (1,4 Mio.), insbesondere im Vergleich zu China (mehr als 20 Mio.), Indien (mehr als 8 Mio.) und Taiwan (1,5 Mio.), allerdings zeichnet sie sich durch einen größeren Mehrwert und mehr Innovation, Qualität und Sicherheit aus.

2.3

In den Statistiken von Eurostat wird der Sektor der motorisierten Zweiräder unter dem Code NACE 35.41 geführt. Jüngsten Daten aus dem Jahr 2006 zufolge sind in der Herstellung von motorisierten Zweirädern in der EU-27 870 Unternehmen tätig, von denen sich 80 % in sechs Mitgliedstaaten (Italien, Vereinigtes Königreich, Deutschland, Frankreich, Spanien und Österreich) befinden. Der durchschnittliche Umsatz von 8 Mio. EUR deutet auf die große Anzahl von KMU hin, die auf 650 geschätzt wird, sprich ca. 75 % aller Unternehmen.

2.4

90 % der europäischen Produktion gehen auf etwa Hundert mittelgroße und mittelkleine Herstellungsbetriebe zurück, die in verschiedenen Mitgliedstaaten der EU tätig sind (neben den oben genannten Ländern auch in der Tschechischen Republik, den Niederlanden, Portugal, Slowenien und Schweden) sowie in Norwegen und in der Schweiz. Die übrigen 10 % der europäischen Produktion teilen sich kleine und sehr kleine Herstellungsunternehmen.

2.5

Die Situation der Hersteller ist sehr unterschiedlich: Einige sind weltweit in sämtlichen Segmenten (Motorräder für unterschiedliche Nutzungszwecke und mit unterschiedlichem Hubraum, Motorroller mit unterschiedlichem Hubraum, Mopeds, vier- und dreirädrige Krafträder) oder in sehr spezialisierten Segmenten tätig, andere operieren auf nationaler oder gar lokaler Ebene und sind in Bezug auf die Größe und den Fertigungsprozess mitunter dem Handwerk vergleichbar.

2.6

In den technischen Vorschriften (europäische Typgenehmigung) sind unterschiedliche Kategorien von motorisierten Zweirädern festgelegt, die unterschiedliche Merkmale (Hubraum, Nutzungszweck) aufweisen. In der europäischen Führerscheinrichtlinie werden verschiedene Bedingungen für den Zugang zu motorisierten Zweirädern festgelegt (Kleinkrafträder der Klasse AM, Krafträder der Klasse A1, Krafträder der Klasse A2, Krafträder der Klasse A). Durch diese differenzierte Unterteilung wird einer Fragmentierung der Produktion Vorschub geleistet, und die Skalenerträge werden reduziert.

2.7

Die Fragmentierung in der Branche der motorisierten Zweiräder hat zum Teil historische Gründe, ist in erster Linie aber auf die Beschaffenheit des Marktes für motorisierte Zweiräder zurückzuführen. Während die stärker auf die praktische Nutzung als Fortbewegungsmittel (insbesondere für die städtische Mobilität) ausgerichteten Segmente wie die Motorroller größere Synergien bei der Herstellung - insbesondere im Hinblick auf die Motorisierung - ermöglichen, eignen sich die mit dem Motorrad zusammenhängenden Segmente weniger für Synergien wie die Verwendung derselben Motoren und Bauteile bei Modellen verschiedener Marken. Vor allem unterscheiden sich die dynamischen Eigenschaften je nach der Dimensionierung der Fahrzeuge stark, zu denen die Unterschiede hinzukommen, die sich aus dem jeweiligen Nutzungszweck der Fahrzeuge ergeben, und schließlich werden von den Nutzern unterschiedliche Erwartungen an sie gestellt. In vielen Fällen werden die einzelnen Marken stark mit einer bestimmten Kraftrad- oder Motorkonfiguration (z.B. dem Boxermotor von BMW, der desmodromischen Ventilsteuerung von Ducati, dem V2-Motor von Moto Guzzi, dem Dreizylindermotor von Triumph) in Verbindung gebracht, entsprechend der Nachfrage eines Marktes, der zum Großteil aus Liebhabern besteht, was sowohl für den europäischen Markt als auch die Exportmärkte gilt.

2.8

Die Fahrzeuge werden in kleinen Serien und in begrenzter Stückzahl gefertigt, so dass die Rendite des investierten Kapitals niedriger ist als in der Automobilindustrie. Dies spiegelt sich teilweise auch in der Zulieferindustrie und im Handel wider.

2.9

Gestützt von einem seit 2002 expandierenden Gemeinschaftsmarkt (+22 % im Zeitraum 2002-2007) betrug 2006 der mit der EU-Produktion erzeugte Umsatz 7 Mrd. EUR bei einem Gesamtumsatz von 34 Mrd. EUR im Sektor der motorisierten Zweiräder in der EU. Interessanterweise hatte der Sektor in der EU im Zeitraum 2004-2006 ein Wachstum von 12 % zu verzeichnen, also einen Prozentsatz, der höher liegt als in der Herstellungsindustrie im Allgemeinen und als in der Automobilindustrie (in beiden Fällen 8 %), was sich positiv auf die Beschäftigung ausgewirkt hat.

3.   Die Rolle der vor- und nachgelagerten Branchen: Zulieferindustrie, Vertrieb und Kundendienst

3.1

Die starke Fragmentierung ist auch ein Merkmal der Zulieferindustrie und des Vertriebs.

3.2

Ausstattung und Zubehör stammen teilweise von den Zulieferern der Automobilindustrie, die in geringem Umfang auch im Sektor der motorisierten Zweiräder tätig sind (Kraftstoffzufuhrsysteme), aufgrund der erforderlichen Spezialisierung vor allem aber von Zulieferern spezifischer Bauteile (Räder, Auspuffanlage, Bremsen usw.). Die Zahl der Zulieferbetriebe wird auf ca. 500 geschätzt. Es handelt sich hierbei herkömmlicherweise um europäische Unternehmen (die in Italien, Spanien und Frankreich, im Vereinigten Königreich, in Deutschland und in den Niederlanden konzentriert sind), jedoch hat in den vergangenen Jahren die Konkurrenz durch asiatische Zulieferbetriebe zugenommen. Um dieser Konkurrenz die Stirn zu bieten, haben einige europäische Zulieferer ihrerseits ihre Tätigkeit teilweise nach Asien verlagert. Die europäischen Bauteilelieferanten sind jedoch voll und ganz auf die Aufträge der europäischen Hersteller angewiesen.

3.3

Das Vertriebs- und Kundendienstnetz ist so gestaltet, dass es das den motorisierten Zweirädern eigene Erfordernis der Kundennähe erfüllt (insbesondere im Hinblick auf Mopeds und Motorroller): In der EU gibt es ca. 37 000 Verkaufs- und Kundendienststellen, die häufig in Form von Familienunternehmen betrieben werden. 91 % des Umsatzes der Vertriebs- und Kundendienstbranche kommen aus Italien, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Deutschland, Spanien, den Niederlanden, Griechenland und Schweden; im Zeitraum 2004-2006 ist er um 5 % gestiegen.

4.   Beschäftigung und soziale Aspekte

4.1

Im Zeitraum 2002-2007 hat die Zahl der im Sektor der motorisierten Zweiräder Beschäftigten in der EU ständig zugenommen und 2007 einen Stand von 150 000 Arbeitsplätzen erreicht. Es ist interessant, dass im Zeitraum 2004-2006 in der EU der Beschäftigungsstand in diesem Sektor um 4 % gestiegen ist, während er in der Herstellungsindustrie im Allgemeinen um 3 % und in der Automobilindustrie um 5 % gesunken ist. Dieses Wachstum zeugt von der Dynamik und Innovationskraft des Sektors und wird in diesen schwierigen Zeiten von einer wachsenden Nachfrage nach Fahrzeugen für die Mobilität in der Stadt oder Freizeitzwecke vorangetrieben.

4.2

25 000 dieser Arbeitsplätze stehen unmittelbar mit der Herstellung von motorisierten Zweirädern in Zusammenhang und befinden sich vorwiegend in Italien, Spanien, Frankreich, im Vereinigten Königreich, in Deutschland, Österreich und in den Niederlanden. Die Saisonabhängigkeit des Marktes für motorisierte Zweiräder (Nachfragehoch im Frühjahr und Sommer) führt dazu, dass es zu bestimmten Zeiten im Jahr zu Produktionsspitzen kommt, weshalb die Hersteller dann auch auf Saisonarbeiter zurückgreifen. Es besteht also ein Bedarf an größerer Flexibilität, um die vorübergehenden Bedürfnisse des Marktes zu befriedigen.

4.3

20 000 Arbeitsplätze hängen mit der Zulieferindustrie zusammen und befinden sich hauptsächlich in Italien, Spanien, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Deutschland, den Niederlanden und Ungarn.

4.4

105 000 Arbeitsplätze betreffen den Verkauf und den Kundendienst. Aufgrund der Art der Tätigkeit sind sie überall in der EU zu finden, auch wenn 92 % der Arbeitnehmer in Italien, Deutschland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Spanien, den Niederlanden, Griechenland, Belgien und Schweden beschäftigt werden.

5.   Die aktuelle Wirtschaftslage und die internationalen Tendenzen

5.1

Die oben angeführten Zahlen deuten darauf hin, dass der Sektor der motorisierten Zweiräder in den vergangen Jahren eine große Dynamik zu verzeichnen hatte, wobei der europäische Markt ein Wachstum aufwies, das 2007 mehr als 2,7 Mio. Fahrzeugen (der Fahrzeugbestand in der EU wird auf ca. 34 Mio. Fahrzeuge geschätzt) entsprach. Die Krise, die die EU in den letzten zwei Jahren getroffen hat, hat jedoch dazu geführt, dass 2008 der Markt der EU gegenüber 2007 um 7,4 % geschrumpft ist. Insbesondere war im letzten Quartal von 2008 ein erheblicher Rückgang (34 %) im Vergleich zu demselben Zeitraum 2007 zu verzeichnen. Diese negative Tendenz hat sich im ersten Quartal 2009 verschärft, in dem die Verkaufszahlen bei den motorisierten Zweirädern gegenüber demselben Zeitraum 2008 um 37 % sanken. Die negative Marktentwicklung wird durch die noch vorläufigen Zahlen für 2009 bestätigt, die einen Rückgang um insgesamt 21 % gegenüber 2008 und 25 % im Vergleich zu 2007 zeigen.

5.2

Die Auswirkungen der Krise sind im gesamten Sektor zu spüren. Für die Hersteller bedeutete der Rückgang der Verkaufszahlen nicht nur erhebliche Gewinneinbußen, sondern auch eine Drosselung der Produktion, um die Überbestände abzubauen. Der Produktionsrückgang hat wiederum zu einer Arbeitszeitkürzung, Produktionsstillständen und einem geringeren Einsatz von Saisonarbeitern geführt, in deren Folge die kurz- und mittelfristigen Unternehmenspläne revidiert werden mussten. In einigen Fällen mussten dauerhaft Arbeitsplätze abgebaut werden, bis zu 25 %. Einige mittelgroße und kleine Hersteller haben Konkurs angemeldet und stehen zum Verkauf, andere haben direkt den Betrieb eingestellt. Diese Entwicklungen sind Vorbote weiterer Umstrukturierungen, auch wenn sich die Folgen für das soziale und wirtschaftliche Gefüge in Form etwaiger Verlagerungen von Unternehmen in Länder außerhalb Europas nur schwer voraussagen lassen.

5.3

Auch die Zulieferer müssen infolge des Einbruchs der Nachfrage seitens der Hersteller die Produktion drosseln mit allen Folgen, die dies für die Beschäftigung mit sich bringt. Einige mussten ihre Tätigkeit einstellen, und aktuellen Schätzungen zufolge droht ca. 10 % der Zulieferer des Sektors der Konkurs. Diese Situation verursacht auch den Herstellern Zusatzkosten, da sie unvorhergesehene Investitionen tätigen müssen, um die Teilezulieferer zu unterstützen oder um andere Zulieferer zu finden, wobei sogar neue Formen bzw. Matrizen für Teile aus Aluminium oder Kunststoff entwickelt werden müssen, um nicht mehr verfügbare Zulieferteile zu ersetzen. Derzeit ist bei den Aufträgen und beim Umsatz ein Rückgang von ca. 40 % zu verzeichnen. Nicht selten greifen zahlreiche Hersteller auf Zulieferer aus Südostasien zurück, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

5.4

Der Vertriebs- und Kundendienstsektor wurde unter anderem aufgrund der Tatsache, dass es sich häufig um kleinere Unternehmen (KMU und Familienbetriebe) handelt, stark von der Krise und dem Rückgang der Wirtschaftstätigkeit getroffen. So ist in Spanien 2008 die Zahl der Verkaufsstellen um 25 % geschrumpft, wodurch mehr als 6 000 Personen ihren Arbeitsplatz verloren haben. Wenn sich diese Tendenz fortsetzt, werden 2009 und 2010 in Spanien voraussichtlich ca. 25 % der Unternehmen und der Vertragshändler und 60 % der Vertreter schließen. Die Auswirkungen der Krise auf das Vertriebsnetz verursachen auch den Herstellern zusätzliche Kosten, da sie das Netz unterhalten müssen, um sich die Absatzmöglichkeiten für ihre Produkte zu bewahren und vom wirtschaftlichen Wiederaufschwung profitieren zu können, wenn es so weit ist.

5.5

Der EWSA befürchtet, dass es 2010 zu einem Verlust zahlreicher weiterer Arbeitsplätze kommt, wenn nicht schnellstmöglich eine gezielte Politik zur Förderung dieses Sektors entwickelt wird. Um die Beschäftigungsquote im Sektor aufrechtzuerhalten muss zudem der „soziale Dialog“ ausgebaut werden, wobei das lebenslange Lernen und die Fachbildung der Arbeitnehmer - auch auf Hochschulniveau - gefördert und gleichzeitig für einen Rückgang der prekären Arbeitsverhältnisse gesorgt werden sollte.

5.6

Bislang wurden nur vereinzelte und unzureichende Maßnahmen zur vorübergehenden Förderung der Nachfrage nach motorisierten Zweirädern ergriffen. Im Gegensatz zum Automobilsektor hat in Europa nur Italien rasch eine Verschrottungsprämie eingeführt, die sich positiv auf den italienischen Markt und somit Europa ausgewirkt hat und durch die die umweltschädlichsten Fahrzeuge aus dem Verkehr gezogen wurden. Hatte der Markt in Italien in den ersten beiden Monaten von 2009 noch einen Rückgang von ca. 35 % zu verzeichnen, so war die Situation danach für Motorroller mit geringem Hubraum positiv, die von einer Prämie von 500 EUR für die Verschrottung veralteter Fahrzeuge profitiert haben, während die Lage bei den Motorrädern und Mopeds, bei denen ein Rückgang von insgesamt mehr als 20 % zu verzeichnen war, weiterhin schlecht aussieht. Spanien hat zwar im Juli endlich eine schon seit Monaten angekündigte Verschrottungsprämie eingeführt, wendet diese aber immer noch nicht an, mit dem Ergebnis, dass die Verbraucher abwarten und somit der Verkauf weiter gebremst wird (im Zeitraum von Januar bis August 2009 wurden 52 % weniger Mopeds verkauft und 43 % weniger Motorräder im Vergleich zu demselben Zeitraum 2008). Aus diesem Beispiel wird ersichtlich, wie wichtig ein europäischer Rechtsrahmen ist, der für eine größere Stabilität auf den nationalen Märkten sorgt und somit das Vertrauen der Verbraucher stärkt.

5.7

Zwar sind die Maßnahmen zur Stützung der Nachfrage für die Verbraucher sicherlich von Vorteil, doch lösen sie nicht unbedingt das Problem der Zulieferindustrie oder des europäischen Sektors für motorisierte Zweiräder. In Italien hat beispielsweise die Einführung der pauschalen Prämie von 500 EUR zur Folge gehabt, dass der Verkauf aus Taiwan importierter kleiner Motorroller mit 125 und 150 Kubikzentimetern Hubraum und einem Verkaufspreis von 1 500 EUR bis 2 000 EUR exponentiell gestiegen ist - in geringerem Maße kam sie auch den teureren europäischen Produkten zugute -, während die Prämie keine nachfragefördernde Wirkung bei mittelgroßen motorisierten Zweirädern mit einem Preis zwischen 6 000 EUR und 8 000 EUR hatte. Die europäischen Zulieferer konnten keinerlei Nutzen aus dieser Maßnahme ziehen, da sie nicht die asiatischen Hersteller beliefern. Damit der gesamte Sektor davon profitiert, müssen nachfragefördernde Maßnahmen in Form einer proportional zum Verkaufspreis des geförderten Fahrzeugs steigenden Prämie ergriffen werden, wobei insbesondere Fahrzeuge mit fortschrittlichen Lösungen in punkto Umweltfreundlichkeit und fortschrittlichen Sicherheitssystemen gefördert werden sollten.

5.8

Den in diesem Sektor tätigen europäischen Unternehmen muss dringend der Zugang zu Finanzierungen erleichtert werden, damit sie die durch die Krise verursachten Zusatzkosten auffangen und weiter in Forschung, Entwicklung und Investition investieren können (Hersteller und Zulieferer gemeinsam), um auch weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben, indem sie auf Qualität und Innovation setzen, und um zunehmend umweltfreundliche und sichere Fahrzeuge bauen zu können.

6.   Zukunftsaussichten für den Sektor: Herausforderungen und Chancen

6.1

Sollten sich die negativen Ergebnisse des ersten Halbjahrs 2009 im restlichen Jahr bestätigen, würde der gesamte Sektor im Jahr 2010 seine Kreditwürdigkeit bei den Banken schwinden sehen. Auch im Falle eines bevorstehenden Wiederaufschwungs würde die Investitions- sowie die Forschungs- und Entwicklungskapazität des Sektors abnehmen, was mittelfristig negative Konsequenzen nach sich ziehen und somit die Unternehmen stark schwächen würde, was möglicherweise weitere Folgen für die Beschäftigung haben könnte.

6.2

Im vergangenen Jahrzehnt - von der Einführung der Euro-I-Norm 1999 bis zu den heute geltenden Normen - ist es dem Sektor gelungen, die schädlichen Emissionen erheblich zu reduzieren, nämlich das Kohlenmonoxid (CO) und die Kohlenwasserstoffe (HC) um 90 % und das Stickoxid um mehr als 50 %. Auch im Hinblick auf die Lärmbelästigung sind ermutigende Ergebnisse erzielt worden; im gesamten Sektor (einschließlich der Verbraucherverbände) wird noch an weiteren Verbesserungen gearbeitet, die sich in erster Linie im Straßenverkehr durch die ausschließliche Verwendung zugelassener Auspuffanlagen und eine umweltfreundlichere Fahrweise erreichen lassen. Hinsichtlich der Sicherheit hat der Sektor Innovationsgeist gezeigt und eine Reihe fortschrittlicher Bremssysteme entwickelt, die nach und nach in die verschiedenen Arten von motorisierten Zweirädern eingebaut werden, darunter auch neuartige Fahrzeuge wie dreirädrige und vierrädrige Krafträder.

6.3

Die Kommission erarbeitet derzeit einen Vorschlag für eine Verordnung über motorisierte Zweiräder, die für Anfang 2010 erwartet wird. Zwar sind im Bereich Umwelt und Sicherheit auch weiterhin Fortschritte erforderlich, doch müssen bei der aktuellen Wirtschaftslage unbedingt störende Veränderungen vermieden werden und den tatsächlichen Kapazitäten des Sektors und der Größe seiner Akteure Rechnung getragen werden. Für die neuen Euronormen müssen vom Sektor erreichbare Ziele vorgegeben werden, und es muss eine schrittweise Umsetzung vorgesehen werden, die mit den von Design, Fertigung und Markt vorgegebenen Fristen in Einklang stehen. Bei der neuen Verordnung sollte ein Ansatz bevorzugt werden, der es dem Sektor ermöglicht, aus der eigenen Innovationsfähigkeit Kapital zu schlagen, indem ihm ein Maß an Flexibilität gewährt wird, das der Konjunktur und der großen Vielfalt (im Hinblick auf die technischen Merkmale und den Markt) der Erzeugnisse Rechnung trägt, insbesondere in Bezug auf die größere Verbreitung fortschrittlicher Bremssysteme. Die Industrie hat in diesem Zusammenhang der Kommission bereits Vorschläge hinsichtlich der Umweltfreundlichkeit und der Straßenverkehrssicherheit unterbreitet.

6.4

Die „traditionellen“ Hersteller sind - besonders bei der aktuellen Wirtschaftslage - zunehmend einer Konkurrenz durch qualitativ minderwertige Billigprodukte ausgesetzt, die vorwiegend aus Südostasien stammen, insbesondere bei den motorisierten Zweirädern mit kleinem und mittlerem Hubraum, die geringe Gewinnmargen bieten. Untersuchungen haben gezeigt, dass diese importierten Produkte häufig nicht die Anforderungen für die europäische Typgenehmigung erfüllen und Gefahren für die Sicherheit der Verbraucher und für die Umwelt mit sich bringen. Tests an aus China in die EU importierten motorisierten Zweirädern haben Normabweichungen gezeigt, die zu einer Verlängerung des Bremswegs um bis zu 35 % sowie zu einer Überschreitung der aufgrund der EU-Typengenehmigung zulässigen Schadstoffemissionen um das bis zu Zwanzigfache führen. Auch gibt es Probleme im Zusammenhang mit der Nachahmung europäischer Fahrzeuge oder Fahrzeugteile durch Hersteller der aufstrebenden Volkswirtschaften sowie mit der Fälschung von Konformitätsbescheinigungen durch Handelsunternehmen, die nicht konforme Fahrzeuge in die EU importieren. In einem Segment des EU-Marktes, das sehr sensibel auf die Preise reagiert, muss - um einen fairen Wettbewerb sicherzustellen - für eine stärkere Überwachung der Typgenehmigung und der Märkte gesorgt werden, indem von den zuständigen Behörden und/oder den technischen Prüfstellen strenge Konformitätskontrollen der in den Handel gebrachten Fahrzeuge durchgeführt werden, um zu überprüfen, ob sie mit der Typengenehmigung übereinstimmen und die Rechte des geistigen Eigentums gewahrt werden.

6.5

Die „traditionellen“ Hersteller werden hingegen von den Verbrauchern für das Design, die Qualität der Produkte und deren Innovations- und Sicherheitsgrad belohnt. Dies zeigt sich bei den Fahrzeugen der oberen Preisklasse mit kleinem und mittlerem Hubraum und ganz besonders bei Fahrzeugen mit großem Hubraum, die einen hohen Mehrwert aufweisen und sich durch die gewählten technischen Lösungen auszeichnen und bei denen die Marke eine große Rolle spielt. Diese Produkte sind am stärksten von der gegenwärtigen Wirtschaftslage betroffen. Eine größere Verbreitung von technisch fortschrittlichen Fahrzeugen wie beispielsweise Hybrid- und Elektrofahrzeugen, die allmählich auf den Markt kommen, wird großenteils von der Unterstützung des öffentlichen Sektors abhängen und somit von dem Vermögen, die aktuelle Krise zu überwinden.

6.6

Den Freihandelsabkommen sollte besondere Beachtung geschenkt werden, um sicherzustellen, dass die Liberalisierung der Zölle zwischen der EU und den südostasiatischen Ländern beiden Seiten zugute kommt und die nichttarifären Handelshemmnisse (wie das in China für motorisierte Zweiräder mit einem Hubraum von mehr als 250 Kubikzentimeter Hubraum erlassene Fahrverbot), die ein großes Problem für die europäischen Exporteure darstellen, abgebaut werden.

6.7

Um die aktuellen Herausforderungen bewältigen zu können, müssen die europäischen Hersteller wie bereits in der Vergangenheit auch weiterhin den Weg der Umstrukturierungen, Fusionen und Übernahmen gehen und die Zusammenarbeit verstärken, um möglichst große Synergien zu erzielen.

6.8

Das Fortbestehen der europäischen Zulieferbetriebe ist wesentlich, um die Besonderheiten der unverkennbaren europäischen Produktion zu bewahren, die von den Verbrauchern als exklusiv anerkannt wird. Genauer gesagt muss vermieden werden, dass sich beispielsweise das Szenario der Fahrradindustrie wiederholt, in der Hersteller wichtiger Bauteile wie zum Beispiel Rahmen verschwunden sind, mit dem Ergebnis, dass Europa beim Fahrradbau nun von China abhängig ist.

6.9

Die europäischen Zulieferer können im Preiswettbewerb nicht bestehen und müssen notgedrungen auf Innovation, auf die Entwicklung gemeinsamer Designvorhaben mit den Herstellern, um - soweit als möglich - Größenvorteile zu erreichen, sowie auf eine echte Partnerschaft setzen, die den Auftragsstrom zwischen den Herstellern und Zulieferern bei Fahrzeugen der oberen Preisklasse in Gang hält.

6.10

Um diese Herausforderungen so gut wie möglich zu bewältigen, die Wettbewerbsfähigkeit des Sektors zu fördern und die Arbeitsplätze zu schützen, ist ein Ansatz erforderlich, der mit CARS 21 vergleichbar, aber auf den Sektor der motorisierten Zweiräder in seiner Gesamtheit zugeschnitten ist.

6.11

Die für die Forschung im Rahmen des siebten Rahmenprogramms verfügbaren Mittel können zur Erreichung dieser Ziele beitragen, wenn Unternehmen bevorzugt werden, die in Europa produzieren und auf die europäische Produktionskette zurückgreifen. Nach dem Vorbild der Automobilindustrie könnte hier eine spezielle Forschungsplattform für den Sektor der motorisierten Zweiräder - insbesondere für die KMU - durch die Mitwirkung an Arbeitsgemeinschaften zur Festlegung von Forschungsprioritäten einen grundlegenden Beitrag leisten.

6.12

Die Kommission hat unlängst einen Aktionsplan zur Mobilität in der Stadt vorgelegt, zu dessen Zielsetzungen es gehört, für einen besseren Verkehrsfluss sorgen, was zu den charakteristischen Eigenschaften motorisierter Zweiräder gehört. Der Sektor der motorisierten Zweiräder hatte unter der Krise zu leiden, wird aber auf lange Sicht von dem wachsenden Bedarf an alternativen emissionsarmen Fahrzeugen für eine nachhaltigere Mobilität profitieren, insbesondere in den Städten, vorausgesetzt, die derzeitigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten können mittelfristig ohne dauerhafte Schäden überwunden werden.

Brüssel, den 18. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Eine Herstellerliste und weitere Informationen über den Sektor der motorisierten Zweiräder sind auf der Internetseite der CCMI zu finden: http://www.eesc.europa.eu/sections/ccmi/opinions_reports/total_list/index_en.asp#PTW

(2)  Ein wettbewerbskompatibles Kfz-Regelungssystem für das 21. Jahrhundert (hochrangige Gruppe „CARS 21“, 2007).

(3)  Siehe Informationsbericht der CCMI zum Thema „Die Kraftfahrzeugindustrie in Europa: gegenwärtige Situation und Aussichten“, der am 13. November 2007 von der CCMI angenommen wurde.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/35


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik 2013“ (Initiativstellungnahme)

2010/C 354/06

Berichterstatter: Lutz RIBBE

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 16. Juli 2009 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik 2013“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 25. Februar 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 461. Plenartagung am 17. und 18. März 2010 (Sitzung vom 18. März) mit 163 gegen 5 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Der EWSA sieht mit großer Sorge, dass die Diskrepanz zwischen den Bekenntnissen zum Europäischen Agrarmodell bzw. Multifunktionalität und der täglichen Realität für die landwirtschaftlichen Betriebe weiterhin ständig wächst. Umso entschiedener und gezielter muss das Europäische Agrarmodell, das heute mehr denn je durch die aktuellen Entwicklungen bedroht ist, durch eine starke Gemeinsame Agrarpolitik gestützt und gefördert werden.

1.2   Die Landwirte sind von den Märkten her - oft durch niedrige oder stark schwankende Preise - einem starken Anpassungsdruck in Richtung betrieblicher Spezialisierung und Rationalisierung ausgesetzt. Diese Prozesse können zu einer problematischen regionalen Konzentration und zu einer Aufgabe der Landwirtschaft in benachteiligten Gebieten führen. Angesichts dieses Anpassungsdrucks hält es der EWSA für dringlich erforderlich, dass mittels der Gemeinsamen Agrarpolitik in Zukunft die Bewahrung und Entwicklung einer multifunktionalen flächendeckend betriebenen und an Nachhaltigkeitszielen orientierten Landwirtschaft gefördert wird.

1.3   Für den EWSA ist klar: Das pure Abstellen auf Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zwecks Bedienung des Weltmarktes greift zu kurz. Nicht eine an Niedrigstpreisen orientierte, rein betriebswirtschaftlich optimierte, spezialisierte und regional konzentrierte Produktion darf die GAP nach 2013 leiten, sondern das Europäische Agrarmodell, das auf den Grundsätzen der Ernährungssouveränität, der Nachhaltigkeit und den realen Bedürfnissen von Landwirten und Verbrauchern basieren sollte.

1.4   Dies setzt andere agrarpolitische Rahmenbedingungen voraus, denn zu Weltmarktbedingungen und -preisen ist die gewünschte multifunktionale Landwirtschaft nicht zu haben.

1.5   Der EWSA ruft Kommission, Rat und EP auf, zunächst das Ziel der GAP unmissverständlich zu beschreiben, anschließend das dafür notwendige Instrumentenbündel darzustellen und den benötigten Finanzbedarf offenzulegen. Danach erst ist die Finanzierungsfrage zu klären. Der EWSA hält es für falsch, zunächst eine Finanzsumme für einen Aufgabenbereich festzusetzen, und dann diese Summe auf Einzelmaßnahmen und Mitgliedstaaten aufzuteilen.

1.6   „Marktstabilisierung“ ist nach dem Vertrag eines der Ziele der GAP. Stabile Märkte sind wichtig. Deshalb hält der EWSA auch künftig den Einsatz von Marktinstrumenten für wichtig, um Preise zu stabilisieren und zu starke Preisschwankungen zu vermeiden. Doch Maßnahmen zur Marktregulierung bzw. Sicherung der Erzeugerpreise wurden auf ein Minimum reduziert, gegenüber Drittstaaten zählen die EU-Agrarmärkte zu den offensten. Daraus ergibt sich ein Großteil der Probleme, die auf Dauer nicht allein mit Transferzahlungen ausgeglichen werden können.

1.7   Agrarpolitik ist also mehr als Geld verteilen. Landwirte erwarten zu Recht, dass sie ein gerechtes Einkommen aus dem Verkauf ihrer Erzeugnisse am Markt und der Honorierung der gesellschaftlichen Leistungen, die sie im Rahmen des Europäischen Agrarmodells erbringen, erzielen.

1.8   Zu diesem Zweck ist es außerdem notwendig, die Erzeugung und Vermarktung von Qualitätsprodukten als Ausdruck der Regionalität und der Vielfalt ländlicher Gebiete in der EU zu unterstützen, indem kurze Vertriebswege und der unmittelbare Zugang von Landwirten oder Zusammenschlüssen von Produzenten gefördert werden, um so die Wettbewerbsfähigkeit landwirtschaftlicher Betriebe zu steigern und der übermächtigen Verhandlungsposition der großen Handelsketten zu begegnen. Die Vielfalt und Unterscheidungsmerkmale der europäischen Produkte müssen auch mittels korrekter Verbraucherinformationen erhalten werden.

1.9   Eine wichtige Aufgabe der Reform wird es sein, das derzeitige uneinheitliche Agrarfördersystem der EU in ein einheitliches, auf objektiven Maßstäben beruhendes, gesellschaftlich akzeptiertes System zu überführen.

1.10   Die Zahlungen an die Landwirte können nicht länger mit historischen Entscheidungen oder Ansprüchen begründet werden, sie sollen die - genau zu definierenden - gesellschaftlichen Leistungen abgelten, die zur Aufrechterhaltung des Europäischen Agrarmodells nötig sind und sich nicht in den Marktpreisen widerspiegeln. Sie sind somit zielorientiert auszurichten.

1.11   Für eine europaweit einheitliche Flächenprämie gibt es u.a. aufgrund der großen strukturellen und agroklimatischen Bedingungen, stark divergierender nationaler und regionaler Durchschnittseinkommen, der stark divergierenden Input- und Produktionskosten und den unterschiedlichen Leistungen, die von den unterschiedlichen Betrieben und Betriebstypen zur Aufrechterhaltung des Europäischen Agrarmodells erbracht werden, keine Begründung. Vielmehr müssen angepasste regional- und betriebstypenspezifische Lösungen gefunden werden.

1.12   Die Programme zur ländlichen Entwicklung sind weiter auszubauen, aber auch zu optimieren. Einer Übertragung entsprechender Aufgaben in die allgemeine Struktur- bzw. Regionalpolitik wird eine klare Absage erteilt. Gleichwohl vertritt der Ausschuss die Auffassung, dass die Maßnahmen aus dem heutigen ELER einen klaren landwirtschaftlichen Bezug haben sollten; Straßenbau und Breitbandverkabelung fallen nicht hierunter.

2.   Aufgabenstellung

2.1   Die Europäische Kommission wird im Jahr 2010 eine Mitteilung zur zukünftigen Gestaltung ihrer Politikschwerpunkte und des zukünftigen Haushaltsrahmens ab 2014 vorlegen. Darin werden auch Aussagen zur Ausrichtung der Gemeinschaftspolitiken wie der GAP und den Strukturfonds gemacht.

2.2   Ziel dieser Initiativstellungnahme ist es, grundsätzliche Gedanken der organisierten Zivilgesellschaft zur zukünftigen Ausrichtung und Gestaltung der GAP zu formulieren. Damit sollen der Kommission Argumente und Empfehlungen für die Erarbeitung der Mitteilung gegeben werden.

3.   Die Ausgangssituation: Das „Europäische Agrarmodell“ - das agrarpolitische Leitbild Europas - ist bedroht

3.1   Die Erwartungen der Gesellschaft an die Landwirtschaft haben sich stark verändert. Es geht längst nicht mehr allein um die Zielsetzungen des Artikels 33 des EG Vertrags, die unverändert in den neuen Lissabon-Vertrag übernommen wurden, wie z.B. durch Produktivitätsentwicklungen ausreichend Nahrungsmittel zu angemessenen Preisen zu produzieren.

3.2   Neue Herausforderungen wie: Sicherung der Biodiversität, flächendeckende Erhaltung der Kulturlandschaft, Entwicklung ländlicher Räume inklusive der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen, regionale Produkte als Kulturgut etc. sind hinzugekommen. Die Landwirtschaft muss ferner mit den Folgen des Klimawandels klarkommen, sie soll zudem Beiträge zur Speicherung von Kohlendioxid leisten.

3.3   Die weltweite Hungerkrise, aber auch die problematische Lage auf den Energiemärkten lassen weitere besonders wichtige Funktionen einer heimischen, sprich regional verankerten Landwirtschaft immer deutlicher werden, wie die Ernährungssicherheit bzw. Ernährungssouveränität sowie die Bedeutung als Energielieferant.

3.4   Nahrungsmittelsicherheit muss ein Grundrecht aller Menschen sein. Auch wenn keine 100 %ige Eigenversorgung notwendig ist, sollte es Ziel sein, einen möglichst hohen Eigenversorgungsgrad (z.B. Ernährungssouveränität) zu erreichen.

3.5   Mit dem landwirtschaftlichen Anbau ist oft ein Stück Kultur und regionale Identität verbunden, Nahrungsmittel können die Unterscheidbarkeit und die Geschichte von Ländern und Regionen repräsentieren. Während Nahrungsmittel theoretisch importiert werden könnten, sind die Kulturlandschaften, die biologische Vielfalt und die Kultur nur mit einer aktiven, bäuerlichen Landbewirtschaftung zu erhalten; man kann sie nicht als Importprodukt erwerben. Nahrungsmittel sind auch deshalb völlig anders zu bewerten als z.B. industrielle Erzeugnisse, deren Produktionsstandort sich primär an den Kosten ausrichtet.

3.6   Die Debatte um nachhaltiges Wirtschaften hat somit die Agrarwirtschaft erreicht. Bei einer konsequent an Nachhaltigkeitszielen ausgerichteten Landwirtschaft spricht die Politik vom „Europäischen Agrarmodell“.

3.7   Der EWSA sieht den Schlüssel für die Erhaltung einer quantitativ ausreichenden, qualitativ hochwertigen und regional differenzierten, flächendeckend betriebenen und naturverträglichen Nahrungsmittelerzeugung, die den europäischen Raum schützt und pflegt, die Vielfalt und Unterscheidungsmerkmale der Produkte erhält und die vielfältigen und artenreichen europäischen Kulturlandschaften und die ländlichen Räume fördert, in der Erhaltung bzw. Fortentwicklung des „Europäischen Agrarmodells“, also in einer bäuerlich (1) geprägten, multifunktionalen Landwirtschaft in der EU, in der das landwirtschaftliche Einkommen mit dem nationalen bzw. regionalen Durchschnittseinkommen vergleichbar ist.

3.8   Er betont, dass es schon heute - auch in Europa - sehr große Unterschiede zwischen einer multifunktional orientierten Landwirtschaft und einer Landwirtschaft, die sich primär an globalisierten und liberalisierten Märkten ausrichten muss/soll, gibt.

3.9   Er sieht mit großer Sorge, dass die Diskrepanz zwischen den Bekenntnissen zum Europäischen Agrarmodell bzw. Multifunktionalität und der täglichen Realität für die landwirtschaftlichen Betriebe weiterhin ständig wächst.

3.10   Dies liegt u.a. daran, dass Landwirte, denen keine reine Produktions-, sondern eine „multifunktionale Rolle“ im ländlichen Raum zugewiesen wird, sich mit Aufgaben konfrontiert sehen, die sie zuerst einmal Geld kosten und keines einbringen, weil marktbezogene Preise für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse die Leistungen der Landwirtschaft im Rahmen der Multifunktionalität eben nicht einschließen.

3.11   Betriebe sind heute folglich gezwungen, alle nur denkbaren Produktivitätsentwicklungen mitzumachen, um wirtschaftlich überleben zu können. In eher schleichenden Prozessen entfernt sich so die EU Stück für Stück vom Europäischen Agrarmodell, ein Trend zur Industrialisierung der Landwirtschaft ist zu beobachten. Es entstehen einerseits Betriebsformen, die in Richtung „Amerikanisierung der europäischen Landwirtschaft“ hinauslaufen, während auf der anderen Seite viele Betriebe aufgeben müssen, deren Existenz für die Erhaltung der multifunktionalen Landwirtschaft wichtig wäre.

3.12   Diese Prozesse sind in den unterschiedlichen Betriebszweigen, aber auch regional sehr unterschiedlich vorangeschritten. In den letzten Jahren hat es eine enorme Dynamik gegeben, teilweise sind regelrechte Strukturbrüche zu beobachten: so haben in Niedersachsen allein im Jahr 2008 20 % aller schweinehaltenden Betriebe aufgegeben, ohne dass auch nur ein Schwein weniger gemästet worden wäre.

3.13   Unklar ist, wo diese Entwicklung enden wird. Längst kann nicht mehr ausgeschlossen werden, dass - wie aus der Industrie bekannt - Europa komplette Produktionszweige verliert. Erstes Beispiel könnte die Geflügelbranche sein, die wie kaum ein anderer Bereich bereits weitgehend „industrialisiert“ ist. Einer der größten Konzerne in Europa, das französische Geflügelunternehmen Doux, verlagerte gleich mehrere Standorte von Frankreich nach Brasilien, weil man dort billiger produzieren kann.

3.14   D.h.: selbst fortgesetzte Produktivitätsentwicklungen sind letztlich kein Garant für das Überleben einer europäischen Landwirtschaft in ungeregelten globalen Märkten. Garant für eine flächendeckende betriebene Landwirtschaft in Europa sind sie nie gewesen.

3.15   Der EWSA betont, dass starke Konzentrationen der Produktion zu einer größeren Krisenanfälligkeit der europäischen Landwirtschaft führen.

3.16   Das Europäische Agrarmodell zeichnet sich dadurch aus, dass bewusst ein Verzicht auf Produktivität in Kauf genommen wird, was natürlich einen Nachteil im Wettbewerb darstellt. Aber genau das ist politisch und gesellschaftlich gewollt. Denn Europas Bürger haben andere Vorstellungen bei der Handhabung bei GVOs, Hormonen, Wachstumsförderung, bei der Salmonellenbekämpfung oder beim Erhalt der Landschaft, als sie z.T. außerhalb von Europa existieren. Doch klar ist: diese im internationalen Vergleich höheren Erwartungen an die Produktion verursachen Kosten, die man nicht alleine den Landwirten aufbürden kann!

3.16.1   In diesem Sinne ist es besonders wichtig, die Grenzkontrollmechanismen mit Hilfe von Protokollen für die gesundheitliche Unbedenklichkeit zu verschärfen, anhand derer die Rückverfolgbarkeit und Sicherheit sowie die Nichtverwendung von in der EU verbotenen Produkten überprüft werden kann, wobei für Erzeugnisse aus der Gemeinschaft und für Einfuhren die gleichen Anforderungen gelten müssen.

3.17   Europas Politiker stehen also vor der Aufgabe, eine Landwirtschaft aufrecht zu erhalten, die nicht alle Produktivitätsentwicklungen mitmachen darf, die aber dennoch den Betriebsinhabern ein ausreichendes Einkommen sichern muss.

3.18   Das Europäische Agrarmodell ist nicht zu Weltmarktbedingungen und -preisen zu haben. Es ist nicht möglich, eine Landwirtschaft haben zu wollen,

die in der Lage ist, in allen europäischen Regionen zu (häufig verzerrten) Weltmarktbedingungen produzieren zu können,

die gleichzeitig sämtliche Erwartungen bezüglich Produktion (Qualität, Sicherheit, Schonung der natürlichen Ressourcen, artgerechte Tierhaltung etc.) und auch die europäischen Kosten bewältigt und

die zudem einen modernen Arbeitsmarkt mit attraktiver Entlohnung gewährleistet, der sich durch ein hohes Arbeitsplatz- und Sicherheitsniveau sowie ein hohes Niveau bei der Ausbildung und der weiteren Qualifikation auszeichnet.

3.19   Das Europäische Agrarmodell ist also heute mehr denn je durch die aktuellen Entwicklungen bedroht, deshalb muss es durch eine starke GAP gestützt und gefördert werden.

4.   Die Politik ab 2014 - eine Richtungsentscheidung: Wohin soll die GAP steuern?

4.1   Ungeachtet der Tatsache, dass die Gemeinsame Agrarpolitik in ihrer Geschichte wiederholt teilweise fundamentalen Veränderungen und Reformen unterworfen worden ist, findet derzeit - nach 2000, 2003 und 2008 - wieder eine neue Reformdiskussion statt. Dies ist ein Zeichen dafür, dass bisher nicht alle gesellschaftlichen Fragen in Zusammenhang mit der GAP zufriedenstellend gelöst worden sind. Aus diesem Grund wird die Gemeinsame Agrarpolitik immer wieder harter Kritik ausgesetzt oder gar bis zu einem gewissen Grade in Frage gestellt. Aus Sicht des EWSA verbietet sich eine radikale Marktorientierung der Landwirtschaft von selbst, wenn das Europäische Agrarmodell ernst genommen wird.

4.2   Die beteiligten Akteure sollten und müssen sich dieser gesellschaftlichen Debatte nicht nur stellen, sie sollten sie offensiv führen. Hierin liegt die Chance, der Gesellschaft zu verdeutlichen, weshalb die Landwirtschaft in der Tat eine Sonderrolle spielt. Eine nachhaltig betriebene Landwirtschaft und Viehzucht im Sinne des Europäischen Agrarmodells bilden die Grundlage der Ernährung in unserer Gesellschaft und sind ein strategischer Sektor für eine angemessene Raumordnung und –planung, für die Landschaftspflege, den Umweltschutz und den Klimaschutz.

4.3   Der EWSA hält es für zwingend notwendig, zunächst einen gesellschaftlichen Konsens dazu herzustellen, wie Europas Landwirtschaft der Zukunft aussehen soll, was also das agrarpolitische Leitbild sein soll. Auf den Punkt gebracht: Will die GAP das „Europäische Agrarmodell“ verteidigen und entwickeln, oder will sie den Schwerpunkt darauf legen, einige wenige, immer stärker spezialisierte, regional konzentrierte und optimierte Betriebe für einen immer schärferen globalen Wettlauf um billigste Preise fit zu machen?

4.4   Für den EWSA ist klar: Das pure Abstellen auf Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zwecks Bedienung des Weltmarktes greift zu kurz. Nicht eine an Niedrigstpreisen orientierte, rein betriebswirtschaftlich optimierte, spezialisierte und regional konzentrierte Produktion darf die GAP nach 2013 leiten, sondern das Europäische Agrarmodell, das auf den Grundsätzen der Ernährungssouveränität, der Nachhaltigkeit und den realen Bedürfnissen von Landwirten und Verbrauchern basieren sollte.

4.5   Das Europäische Agrarmodell kann nur überlebensfähig sein, wenn die Wettbewerbsfähigkeit der multifunktionalen Landwirtschaft gegenüber einer rein betriebswirtschaftlich optimierten Agrarproduktion gesteigert wird. Dies muss zur Kernaufgabe der GAP werden, hierauf sind die agrarpolitischen Instrumente auszurichten, was zu erheblichen Veränderungen in der Förderstruktur führen wird. Der weitere Abbau von Steuerungsinstrumenten würde diesem Erfordernis widersprechen.

4.6   Der EWSA ruft Kommission, Rat und EP auf, zunächst das Ziel der GAP unmissverständlich zu beschreiben, anschließend das dafür notwendige Instrumentenbündel darzustellen und den benötigten Finanzbedarf offenzulegen. Danach erst ist die Finanzierungsfrage zu klären. Der EWSA hält es für falsch, zunächst eine Finanzsumme für einen Aufgabenbereich festzusetzen, und dann diese Summe auf Einzelmaßnahmen und Mitgliedstaaten aufzuteilen.

4.7   Der EWSA weist darauf hin, dass in den Überlegungen über die Ausrichtung der GAP nach 2013 die Tatsache berücksichtigt werden muss, dass ein Sechstel aller Arbeitsplätze in Europa in einem direkten bzw. indirekten Zusammenhang mit der landwirtschaftlichen Produktion stehen. Die GAP ist deshalb auch wichtig, um die Beschäftigung in der EU, insbesondere den ländlichen Gebieten, sicherzustellen. Bricht die eigentliche landwirtschaftliche Produktion weg, so fallen auch die Arbeitsplätze in den vor- und nachgelagerten Bereichen - bis hin zur Ernährungsindustrie - weg! Darüber hinaus werden 80 % des Unionsgebiets landwirtschaftlich genutzt, wobei die Landwirtschaft eine Hauptrolle bei der nachhaltigen Nutzung der Ressourcen, der Erhaltung der natürlichen Lebensräume und der Artenvielfalt usw. spielt. Ihr kommt potenziell auch eine zunehmend wichtige Rolle bei der Bekämpfung des Klimawandels zu.

5.   Ein vielfältiges Bündel von agrarpolitischen Maßnahmen

5.1   Der Markt kennt Preise, aber quasi keine Werte. Die Preise, die Landwirte erzielen, orientieren sich immer mehr an den global günstigsten Produktionsbedingungen und Gestehungskosten. Das „Europäische Agrarmodell“ hat aber viel mit Werten zu tun, die sich in Weltmarktpreisen nicht widerspiegeln.

5.2   „Marktstabilisierung“ ist nach dem EU-Vertrag eines der Ziele der GAP. Stabile Märkte sind wichtig. Deshalb hält der EWSA auch künftig den Einsatz von Marktinstrumenten für wichtig, um Preise zu stabilisieren und zu starke Preisschwankungen zu vermeiden. Doch Maßnahmen zur Marktregulierung bzw. Sicherung der Erzeugerpreise wurden auf ein Minimum reduziert, gegenüber Drittstaaten zählen die EU-Agrarmärkte zu den offensten. Daraus ergibt sich ein Großteil der Probleme, die auf Dauer nicht allein mit Transferzahlungen ausgeglichen werden können.

5.3   Agrarpolitik ist also mehr als Geld verteilen. Landwirte erwarten zu Recht, dass sie ein gerechtes Einkommen aus dem Verkauf ihrer Erzeugnisse am Markt und der Honorierung der gesellschaftlichen Leistungen, die sie im Rahmen des Europäischen Agrarmodells erbringen, erzielen.

5.4   Die Gesellschaft muss über die Agrarpolitik eine Unterstützung gewähren, will sie das Europäische Agrarmodell verteidigen. Die Landwirtschaft wird dabei akzeptieren müssen, dass die Gesellschaft erwartet, dass mit ihrer Unterstützung auch ihre Erwartungen an die multifunktionale Landwirtschaft erfüllt werden.

5.5   Handel/Märkte/Marktordnungen

Volatile/stabile Märkte

5.5.1   Was die Märkte und Preise betrifft, müssen mindestens drei unterschiedliche Arten von Problemen berücksichtigt und gelöst werden:

immer stärker volatile Märkte bei tendenziell sinkenden Erzeugerpreisen;

immer größer werdende Marktmacht des Vertriebs und Handels gegenüber den Erzeugern;

unverkennbare Probleme bei der Erzeugung und Vermarktung von Lokal-, Regional- und Qualitätsprodukten; hier fehlen einschlägige Bestimmungen für eine auf die lokalen und regionalen Märkte ausgerichtete Landwirtschaft.

5.5.2   Der weitgehende Verzicht auf wirksame Instrumente zur Stabilisierung der Märkte hat die Spekulation und die Volatilität der Märkte gefördert. Das steht aber in Widerspruch zu den jetzigen und früheren Verträgen der EU!

5.5.3   Die großen Preisschwankungen bewirken tendenziell eine Verringerung des Erzeugeranteils in der Wertschöpfungskette und eine Erhöhung der Vermarktungsspannen.

5.5.4   Auch die Verbraucher profitieren davon kaum, das haben die vergangenen Jahre deutlich gemacht: von der Reduktion der Zuckerrübenpreise um 40 % ist bei den Endpreisen kaum etwas angekommen. Ähnliches gilt für die Preiseinbrüche für Milch und Getreide.

5.5.5   Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass regulierende Eingriffe - mit richtigen Maßnahmen und zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt - volkswirtschaftlich kostengünstiger sind, als später Schäden reparieren zu müssen.

5.5.6   Die Milchkrise zeigt deutlich, dass es nicht möglich ist, einerseits regulierende Eingriffe auf den Markt bzw. Produktionsumfang auf ein Minimum zu reduzieren und andererseits die hohen Anforderungen an die Produktion bzw. die Multifunktion, wie sie die Bevölkerung erwartet, nicht in Frage zu stellen.

5.5.7   Das Auslaufen der Milchquotenregelung ist mit der Gefahr verbunden, dass viele Milchproduzenten, vor allem in benachteiligten Regionen, aufgeben, was vielfach gleichbedeutend mit der Aufgabe der Bewirtschaftung des Landes ist. Es ist sicher richtig, dass die Milchmenge, die z.B. in Estland verbraucht wird, in anderen, produktiveren Regionen Europas billiger als vor Ort hergestellt werden kann. Doch eine solche Produktionsverlagerung aus Kostengründen widerspricht den Zielen des Europäischen Agrarmodells diametral, der EWSA spricht sich für eine Agrarpolitik aus, die eine flächendeckende Bewirtschaftung gemäß den Grundsätzen der Ernährungssouveränität ermöglicht! Noch einmal: nur mit einem Finanztransfer allein wird dies nicht zu realisieren sein, und deshalb ist es notwendig, Märkte und Produktion zu regulieren.

5.5.8   Die Stabilisierung der Märkte - inkl. der Schaffung eines sog. „Sicherheitsnetzes“ - muss somit eine der Zentralaufgaben der GAP-Reform sein!

5.5.9   Der EWSA tritt daher dafür ein, dass

die noch vorhandenen wenigen Maßnahmen zur Marktstabilisierung nicht nur gesichert bleiben und eingesetzt werden, wenn es der Markt erfordert, sondern das neue, WTO-konforme Ideen zur Marktstabilisierung entwickelt und eingeführt werden,

angesichts der zunehmenden Unwägbarkeiten auf den internationalen Agrarmärkten eine strategische Krisenvorsorge bei Agrarprodukten in Form von Lagerhaltung in Angriff genommen wird,

zusätzlich überlegt wird, wie mit Hilfe von Erzeugerorganisationen bzw. Branchenvereinbarungen stabilisierend auf die Märkte eingewirkt werden kann.

Probleme innerhalb der Nahrungsmittelkette

5.5.10   Wenn es um die Gestaltung von Preisen geht, gibt es ein Ungleichgewicht bei den Verhandlungspositionen, Landwirte sprechen von unfairen Vertragspraktiken, die ihre Ursache in einer übermächtigen Verhandlungsposition der Lebensmittelgroßhändler haben.

5.5.11   Die entscheidende Frage, wer welchen Anteil an der Wertschöpfungskette bekommt, regelt derzeit - ganz im marktliberalen Sinn - allein der Markt. Dies ist alles andere als befriedigend, besonders für jene Bauern, die bei oft höheren Stückkosten häufig auf immer weiter sinkende Erzeugerpreise blicken; und darauf oft mit Maßnahmen reagieren müssen, die den Zielen des Europäischen Agrarmodells zuwiderlaufen.

5.5.12   Da in der EU-27 nur 15 Handelsketten bereits 77 % des Lebensmittelmarktes kontrollieren, tritt der EWSA dafür ein, dass ähnlich wie derzeit in den USA geprüft wird, ob das Wettbewerbsrecht ausreicht, um marktbeherrschende Strukturen und bedenkliche Vertragspraktiken zu verhindern. Wichtig ist, dass sämtliche betroffenen Gruppen in die Überprüfung eingebunden werden. Diese Analyse sollte in einer Änderung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln für die Agrar- und Ernährungswirtschaft münden, wobei deren Besonderheiten Rechnung getragen werden muss und die Vorschriften entsprechend der Schlussfolgerungen der hochrangigen Expertengruppe „Milch“ an die in den konkurrierenden Ländern auf den Weltmärkten geltenden Wettbewerbsregeln anzupassen sind.

5.5.13   Der EWSA erwartet von der Kommission Anstrengungen zur Erhöhung der Transparenz der Preisbildung und Lösungsvorschläge zur Vermeidung der sog. „Asymmetrischen Preisbildung“ (2).

Vermarktung von Lokal-, Regional-, Spezialitäts- und Qualitätsprodukten

5.5.14   Die großen Lebensmittelketten und die zentralen Verarbeiter verlangen nach stets gleichförmigen, quasi genormten, billigen Rohstoffen. Viel Platz für regionale und produktspezifische Diversität ist da nicht vorhanden.

5.5.15   Doch gerade die Erzeugung und Vermarktung von Qualitätsprodukten als Ausdruck der Regionalität und der Vielfalt ländlicher Gebiete in der EU ist eine wichtige Aufgabe zur Erhaltung des Europäischen Agrarmodells. Sie verdient deshalb viel stärker unterstützt zu werden. Die Distributionswege zu verkürzen und Landwirten oder Zusammenschlüssen von Produzenten einen direkteren Zugang zum Verbraucher zu verschaffen, kann der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit gerade kleinerer und arbeitsintensiverer Betriebsstrukturen förderlich sein.

5.5.16   Geografische Angaben und produktionstechnische Differenzierungen sind viel stärker als bisher in Betracht zu ziehen. Sie als „geistiges Eigentumsrecht“ zu verstehen und zu schützen ist notwendig. Entsprechende Angaben können Bindeglied zwischen den landwirtschaftlichen Erzeugnissen und den Regionen sein, d.h. die Produkte haben eine „sichere“ Herkunft, aber auch besondere Qualitätsmerkmale, die sich im Laufe der Zeit „herauskristallisiert“ haben. Wichtig ist, dass klar definiert wird, was unter Regionalprodukten zu verstehen ist.

5.5.17   Es gibt derzeit viele irreführende und bedenkliche Praktiken, was die Produktkennzeichnung angeht. Es sollte zukünftig beispielsweise nicht mehr gestattet sein, dass

auf Milchverpackungen weidende Kühe abgebildet werden, wenn die Milch von Tieren stammt, die keinen Weidegang mehr haben. Stattdessen sind entsprechende Marktdifferenzierungen (Heu- oder Weidemilchprogramme bis hin zu regionalen Vermarktungen durch Erzeuger- oder kleinen Genossenschaften) zu fördern,

mit Regionalangaben geworben wird, obwohl die Produkte woanders erzeugt wurden.

5.5.18   Die Markttransparenz und die Verbraucherinformationen (wie Ursprungskennzeichnung) sind zu verbessern und zu überwachen. Um die für die europäischen Landwirte geltenden Regeln besser bekannt zu machen, müssen entsprechende Kampagnen zur Information der Verbraucher über die europäischen Produktionssysteme gestartet werden. Darüber hinaus ist dem Kennzeichnungssystem besondere Aufmerksamkeit zu schenken; in diesem Zusammenhang sollte nach Auffassung des Ausschusses auch den Ausführungen in der Stellungnahme (3) bezüglich der Information der Verbraucher über Lebensmittel Rechnung getragen werden.

5.5.19   Steuergelder sollten zukünftig vornehmlich zur Stärkung regionaler Produkte und Märkte verwendet werden.

5.6   Die Finanzinstrumente der GAP

Die jetzige Situation

5.6.1   In der EU gibt es derzeit ein uneinheitliches Agrarfördersystem: in der EU-15 gibt es die Betriebsprämien, die entweder auf historischen Zahlungsansprüchen beruhen bzw. die sich in Richtung einheitlicher Flächenprämien entwickeln. In den EU-12 wurde direkt ein Flächenprämiensystem eingeführt, wobei die Zahlungen dort unterhalb des Niveaus der EU-15 liegen.

5.6.2   Die einzelnen Landwirte profitieren heute folglich höchst unterschiedlich von der aktuellen Zahlungspraxis. Dies wird einerseits häufig als ungerecht empfunden, andererseits ist das System dem Steuerzahler kaum vermittelbar.

5.6.3   Eine zentrale Aufgabe der anstehenden Reform muss es sein, ein einheitliches, auf objektiven Maßstäben beruhendes, gesellschaftlich akzeptiertes System zu entwickeln.

5.6.4   Die Direktzahlungen der 1. Säule haben ihre ursprüngliche Begründung in den 1992 vollzogenen Garantiepreissenkungen. Sie wurden bis 2003 als gekoppelte Preisausgleichszahlungen gewährt, bevor dann mit den Luxemburger Beschlüssen die „Entkopplung“ eingeführt wurde. Da die meisten Mitgliedstaaten aber das sog. „Historische Betriebsprämienmodell“ gewählt haben, profitieren die einzelnen Landwirte nach wie vor extrem unterschiedlich vom jetzigen System. Wegen der Entkopplung haben sie keinen direkten Einfluss mehr auf die Art und Weise der Produktion.

5.6.5   Die Direktzahlungen (= Flächenprämien) der 2. Säule werden gewährt, um Landwirten bestimmte zusätzliche gesellschaftliche Leistungen, die über die Grundanforderungen hinausgehen und die sich im Marktpreis nicht widerspiegeln, zu honorieren bzw. um sie zu motivieren, in benachteiligten Gebieten überhaupt die gesellschaftlich erwünschte Produktion aufrecht zu erhalten.

5.6.6   Die Direktzahlungen der 1. Säule werden derzeit zu 100 % von der EU finanziert, bei denen der 2. Säule müssen die Mitgliedstaaten hingegen Kofinanzierungen erbringen. Dieser unterschiedliche Finanzierungsmechanismus beeinflusst in vielen Mitgliedstaaten die „Attraktivität“ der Programme. Die Kommission wird vom EWSA aufgefordert, bei der zukünftigen Programmplanung darauf zu achten, dass unterschiedliche Kofinanzierungssätze nicht dazu führen, dass bestimmte Programmteile von Mitgliedstaaten bevorzugt bzw. weniger beachtet werden.

5.6.7   Neben den Direktzahlungen gibt es Mittel zur Stimulierung der ländlichen Entwicklung (3. Achse der 2. Säule), für betriebliche Investitionshilfen (1. Achse der 2. Säule) sowie für das LEADER-Programm.

5.6.8   Der direkte Finanztransfer hat aufgrund der Instabilität und Volatilität der Märkte und anderer Umstände eine z.T. sehr hohe Bedeutung für die Einkommen der Betriebe bekommen. Ohne Finanztransfer wäre der Strukturwandel in der Landwirtschaft noch wesentlich dramatischer, auch wenn festgestellt werden muss, dass vom derzeit wichtigsten Instrument, den Direktzahlungen aus der 1. Säule, die einzelnen Betriebe höchst unterschiedlich profitieren.

Zukünftige Zahlungssysteme

5.6.9   Der EWSA bleibt bei seiner bisherigen Position zu den Direktzahlungen der 1. Säule. Er hat immer betont, dass funktionsorientierte Direktzahlungen „… eine wichtige Funktion (haben), aber nur eine ergänzende (4)“. Die Einkommen der Landwirte sollten aus den Markterlösen und den nicht am Markt abgegoltenen gesellschaftlichen Leistungen erzielt werden.

5.6.10   Diese bisher nicht gewährte, aber notwendige Leistungsabgeltung setzt voraus, dass ein Konsens gefunden wird, welche Leistungen die Landwirte - individuell bzw. kollektiv - erbringen. Wichtig wird dies, um klare Grundsätze für die zukünftige Gewährung von Direktzahlungen aufzustellen. Diese müssen auf objektiven Kriterien beruhen, sie müssen an etwas „gekoppelt“ sein, um von der Gesellschaft auch akzeptiert zu werden.

5.6.11   Grundsätzlich sollte gelten, dass

Direktzahlungen der 1. bzw. 2. Säule ausschließlich an tatsächlich erwerbstätige Landwirte, Landschaftspflegeverbände oder andere Institutionen, die Kulturlandschaftspflege betreiben, geleistet werden,

Direktzahlungen der 1. bzw. 2. Säule den in den einzelnen Betrieben vorhandenen und geschaffenen Arbeitsplätzen Rechnung tragen;

Direktzahlungen der 1. bzw. 2. Säule die gesellschaftlichen Leistungen der Landwirtschaft abgelten, die zur Aufrechterhaltung des Europäischen Agrarmodells nötig sind. Das Einkommen der Landwirte sollte in erster Linie aus den auf einem regulierten Markt erzielten Preisen stammen, auf dem die Erzeugerkosten anerkannt werden;

aufgrund der sehr unterschiedlichen agroklimatischen Bedingungen in der EU die Direktzahlungen der 1. bzw. 2. Säule auch Komponenten enthalten sollten, die mitgliedstaatenübergreifend die agroklimatisch bedingten Kosten für die Landwirte ausgleichen (5).

5.6.12   Es muss also entschieden werden, für welche konkreten Leistungen Direktzahlungen (in welcher Höhe) gewährt werden sollen. Betriebe bzw. Produktionen, die solche Leistungen nicht erbringen oder erbringen wollen, die also nicht der Verwirklichung des Europäischen Agrarmodells dienen, sollten auch keinerlei Direktzahlungen erhalten.

5.6.13   Direktzahlungen, deren Funktion die Abgeltung gemeinwirtschaftlicher Leistungen, die keinen Marktpreis haben (beispielsweise konkrete, definierte Umweltleistungen), sollten unumstritten sein. Der EWSA hält es für geboten, entsprechende Programme nicht nur auszubauen, sondern sie auch attraktiver und flexibler zu gestalten. So ist es zwingend notwendig, wieder die „Anreizkomponente“ einzuführen. Wichtig wäre auch, flexibler auf Einzelaktivitäten von Landwirten reagieren zu können. Die Programme sollten weniger maßnahmen- als vielmehr ergebnisorientiert gestaltet werden.

5.6.14   Viele neue Maßnahmen werden zukünftig in diese Kategorie fallen, z.B. solche landwirtschaftlichen Methoden, die zur Abschwächung des Klimawandels oder zur Kohlenstoffbindung im Boden beitragen; die Grünlandwirtschaft gehört sicher hierzu.

5.6.15   Auch Direktzahlungen als Ausgleich für ständige, nicht veränderbare natürliche Erschwernisse sowie für Zahlungen zum Ausgleich von Nutzungsbeschränkungen durch Auflagen, beispielsweise im Bereich Naturschutz, sind mehr als berechtigt. In vielen Schutzgebieten ist eine bestimmte landwirtschaftliche Nutzung wichtig, um den Charakter der Gebiete zu erhalten. Zahlungen mit dem Hinweis zu verwehren, mit der Schutzgebietsverordnung sei ein Rahmen gesteckt, an den sich Landwirte halten, hält der EWSA für weltfremd.

5.6.16   Funktionsorientierte und somit auch differenzierte Direktzahlungen, hinter denen eine konkrete, der Gesellschaft vermittelbare Leistung steht, müssen das zukünftige Herzstück der Agrarförderpolitik im Bereich der Direktzahlungen ausmachen. Die Ausgleichszulage gehört eindeutig hierzu.

5.7   Eine einheitliche Flächenprämie als Ausgleich für Wettbewerbsnachteile?

5.7.1   Eine Position, die in die Diskussion eingebracht wird, ist die, die heutigen Direktzahlungen der 1. Säule in eine europaweit einheitliche Flächenprämie umzuwandeln und diese mit der Begründung zu gewähren, dass die europäische Landwirtschaft gegenüber außereuropäischen Konkurrenten mit höheren Produktionsstandards und somit Wettbewerbsnachteilen konfrontiert ist.

5.7.2   Der EWSA ist sehr wohl der Auffassung, dass über einen entsprechenden Ausgleich von Wettbewerbsnachteilen nachgedacht werden muss. Denn in den Handelsabkommen werden Sozial- und Umweltstandards, die entscheidend für das Europäische Agrarmodell sind, als nichttarifäre Handelshemmnisse angesehen, was völlig inakzeptabel ist. Das WTO-System muss hier dringend reformiert werden, denn ein globales Handelssystem ohne soziale und ökologische Standards ist inakzeptabel.

5.7.3   Für den Ausgleich entsprechender Wettbewerbsnachteile ist es wichtig darzustellen, in welchen Produktionszweigen sich die europäischen Auflagen konkret von jenen der wichtigsten Konkurrenten unterscheiden und welcher Kostennachteil dabei nachweisbar einzelnen Betrieben/Betriebstypen/Produktionsformen entsteht.

5.7.4   Die Produktionsbedingungen und somit die -kosten der Landwirte in Europa sind extrem unterschiedlich: es gibt große strukturelle und (agro)klimatische Unterschiede, aber auch höchst divergierende Input- und Lebenshaltungskosten in den unterschiedlichen Regionen. Auch durch Skaleneffekte in den einzelnen Mitgliedstaaten, Regionen und zwischen Betriebstypen unterscheiden sich die ergebenden Kostennachteile erheblich.

5.7.5   Es ist auch leicht nachzuvollziehen, dass beispielsweise belegbare Produktionsnachteile von tierhaltenden Betrieben nicht dadurch gelöst werden, indem eine einheitliche Flächenprämie gezahlt wird, von der auch nichttierhaltende Betriebe profitieren würden.

5.7.6   Daraus folgt: Der Ausgleich von Wettbewerbsnachteilen ist nicht mit einer europaweit einheitlichen Flächenprämie zu lösen, sondern müsste regionalspezifisch unter Berücksichtigung der agroklimatischen Bedingungen sowie der Betriebstypen erfolgen.

5.8   Eine einheitliche Flächenprämie zur Einkommensübertragung?

5.8.1   Es ist keine Frage: die rund 50 Mrd. EUR, die jährlich aus dem Agrarhaushalt der EU in die europäische Landwirtschaft fließen, sind für viele Betriebe mittlerweile existenziell.

5.8.2   Die Agrarpreise, die derzeit gezahlt werden, sind also nicht nur zu gering, um das Europäische Agrarmodell aufrecht zu erhalten, sie stellen die Landwirtschaft in Europa in Gänze in Frage.

5.8.3   Deshalb wird in die Diskussion gebracht, allen Landwirten eine Art „Grund- und Existenzsicherungsprämie“ in Form einer europäisch einheitlichen Flächenprämie zu gewähren.

5.8.4   Die Einkommenssituation stellt sich auf den unterschiedlichen Betrieben und in den unterschiedlichen Regionen höchst unterschiedlich dar. Auch hier spielen die in Ziffer 5.7.4 genannten Unterschiede eine entscheidende Rolle. Daraus folgt, dass auch das Einkommensproblem sehr differenziert angegangen werden muss. Auch dies kann nicht über eine europaweit einheitliche Flächenprämie, von der beispielsweise flächenstarke Betriebe bzw. Betriebe mit geringem Arbeitskräfteeinsatz überproportional profitieren würden, gelöst werden.

5.8.5   Statt einer einheitlichen Flächenprämie müsste ggf. über eine Prämie nachgedacht werden, die pro Kopf/Arbeitskraft ausgezahlt, in ihrer Höhe aber begrenzt werden müsste. Auch bei einem solchen Lösungsansatz müssten bei der Bemessung der Prämie die Unterschiede, wie sie in 5.7.4 angeführt sind berücksichtigt werden. Außerdem müsste bei einem solchen Prämiensystem ebenfalls berücksichtigt werden, dass die Einkommenssituation der Betriebe maßgeblich von den Erzeugerpreisen und Produktionskosten bestimmt wird und diese immer größeren Schwankungen unterliegen. Ein System, das seine Begründung in der Einkommenssituation sucht, muss auf die immer stärkeren Preisschwankungen ausreichend flexibel reagieren können.

Übergangsfristen

5.9   Ein einheitliches europäisches Zahlungssystem - das nicht mit einer einheitlichen europäischen Flächenprämie verwechselt werden darf - das seine Begründung nicht mehr in historischen Zahlungsansprüchen sondern in konkret zu definierenden Leistungen der Gegenwart findet, wird zu erheblichen Veränderungen in den Finanzflüssen zwischen den Mitgliedstaaten, aber auch den Betrieben, führen. Es wird also aus finanztechnischer Sicht Gewinner und Verlierer geben. Der EWSA spricht sich dafür aus, mit diesem Umstand sensibel umzugehen und ggf. Übergangsfristen vorzusehen. Diese sollten aber so gestaltet werden, dass zur Mitte, spätestens zum Ende der neuen Finanzperiode das neue System vollständig greift.

5.10   Die Zukunft der 2. Säule

5.10.1   Bei vielen Mitbürgern ist der Eindruck entstanden, dass mit Teilen der 2. Säule der GAP die Schäden ausgeglichen werden sollen, die mit falschen Rahmenbedingungen von der Politik erst selbst geschaffen wurden.

5.10.2   Der Öffentlichkeit muss nachvollziehbar vermittelt werden, dass die Maßnahmen, die im Rahmen der 2. Säule der GAP zukünftig angeboten werden, ergänzend zu den funktionsorientierten Direktzahlungen sind und zukünftig noch zielgerichteter dazu dienen werden, die Erhaltung, Sicherung und Umsetzung des Europäischen Agrarmodells umzusetzen. Dies setzt Optimierungen der Maßnahmenpalette voraus.

5.10.3   Dies gilt nicht nur für die heutige 2. Achse der 2. Säule. Auch die Investitionshilfen an die landwirtschaftlichen Betriebe sind noch stärker auf „Nachhaltigkeit“ auszurichten. Und für den EWSA steht außer Zweifel, dass in Europa ein erheblicher Investitionsbedarf besteht, um landwirtschaftliche Betriebe im Sinne der Nachhaltigkeit zu optimieren, aber auch, um unsere früher z.T. rein nach produktionstechnischen Ansprüchen veränderte Kulturlandschaft partiell umzugestalten (siehe z.B. Wasserhaushalt/Wasserrahmenrichtlinie).

5.10.4   Der EWSA spricht sich für den Ausbau und die Optimierung der Aufgabenpalette aus, die heute in der 3. Achse der 2. Säule angeboten wird. Einer Übertragung entsprechender Aufgaben in die allgemeine Struktur- bzw. Regionalpolitik wird eine klare Absage erteilt. Gleichwohl vertritt der Ausschuss die Auffassung, dass die Maßnahmen aus dem heutigen ELER einen klaren landwirtschaftlichen Bezug haben sollten; Straßenbau und Breitbandverkabelung fallen nicht hierunter!

Brüssel, den 18. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Der Begriff „bäuerlich“ beschreibt nicht die Betriebsgröße, sondern die Art und Weise, wie auf den Höfen gewirtschaftet und gedacht wird. Organisation in verflochtenen und sich ergänzenden möglichst hofnahen Kreisläufen, Ausrichtung auf den Erhalt qualifizierter, vielfältiger Arbeitsplätze, Einbindung in Dorf und Region, Verantwortung für Natur und Tiere sowie Denken in Generationen.

(2)  Bei Erhöhungen der Erzeugerpreise gehen die Verbraucherpreise schnell in die Höhe, bei Preissenkungen auf der Erzeugerseite sinken die Verbraucherpreise nur langsam.

(3)  ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 81.

(4)  ABl. C 368 vom 20.12.1999, S. 76-86, Siehe Ziffer 7.6.1.

(5)  ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 35.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/43


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Für eine neue Ordnung der internationalen Organisationen“

2010/C 354/07

Berichterstatterin: Annie VAN WEZEL

Mitberichterstatter: Claudio CAPPELLINI

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 25. Februar 2009 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Für eine neue Ordnung der internationalen Organisationen“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 4. März 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) mit 132 Stimmen bei 4Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Weltwirtschaft ist heute stärker denn je integriert. Große weltumspannende Krisen in einer multipolaren Welt verlangen nach einer neuen Ordnung und einer größeren Legitimität internationaler Organisationen. Diese Legitimität muss sich auf gemeinsame Werte, Normen und Ziele gründen, auf Kohärenz und Effektivität und auf Offenheit gegenüber allen Ländern und ihren Bürgern. Der EWSA unterstützt das Bemühen der EU, aktiv an der Entwicklung einer solchen Neuordnung der internationalen Organisationen mitzuwirken.

1.2

Schon vor der gegenwärtigen Krise wurde die Notwendigkeit einer Reform der internationalen Organisationen, der UN-Organisationen und der Bretton-Woods-Institutionen erkannt, doch mit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise kam mehr Schub in die Reformbestrebungen. Sobald klar wurde, dass die Finanzkrise irreversible Auswirkungen hat, nahmen die G20 auf der Suche nach Antworten das Heft in die Hand. Die Ergebnisse der G20-Beratungen wurden zwar gut aufgenommen, doch kamen Zweifel an der Legitimität ihrer Beschlüsse auf. Der EWSA ersucht die EU, effektive Verknüpfungen zwischen dem G20-Prozess und den repräsentativen UN-Institutionen herzustellen und den ECOSOC zu stärken.

1.3

Schwellen- und Entwicklungsländer müssen in der Ordnung der internationalen Organisationen einen prominenteren Platz erhalten. Der EWSA unterstützt die weitere Umstrukturierung der Weltbank und des IWF im Sinne einer stärkeren Vertretung dieser Länder.

1.4

Die Ordnung der internationalen Organisationen muss auf der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO basieren. Die EU ist immer ein starker Befürworter der multilateralen Zusammenarbeit gewesen, was der EWSA uneingeschränkt unterstützt. Der EWSA stellt jedoch fest, dass sich das Umfeld für die Förderung der multilateralen Werte verändert hat, und hält es angesichts dessen für nötig, neu an die Mitteilungen der Kommission, in denen eine EU-Politik des Multilateralismus befürwortet wird, heranzugehen  (1).

1.5

Internationale Organisationen mögen zwar eindeutige Zielsetzungen verfolgen, doch mangelt es ihnen an Wirksamkeit, weil sie keine ausreichende Kontrolle darüber haben, was mit ihren Beschlüssen im Weiteren geschieht, und weil sie deren Wirkung nicht abschätzen können. Die EU hat Überwachungsmechanismen hervorgebracht, die sich bewährt haben und auch international angewandt werden könnten, um komplexe Interventionen, an denen mehrere Ebenen beteiligt sind, zu überwachen. Der EWSA ruft die EU auf, diese Überwachungssysteme in internationalen Organisationen einzuführen.

1.6

Der EWSA spricht sich dafür aus, die Autorität internationaler Organisationen zur Regulierung der Finanzmärkte auf internationaler Ebene zu stärken, um eine abermalige Finanzkrise zu vermeiden. Der EWSA befürwortet eine stärkere Regulierung auf europäischer und internationaler Ebene in folgenden Bereichen: Erhöhung der Rückstellungen, Regulierung von Hedgefonds, Austrocknen von Steueroasen, Eindämmung exzessiver und widersinniger Vergütungen, Verminderung des Leverage-Risikos und supranationale Konsolidierung der Aufsichtsbehörden.

1.7

Der EWSA unterstützt alle Initiativen der EU zur Förderung der Zusammenarbeit und Kohärenz unter internationalen Organisationen. Der EWSA fordert die EU auf, Schritte zur Weiterverfolgung der Initiative von Bundeskanzlerin Merkel zu ergreifen und einen formalen Dialog unter den internationalen Organisationen mit dem Ziel zu erleichtern, die Kooperation auf der Grundlage der ILO-Agenda für menschenwürdige Arbeit zu fördern.

1.8

Der EWSA begrüßt die Entschließung des Europäischen Parlaments zugunsten der Ratifizierung der aktuellen ILO-Übereinkommen durch die EU-Mitgliedstaaten und unterstützt den Aufruf des Europäischen Parlaments an die Kommission, eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten auszuarbeiten, in der diese aufgefordert werden, die aktuellen ILO-Übereinkommen zu ratifizieren und aktiv zu ihrer Umsetzung beizutragen. Der EWSA bietet seine aktive Mitwirkung an der Ausarbeitung dieser Empfehlung an.

1.9

Dem EWSA ist bewusst, dass die EU durch „soft power“ Einfluss auf die Führung internationaler Organisationen nimmt; dennoch ist der Ausschuss der Auffassung, dass die EU für die einzelnen internationalen Organisationen eine Strategie zur Erhöhung ihres Einflusses und zur Stärkung ihrer Position entwickeln sollte. Der EWSA sollte in den Konsultationssitzungen zur Vorbereitung dieser Strategien gehört werden.

1.10

Der EWSA hofft, dass der neue Vertrag von Lissabon, der neue Hohe Vertreter für auswärtige Angelegenheiten und die verstärkte diplomatische Zusammenarbeit dazu führen, dass die EU in internationalen Organisationen mehr mit einer Stimme spricht und ihre Position festigt. Der EWSA ermuntert die EU, Geschlossenheit in ihren auswärtigen Belangen zu zeigen und im Einklang mit ihren Zielen zu handeln.

1.11

Die Art, wie an der neuen Ordnungsstruktur gebaut wird, ist nicht sehr transparent. Sozialpartner und repräsentative Organisationen der Zivilgesellschaft sind darin einzubeziehen. Der EWSA erwartet von der EU, für einen guten Zugang zu Informationen über diesen Prozess zu sorgen.

1.12

Internationale Organisationen arbeiten wirkungsvoller, wenn sie einer Konsultation von repräsentativen Organisationen der Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gegenüber aufgeschlossen sind. Sie müssen Teil ihrer transparenten Konsultationsstrukturen und ihres Überwachungssystems sein. Der EWSA fordert die EU (die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten) auf, eine bessere Konsultation der Organisationen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner in den künftigen Ordnungsstrukturen internationaler Organisationen zu fördern und zu erleichtern.

2.   Einleitung

2.1

Die Diskussion über das System internationaler Organisationen ist nicht neu, doch warf die rasche Ausbreitung und die nachdrückliche Wirkung der weltumspannenden Finanzkrise ein Schlaglicht auf die Schwäche der Weltordnung in der globalisierten Wirtschaft und machte die hohe Interdependenz aller Länder deutlich. Die Krise betrifft nicht nur alle Volkswirtschaften, sondern sie ist zu einer großen Beschäftigungskrise geworden, die Millionen bereits geschwächter Arbeitnehmer und Unternehmen in Bedrängnis bringt. Um die schädlichen Folgen der Krise soweit wie möglich zu begrenzen und die Wiederholung einer solchen Krise in der Zukunft zu vermeiden, wird eine bessere Regulierung des Finanzsektors, in dem die Krise begann, erforderlich sein. Damit ist es jedoch nicht getan. Um eine nachhaltige, wertebasierte Wirtschaft zu schaffen, muss eine neue Ordnung der Weltwirtschaft gefunden werden, die effektiver, in größerem Umfang rechenschaftspflichtig und transparenter ist.

2.2

Der Schwerpunkt dieser Stellungnahme liegt auf den internationalen Organisationen, die mit sozial-, wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen zu tun haben, eingedenk des laufenden Prozesses einer Reform dieser Organisationen und des Kontexts der Finanzkrise: UNO, WTO, ILO, Weltbank, Internationaler Währungsfonds, OECD, G20 und Rat für Finanzstabilität.

2.3

Die Welt steht vor großen globalen Krisen, die nur auf globaler Ebene wirkungsvoll angegangen werden können. Dies gilt nicht nur für die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise, sondern auch für die Krise der Nahrungsmittel-, Wasser- und Energieversorgung, die Zunahme der Armut, Umweltprobleme einschließlich der Auswirkungen des Klimawandels, Sicherheit und zunehmende Migration.

2.4

Die Globalisierung hat die Wirtschaftsbeziehungen verändert - dem muss die globale ordnungspolitische Struktur Rechnung tragen. Machtverhältnisse verschieben sich, und die BRIC-Länder gewinnen wirtschaftlich, politisch und strategisch mehr und mehr an Bedeutung. Wir befinden uns im Übergang von einer bipolaren (Kalter Krieg) über eine unipolare (Vorherrschaft der USA) zu einer multipolaren Welt. Schwellen- und Entwicklungsländer müssen ihren Anteil an den Institutionen haben, die die neue Weltordnung bilden.

2.5

Diese Herausforderungen werden nur von Institutionen zu bewältigen sein, die Legitimität besitzen. Die neue Ordnungsstruktur wird diese Legitimität nur dann beanspruchen können, wenn sie kohärent in ihrer Politik, wirkungsvoll in deren Umsetzung und offen für die Mitwirkung aller Länder und deren Bevölkerung ist.

2.6

Verschiedene Initiativen für eine Überprüfung der globalen Ordnung internationaler Organisationen und für eine UN-Reform wurden in den letzten Jahren ergriffen. Fortschritte wurden bei dem UN-Vorhaben „Delivering as One“ („Einheit in der Aktion“) auf Länderebene erreicht, das vom Residierenden Koordinator der Vereinten Nationen gelenkt wird. 2009 hat der Koordinierungsrat der Leiter der Organisationen des Systems der Vereinten Nationen neun Initiativen angekündigt, die gemeinsam von den UN-Organisationen und den Bretton-Woods-Institutionen unternommen werden sollen. Auf der Suche nach einer neuen Architektur der Weltwirtschaftsordnung wird angeregt, die Rolle und den Kompetenzbereich des Wirtschafts- und Sozialrates (ECOSOC) zu stärken. Seit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise kam mehr Schub in die Reformbestrebungen, und die G20 übernahmen die Federführung.

2.7

Auf ihrem Treffen am 24./25. September 2009 in Pittsburgh/USA fassten die Staats- und Regierungschefs der G20-Länder Beschlüsse, die die Ordnung internationaler Organisationen grundlegend verändern werden. Sie vereinbarten, dass die G20 ihr vorrangiges Forum für die internationale Wirtschaftskooperation bilden solle. Sie beschlossen, ihre Bemühungen zur Regulierung der Finanzmärkte fortzusetzen und den Fokus der wirtschaftlichen Erholung auf hochwertige Arbeitsplätze zu richten. Sie kamen überein, einen Rahmen für ein starkes, nachhaltiges und ausgewogenes Wirtschaftswachstum zu schaffen, wobei sie sich zur Formulierung gemeinsamer - mittelfristiger - Ziele für ihre gesamtwirtschaftliche Politik und ihre Finanz- und Handelspolitik verpflichteten, die einem nachhaltigen und ausgewogenen Wachstum der Weltwirtschaft förderlich sind. Sie erteilten dem IWF das Mandat, sie bei der Bewertung ihrer Politik zu unterstützen, um ihren Dialog zu erleichtern. Dies bedeutet eine starke Aufwertung der Rolle des IWF, der bereits durch eine Finanzspritze von 500 Mrd. Dollar gestärkt wurde. Die Rolle der Weltbank für die Armutsbekämpfung wurde durch eine zusätzliche Kreditgewährung (100 Mrd. Dollar) und mit einer besonderen Ausrichtung auf die Ernährungs- und Energiesicherheit für die Armen erneut bekräftigt. Die nächsten G20-Treffen werden im Juni 2010 in Kanada, im November 2010 in Korea und 2011 in Frankreich stattfinden.

2.8

Die G20-Führer vereinbarten eine Modernisierung der Architektur für die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Im IWF werden die Schwellenländer zu Lasten überrepräsentierter, kleiner Volkswirtschaften 5 % mehr Stimmrechte erhalten. Auch die Weltbank soll die Vertretung der Schwellenländer in ihrer Beschlussfassungsstruktur überprüfen.

2.9

Die Ergebnisse der G20-Treffen werden zwar relativ positiv aufgenommen, doch wird die Legitimität dieser Führungsrolle in Frage gestellt. Die ärmsten Länder der Welt bleiben in der Debatte außen vor. Die G20-Agenda beruht nicht auf einer vereinbarten Politik, und nicht alle relevanten internationalen Organisationen sind aktiv daran beteiligt. In der UNO sorgt man sich sehr, dass die Bedeutung der UN abbröckelt, insbesondere in sozialen und wirtschaftlichen Fragen. Ein neues Gleichgewicht wird zwischen der neuen Rolle der G20, der UNO und ihren Einrichtungen und den Bretton-Woods-Institutionen gefunden werden müssen. Es ist davon auszugehen, dass neue Initiativen und Ideen aufkommen werden, denn die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen ändern sich ständig und rasch.

2.10

Die G20-Länder müssen wirksame Verbindungen zu repräsentativen Prozessen der Vereinten Nationen herstellen, so dass den Interessen aller Staaten weltweit in einer neuen, für alle offenen Weltordnung Rechnung getragen wird; einhergehen muss dies mit der Errichtung eines „UN-Sicherheitsrates für Wirtschafts- und Sozialfragen“, eines gründlich reformierten ECOSOC mit verstärkten Entscheidungsbefugnissen oder eines „Weltwirtschaftsrates“ (2). Im Geflecht all dieser Änderungen muss die EU sich selbst positionieren, und manche Beobachter fürchten, dass das sich verschiebende Kräftegleichgewicht zu Lasten des europäischen Einflusses auf der internationalen Bühne gehen wird.

2.11

Zu wenig zur Sprache kommt dabei die Rolle der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner. Der EWSA empfiehlt, dass die G20 der Zivilgesellschaft und den Sozialpartnern einen formalen Platz einräumen, und ruft die G20-Arbeitsminister auf, Einrichtungen, die auf internationaler Ebene die Sozialpartner vertreten, an ihrer Arbeit teilhaben zu lassen. Zwar geben einige internationale Organisationen den Sozialpartnern und den Organisationen der Zivilgesellschaft einen beratenden Status, doch mangelt es dem Ganzen insgesamt an Transparenz, und repräsentative Organisationen wie der EWSA und die Wirtschafts- und Sozialräte sollten aktiver mitwirken können.

3.   Grundsätze einer Neuordnung

3.1

Jegliche Neuordnung der internationalen Organisationen muss auf den Grundsätzen und Werten der UNO beruhen. Jede internationale Organisation kann natürlich ihre eigene Lenkungsstruktur haben, doch müssen sie sich in ihrer Funktionsweise alle auf die Charta der Vereinten Nationen, auf das grundlegende Menschenrecht, die Würde des Menschen und die Gleichberechtigung von Mann und Frau stützen. Grundlage müssen das Recht und die Achtung internationaler Verträge und Normen sein. Anzustreben sind sozialer Fortschritt und bessere Lebensbedingungen in größerer Freiheit. Eine neue Ordnung der internationalen Organisationen muss der nachhaltigen Entwicklung und der sozialen Inklusion dienen und sich der großen globalen Probleme wirkungsvoll annehmen.

3.2

Die Werte der UN-Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO sind auch die Werte der Europäischen Union. Die EU gründet sich auf die Grundsätze Freiheit und Würde, Dialog und Stabilität und Achtung internationaler Vereinbarungen. Die EU ist immer ein starker Befürworter des Multilateralismus und der UNO und ihrer Verträge gewesen. Der EWSA unterstützt dies. Der EWSA stellt jedoch fest, dass sich das Umfeld für die Förderung der multilateralen Werte verändert hat, und hält es angesichts dessen für nötig, neu an die Mitteilungen der Kommission, in denen eine EU-Politik des Multilateralismus befürwortet wird, heranzugehen („Aufbau einer wirksamen Partnerschaft mit den Vereinten Nationen in den Bereichen Entwicklung und humanitäre Angelegenheiten“ (KOM(2001) 231 endg.) und „Die Europäische Union und die Vereinten Nationen: ein Plädoyer für den Multilateralismus“ (KOM(2003) 526 endg.)).

3.3

Eine neue Weltwirtschaftsordnung muss auf dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte basieren und auf die Lösung dringender gesellschaftlicher Fragen zugeschnitten sein, wie Arbeitslosigkeit, Armut, Ernährungssicherheit und zunehmende Ungleichheit. Sie muss zu sozialer Gerechtigkeit und einer gerechteren Welt beitragen. Sie sollte auch eine größere Rolle bei der Förderung einer grünen Wirtschaft und dem Schutz öffentlicher Güter, wie sauberes Wasser und saubere Luft, Artenvielfalt und Senkung des CO2-Ausstoßes spielen.

4.   Engere Zusammenarbeit, besserer Gleichlauf und höhere Wirkung durch eine Neuordnung

4.1

Der EWSA ruft die Europäische Kommission und andere europäische Organe auf, aktiv für eine Neuordnung der internationalen Organisationen einzutreten, die einen besseren Gleichlauf zwischen ihnen ermöglicht und sie in der Förderung einer nachhaltigen Entwicklung, der Schaffung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen und nachhaltiger Unternehmen wirkungsvoller macht.

4.2

Internationale Organisationen, insbesondere die Vereinten Nationen und ihre Einrichtungen, haben zwar klare Zielsetzungen, doch mangelt es ihnen oft an Wirksamkeit. Selbst wenn die Ziele in internationalen Verträgen und Normen formell verankert sind, ist die Umsetzung oft unangemessen, und ein wirkungsvolles System der Folgenabschätzung fehlt. Bei einer Neuordnung der internationalen Organisationen ist stärker auf die Durchsetzung ihrer Beschlüsse und die im Anschluss daran nötigen Schritte zu achten.

4.3

Die Überwachung ist mehr und mehr ein wichtiges Mittel, um eine stimmige Politikumsetzung sicherzustellen und Managern und politischen Entscheidungsträgern Anhaltspunkte dafür zu geben, wie sie sich auf die für sie relevantesten Bereiche konzentrieren können. Sie liefert auch „Frühwarnungen“, die ein zeitiges, angemessenes Eingreifen erlauben. Der EWSA regt an, dass ein solcher Ansatz entsprechend den Erfordernissen der internationalen Organisationen in einem breiteren, stärker koordinierten internationalen Rahmen angewandt und entwickelt wird, denn erfolgreiche europäische Erfahrungen mit der Überwachung komplexer Interventionen, an denen mehrere Ebenen beteiligt sind, haben die Fähigkeit öffentlicher Einrichtungen, Fachleute und privater Akteure zu einem gemeinsamen Management gestärkt.

4.4

Internationale Organisationen können mehr Wirkung entfalten, wenn sie sich gegenseitig in ihren Zielen unterstützen. Einige internationale Organisationen verfügen über Beschwerdeverfahren und bindende Schiedsverfahren (WTO), während andere gut ausgebaute Aufsichtsmechanismen haben, jedoch ohne Durchsetzungsbefugnis (ILO). Internationale Organisationen dürfen keine gegenläufige Politik verfolgen. Nur wenn die UN-Organisationen, die internationalen Finanzinstitutionen und die EU Hand in Hand arbeiten, um ihre jeweiligen Normen zu propagieren, wie Gleichstellung von Frau und Mann, Nachhaltigkeit, menschenwürdige Arbeit und Handelsliberalisierung, können die jeweiligen Ziele auch erreicht werden.

4.5

Die Ordnung der Finanzinstitutionen - IWF, Weltbank und Rat für Finanzstabilität - ist einer der Schwerpunkte der Debatte über eine internationale Ordnung der Weltwirtschaft. Regulierung und bessere Transparenz der Finanzmärkte sind heute dringlicher denn je, da adäquate Maßnahmen auf nationaler Ebene allein nicht mehr möglich sind. Damit internationale Organisationen in der Lage sind, künftige Krisen wirkungsvoller zu verhindern, befürwortet der EWSA eine gleichmäßige Erhöhung ihrer Befugnisse zur Regulierung der Finanzmärkte auf internationaler Ebene, ohne dass sie übermäßig restriktiv, drückend und bürokratisch werden. Der EWSA spricht sich für mehr Regulierung auf europäischer und internationaler Ebene in den folgenden Bereichen aus: Erhöhung der Reserven, Regulierung von Hedgefonds, Austrocknen von Steueroasen, Eindämmung übermäßiger und abwegiger Vergütungen, Verringerung des Leverage-Risikos und supranationale Festigung der Aufsichtsbehörden u.a.

4.6

Eine engere internationale Zusammenarbeit ist vonnöten, um mit den Folgen der Finanzkrise auf die Realwirtschaft fertigzuwerden. Eine sichere Weltwirtschaft erfordert ein Mehr an Regulierung auf einer stärker wertebasierten Grundlage. Eine wichtige Initiative wurde von der deutschen Bundeskanzlerin Merkel ergriffen. In einer Zusammenkunft von WTO, Weltbank, IWF, ILO und OECD Anfang 2009 hat sie eine „Charta für nachhaltiges Wirtschaften“ (3) vorgeschlagen, die die Vorarbeit für gleichlaufende Maßnahmen zur Erreichung gemeinsamer Ziele bilden solle, wobei jede Organisation im Rahmen ihrer eigenen Verantwortlichkeiten handelt. Aufbauend auf dieser Charta haben die G20-Führer in Pittsburgh Kernwerte für nachhaltiges Wirtschaften („Core Values for Sustainable Economic Activity“) formuliert, in denen sie ihre Verantwortung gegenüber den verschiedenen Beteiligten - Verbraucher, Arbeitnehmer, Investoren und Unternehmer - zum Ausdruck bringen, das Wohl des Volkes durch in sich stimmige wirtschafts-, sozial- und umweltpolitische Strategien zu mehren. Die OECD hat einen „Global Standard for the 21st Century“ erarbeitet, der auf ihren bestehenden Standards für Unternehmensführung, multinationale Unternehmen, Korruptionsbekämpfung und finanzpolitische Zusammenarbeit aufbaut (4). Die Stiglitz-Kommission empfiehlt nachdrückliche Maßnahmen zur Eindämmung des Nachfragerückgangs, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele. Der EWSA spricht sich für die Unterstützung dieser Initiativen durch die EU und ihre Mitgliedstaaten aus.

4.7

Ein besonderer Platz in der neuen Ordnung muss der ILO zukommen. Ihre Kernarbeitsnormen und das Konzept der menschenwürdigen Arbeit und nachhaltigen Unternehmen sind eine Orientierungshilfe für die Bewältigung der Beschäftigungskrise. Auf ihrer 98. Konferenz im Juni 2009 vereinbarten die in der dreigliedrigen Struktur der ILO vertretenen Partner einen „Globalen Pakt für Beschäftigung“, ein Maßnahmenpaket, mit dem der Beschäftigungsabbau gestoppt und wieder ein positives Wachstum hergestellt werden soll. Der EWSA fordert die EU nachdrücklich auf, sich für einen formellen Dialog zwischen internationalen Organisationen starkzumachen, der sich auf die Agenda für menschenwürdige Arbeit (Decent Work Agenda) der ILO in Bezug auf Beschäftigung, Unternehmensentwicklung, Sozialschutz, menschenwürdige Arbeitsbedingungen, tragfähige Beziehungen zwischen den Tarifpartnern und Rechte am Arbeitsplatz stützt.

4.8

Im Sinne einer höheren Kohärenz spricht sich der Ausschuss dafür aus, dass die EU intern und extern die Ratifizierung der aktuellen ILO-Übereinkommen und die Umsetzung der Agenda für menschenwürdige Arbeit fördert. Der Ausschuss dringt insbesondere auf die Ratifizierung und Umsetzung der für die Agenda für menschenwürdige Arbeit bedeutsamsten Übereinkommen, darunter der Übereinkommen über Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, der Übereinkommen über Sozialschutz und des Übereinkommens Nr. 94 über Arbeitsklauseln in öffentlichen Verträgen. Das EU-Recht entlässt die Mitgliedstaaten nicht aus ihren Verpflichtungen aus ratifizierten ILO-Übereinkommen. Der EWSA unterstützt den Aufruf des Europäischen Parlaments an die Kommission in dessen Entschließung vom 26. November 2009, eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten auszuarbeiten, in der diese aufgefordert werden, die aktuellen ILO-Übereinkommen zu ratifizieren und aktiv zu ihrer Umsetzung beizutragen. Anknüpfend an seine Stellungnahmen „Die soziale Dimension der Globalisierung“ (5) und „Menschenwürdige Arbeit für alle“ (6) bietet der EWSA seine aktive Mitwirkung an der Ausarbeitung dieser Empfehlung an.

4.9

Daneben unterstützt der EWSA jede Initiative der EU, die der Förderung einer engeren Zusammenarbeit internationaler Organisationen in bestimmten Fragen dient. Gute Beispiele sind die Zusammenarbeit zwischen der WTO und der ILO in Fragen der Beschäftigung, die Zusammenarbeit zwischen Weltbank und ILO in Fragen des Sozialschutzes und die Zusammenarbeit zur Umsetzung der Kernarbeitsnormen zwischen Weltbank und IWF. Jugendbeschäftigung, Mikrofinanzierung und soziale Sicherheit sind die Themen mit der größten Bedeutung.

5.   Stärkere Beachtung der Interessen von Entwicklungsländern durch eine Neuordnung

5.1

Entwicklungs- und Schwellenländer müssen in den von den internationalen Organisationen angenommenen Strukturen einer neuen globalen Ordnung eine stärkere Rolle spielen. Allerdings muss ihre Einbeziehung auf dem Regelwerk der UNO und der Achtung der Menschenrechte beruhen. Die internationalen Organisationen müssen sich in ihrer Politik von dem Ziel leiten lassen, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und die Umsetzung der ILO-Kernarbeitsnormen in Schwellen- und Entwicklungsländern sicherzustellen. Die Umstrukturierung von Weltbank und IWF muss weitergehen, damit die ärmeren Länder in ihren Arbeitsorganen und Prozessen besser repräsentiert sind und mehr Einfluss erhalten.

5.2

Entwicklungsländer brauchen Hilfe, um ihnen die effektive Mitwirkung in der Beschlussfassung der WTO zu erleichtern. Sie müssen für eine leichtere Teilnahme an Handelsverhandlungen ausgestattet und ermuntert werden, ihr Wissen in Handelsfragen zu vertiefen und ihre technischen Fähigkeiten und Kompetenzen auf dem Gebiet der Marktintegration zu verbessern. Den Entwicklungsländern muss ein legitimer politischer Raum in den Handelsbeziehungen zugestanden werden.

5.3

Im März 2009 führte der IWF eine Untersuchung über die Anfälligkeit von Niedrigeinkommenländern für die nachteiligen Folgen der globalen Finanzkrise und der folgenden Rezession durch (7). Nach Schätzungen der ILO könnten mehr als 200 Millionen Menschen in extreme Armut geraten, die meisten davon in Entwicklungs- und Schwellenländern. Die Anzahl der erwerbstätigen Armen, also derer, die weniger als zwei US-Dollar pro Tag verdienen, kann auf bis zu 1,4 Milliarden steigen, wodurch der im vergangenen Jahrzehnt erreichte Fortschritt bei der Verringerung der weltweiten Armut zunichtegemacht würde. Von einer Zunahme der Armut wären Frauen am stärksten betroffen, denn 60 % der Armen der Welt sind Frauen. Unter diesen Umständen sind zusätzliche Anstrengungen zur Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele nötig. Der EWSA fordert die EU auf, sich weiter tatkräftig für die Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele einzusetzen.

6.   Wie kann die EU am Aufbau einer neuen Ordnung der einzelnen internationalen Organisationen mitwirken?

6.1

Der EU kommt auf dieser internationalen Bühne eine besondere Rolle zu. Die Europäische Union ist der größte Exporteur der Welt, der wichtigste Geber von Entwicklungshilfe und weltweit der Referenzmarkt. Dennoch deuten Forschungsergebnisse auf eine Schwächung der Position der EU in den Vereinten Nationen hin (8). Die EU erhält weniger Unterstützung für ihre Menschenrechtsresolutionen in der Generalversammlung als noch vor zehn Jahren, was auf den zunehmenden Einfluss von Ländern zurückzuführen ist, die einer Einmischung in ihre „inneren Angelegenheiten“ widerstehen, wie zum Beispiel China und Russland (9).

6.2

Für die EU geht es in dem globalen Ordnungssystem um Vieles. Die EU verfügt über ein einzigartiges Modell der sozialen Marktwirtschaft, das sich als besonders geeignet für die Bewältigung der komplexen Probleme der gegenwärtigen Wirtschaftskrise erwiesen hat. Die EU und ihre Organe müssen aktive Schritte zur Sicherung ihrer Interessen und zur Förderung ihrer Werte unternehmen.

6.3

Die EU ist in allen internationalen Organisationen vertreten, die mit der Steuerung der Weltwirtschaft zu tun haben, sei es dadurch, dass Mitgliedstaaten den Leitungsorganen dieser Organisationen angehören, sei es durch die Koordinierung der Politik der Mitgliedstaaten in diesen Organisationen, sei es durch ihre Vertretung durch den Vorsitz-Mitgliedstaat oder direkt dadurch, dass die Europäische Kommission einen Vertretungsstatus hat. In den meisten internationalen Organisationen hat die EU nur Beobachterstatus (Ausnahmen sind die WTO und die FAO), und sie kann Einfluss nur durch „soft power“ ausüben. Auch wenn dieser „sanfte Druck“ und ihr Goodwill-Netzwerk durchaus Wirkung entfalten, sollte die EU aktiv bestrebt sein, formale Positionen zu erlangen, wo dies möglich ist. Für die einzelnen internationalen Organisationen sollte die EU jeweils eine Strategie zur Erhöhung ihres Einflusses und zur Stärkung ihrer Position entwickeln, wenn sie für eine wirksamere und gerechtere Ordnung dieser Organisationen sorgen will.

6.4

Im IWF ist die EU durch verschiedene Sprecher vertreten (den EURIMF-Vorsitzenden, die EZB, den Präsidenten der Eurozone, den Vorsitzenden des EU-Finanzministerrates). Meinungsverschiedenheiten unter den Mitgliedstaaten in Finanz- und Entwicklungsfragen hindern Europa daran, mit einer Stimme zu sprechen. Während in Handelsfragen die Europäische Kommission befugt ist, im Namen der EU zu sprechen, nehmen in anderen finanz- oder wirtschaftspolitischen Fragen selbst die 16 EU-Mitgliedstaaten, die eine gemeinsame Währung haben und einige ihrer Zuständigkeiten der EZB übertrugen, nicht unbedingt eine einheitliche Position ein. Angesichts der zunehmenden Bedeutung der Bretton-Woods-Institutionen und insbesondere des IWF dringt der EWSA darauf, dass die EU und ihre Organe ihre Koordinierung in den Lenkungsstrukturen dieser Institutionen verbessern. Die EU-Staaten verfügen zusammen über 32 % der Stimmrechte im IWF, im Vergleich zu den USA mit 17 %. Ein Verlust an Einfluss kleinerer EU-Mitgliedstaaten, um Platz für Schwellenländer zu machen, kann durch eine besser koordinierte EU-Politik ausgeglichen werden.

6.5

Der EWSA fordert die EU auf, den IWF zu einer Politik zu veranlassen, die den Zugang zu Krediten und Finanzierung ermöglicht, insbesondere für KMU und Landwirte, da diese Sektoren in allen Volkswirtschaften das Rückgrat bilden und die meisten Arbeitsplätze bieten. Der EWSA spricht sich darüber hinaus dafür aus, dass die EU die internationalen Finanzinstitutionen dazu bewegt, den Entwicklungsländern Mittel zur Durchführung antizyklischer Maßnahmen zur Verfügung zu stellen, und sich dabei prozyklischer Auflagen zu enthalten.

6.6

Seit 2000 hat die EU ihre finanziellen Beiträge zur Weltbank spürbar erhöht (241 Mio. EUR 2008). Angesichts der Wichtigkeit der Weltbank für die Armutsbekämpfung empfiehlt der EWSA, dass die EU die Weltbank zu Wirtschaftsentwicklungsmaßnahmen ermuntert, die auf menschenwürdige Arbeit und Zugang zur Gesundheitsversorgung, Bildung und anderen öffentlichen Gütern abzielen. Der EWSA fordert die EU zur Unterstützung der Weltbank bei der Finanzierung von Wiederankurbelungsplänen für von der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise betroffene Länder auf, mit folgenden Schwerpunkten: Unterstützung der nachhaltigen Unternehmensentwicklung, Schaffung von Arbeitsplätzen, öffentliche Investitionen, aktive Arbeitsmarktpolitik, Ausweitung der sozialen Grundsicherung für alle, zusätzliche Sicherheitsnetze für die schwächsten Teile der Bevölkerung und Investitionen in die „grüne Wirtschaft“.

6.7

Nach dem neuen Lissabon-Vertrag hat das Europäische Parlament in handelspolitischen Angelegenheiten Mitentscheidungsbefugnisse. Für den EWSA eröffnen sich dadurch neue Möglichkeiten einer intensiveren Zusammenarbeit mit dem EP und mit der Kommission in Handelsfragen. Der EWSA hat sich in mehreren Stellungnahmen (10) zu Handelsthemen und zu der Notwendigkeit geäußert, handelspolitische Maßnahmen auf die Sozial- und Umweltpolitik der EU abzustimmen.

6.8

Die EU wendet viel Zeit für die Koordinierung ihrer Ansichten und Positionen in internationalen Organisationen auf, sodass ihr weniger Zeit und Kraft dafür bleiben, bei den anderen Mitgliedern internationaler Organisationen um Unterstützung für ihre Positionen zu werben. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ist eine der erfreulichen Ausnahmen der letzten Zeit. Zivilgesellschaftliche Organisationen können eine gemeinsame Position unterstützen. Der EWSA stellt fest, dass die EU-Mitgliedstaaten oft ein ähnliches Abstimmverhalten zeigen, und ruft die EU auf, sich um ein geschlossenes Auftreten zu bemühen, damit nicht Einfluss dadurch verlorengeht, dass die Mitgliedstaaten uneins sind. Der Vertrag von Lissabon wird hier hoffentlich eine Verbesserung bringen. Die Annahme des neuen Vertrags, das neue Amt eines Hohen Vertreters für auswärtige Angelegenheiten und die verstärkte diplomatische Zusammenarbeit bieten die Chance, die internationale Position der EU auszubauen.

6.9

Eine bessere Ordnung der internationalen Organisationen, mit einer stärkeren Gleichrichtung und damit auch einer größeren Wirksamkeit, beginnt mit dem Aufräumen im eigenen Haus. Die Politik der EU in der UNO und den UN-Einrichtungen, in der G20 und in den Bretton-Woods-Institutionen muss im Rahmen des Mandats und des Aufbaus der jeweiligen Organisation denselben Grundsätzen unterliegen und dieselben Ziele verfolgen. Die von der EU angestrebte Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung ist ein ermunterndes Beispiel. Der EWSA verweist auch auf die Stimmigkeit zwischen den internen und externen Aspekten der Lissabon-Strategie (11).

7.   Bessere Anhörung und Einbeziehung der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft

7.1

Die Beteiligung der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft ist eine Voraussetzung für den Schutz und die Förderung der Werte, die grundlegend für internationale Organisationen sind. Für die Zivilgesellschaft ist die Ordnung internationaler Organisationen sehr bedeutsam, denn die jüngste Krise hat gezeigt, dass die Zivilgesellschaft in Gestalt der Steuerzahler, Arbeitnehmer, Verbraucher, Sparer, Hausbesitzer und Unternehmer einen hohen Preis für eine unzureichende und ineffektive globale Ordnung zahlt.

7.2

Die neue Ordnungsstruktur wird in Gipfeltreffen auf hoher diplomatischer Ebene gezimmert. Dieser Prozess ist nicht sehr durchsichtig. Die Organisationen der Zivilgesellschaft und die Sozialpartner haben kaum Zugang zu Informationen über das Geschehen, geschweige denn zur Beschlussfassung. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften versuchen, die öffentliche Meinung zu mobilisieren und ihren Einfluss bei der Regierung geltend zu machen, um ihre Vorstellungen von der künftigen Weltwirtschaftsordnung zu vermitteln. Einige Teile der Wirtschaft werden zurate gezogen, andere bleiben außen vor. Die Stimme der Organisationen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner muss in der Gestaltung der EU-Politik gegenüber den internationalen Organisationen stärker gehört werden.

7.3

Es gibt mehrere nachahmenswerte Beispiele auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene für die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Lenkung internationaler Organisationen. Auf internationaler Ebene ragt die ILO als Beispiel heraus. Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer wirken gleichberechtigt mit staatlichen Vertretern in allen Organen der ILO mit, sei es in der Lenkungsspitze, der Beschlussfassung, der Normensetzung oder der Überwachung. Der Beratende Wirtschafts- und Industrieausschuss (BIAC) und der Gewerkschaftliche Beratungsausschuss (TUAC) bei der OECD sind ebenfalls gute Beispiele für die institutionalisierte Konsultation der Sozialpartner. Alle übrigen internationalen Organisationen konsultieren die Sozialpartner und andere Organisationen der Zivilgesellschaft nur entfernt, wofür der beratende Status von NGO bei der UN ein Beispiel ist, oder gar nicht, wie die G20. Die wirkungsvolle Lenkung internationaler Organisationen wird durch eine transparent gestaltete, institutionalisierte Einbeziehung repräsentativer Organisationen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner verbessert werden. Internationale Organisationen können auch effektiver arbeiten, wenn die Organisationen der Zivilgesellschaft und die Sozialpartner in ihre Folge- und Überwachungsmechanismen und Frühwarnsysteme eingebunden werden.

7.4

Der EWSA erwartet, dass die EU die Organisationen der Zivilgesellschaft und die Sozialpartner in die Entwicklung ihrer Maßnahmen und Positionen für die Neuordnung internationaler Organisationen einbezieht. Der Ausschuss erwartet darüber hinaus von der EU, dass sie sich dafür einsetzt, dass sich die internationalen Organisationen einer Konsultierung der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner bei der Erörterung ihrer Lenkungsstrukturen öffnen. Eine vernünftige Konsultation setzt Transparenz und den leichten Zugang zu Unterlagen innerhalb eines Zeitrahmens voraus, der die Berücksichtigung und Aufnahme der Standpunkte der Interessenträger erlaubt.

7.5

Der EWSA fordert die EU (die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten) auf, eine bessere Konsultation der Organisationen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner in der künftigen Ordnung internationaler Organisationen zu fördern und zu erleichtern.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Mitteilung „Aufbau einer effizienten Partnerschaft mit den Vereinten Nationen in den Bereichen Entwicklung und humanitäre Hilfe“ (KOM(2001) 231 endg.) und Mitteilung „Die Europäische Union und die Vereinten Nationen: ein Plädoyer für den Multilateralismus“ (KOM(2003) 526 endg.).

(2)  Gemäß einer Empfehlung der Expertenkommission unter Leitung von Prof. Joseph Stiglitz, die die UN-Konferenz zur Weltfinanz- und -wirtschaftskrise und ihren Folgen für die Entwicklung berät, vom Juni 2009. Die Stiglitz-Kommission sprach auch die Empfehlung aus, eine Sachverständigengruppe zu bilden, die den Rat berät.

(3)  Gemeinsame Presseerklärung von Bundeskanzlerin Merkel, 5. Februar 2009, Berlin.

(4)  Angel Gurría, OECD-Generalsekretär, Rom, 12. Mai 2009.

(5)  ABl. C 234 vom 22.9.2005, S. 41.

(6)  ABl. C 93 vom 27.4.2007, S. 38.

(7)  IWF, „The Implications of the Global Financial Crisis for Low-Income Countries“, März 2009.

(8)  Richard Gowan, Franziska Brantner: „A global Force for Human Rights? An audit of European Power at the UN“. European Council on Foreign Relations, September 2008. www.ecfr.eu

(9)  ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 13.

(10)  ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 82.

(11)  ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 41.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/50


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Verkehrspolitik in den Westbalkanländern“

2010/C 354/08

Berichterstatter: Patrik ZOLTVÁNY

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung am 16. Juli 2009, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Verkehrspolitik in den Westbalkanländern“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 4. März 2010 an. Berichterstatter war Patrik ZOLTVÁNY.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) mit 132 gegen 2 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen

1.1   Empfehlungen an die Europäische Union (Europäische Kommission)

Fortführung des Erweiterungsprozesses und Beschleunigung der Verhandlungen über die Visumfreiheit mit Albanien und Bosnien und Herzegowina, damit deren Bürger visumfrei in die Schengen-Länder einreisen können, sowie Aufnahme von einschlägigen Verhandlungen mit Kosovo (1);

Mobilisierung aller verfügbaren Finanzquellen zur Maximierung der Investitionen in Infrastrukturvorhaben und diesbezügliche Nutzung des neuen Investitionsrahmens für die Länder des Westbalkans;

Bekräftigung der sozialen Dimension als Priorität bei der Umsetzung des Vertrags zur Gründung einer Verkehrsgemeinschaft. Das Sozialforum sollte unterstützt werden, um zu einem effizienten Instrument für einen verbesserten sektoriellen sozialen Dialog auf regionaler Ebene zu werden;

Förderung der Verlagerung auf umweltgerechtere Verkehrsträger in den Westbalkanländern wie die Binnenschifffahrt und den Schienenverkehr;

Berücksichtigung der Abschätzung der sozioökonomischen Folgen der Verkehrsnetze bei der Konzipierung einer gemeinsamen Verkehrspolitik;

Förderung der bedarfsgerechten Anpassung des regionalen Kernverkehrsnetzes;

Berücksichtigung des südosteuropäischen regionalen Kernverkehrsnetzes als künftiger Teil des TEN-V im Rahmen der Überarbeitung der TEN-V-Politik, um die weitere Integration der Westbalkanländer in die EU zu fördern;

Durchführung einer Studie über die Beschäftigungslage in den Westbalkanländern, die Vertragspartner der Verkehrsgemeinschaft sind. Außerdem sollte der Konzipierung von Bildungsprogrammen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer angemessenes Augenmerk gewidmet werden, damit diese besser auf die veränderten Arbeitsmarktbedingungen reagieren können;

Bereitstellung ausreichender Humanressourcen für soziale Angelegenheiten und den sozialen Dialog im Sekretariat der Verkehrsgemeinschaft.

1.2   Empfehlungen an den EWSA

Förderung der Beteiligung der Sozialpartner in den Westbalkanländern am sozialen Dialog auf nationaler und regionaler Ebene im Rahmen der Gemeinsamen Beratenden Ausschüsse;

Veranstaltung einer Konferenz zur Verkehrspolitik in den Westbalkanländern unter Teilnahme von Vertretern der zivilgesellschaftlichen Organisationen der Westbalkanländer, der Europäischen Kommission und des EWSA;

Ermittlung von Mechanismen zur Entwicklung und Institutionalisierung der künftigen Zusammenarbeit mit dem regionalen Sozialforum, das gemäß dem Vertrag zur Gründung einer Verkehrsgemeinschaft einzurichten ist.

1.3   Empfehlungen an die Regierungen der Westbalkanländer

Intensivierung der regionalen Zusammenarbeit in den Bereichen Verkehrspolitik und Verkehrsinfrastruktur;

Gewährleistung einer effizienten öffentlichen Investitionsplanung von regionalem Interesse für den Verkehrssektor und Stärkung des Aufbaus von Kapazitäten im Verkehrssektor;

Durchführung der erforderlichen Reformen und Beschleunigung der Übernahme des Acquis communautaire;

Nutzung von Möglichkeiten zur privaten Finanzierung bzw. Ko-Finanzierung vorrangiger Vorhaben sowie ergänzender Vorhaben (öffentlich-private Partnerschaften) und Schaffung des entsprechenden Umfelds für derartige Vorhaben;

Erhöhung der Transparenz im öffentlichen Beschaffungswesen;

Verbesserung des Grenzschutzes und Steigerung der Kapazitäten an Grenzübergangsstellen zur Beschleunigung des Verkehrs und Erhöhung seiner Qualität auf regionaler Ebene;

Ausarbeitung kohärenter Maßnahmen auf regionaler Ebene zur Förderung des intermodalen Verkehrs und des Einsatzes intelligenter Verkehrssysteme (IVS);

weitere Verbesserung der Beziehungen zu den Nachbarländern und Lösung offener Fragen in den bilateralen Beziehungen;

aktive Mitwirkung bei der Entwicklung der Donau-Strategie, die derzeit vorbereitet wird, um die gemeinsamen Infrastrukturvorhaben mit den EU-Mitgliedstaaten und Nachbarländern zu nutzen;

Einbindung der Sozialpartner und Vertreter weiterer einschlägiger Organisationen der Zivilgesellschaft in die Entwicklung einer regionalen Verkehrspolitik und Sicherstellung der Kohärenz zwischen Beschäftigungsmaßnahmen und Reformen.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1   Die Bedeutung von Verkehr und Infrastruktur bei der regionalen Zusammenarbeit in den Westbalkanländern wird als grundlegender Faktor für die wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung dieser Region insgesamt angesehen. Die Einrichtung des südosteuropäischen regionalen Kernverkehrsnetzes (Kernnetz) bietet diesen Ländern eine ausgezeichnete Gelegenheit, ihre Interessen zusammenzuführen sowie wirtschaftlich und sozial vorteilhafte und gleichzeitig umweltgerechte Lösungen anzustreben, die der Region insgesamt zu Gute kommen. In Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung wirkt sich die Durchführung regionaler Infrastrukturvorhaben positiv auf die regionale Wirtschaft aus, sie trägt zur Marktöffnung für neue Unternehmensinitiativen bei und sorgt für einen effizienteren Handel zwischen den Ländern dieser Region. Mit der Entwicklung des südosteuropäischen regionalen Kernverkehrsnetzes werden insbesondere die Regierungen der betreffenden Länder in ihrem Kampf gegen die hohe Arbeitslosigkeit unterstützt, wodurch wiederum die gesamte Wirtschaftsentwicklung der Region gefördert wird. Bessere Beschäftigungsmöglichkeiten und höhere Arbeitskräftemobilität tragen auch zur sozialen Entwicklung bei. Durch dieses regionale Verkehrsnetz können darüber hinaus die grenzübergreifende Zusammenarbeit und die zwischenmenschlichen Kontakte intensiviert werden. Da der Verkehr erhebliche Umweltauswirkungen hat, müssen ökologische Überlegungen beim Aufbau dieses Netzes unbedingt berücksichtigt werden.

Die Entwicklung des südosteuropäischen regionalen Kernverkehrsnetzes weist auch eine starke politische Dimension auf. Durch die Durchführung von Infrastrukturvorhaben können die Regierungen der Westbalkanländer gemeinsam mit allen Interessenträgern ihre Bereitschaft zeigen, bilaterale Spannungen und Probleme der jüngeren Vergangenheit zu überwinden. Die Einrichtung des südosteuropäischen regionalen Kernverkehrsnetzes trägt daher zur regionalen Integration der Westbalkanländer bei.

2.2   Die Rolle der Europäischen Union bei der Konzipierung einer Verkehrspolitik in den Westbalkanländern

2.2.1

Die EU hat ein unmittelbares Interesse an dieser Region, da sie inmitten Europas liegt. Alle Westbalkanländer sind entweder bereits Kandidatenländer oder potenzielle Kandidatenländer. Hierfür müssen sie sämtliche Kriterien und Bedingungen für die EU-Mitgliedschaft erfüllen. Die regionale Zusammenarbeit ist eine der Voraussetzungen für ihre erfolgreiche Integration in die EU und somit ein grundlegender Bestandteil des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses (SAP). Aus diesem Grund möchte die EU die Entwicklung regionaler Vorhaben, einschl. des südosteuropäischen regionalen Kernverkehrsnetzes fördern, das von entscheidender Bedeutung ist.

2.2.2

Nach Auffassung der EU ist der Verkehr ein Politikbereich, der sich für eine wirksame regionale Zusammenarbeit geradezu anbietet. Die Verkehrspolitik in den Westbalkanländern kann ihrer Meinung nach somit weitreichende Auswirkungen haben und der Region bei der Angleichung an den Acquis communautaire einen wichtigen Impuls geben. Der Verkehrssektor ist umso wichtiger, da vier der zehn paneuropäischen Korridore durch diese Region verlaufen. Die EU verfolgt mit ihrer Verkehrspolitik für den Westbalkan drei Ziele: Erstens die Verbesserung und Modernisierung des südosteuropäischen Verkehrsnetzes zur Förderung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Zweitens die Verbesserung des Verkehrsgeschehens in diesem Netz durch sogenannte „soft law“- oder bereichsübergreifende Maßnahmen. Und drittens die Unterstützung der Westbalkanländer bei der Angleichung an die gemeinschaftlichen Verkehrsbestimmungen. Zur Förderung dieser drei Prioritäten verhandelt die EU derzeit mit den Regierungen aller Westbalkanländer über einen Vertrag zur Gründung einer Verkehrsgemeinschaft (siehe Ziffer 4.3).

3.   Das südosteuropäische regionale Kernverkehrsnetz

Das Kernnetz ist in der Vereinbarung über die Entwicklung eines südosteuropäischen regionalen Kernverkehrsnetzes als multimodales Netz definiert, das Straßen-, Schienen- und Binnenwasserstraßenverbindungen in den sieben Teilnehmerländern (Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Montenegro, Serbien und Kosovo (2)) sowie bestimmte See-, Binnen- und Flughäfen umfasst.

Das Kernstraßen- und -schienenverkehrsnetz umfasst Korridore und Strecken. Als Korridore sind die bereits bestehenden paneuropäischen Korridore V, VII, VIII and X festgelegt, die internationale Verbindungen zur EU eröffnen. Die Strecken, namentlich sieben Straßen- und sechs Schienenverkehrsstrecken, ergänzen das Kernnetz mit dem Ziel, die Hauptstädte innerhalb der Region zu verbinden und an die Hauptstädte der Nachbarländer anzubinden. Außerdem sollen die wichtigsten regionalen Städte verbunden, der Zugang zu den Häfen (und Lufthäfen) des Kernnetzes gewährleistet und die angemessene Anbindung entlegener Gebiete dieser Region sichergestellt werden. Das Kernbinnenwasserstraßennetz besteht aus dem paneuropäischen Korridor VII (Donau) und der Save.

3.1   Kernstraßenverkehrsnetz

Das Kernstraßenverkehrsnetz verfügt über eine Gesamtlänge von 5 975 km, die Korridore machen 3 019 km und die Strecken 2 956 km aus. Laut den der Beobachtungsstelle für den Verkehr in Südosteuropa (SEETO) vorliegenden Daten weisen 13,2 % der Straßen eine schlechte oder sehr schlechte Qualität auf; beinahe 87 % wurden jedoch als mittel- bis sehr gut eingestuft (3).

Der Straßenverkehr ist der dominierende Sektor. Daher fließt auch der größte Teil der Finanzmittel in diesen Sektor. Die Straßen müssen verbessert werden, um Verzögerungen, Verkehrsüberlastung sowie Umweltverschmutzung zu vermeiden und die Sicherheit zu erhöhen. Trotz der Bemühungen der betreffenden Länder zur Erlassung neuer und strengerer Rechtsvorschriften ist die Straßenverkehrssicherheit nach wie vor eines der Hauptprobleme (4). Ausgehend von den Daten zur Straßenverkehrssicherheit ist die Lage in Südosteuropa bedenklich, wegen aufgelaufener Investitionsdefizite sowie fehlender angemessener Instandhaltung und Durchsetzung der Rechtsvorschriften nimmt die Zahl der Verkehrstoten ständig weiter zu.

3.2   Kernschienenverkehrsnetz

3.2.1

Das Kernschienenverkehrsnetz verfügt über eine Gesamtlänge von 4 615 km, die Korridore machen 3 083 km und die Strecken 1 532 km aus. Lediglich 15 % der Eisenbahnverbindungen weisen eine gute Qualität auf; 19 % wurden hingegen als schlecht bis sehr schlecht eingestuft (5).

3.2.2

Der Schienenverkehr ist das schwächste Glied unter allen Verkehrsträgern. Aus Zugänglichkeitsanalysen geht hervor, dass die Beförderung auf der Schiene für ein- und dieselbe Verkehrsrelation mehr als doppelt so lange dauert wie der Transport auf der Straße. Die Eisenbahninfrastruktur ist in sämtlichen Westbalkanländern unterentwickelt. Daher sind in allen Ländern der Region umfassende Investitionen in den Schienenverkehr erforderlich. Ein weiteres anstehendes Problem ist die Umstrukturierung der Eisenbahnunternehmen, die oftmals einen Personalüberhang aufweisen.

3.3   Weitere Verkehrsträger (Binnenschifffahrt, Binnen- und Seehäfen)

3.3.1

Die Donau (Korridor VII) (6) verläuft auf einer Gesamtlänge von 588 km durch Kroatien und Serbien, die Save ist auf einer Länge von 593 km schiffbar. Das Kernnetz umfasst auch sieben See- und zwei Binnenhäfen (7). Mit Ausnahme von rund 30 km ist die Donau zumeist sehr gut befahrbar, die Save ist hingegen in weitaus schlechterem Zustand (8).

3.3.2

Die Binnenschifffahrt ist der umweltfreundlichste und kostengünstigste Verkehrsträger, ihr großer Nachteil ist jedoch die Beförderungsdauer.

3.3.3

Intermodalverkehr findet nur begrenzt statt und erfolgt derzeit zumeist in Form der Beförderung von Schiffscontainern zu Land von und zu Häfen. Außerdem werden die bestehenden Umschlagterminals nicht ausreichend genutzt. Es ist allerdings ein Potenzial von ca. 10 % für den intermodalen Verkehr vorhanden, das bis 2015 im Kernnetz um 15 % steigen kann.

3.3.4

Die Westbalkanländer erzielen im Wege ihrer nationalen Verkehrsstrategien und der Einführung neuer Rechtsvorschriften, die im Einklang mit den gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften und der EU-Politik zum Verkehrsbereich stehen, kontinuierlich Fortschritte bei der Reform des Verkehrssektors. Sie erkennen im Allgemeinen an, dass Reformen unter Berücksichtigung der regionalen Interessen erfolgen, d.h. kein Gefälle verursachen sollten, das die Entwicklung und ein wirksames Management des Kernnetzes untergräbt. Wie beim Integrationsprozess sind einige Länder weiter fortgeschritten als andere.

4.   Rahmendokumente und institutionelle Vereinbarungen

4.1

Die Idee einer gemeinsamen Verkehrspolitik für die Westbalkanländer geht auf den Stabilitätspakt für Südosteuropa aus dem Jahre 1999 zurück. Wie bereits erwähnt erachtet die EU die regionale Zusammenarbeit als Voraussetzung für eine künftige EU-Mitgliedschaft der Westbalkanländer und die Konzipierung einer regionalen Verkehrspolitik. Sie hat diese Länder daher ermuntert, eine Zusammenarbeit innerhalb der Region zu entwickeln und die Koordinierung in der gemeinsamen Verkehrspolitik zu stärken. Zur Förderung des Auf- und Ausbaus der Verkehrsinfrastruktur in Südosteuropa wurde 2004 zwischen der Europäischen Kommission und den Teilnehmern aus der Region eine Vereinbarung zur Entwicklung des südosteuropäischen regionalen Kernverkehrsnetzes unterzeichnet. In der Folge wurden die zahlreichen Foren, die an der regionalen Verkehrsinfrastruktur beteiligt waren, durch drei Hauptkoordinierungsgremien ersetzt. Die strategischen Entscheidungen werden in einem jährlichen Ministertreffen gefällt, die Durchführung der Vereinbarung wird von einem Lenkungsausschuss koordiniert, und die Beobachtungsstelle für den Verkehr in Südosteuropa (SEETO) übernimmt die Aufgabe eines ständigen Sekretariats (9). Die Vertragsparteien dieser Vereinbarung haben sich dazu verpflichtet, einen Mehrjahresaktionsplan für einen Zeitraum von 5 Jahren auszuarbeiten und umzusetzen. Mit dieser Vereinbarung wurde außerdem ein Rahmen für ein koordiniertes Verfahren zur Ausarbeitung eines Vertrags zur Gründung einer Verkehrsgemeinschaft mit den westlichen Balkanstaaten geschaffen.

4.2

Dieser Vertrag zur Gründung einer Verkehrsgemeinschaft mit den westlichen Balkanstaaten, der derzeit Gegenstand von Verhandlungen ist, wird die geltende Vereinbarung ersetzen. Ziel ist die Verwirklichung eines integrierten Marktes für Infrastrukturen sowie Land-, Binnenschifffahrts- und Seeverkehrssysteme und -dienste, der eng an den Verkehrsbinnenmarkt der EU angebunden ist. Mit der Errichtung einer Verkehrsgemeinschaft würde die Integration der Verkehrssysteme innerhalb der Region selbst sowie auch ihre Anbindung an die EU beschleunigt werden. Neben der zügigeren Anpassung der einschlägigen Rechtsvorschriften, einschl. der damit verbundenen sozialrechtlichen Regelungen, würde diese Verkehrsgemeinschaft den Verkehrsnutzern und Bürgern außerdem die Möglichkeit eröffnen, schneller in den Genuss der Vorteile des Beitrittsprozesses zu kommen. Mit der Verkehrsgemeinschaft würde den Unternehmen und Investoren im Verkehrssektor auch Rechtssicherheit geboten, was wiederum die erforderlichen Investitionen und die Wirtschaftsentwicklung stärken und voranbringen würde (10).

4.3

Weitere Ziele sind die Schaffung eines stabilen Regulierungs- und Marktrahmens, der als Anreiz für Investitionen in alle Verkehrsträger und in Verkehrsmanagementsysteme dienen kann, die Verbesserung der Effizienz der Verkehrsträger, die Förderung eines nachhaltigeren Modalsplits sowie die Sicherstellung einer sozial verträglichen und umweltfreundlichen Verkehrsentwicklung. Der Vertrag wird in einigen Westbalkanländern erst in Kraft treten, wenn diese sämtliche erforderlichen Kapitel des Acquis communautaire umgesetzt haben.

5.   Hauptherausforderungen für die Verkehrspolitik in den Westbalkanländern

Die Infrastrukturintegration ist eines der größten Probleme der Westbalkanländer. Verkehrsinfrastruktur und Verkehrserleichterung sind von grundlegender Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung, den sozialen Zusammenhalt und die gesellschaftliche Integration. Allerdings ist die Region von einem äußerst zersplitterten Verkehrssystem, einer unzureichenden Verkehrsinfrastruktur und ineffizienten Verkehrsdiensten gekennzeichnet. Um dieser Situation abzuhelfen, müssen entsprechende Anstrengungen in den Bereichen Planung, Gesetzgebung und Finanzierung unternommen werden. Bei der Bewältigung dieser Probleme darf allerdings nicht vergessen werden, dass die Region ausgeprägte - historische, politische, wirtschaftliche, soziale und geografische - Besonderheiten aufweist und die Erfahrungen bei der Ausweitung der EU-Verkehrspolitik auf die zwölf „neuen“ Mitgliedstaaten nur bedingt übertragbar sind.

5.1   Planung

5.1.1

Die wichtigste Triebfeder für die Integration im Verkehrssektor ist die Harmonisierung der Rechtsvorschriften und die Koordinierung zwischen den Behörden. Angesichts der Zahl an Akteuren, die in die Konzipierung einer regionalen Verkehrspolitik eingebunden sind, müssen die Maßnahmen angemessen geplant und koordiniert werden.

5.1.2

Auf nationaler Ebene sind die Regierungen der Westbalkanländer bei der Umsetzung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften zur Planung und Durchführung grundlegender Reformen im Verkehrssektor sowie in damit verbundenen Sektoren verpflichtet. Ergänzend sollte eine genaue Folgenanalyse vorgenommen werden.

5.1.3

Die wirksame Planung der öffentlichen Ausgaben und der Zusammenarbeit mit den übrigen Interessenträgern, einschl. den Sozialpartnern und internationalen Finanzinstitutionen, sollte einer der wichtigen Aspekte für die effiziente Entwicklung einer Verkehrspolitik sein.

5.1.4

Damit verbunden ist die Notwendigkeit, die nationalen Verkehrsstrategien mit regionalen Interessen abzustimmen und die Einrichtung des Kernnetzes zu koordinieren, um ein effizientes Management und eine gute Entwicklung des Kernnetzes zu fördern.

5.1.5

Die Aufstellung eines Mehrjahres-Aktionsplans seitens der SEETO für die Entwicklung des regionalen Kernverkehrsnetzes erfordert eine zweckdienliche Planung und Koordinierung der Tätigkeiten auf regionaler Ebene. Eine derartige Koordinierung ist auch im Rahmen des Sozialforums erforderlich, an dem die Vertreter der Sozialpartner und anderer betroffener Interessenträger einschl. NGO aus den Westbalkanländern teilnehmen werden.

5.2   Gesetzgebung

5.2.1

Die Anpassung der nationalen Gesetzgebung an die gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften und Normen im Verkehrsbereich ist von vorrangiger Bedeutung. Die gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften sind insbesondere im Verkehr besonders umfassend und reichen vom Marktzugang bis zu sozialen, technischen, steuerlichen, sicherheitstechnischen und ökologischen Vorschriften. Die Westbalkanländer stehen daher vor der Herausforderung, ein umfassendes Paket an gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften in diesem Bereich in Form zahlreicher Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen umsetzen und vollziehen zu müssen. Eine weitere Herausforderung ist die Umsetzung und Anwendung ausgewählter Kapitel des Acquis communautaire.

5.2.2

Da Südosteuropa geografisch stark zerstückelt ist, ist die Frage der Grenzübergänge hier von großer Bedeutung. Derzeit beeinträchtigen Wartezeiten an den Grenzübergängen die Effizienz und die Wettbewerbsfähigkeit des Kernnetzes erheblich. Die beteiligten Westbalkanländer sollten zusätzliche Anstrengungen unternehmen, die Grenzverwaltung und -verfahren zu optimieren und die Wartezeiten zu verkürzen.

5.2.3

Das Thema Umwelt sollte ebenfalls herausgestellt werden. Die Anwendung von Umweltnormen wird bei der Entwicklung von Infrastrukturvorhaben immer wichtiger. Da die Umweltvorschriften ein wichtiger Bestandteil der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften sind, erübrigt sich die Frage, ob sie angewendet werden müssen oder nicht. Es kann jedoch ins Treffen geführt werden, dass die Westbalkanländer ernste Schwierigkeiten bei der Durchsetzung von Umweltvorschriften haben.

5.3   Finanzierung

5.3.1

Die Entwicklung und Instandhaltung der Verkehrsnetze erfordert Finanzmittel, die der öffentliche Sektor nicht bestreiten kann. Die Koordinierung der Geldgeber ist daher von grundlegender Bedeutung. Neben der EU sollten auch die internationalen Finanzinstitutionen (iFi) wie die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE), die Weltbank, die Europäische Investitionsbank (EIB), die Entwicklungsbank des Europarates (CEB) und bilaterale Geber ihre Tätigkeiten abstimmen und die erforderlichen Mittel bereitstellen. Die Regierungen der Westbalkanländer können zur Finanzierung der Verkehrsnetze auch öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) eingehen.

5.3.2

Die Bedeutung von ÖPP wurde auf der Ministerkonferenz im September 2009 in Sarajewo hervorgehoben. In der Erklärung zum Abschluss dieser Konferenz erkannten die Teilnehmer nicht nur die wichtige Rolle des Privatsektors für die Entwicklung der Infrastruktur an und befürworteten diese, sondern sie nahmen auch die Notwendigkeit zur Kenntnis, ein institutionelles und rechtliches Umfeld zu schaffen, das die Beteiligung des Privatsektors an Infrastrukturvorhaben durch das Instrument der ÖPP gestattet. Sie bekundeten außerdem ihr Engagement, regionale Infrastrukturvorhaben zu konzipieren und die Einrichtung eines südosteuropäischen Netzes für öffentlich-private Partnerschaften zu fördern (11). Die Ministererklärung bietet einen guten Rahmen zur Förderung der Entwicklung von ÖPP-Infrastrukturvorhaben in der Region. Für ihre Umsetzung sind jedoch Reformen, einschl. des rechtlichen und regulatorischen Rahmens, sowie die Unterstützung seitens internationaler Partner (Europäische Kommission, internationale Finanzinstitutionen, bilaterale Geldgeber) in Form von technischer oder finanzieller Hilfe erforderlich.

5.3.3

Eine weitere wichtige Maßnahme, um die enge Zusammenarbeit zwischen den internationalen Finanzinstitutionen (iFi), den bilateralen Gebern und der Europäischen Union sicherzustellen, ist der Investitionsrahmen für die westlichen Balkanstaaten (WBIF), der im Dezember 2009 geschaffen wurde und eine gemeinsame Zuschussfazilität sowie eine gemeinsame Darlehensfazilität umfasst, um vorrangige Vorhaben in den Westbalkanländern zu finanzieren, bei denen insbesondere die Infrastrukturvorhaben von großer Bedeutung sind (12).

6.   Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen/Die Rolle der Zivilgesellschaft

Die Errichtung regionaler Verkehrsnetze ist sowohl für die Arbeitgeber als auch für die Arbeitnehmer gleichzeitig Chance und Herausforderung. Ihre Teilnahme ist für die erfolgreiche Durchführung jedweder Infrastrukturvorhaben ausschlaggebend. Allerdings kann das Argument ins Treffen geführt werden, dass weder die Arbeitgeberverbände noch die Gewerkschaften sich in ihrer Funktion als Sozialpartner bei den EU-Institutionen sowie internationalen Gebern und Finanzinstitutionen richtig in Szene setzen. Der Erfolg der Infrastrukturumstrukturierung und der damit verbundenen Reformen hängt stark von gegenseitiger Unterstützung und allgemeiner Akzeptanz ab, die ohne Mitwirkung der Organisationen der Zivilgesellschaft unmöglich wären. Dem Dialog mit den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft sollte daher bei der Konzipierung jedweder Politik in den Westbalkanländern, einschl. der Verkehrspolitik, große Bedeutung beigemessen werden. In den Ländern dieser Region haben sozialer und ziviler Dialog kaum Tradition, die Konsultationsmechanismen sind unterentwickelt, und das Konzept der Partnerschaft besteht nur in Ansätzen. Daher sollten die Regierungen der Westbalkanländer dazu angehalten werden, den Vertretern der Sozialpartner und weiterer einschlägiger Organisationen der Zivilgesellschaft die Möglichkeit zu bieten, bei der Entwicklung einer regionalen Verkehrspolitik und der Konzipierung von Reformstrategien mitzuwirken.

6.1   Arbeitgeberverbände

6.1.1

Das Verkehrswesen ist einer der größten Beschäftigungssektoren in der Region. Die Arbeitgeber sollten daher bei der Politikgestaltung und Durchführung von Reformen, die sowohl für ihre Unternehmen als auch die Arbeitnehmer und Bürger ihrer Länder von Vorteil sind, mitwirken. Sektorielle Verbände und individuelle Arbeitgeber im Verkehrsbereich spielen auch bei den Verhandlungen der Prioritäten für die nationalen und regionalen Verkehrsnetze und die Untersuchung ihrer Auswirkungen in den Bereichen Mobilitätsförderung, Schaffung neuer und Erhaltung bestehender Arbeitsplätze und allgemeiner Nutzen für die Volkswirtschaft eine Rolle.

6.1.2

Präsenz und Einfluss der Arbeitgeberverbände sind je nach Land unterschiedlich. Ganz allgemein ist ihre Position aufgrund mangelnder interner Mobilisierung sowie Schwierigkeiten bei der effizienten Repräsentation und Vertretung ihrer Interessen in den Beziehungen mit der Regierung und anderen Interessenträgern eher schwach.

6.1.3

Die Mitglieder der Arbeitgeberverbände müssen ihre Fähigkeiten im Bereich Repräsentation und Analyse stärken. Dies käme nicht nur den einzelnen Ländern, sondern auch der EU zu Gute.

6.2   Gewerkschaften

6.2.1

Das Verkehrswesen ist einer der größten Arbeitgeber in der Region. In den meisten Ländern sind die Sozial- und Arbeitsmarktbedingungen prekär, die Arbeitslosen- und die Armutsquote sind hoch, die aktive Bevölkerung wandert stark ab. Die Sozialversicherungssysteme sind überlastet. In den letzten zehn Jahren haben 50 % der Arbeitnehmer im Schienenverkehr ihren Arbeitsplatz aufgegeben (13). Ziel der Bahnreform in allen Ländern sind Personalabbau, Privatisierung der Frachtunternehmen und Stilllegung unrentabler Lokalstrecken (14). Die Pläne zur Liberalisierung des Schienenverkehrs werden sich daher sowohl auf die Beschäftigungslage als auch auf die Arbeitsbedingungen auswirken.

6.2.2

Der Verlust an Arbeitsplätzen betrifft auch die Hafenindustrie, die hafenabhängigen Kommunen und die Volkswirtschaften. In der Binnenschifffahrt ist ein ähnlich hoher Verlust an Arbeitsplätzen zu verzeichnen.

6.2.3

Die Gewerkschaften übernehmen gemeinsam mit den übrigen Sozialpartnern eine wichtige Rolle bei der Abschätzung der Auswirkungen der Einrichtung des regionalen Kernverkehrsnetzes auf den Arbeitsmarkt. Unter Koordinierung der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) haben sich die Gewerkschaften sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene für die allgemeine Durchführung sozialer Folgenabschätzungen bei der strategischen Planung und Umsetzung des Vertrags zur Gründung einer Verkehrsgemeinschaft eingesetzt (15). Im Blickwinkel der Gewerkschaften steht außerdem die Konvergenz zwischen den Beschäftigungsmaßnahmen und der Reform dieses Sektors.

6.3   Weitere Interessenträger

Der Auf- und Ausbau von Infrastruktur hat erhebliche Umweltfolgen. Daher ist der Umweltschutz bei diesem Unterfangen von großer Bedeutung und sollte bei der Planung und Einrichtung des Infrastrukturnetzes berücksichtigt werden. Diesbezüglich fällt den Umweltschutzorganisationen eine wichtige Rolle zu. Unter diesen nimmt das Regionale Umweltzentrum für Mittel- und Osteuropa (REC) eine einzigartige Stellung ein. Seine Aufgabe ist die Lösung der regionalen Umweltprobleme, sein Hauptziel die Förderung der Zusammenarbeit zwischen NGO, Regierungen, Unternehmen und anderen Interessenträgern sowie des Informationsaustausches und der Einbindung der Bürger in die Entscheidungsfindung in Umweltfragen. Das Regionale Umweltzentrum für Mittel- und Osteuropa hat mit einer weiteren wichtigen regionalen Initiative, und zwar dem regionalen Kooperationsrat (RCC), die Umsetzung des Rahmenprogramms „Roadmap for Environmental Cooperation in South-Eastern Europe“ (Fahrplan für die Zusammenarbeit im Umweltbereich in Südosteuropa) vereinbart, in dem zahlreiche hochrangig besetzte thematische Konferenzen im Vierteljahresrhythmus stattfinden sollen.

Der Auf- und Ausbau von Infrastruktur betrifft neben den Umweltorganisationen insbesondere Verbraucherschutzorganisationen in der ganzen Region, zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, die sich mit Fragen der lokalen Entwicklung beschäftigen, sowie Verbände, die die Fahrzeugnutzung fördern wie Automobilverbände.

7.   Die Rolle des EWSA bei der Konzipierung einer Verkehrspolitik in den Westbalkanländern

In den Westbalkanländern haben sozialer und ziviler Dialog kaum Tradition, und die Konsultationsmechanismen zwischen den Sozialpartnern sind unterentwickelt. Ihre Einbindung in die Reformprozesse ist daher für eine nachhaltige regionale Verkehrspolitik in den Westbalkanländern unerlässlich. Der Ausschuss kann daher eine wichtige beratende Funktion übernehmen, indem er den sozialen Dialog in der Region stärkt, u.a. anlässlich des Forums der Zivilgesellschaft der Westbalkanländer. Der Ausschuss kann außerdem bei Ermittlung von Partnern unter den zivilgesellschaftlichen Organisationen in den einzelnen Ländern der Region weiterhelfen und diese Organisationen und ihre Mitglieder beim Aufbau von Kapazitäten unterstützen. Darüber hinaus kann seine Erfahrung einen zusätzlichen Nutzen bei der Einrichtung des regionalen Sozialforums bewirken, das Teil des künftigen Vertrags zur Gründung einer Verkehrsgemeinschaft sein sollte.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Gemäß Resolution 1244 (1999) des UN-Sicherheitsrates.

(2)  Gemäß der Resolution 1244 (1999) des UN-Sicherheitsrates.

(3)  Siehe „South-East Europe Core Regional Transport Network Development Plan“, SEETO, Dezember 2008 (http://www.seetoint.org/index.php?option=com_content&view=article&id=1&Itemid=4 - nur auf EN verfügbar).

(4)  Siehe Bericht der European Road Federation (ERF) und der Chamber of Commerce Belgium-Luxembourg South Eastern Europe (CCBLSEE): „Networks for Peace and Development“ (2006) (http://www.erf.be/index.php?option=com_content&view=article&id=157%3Anetworks-for-peace-and-development&catid=18&Itemid=31 - nur auf EN verfügbar).

(5)  Siehe „South-East Europe Core Regional Transport Network Development Plan“, SEETO, Dezember 2008 (http://www.seetoint.org/index.php?option=com_content&view=article&id=1&Itemid=4 - nur auf EN verfügbar).

(6)  Die Bedeutung der Donau wird in einer Strategie für den Donauraum (Donau-Strategie) anerkannt, die derzeit auf EU-Ebene vorbereitet wird.

(7)  Folgende sieben Seehäfen zählen zu dem Kernnetz: Rijeka, Split, Ploce, Dubrovnik (Kroatien), Bar (Montenegro) und Durres, Vlore (Albanien). Die beiden Binnenhäfen befinden sich in Serbien, und zwar in Belgrad und Novi Sad.

(8)  Siehe „South-East Europe Core Regional Transport Network Development Plan“, SEETO, Dezember 2009 (http://www.seetoint.org/index.php?option=com_content&view=article&id=1&Itemid=4 – nur auf EN verfügbar).

(9)  Ziel der Beobachtungsstelle ist außerdem die Förderung der Zusammenarbeit für den Auf- und Ausbau der Primär- und Sekundarinfrastruktur im multimodalen südosteuropäischen regionalen Kernverkehrsnetz sowie die Förderung und Verbesserung der Kapazitäten vor Ort für die Durchführung von Investitionsprogrammen, die Verwaltung dieses Kernverkehrsnetzes sowie die Datenerhebung und -analyse. Siehe www.seetoint.org

(10)  Pressemitteilung „Kommission schlägt Verkehrsgemeinschaft mit Westbalkan vor und unternimmt weitere Schritte zur Stärkung der Zusammenarbeit mit Nachbarstaaten im Verkehrssektor“, Brüssel, 5. März 2008 (http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/08/382&format=HTML&aged=1&language=DE&guiLanguage=en).

(11)  Siehe „Ministerial Statement on Public-Private Partnerships for Infrastructure Development in Southeast Europe“, 25. September 2009 (http://www.rcc.int/admin/files/docs/PPP%20Ministerial%20Statement%20FINAL.pdf – nur auf EN verfügbar).

(12)  „Introducing the Western Balkans Investment Framework“ (http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/western-balkans-conference/wbif-a4-def_en.pdf - nur auf EN verfügbar); Pressemitteilung „Investitionsrahmen für die Länder des Westbalkans eingerichtet“, 9. Dezember 2009 (http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=BEI/09/246&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en).

(13)  European Transport Federation (ETF): „The social impact of EU transport infrastructure policy“, 2005. Beitrag zur öffentlichen Konsultation.

(14)  World Bank: „Railway Reform in the Western Balkans“ (unveröffentlichter Bericht); World Bank, Washington D.C., 2005.

(15)  Seit Januar 2003 koordiniert die ETF die Aktionen der Gewerkschaften und ihrer angeschlossenen Mitglieder aus Südosteuropa. Sie deckt folgende Bereich ab: Straße, Schiene, Seeverkehr, Binnenschifffahrt und Luftverkehr. Es gibt keinen europäischen sektoriellen Sozialdialog im Hafensektor.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/56


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Organisationen der Zivilgesellschaft und der EU-Ratsvorsitz“ (Initiativstellungnahme)

2010/C 354/09

Berichterstatter: Miklós BARABÁS

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 25. März 2009, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Organisationen der Zivilgesellschaft und der EU-Ratsvorsitz“.

Der mit den Vorarbeiten beauftragte gleichnamige Unterausschuss nahm seine Stellungnahme am 12. Januar 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) mit 156 gegen 2 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung

1.1

Der Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, hat tiefgreifende Veränderungen für das institutionelle System der Europäischen Union mit sich gebracht, u.a. das Amt eines ständigen Präsidenten des Europäischen Rates. Gleichzeitig wurde durch den Vertrag von Lissabon eine Rechtsgrundlage für den sogenannten „Dreiervorsitz“ (1) geschaffen, bei dem drei Mitgliedstaaten 18 Monate lang gemeinsam auf der Grundlage eines zuvor festgelegten Programms die Aufgaben des EU-Ratsvorsitzes wahrnehmen.

1.2

Aus Sicht der Zivilgesellschaft ist Artikel 11 des Vertrags von Lissabon von besonderer Bedeutung. Darin sind insbesondere die Stärkung der partizipativen Demokratie, die Intensivierung und Institutionalisierung des Dialogs mit den Bürgern, die Fortsetzung der inhaltlichen Anhörungen im Rahmen der Konzipierung der Unionspolitik sowie die Einführung der Bürgerinitiative vorgesehen. All dies dürfte zur Stärkung des zivilen Dialogs beitragen.

1.3

In dem vorliegenden Dokument sollen die unter den obigen Ziffern genannten Themen geprüft werden. Dazu wird auf die besondere Rolle des EWSA als institutioneller Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene hingewiesen, werden Vorschläge zur Stärkung dieser Rolle unterbreitet und gleichzeitig die Bestimmungen des Vertrags von Lissabon unterstützt, die auf eine effizientere und transparentere Funktionsweise der EU und eine Stärkung ihrer Legitimität abzielen.

2.   Eine neue Form des amtierenden Vorsitzes: der Dreiervorsitz

2.1

Der amtierende Ratsvorsitz oder präzise gesagt: der amtierende Vorsitz des Rates der Europäischen Union ist keine Neuheit: ein wichtiges Merkmal dieser Funktion besteht darin, dass sie von den Mitgliedstaaten abwechselnd für ein halbes Jahr übernommen wird. Während dieses Zeitraums ist das Land des jeweiligen Ratsvorsitzes „Gesicht und Stimme“ der EU, bestimmt die Strategien und nimmt organisatorische und repräsentative Aufgaben und Funktionen wahr.

2.2

Die Aufgaben des Ratsvorsitzes gehen mit großen Verpflichtungen einher und beruhen auf den Bemühungen der gesamten Regierung. Bei der Ausübung des Ratsvorsitzes darf das betreffende Land keine nationalen Positionen vertreten.

2.3

Die Bestimmungen über den Ratsvorsitz wurden am 15. September 2006 durch einen Beschluss des Rates zur Festlegung seiner Geschäftsordnung (2006/683/EG) geändert; hierdurch wurde die Grundlage für das System des „Dreiervorsitzes“ geschaffen. Der Beschluss sieht im Wesentlichen vor, dass die drei künftig amtierenden Vorsitze alle 18 Monate in enger Zusammenarbeit mit der Kommission und nach entsprechenden Konsultationen den Entwurf eines Programms für die Tätigkeit des Rates in diesem Zeitraum erstellen.

2.4

Welchen Vorteil hat diese neue Form des Ratsvorsitzes? Weiterhin erhalten bleibt in dem System das Merkmal des sechsmonatigen Vorsitzes, welches dem Land des jeweiligen Ratsvorsitzes einen gewissen Spielraum lässt. Das gemeinsam vom Dreiervorsitz ausgearbeitete Programm trägt zu einer besseren Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei, die so eine größere Kontinuität und Kohärenz der EU-Maßnahmen und folglich im Leben der Gemeinschaft gewährleisten können.

2.5

Die erste derartige - aus Deutschland, Portugal und Slowenien bestehende - Vorsitzgruppe („Dreiervorsitz“) hat ihre Arbeit am 1. Januar 2007 aufgenommen und wurde von der Dreiergruppe Frankreich, Tschechische Republik und Schweden abgelöst (1. Juli 2008 bis 31. Dezember 2009). Nach allgemeiner Einschätzung wurde die Arbeit dieser Dreiervorsitze jedoch aus verschiedenen Gründen, insbesondere aber aufgrund einer fehlenden Rechtsgrundlage weniger von gemeinsamen Standpunkten (des Dreiervorsitzes) als von nationalen Erwägungen und Bestrebungen dominiert.

2.6

Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nimmt seit dem 1. Januar 2010 das Trio Spanien-Belgien-Ungarn die Aufgaben des Dreiervorsitzes wahr. Grundlage seines Handelns ist das Arbeitsprogramm, das der Europäische Rat am 17. Dezember 2009 angenommen hat. Dieses sehr ehrgeizige Programm umfasst eine breite Palette von Bereichen. Eines der wichtigsten Elemente einer erfolgreichen Tätigkeit ist die Zusammensetzung des Dreiervorsitzes: ein großer Mitgliedstaat und/oder ein Gründerstaat - der folglich viel Erfahrung besitzt - zusammen mit einem später beigetretenen Land und einem neuen Mitgliedstaat.

2.7

Die Erfahrung lehrt, dass diejenigen Länder mit größerem politischen Gewicht zwar auch eine größere Verhandlungsstärke besitzen, die kleineren Länder jedoch ihre - oftmals nur scheinbaren - Nachteile oder ihren etwaigen Erfahrungsmangel durch klug gewählte Prioritäten, eine gute Verhandlungsstrategie und eine nicht zu unterschätzende Kompromissbereitschaft ausgleichen können.

2.8

Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wird durch das Handeln des Dreiervorsitzes ein Präzedenzfall geschaffen, was die Aufteilung der Aufgaben zwischen dem für zweieinhalb Jahre gewählten (und einmal wiederwählbaren) Präsidenten des Europäischen Rates und dem turnusmäßig wechselnden Dreiervorsitz betrifft, eine Aufteilung, bei der aus heutiger Sicht nicht alle Elemente klar vorhersehbar sind. Für einen Erfolg ist enge Zusammenarbeit Voraussetzung. Während für viele Bereiche das gegenwärtige System weiterhin gelten wird, ist davon auszugehen, dass die nationalen Regierungen sich natürlich weiterhin bemühen werden, während ihres sechsmonatigen Vorsitzes effizient zu sein und „sich ins rechte Licht zu setzen“. Diese neue Situation beinhaltet auch wichtige Elemente für die Organisationen der Zivilgesellschaft.

3.   Die Organisationen der Zivilgesellschaft und die gegenwärtige Praxis: einige typische Merkmale

3.1

Wir gehen davon aus, dass die Aufgaben des amtierenden Ratsvorsitzes im Wesentlichen Sache der jeweiligen Regierungen sind. Diese werden mit entscheidender Unterstützung von Beamten (Diplomaten), Sachverständigen und Politikern wahrgenommen. Weder in den Dokumenten über die Wahrnehmung der Aufgaben des Ratsvorsitzes noch im Vertrag von Lissabon wird die organisierte und institutionelle Teilhabe der Zivilgesellschaft erwähnt.

3.2

Unterdessen wird sowohl von den EU-Institutionen als auch von den Regierungen, deren Land den turnusmäßig wechselnden Ratsvorsitz innehat, immer stärker anerkannt, dass die Teilhabe des Gemeinwesens, d.h. der zivilgesellschaftlichen Organisationen und der Bürger, einen wichtigen Beitrag zu einer erfolgreichen Tätigkeit leisten kann. Dies zeigt, dass der Wert der partizipativen Demokratie und die Bedeutung des zivilen Dialogs anerkannt werden.

3.3

Daraus lässt sich jedoch nicht die Existenz einer einheitlichen Politik und Praxis auf EU-Ebene hinsichtlich der Frage ableiten, wie die Organisationen der Zivilgesellschaft sich zusammenschließen und wie sie an der Umsetzung der Programme der Ratsvorsitze teilhaben. Auf nationaler Ebene kann die Lage sehr unterschiedlich sein und hängt weitgehend davon ab, wie stark die Zivilgesellschaft des Landes, das den Ratsvorsitz innehat, organisiert ist, wie aktiv sie ist und welches Verhältnis sie zu ihrer Regierung hat. In dieser Frage können partnerschaftliche Beziehungen keineswegs als typisch gelten.

3.4

Aus den obigen Ausführungen folgt ferner, dass die Organisationen der Zivilgesellschaft nicht generell in die Erarbeitung der von dem Land des Ratsvorsitzes vorgeschlagenen Prioritäten einbezogen werden. Als logische Konsequenz ergibt sich hieraus, dass das Identifikationsgefühl der Zivilgesellschaft nur schwach ausgeprägt oder gar nicht vorhanden ist.

3.5

Da der „Dreiervorsitz“ ein relativ neues Konzept ist, verwundert es nicht, dass gemeinsame, im Voraus vereinbarte Maßnahmen oder Initiativen der zivilgesellschaftlichen Organisationen der drei betreffenden Länder nur gelegentlich zu beobachten sind. In diesem Zusammenhang wird es die ersten ermutigenden Zeichen während der Ratsvorsitzes Spanien-Belgien-Ungarn geben, z.B. bei der Vorbereitung und Durchführung von Veranstaltungen der Zivilgesellschaft mit großer Öffentlichkeitswirksamkeit (2010 in Malaga und 2011 in Budapest).

3.6

Seit einigen Jahren ist es üblich, dass in dem Land des jeweiligen Ratsvorsitzes mit Unterstützung der Europäischen Kommission ein repräsentatives Treffen der Zivilgesellschaft stattfindet; so wurde während des französischen Ratsvorsitzes im September 2008 in La Rochelle ein bedeutendes Europäisches Bürgerforum organisiert. Dort werden Fragen erörtert, die die zivilgesellschaftlichen Organisationen direkt betreffen und im Idealfall mit den von dem jeweiligen Land erarbeiteten Prioritäten zusammenhängen.

3.7

Die von der Europäischen Union beschlossenen Themenjahre (z.B. das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2010) bieten gute Möglichkeiten zur Einbeziehung der Organisationen der Zivilgesellschaft in die Programme und Tätigkeiten des Ratsvorsitzes.

4.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und die Ratsvorsitze: gegenwärtige Praxis

Im Laufe der Jahre hat der EWSA zahlreiche Tätigkeiten in Zusammenhang mit den Ratsvorsitzen verfolgt, unter anderem in folgenden Bereichen:

Einladung hochrangiger Vertreter des Landes des jeweiligen Ratsvorsitzes zu Plenartagungen des EWSA und zu Sitzungen anderer Arbeitsorgane (Fachgruppen, Gruppen usw.);

Festlegung der Prioritäten und Konzipierung spezieller Tätigkeiten des EWSA in Zusammenhang mit dem Programm des sechsmonatigen Ratsvorsitzes;

Stellungnahmen des EWSA zu verschiedenen Fragen auf Ersuchen und auf Initiative des Ratsvorsitzes;

Teilnahme an den verschiedenen Programmen des Ratsvorsitzes, Veröffentlichung von Stellungnahmen des EWSA zu Fragen, die Gegenstand einer Debatte sind;

Besuche in dem Land des jeweiligen Ratsvorsitzes, Teilnahme an besonderen Programmen und Stärkung der Beziehungen zu den verschiedenen Organisationen der Zivilgesellschaft;

Teilnahme an bedeutenden, auf europäischer Ebene in dem Land des jeweiligen Ratsvorsitzes stattfindenden Veranstaltungen der Zivilgesellschaft;

Organisation von u.a. Konferenzen, Vorträgen, kulturellen Veranstaltungen und Ausstellungen im EWSA, die dem Land des jeweiligen Ratsvorsitzes und den dortigen zivilgesellschaftlichen Organisationen die Möglichkeit bieten, sich vorzustellen;

Empfang von Besuchergruppen (Vertretern der Zivilgesellschaft) aus dem Land des Ratsvorsitzes im EWSA;

verstärkte Aufmerksamkeit für das Land des Ratsvorsitzes und für seine Zivilgesellschaft im Rahmen der Kommunikationspolitik des EWSA.

5.   Der nächste Schritt: der Vertrag von Lissabon, der Ratsvorsitz und die organisierte Zivilgesellschaft - Vorschläge

5.1

Unser Ausgangspunkt ist der Vertrag von Lissabon und sein Inkrafttreten am 1. Dezember 2009, wodurch die richtigen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Europäische Union zukunftsweisende Antworten auf seine vielfältigen Herausforderungen geben kann.

5.2

Unser Ziel ist der Ausbau der partizipativen Demokratie und die Intensivierung des Dialogs mit den Bürgern sowie der Ausbau des zivilen Dialogs, um so auch zur Stärkung der demokratischen Legitimität der europäischen Institutionen beizutragen.

5.3

Artikel 11 des Vertrages von Lissabon stellt hierfür eine gute Grundlage dar, denn dessen neue Möglichkeiten stehen in vollem Einklang mit den früheren Stellungnahmen des EWSA und insbesondere mit der Stellungnahme zum Kommissionsdokument „Ausbau der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der Kommission und Nichtregierungsorganisationen“ (am 13. Juli 2000 verabschiedet) (2) sowie der Stellungnahme zum Thema „Die Repräsentativität der europäischen Organisationen der Zivilgesellschaft im Rahmen des zivilen Dialogs“ (am 14. Februar 2006 verabschiedet) (3). Somit hat der EWSA nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Pflicht, sich als institutioneller Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene aktiv dafür einzusetzen, dass die sich durch den Vertrag von Lissabon und insbesondere durch Artikel 11 bietenden Chancen möglichst vollständig genutzt werden, wie der Ausschuss in seiner ebenfalls am 17. März verabschiedeten Stellungnahme zum Thema „Die Umsetzung des Vertrags von Lissabon: Partizipative Demokratie und die europäische Bürgerinitiative (Artikel 11) (4) feststellt.

5.4

In diesem Zusammenhang verfügen die Ratsvorsitze über geeignete Instrumente, um

das Engagement für den Europa-Gedanken zu verstärken und dazu beizutragen, dass die aktive Unionsbürgerschaft stärker unseren Alltag prägt;

dafür zu sorgen, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen und die Bürger die direkten Akteure und Initiatoren der politischen Prozesse sind, die auf verschiedenen Ebenen die Zukunft der Europäischen Union bestimmen;

den zivilen Dialog auszubauen;

zu gewährleisten, dass der EWSA seine Tätigkeiten im Zusammenhang mit den Ratsvorsitzen fortsetzt, fortlaufend erneuert und bereichert; hinsichtlich des letzten Punktes und über die unter Ziffer 4 aufgeführten Tätigkeiten hinaus sollte der EWSA:

a)

auf gemeinsame Initiativen und Maßnahmen der Zivilgesellschaft dringen, einschließlich der Organisation von Veranstaltungen der Zivilgesellschaft mit großer Öffentlichkeitswirksamkeit in dem Land, das den Ratsvorsitz innehat;

b)

sich dafür einsetzen, dass die wichtigsten Initiativen der Zivilgesellschaft als Ergebnis des partnerschaftlichen Dialogs mit der jeweiligen Regierung Eingang in die Programme des Ratsvorsitzes finden; hierdurch würden sie an Akzeptanz und Unterstützung in der Gesellschaft gewinnen;

c)

über seine Kontaktgruppe „Europäische Organisationen und Netze der Zivilgesellschaft“ regelmäßig Fragen zur Diskussion stellen, die mit dem amtierenden Ratsvorsitz zusammenhängen und aus Sicht der zivilgesellschaftlichen Organisationen von Bedeutung sind;

d)

die Wirtschafts- und Sozialräte (oder vergleichbaren Einrichtungen) des Landes des Ratsvorsitzes zur aktiven Teilnahme an den sie betreffenden Tätigkeiten und Programmen ermuntern;

e)

sicherstellen, dass seine Mitglieder aus dem Land des Ratsvorsitzes jegliche Unterstützung erhalten, damit sie ihre Tätigkeit in Verbindung mit dem Ratsvorsitz erfolgreich durchführen können;

f)

durch die Verbreitung bewährter Verfahren dazu beitragen, dass die Organisationen der Zivilgesellschaft die Tätigkeit des Landes des jeweiligen Ratsvorsitzes wirksam unterstützen können.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  „Der Vorsitz im Rat … wird von zuvor festgelegten Gruppen von drei Mitgliedstaaten für einen Zeitraum von 18 Monaten wahrgenommen.“ (ABl. C 115 vom 9. Mai 2008, S. 341; Erklärung zu Artikel 16 Absatz 9 des Vertrags über die Europäische Union betreffend den Beschluss des Europäischen Rates über die Ausübung des Vorsitzes im Rat, Artikel 1, Absatz 1) - wird üblicherweise als „Dreiervorsitz“ bezeichnet.

(2)  ABl. C 268 vom 19. September 2000.

(3)  ABl. C 88 vom 11. April 2006.

(4)  Siehe Seite 59 des aktuellen Amtsblatts.


28.12.2010   

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Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/59


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Umsetzung des Vertrags von Lissabon: Partizipative Demokratie und die europäische Bürgerinitiative (Artikel 11)“ (Initiativstellungnahme)

2010/C 354/10

Berichterstatterin: Anne-Marie SIGMUND

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 16. Juli 2009, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Umsetzung des Vertrags von Lissabon: Partizipative Demokratie und die europäische Bürgerinitiative (Artikel 11)“.

Der mit den Vorarbeiten beauftragte Unterausschuss nahm seine Stellungnahme am 11. Februar 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) mit 163 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union (VEU) über die demokratischen Grundsätze der Union, insbesondere Artikel 11 EUV, bilden nach Ansicht des Ausschusses einen Meilenstein für ein tatsächlich gelebtes und praktisch nutz- und gestaltbares Europa der Bürger. Allerdings ist es notwendig, die einzelnen demokratischen Prozesse verbindlicher zu definieren und sie mit den notwendigen Strukturen zu versehen.

1.2   Zum horizontalen Zivilen Dialog (Artikel 11 Absatz 1 EUV) und vertikalen Zivilen Dialog (Artikel 11 Absatz 2 EUV) fordert der Ausschuss eine klare Definition des Instruments sowie Regeln zu seinen Verfahren und seinen Beteiligten. Er regt an, die Kommission möge – analog zu ihrer Vorgangsweise zu Artikel 11 Absatz 4 EUV - mit der Vorlage eines Grünbuchs zum zivilen Dialog ein Konsultationsverfahren einleiten und auf der Basis der Ergebnisse die notwendigen Regelungen treffen.

1.3   Der Ausschuss unterstreicht seine bereits mehrfach geäußerte Bereitschaft, als Partner und Vermittler im Zivilen Dialog gestaltend zu dessen Entwicklung beizutragen und seine Rolle als Ort der Begegnung auszubauen. Der Ausschuss bietet allen Organen der Union sein Netzwerk und seine Infrastruktur an, um den Zivilen Dialog mit der organisierten Zivilgesellschaft konstruktiv zu begleiten.

1.4   Mit Artikel 11 Absatz 3 EUV wird die - auch schon bisher umfassend geübte – Konsultationspraxis der Kommission in den Kontext des nun verstärkten partizipativen Pfeilers des Europäischen Demokratiemodells gestellt. Auch für dieses Instrument fordert der Ausschuss klarere Verfahrensregeln, die dem Prinzip der Transparenz, Offenheit und Repräsentativität verpflichtet sind.

1.5   Mit der in Artikel 11 Absatz 4 EUV eingeführten Europäischen Bürgerinitiative konkretisiert der Vertrag erstmals in der Geschichte ein direktdemokratisches Verfahren auf grenzüberschreitender, transnationaler Ebene. Der Ausschuss begrüßt diese neue Möglichkeit nachdrücklich und will zu dieser historischen Premiere konkret beitragen. Der Ausschuss präzisiert seinen Standpunkt im Hinblick auf die konkreten Durchführungsbestimmungen, die noch 2010 zu erlassen sind. Hierbei ist darauf zu achten, dass

den Bürgerinnen und Bürgern bei der Ausübung ihrer partizipativen Möglichkeiten keine unnötigen Hürden in den Weg gelegt werden, da es sich lediglich um eine „Agendainitiative“ handelt;

mit klaren Spielregeln und Bestimmungen es den Initiatoren erleichtert wird, ihre Initiative in 27 Mitgliedstaaten zu organisieren ohne auf überraschende nationale Hindernisse zu stoßen;

den Initiatoren gegebenenfalls eine finanzielle Unterstützung gewährt wird, sobald eine gewisse Schwelle erreicht wurde.

1.6   Der Ausschuss bietet sich als zentrales Element einer transnationalen, demokratischen Infrastruktur in Europa an und wird seine Rolle im Rahmen von Artikel 11 EUV gezielt und effizient wahrnehmen. Er bietet zusätzlich an, als Informations-Helpdesk zu fungieren, Bürgerinitiativen gegebenenfalls durch eine begleitende Stellungnahme zu unterstützen, Anhörungen zu einer erfolgreichen Initiative zu organisieren und die Evaluierung durch die Kommission eventuell auch durch eine Stellungnahme zu unterstützen.

2.   Hintergrund

2.1   Im Dezember 2001 einigten sich die Staats- und Regierungschefs in Laeken auf eine neue Methode zur Erarbeitung europäischer Verträge und beschlossen die Einberufung eines „Konvents über die Zukunft Europas“, der dank seiner Zusammensetzung (1) eine beachtliche demokratische Dynamik entwickelte und im Juni 2003 schließlich einen Text vorlegte, der innovative Vorschläge in Richtung mehr Transparenz und Partizipation enthielt.

2.2   Nach Scheitern des vom Konvent erarbeiteten „Vertrags über eine Verfassung für Europa“ aufgrund der negativen Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden ist am 13. Dezember 2007 ein überarbeiteter Unionsvertrag in Lissabon unterzeichnet worden; er trat am 1. Dezember 2009 in Kraft.

3.   Einleitung

3.1   Durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon werden zahlreiche Verfahren gestrafft und transparenter gestaltet, Kompetenzen klarer geordnet, die Rechte des europäischen Parlaments erweitert und den Auftritt der Europäischen Union nach innen und außen gestärkt.

3.2   Neben den Formen parlamentarischer (indirekter) Demokratie (2) wird das europäische Demokratiemodell durch die Verankerung der partizipativen (direkten) Demokratie im EUV erweitert und gestärkt, keinesfalls jedoch ersetzt.

3.3   Die konkreten Bestimmungen zur partizipativen Demokratie betreffen

den horizontalen Zivilen Dialog,

den vertikalen Zivilen Dialog,

die bereits bestehende Konsultationspraxis der Kommission und

die neue Europäische Bürgerinitiative.

3.4   Dem Wesen des Unionsvertrags entsprechend sind die Bestimmungen des Artikel 11 EUV lediglich Rahmenbedingungen, die nun mit entsprechenden gesetzlichen Regelungen zu definieren, auszugestalten und umzusetzen und von den Akteuren mit Leben zu erfüllen sind.

3.5   Zur europäischen Bürgerinitiative hat die Kommission bereits eine sinnvolle Initiative ergriffen und ein Grünbuch (3) veröffentlicht; sie wird nach dem Konsultationsverfahren einen Verordnungsentwurf zur Umsetzung von Artikel 11 Absatz 4 EUV vorlegen. Sie setzte damit ein deutliches Signal des Dialogs bei der Vorbereitung der Umsetzung des neuen Instruments und berücksichtigt dabei insbesondere jene Akteure der organisierten Zivilgesellschaft sowie interessierte Bürgerinnen und Bürger aus der ganzen Union, die zu einem späteren Zeitpunkt die Träger dieser Initiativen sein werden.

4.   Vertrag von Lissabon - Artikel 11 EUV

4.1   Horizontaler Ziviler Dialog

Artikel 11 Absatz 1 EUV: „Die Organe geben den Bürgerinnen und Bürgern und den repräsentativen Verbänden in geeigneter Weise die Möglichkeit, ihre Ansichten in allen Bereichen des Handelns der Union öffentlich bekannt zu geben und auszutauschen.“

4.1.1

Diese Bestimmung gibt dem horizontalen „Zivilen Dialog“ seine Rechtsgrundlage, ohne ihn näher zu definieren. Der Ausschuss hat sich bereits mehrfach in Stellungnahmen zum Zivilen Dialog geäußert (4)  (5)  (6) und ihn zu einem Schlüsselelement der Partizipation im Europäischen Demokratiemodell erklärt. Er hat auch schon mehrfach unterstrichen, dass er bereit ist, als Plattform und Multiplikator dieses Dialogs zu fungieren und zum Entstehen europäischer Öffentlichkeit beizutragen. In diesem Zusammenhang hat der Ausschuss auch wiederholt betont, dass er als Partner und Vermittler im Zivilen Dialog gestaltend zu dessen Entwicklung beitragen möchte und wird. Er ist in diesem Zusammenhang bereit, seine Rolle als Ort der Begegnung auszubauen und auch praktische Unterstützung zu leisten, etwa durch die Bereitstellung seiner Infrastruktur. Der Ausschuss legt großen Wert darauf, seinen Beitrag dazu zu leisten, dass der Zivile Dialog die notwendige (europäische) Öffentlichkeit erhält und sich zu einem echten interaktiven Diskurs entwickelt.

4.1.2

Der Ausschuss betont nochmals, dass dieses Instrument partizipativer Demokratie einer klaren Definition bedarf und dass die konkreten Modalitäten für sein Funktionieren festgelegt werden müssen. So muss beispielsweise klargestellt werden, welche Repräsentativitätskriterien die in diesem Absatz genannten Verbände zu erfüllen haben, um am Dialog teilnehmen zu können. Auch zur Frage der Repräsentativität der Akteure der organisierten Zivilgesellschaft hat der Ausschuss bereits darauf hingewiesen (7), wie wichtig es ist, zwischen quantitativer (legitimierte Vertretung der Mehrheit der Betroffenen) und qualitativer (Nachweis der entsprechenden Expertise) Repräsentativität zu unterscheiden. Nach Ansicht des Ausschusses müssen die in den Dialog einzubeziehenden Verbände sowohl quantitativ als auch qualitativ repräsentativ sein.

4.1.3

Weiters wird es notwendig sein, dass der Gesetzgeber näher präzisiert, welche konkreten Maßnahmen seinerseits notwendig sind, um dem Erfordernis der „geeigneten Weise“ (siehe Artikel 11 Absatz 1 EUV) zu entsprechen.

4.1.4

In diesem Zusammenhang erscheint es dem Ausschuss wichtig, auf den Unterschied zwischen europäischem Zivilem Dialog und europäischem Sozialem Dialog hinzuweisen und warnt vor einer begrifflichen Vermengung. Selbstverständlich ist der europäische Soziale Dialog auch ein tragendes Element qualifizierter Beteiligung, er unterliegt aber besonderen Regeln hinsichtlich Inhalt, Beteiligung, Verfahren und Auswirkungen. Seine gesetzliche Verankerung im Vertrag spiegelt seine Bedeutung wider.

4.2   Vertikaler Ziviler Dialog

Artikel 11 Absatz 2 EUV: „Die Organe pflegen einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft.“

4.2.1

Mit diesem Absatz wird dem vertikalen Zivilen Dialog Rechnung getragen und die Organe der Union dazu verpflichtet, diesen regelmäßig zu pflegen. Auch zu dieser Form des Zivilen Dialogs hat sich der Ausschuss bereits geäußert (8) und fordert auch hier die Kommission auf, die näheren Modalitäten sowohl in inhaltlicher als auch verfahrensrechtlicher Natur festzulegen.

4.2.2

Das Europäische Parlament hat bereits vor einiger Zeit - in Vorwegnahme dieser Vertragsbestimmung - die sogenannte „Agora“ gegründet und damit ein Instrument für den vertikalen Zivilen Dialog geschaffen.

4.2.3

Da Artikel 11 Absatz 2 EUV alle Organe zu einem Dialog mit der Zivilgesellschaft verpflichtet, fordert der Ausschuss alle übrigen Organe, insbesondere aber den Rat auf, ihre eigenen Absichten zur Umsetzung dieses Vertragsartikels baldmöglichst zu klären.

4.2.4

Der Ausschuss bietet allen Organen der Union sein Netzwerk und seine Infrastruktur an, um diesen vertikalen Dialog mit der organisierten Zivilgesellschaft in Gang zu bringen bzw. konstruktiv zu begleiten.

4.3   Konsultationen durch die Europäische Kommission

Artikel 11 Absatz 3 EUV: „Um die Kohärenz und Transparenz des Handelns der Union zu gewährleisten, führt die Europäische Kommission umfangreiche Anhörungen der Betroffenen durch.“

4.3.1

Diese Bestimmung setzt die - auch schon bisher umfassend geübte - Konsultationspraxis der Kommission in den Kontext des nun verstärkten partizipativen Pfeilers des Europäischen Demokratiemodells. Der Ausschuss erinnert daran (9)  (10), dass diese Konsultationspraxis im Grunde ein wesentliches Element des von der Kommission 2001 lancierten Konzepts „Europäisches Regieren“ (11) ist und als Top-down-Maßnahme erst mittelbar zivilgesellschaftliches Handeln ermöglicht. Er weist auch nochmals darauf hin, dass „Konsultation“ als obrigkeitliche Maßnahme von „Partizipation“ als Bürgerrecht zu unterscheiden ist. Der Aspekt einer aktiven Einbringung der organisierten Zivilgesellschaft in einen Prozess von sich aus („bottom up“) bleibt durch diese Maßnahme unberührt.

4.3.2

Der Ausschuss ist bereit, die Europäische Kommission im Rahmen seines Mandats dort zu unterstützen, wo sie Konsultationen über den im Regelfall geübten Online-Rahmen hinaus durchführen will, z.B. durch die Organisation gemeinsamer Anhörungen zu spezifischen Themen oder das Abhalten offener Konsultationen im Rahmen von Stakeholder-Foren nach der „open space“-Methode.

4.3.3

Konsultation allein ist jedoch noch kein wirklicher Dialog mit der organisierten Zivilgesellschaft. Der Ausschuss fordert die Kommission daher auf, die bisherige Konsultationspraxis zu überarbeiten und zu strukturieren: Zum einen muss der Zeitrahmen für Konsultationen angemessen sein, damit die organisierte Zivilgesellschaft und Bürger wirklich Zeit für die Ausarbeitung ihrer Antworten haben und die Konsultation nicht nur pro forma stattfindet. Zum anderen muss der Prozess der Auswertung transparenter gestaltet werden. Die Kommission sollte auf Einreichungen antworten und ihren Standpunkt darlegen müssen, warum dieser oder jener Vorschlag übernommen oder verworfen wurde, um in einen echten Dialog einzutreten. Diese und andere Verbesserungen sollte die Kommission ihrerseits intensiv mit der organisierten Zivilgesellschaft beraten.

4.4   Die Europäische Bürgerinitiative

Artikel 11 Absatz 4 EUV: „Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsbürger einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss, können die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen.“

4.4.1

Der Ausschuss teilt die Einschätzung, dass diese neue Europäische Bürgerinitiative eine weit über die rechtliche Dimension hinausgehende Bedeutung für die europäische Integration hat und als erstes direktdemokratisches Element auf der transnationalen Ebene zu werten ist, das allerdings nach dem Wortlaut der Bestimmung auf Unionsbürger beschränkt ist. Der Ausschuss würde es begrüßen, wenn bei einer Vertragsrevision auch ständig im Unionsgebiet wohnhafte Drittstaatsangehörige einbezogen würden.

4.4.2

Es muss betont werden, dass es sich beim neuen Europäischen Bürgerinitiativrecht nicht um eine in vielen Mitgliedstaaten vorgesehene „Volksinitiative“ handelt, die eine verbindliche Volksabstimmung auslöst, sondern um eine „Agendainitiative“, welche die Kommission zu legislativem Handeln auffordert. Es ist ein Minderheiteninstrument, das lediglich die Möglichkeit schafft, die politische Tagesordnung mitzugestalten. Das legislative Initiativrecht verbleibt bei der Kommission und der eventuell folgende Gesetzgebungsprozess verläuft im Rahmen der vorgesehenen Verfahren.

4.4.3

Selbstverständlich benötigt dieses Instrument bestimmte Regeln und Standards. Da aber Instrumente der direkten Demokratie auf europäischer Ebene erst zu schaffen sind, sollte der europäischen Bürgerinitiative ein Rahmen zur fortschreitenden Entwicklung gegeben werden. Die Verordnung zur Umsetzung von Artikel 11 Absatz 4 EUV sollte möglichst niedrige Mindest- und Qualifikationsstandards festlegen und in Bereichen, in denen auf Gemeinschaftsebene Erfahrungswerte fehlen, Raum für Ermessens- und Auslegungsspielraum zulassen, da die Europäische Bürgerinitiative nur erreichen kann, dass ein bestimmtes Thema in den Aktionsplan der Kommission aufgenommen wird.

4.4.4

In keinem Fall jedoch teilt der Ausschuss den Standpunkt des Europäischen Parlaments (12), „dass die politische Aufgabe des Parlaments darin besteht, den Prozess der Bürgerinitiative zu kontrollieren“ und spricht sich gegen die Kontrolle eines Prozesses im prälegislativen Bereich durch den Gesetzgeber aus. Eine solche „Kontrolle“ würde das Prinzip der Gewaltenteilung verletzen; deshalb regt der Ausschuss die Schaffung einer unabhängigen „Beratungsinstanz“ bzw. eines „Helpdesk“ an, welche/r Initianten bei der Vorbereitung und Lancierung einer Europäischen Bürgerinitiative zur Seite stehen kann, sodass offensichtliche Konflikte mit den Zulassungs- und Durchführungsbestimmungen wenn auch nicht ausgeschlossen, so doch im Regelfall vermieden werden können.

4.4.5

Völlig zu Recht weist das Parlament in demselben Bericht auf die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Petitionen, die an das Parlament zu richten sind, und Bürgerinitiativen, die als Aufforderung an die Kommission zu richten sind, hin. In diesem Sinne sind auch die Verfahren und Anforderungen an diese beiden Instrumente der Mitsprache von unten ganz unterschiedlich auszugestalten.

4.4.6

Die Europäische Bürgerinitiative als Instrument der direkten Demokratie ist auch ein effektives Mittel, transnationale deliberative Prozesse auszulösen. Die derzeit dem „politischen Europa“ eher abgewandten Bürger können sich nun mit konkreten Initiativen und Zielen einbringen. Je mehr sie eingeladen und ermutigt werden, sich ohne unnötige administrative Hürden an der Initiative zu beteiligen, umso eher werden sie sich von ihrer Selbsteinschätzung als Zuschauer nicht nachvollziehbarer Entscheidungen lösen und vom Objekt zum Subjekt des europäischen Gemeinwesens entwickeln. Ein derartiger, Schritt für Schritt in Gang gesetzter Prozess, der die Auseinandersetzung mit europäisch relevanten Problemen fordert, hat zwangsläufig die Bildung von europäischem Bewusstsein, europäischer Öffentlichkeit zur Folge.

4.4.7

Inhaltlich muss darauf hingewiesen werden, dass eine Europäische Bürgerinitiative selbstverständlich nicht gegen den Vertrag oder die Europäische Grundrechtscharta verstoßen darf. Wie im indirekten/parlamentarischen Prozess, kann es allerdings auch im direkten/bürgerschaftlichen Prozess der Meinungsbildung geschehen, dass sich extremistische Gruppierungen der vorhandenen Kanäle der Meinungsbildung bedienen und diese für ihre eigenen Zwecke (miss)brauchen. Darin liegt eine große, grundsätzliche Herausforderung an jede Demokratie, aber gleichzeitig auch ihr größter Vorteil gegenüber undemokratischen Systemen. Eine moderne repräsentative Demokratie, die sowohl auf indirekten wie auch direkten Pfeilern aufbaut, muss darauf angelegt sein, auch unbequeme, ja sogar extremistische Anliegen offen und transparent diskutieren zu können.

4.5   Grünbuch der Europäischen Kommission zur Europäischen Bürgerinitiative

4.5.1

Obwohl der Ausschuss nicht unmittelbarer Adressat des abgeschlossenen Konsultationsverfahrens war, möchte er im Vorgriff auf die bevorstehende Behandlung der Verordnungsvorschläge in Parlament und Rat einen qualifizierten Beitrag zur Meinungsbildung leisten und gibt im Folgenden seine Meinung zu den im Grünbuch angesprochenen Fragen wieder.

4.6   Mindestzahl der Staaten, aus denen die Bürger kommen müssen

4.6.1

Der Ausschuss teilt die Meinung der Kommission, dass sich der Schwellenwert nach objektiven Kriterien richten muss. Er teilt nicht die Meinung der Kommission, dass erst ein Drittel der Mitgliedstaaten, also 9 Staaten, die Repräsentativität für ein Unionsinteresse sicherstellt, teilt aber auch nicht die Meinung mancher Organisationen, dass bereits mit 4 Mitgliedstaaten ein solche signifikante Zahl erreicht worden ist.

4.6.2

Der Ausschuss schließt sich vielmehr der Meinung des Europäischen Parlaments an, dass ein Viertel der Mitgliedstaaten, also aktuell 7 Staaten, einen geeigneten Schwellenwert darstellt. Dieser Wert bezieht sich auf Artikel 76 AEUV, der Rechtsakte zur Verwaltungszusammenarbeit im Rahmen der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit oder in Strafsachen auf Initiative eines Viertels der Mitgliedstaaten vorsieht Dem Ausschuss erscheint dies die adäquate Referenz für eine qualifizierte europäische Dimension der Bürgerinitiative.

4.7   Mindestzahl der Unterzeichner je Mitgliedstaat

4.7.1

Da der Vertrag von Lissabon nur von einer „erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten“ spricht, bestünde auch die Option, keine Mindestanzahl von Teilnehmern pro Land anzugeben. Der Ausschuss teilt aber unter Hinweis auf das im Vertrag mehrfach genannte Erfordernis der doppelten Mehrheit die Meinung der Kommission, dass ein Verzicht auf eine Mindestanzahl von Teilnehmern pro Mitgliedstaat dem Geist des Vertrags widersprechen würde.

4.7.2

Statt einer starren ziffernmäßigen Festsetzung eines Prozentanteils von 0,2 % pro Mitgliedstaat regt der Ausschuss ein Gleitsystem an, das einen sinnvollen Ausgleich zwischen den Staaten bilden könnte. So könnte eine absolute Untergrenze von 0,08 % (13) gefordert werden, damit die Unterschriften eines Mitgliedstaates angerechnet werden. Insgesamt muss eine Bürgerinitiative natürlich auf 1 Million Unterschriften kommen. Aus der Kombination dieser beiden Kriterien ergibt sich ein automatischer Ausgleich, der auch dem Anliegen des Vertrags von Repräsentativität und einem genuinen europaweiten Interesse gerecht wird.

4.7.3

Eine derartig flexible Regelung im Interesse der erleichterten Umsetzung erscheint dem Ausschuss auch deshalb gerechtfertigt, als die Europäische Bürgerinitiative ja letztlich nicht in einem verbindlichen Entscheid mündet, sondern lediglich nur eine Aufforderung an die Kommission darstellt.

4.8   Kriterien für die Unterzeichnung einer Bürgerinitiative

4.8.1

Der Ausschuss teilt die Meinung der Kommission, dass im Interesse der Vermeidung unnötigen Verwaltungsaufwands als allgemeine Voraussetzung zur Teilnahme die Wahlberechtigung für die Wahlen zum Europäischen Parlament im Wohnsitzland des Teilnehmers gelten sollte. Trotz aller Sympathie für eine Einbeziehung der Jugend (etwa durch die Herabsetzung des Alters auf 16 Jahre), so würde dieses Abweichen von der Wahlberechtigung zum Europäischen Parlament die Überprüfung der Unterschriften unverhältnismäßig erschweren, da fast alle Staaten doppelte Wahlberechtigungsregister aufbauen müssten.

4.9   Form und Abfassung der Bürgerinitiative

4.9.1

Auch hier hält der Ausschuss zu starre Formvorschriften für unangebracht; es sollten die für behördliche Eingaben unabdingbaren Formalerfordernisse gelten und bestimmte Mindestanforderungen festgelegt werden (siehe auch Ziffer 4.13). Der Inhalt der Initiative und der geforderten Entscheidung sollte schlüssig und unmissverständlich dargelegt werden. Es muss immer klar sein, was jemand unterstützt, der eine Europäische Bürgerinitiative unterzeichnet.

4.10   Anforderung an die Sammlung, Überprüfung und Authentifizierung von Unterschriften

4.10.1

Es spricht nichts dagegen, abweichend vom jeweiligen nationalen Recht auf Gemeinschaftsebene gemeinsame Verfahrensregeln bzw. Standards für die Sammlung, Überprüfung und Authentifizierung aufzustellen, da die Europäische Bürgerinitiative ein (neues) transnationales Instrument der Beteiligung darstellt.

4.10.2

Es sollten alle Formen der Unterschriftensammlung zugelassen werden, die eine Identitätsüberprüfung zulassen, die Unterschriftensammlung über ein Online-Portal sollte ebenso möglich sein wie die Sammlung in der Öffentlichkeit. Vorgaben wie die Echtheitsbestätigung der Unterschriften durch die nationalen Behörden oder einen Notar erscheint dem Ausschuss eine nicht zumutbare Hürde. Allerdings muss neben der Identitätskontrolle auch sichergestellt werden, dass die angegebenen Unterstützerinnen und Unterstützer ihre Unterschrift eigenständig und aus freien Stücken abgegeben haben. Dazu sind insbesondere für die elektronische Unterschriftensammlung besondere Vorkehrungen zu treffen.

4.10.3

Als Sicherheits- und Authentifizierungsmerkmale sind Name, Anschrift, Geburtsdatum, sowie eine Verifikationsmail bei der Online-Sammlung ausreichend. Ziel muss es sein, dass jede Initiative, die sich an die in der Verordnung aufgestellten Minimalregeln zur Unterschriftensammlung stützt, sicher sein kann, dass sie in keinem Land der Union weitere, zusätzliche Hürden überraschen. Für im Ausland lebende Europäer sollte der Wohnsitz des Teilnehmers für die Stimmzuordnung maßgeblich sein.

4.10.4

Die Verifizierung der abgegebenen Unterschriften sollte von den Mitgliedsaaten durchgeführt werden, durchaus im Rahmen der in manchen Mitgliedstaaten der Union bewährten Sample-Überprüfungen.

4.11   Zeitraum für die Sammlung von Unterschriften

4.11.1

Erfahrungen von Bürgerinitiativen im Vorfeld des Vertrags von Lissabon haben gezeigt, dass gerade das Anlaufen einer Initiative zeitaufwendig sein kann; der Ausschuss hält daher den von der Kommission vorgeschlagenen Zeitrahmen von einem Jahr für zu kurz und plädiert für 18 Monate. Im Hinblick auf den früher gemachten Hinweis, dass die Initiative ja einen über das konkrete Ziel hinausgehenden Prozess hin zu einer echten europäischen Öffentlichkeit in Gang setzt, wäre es aus Sicht des Ausschusses bedauernswert, wenn wegen eines relativ kurzen Zeitraums von einem Jahr der positive Ausgang eines solchen Prozesses mit all seinen rechts- und gesellschaftspolitischen Begleiteffekten in Frage gestellt würde.

4.12   Anmeldung geplanter Initiativen

4.12.1

Der Ausschuss teilt die Ansicht der Kommission, dass es Aufgabe der Initiatoren ist, die Rechtmäßigkeit bzw. Zulässigkeit ihrer Initiative im Vorfeld selbst abzuklären. Die Anmeldung sollte über eine von der Kommission zur Verfügung gestellte Website möglich sein, die auch inhaltliche Informationen erhält, damit alle Bürger sich über laufende Initiativen informieren können.

4.12.2

In diesem Zusammenhang regt der Ausschuss an, dass die Kommission über die zu schaffende Website zur Europäischen Bürgerinitiative auch ein Online-tool zur Verfügung stellt, mit dem Unterschriften gesammelt werden können. Darüber hinaus könnte diese Website auch als Diskussionsforum über die verschiedenen Initiativen dienen und somit einen Teil europäischer Öffentlichkeit herstellen.

4.12.3

Allerdings ist der Ausschuss der Ansicht, dass den Initiatoren einer Bürgerinitiative zusätzlich eine Anlaufstelle zur Verfügung stehen sollte, die sie nicht nur in Verfahrensfragen, sondern auch inhaltlich berät. Der Ausschuss ist bereit, als „Helpdesk“ zu fungieren.

4.12.4

Eventuell könnte über ein System gelber/roter Karten nachgedacht werden, mit denen den Initiatoren einer Bürgerinitiative relativ früh signalisiert werden könnte, dass ihre Initiative eventuell nicht zulässig ist, etwa aufgrund formaler Kriterien wie einer fehlenden Kompetenz der Kommission in diesem Bereich oder eines klaren Verstoßes gegen Grundrechte.

4.13   Anforderungen an Organisatoren - Transparenz und Finanzierung

4.13.1

Aus Sicht des Ausschusses sollten die Initiatoren einer Initiative folgende Informationen vorlegen:

Initiativkomitee und dessen Vertreter nach außen

Allfällige Unterstützer

Finanzierungsplan

Überblick über Human Ressources und Strukturen

4.13.2

Keinesfalls akzeptieren kann der Ausschuss die Ankündigung der Kommission, dass keine Form öffentlicher Unterstützung und Finanzierung von Bürgerinitiativen vorgesehen ist, im Besonderen aber den Hinweis, dass nur so sichergestellt werden könne, dass solche Initiativen unabhängig sind. Die Europäische Kommission unterstützt mit Finanzmitteln die Strukturen und die Arbeit vieler effektiver Nichtregierungsorganisationen und es wäre eine unzulässige Unterstellung, davon ableiten zu wollen, dass diese von der Kommission mitfinanzierten Akteure der Zivilgesellschaft daher von ihr abhängig wären. Außerdem würde es in konsequenter Verfolgung des Ansatzes der Kommission nur großen Organisationen mit kapitalkräftigen Unterstützern überhaupt möglich sein, eine Europäische Bürgerinitiative in Erwägung zu ziehen.

4.13.3

Der Ausschuss stellt daher zur Diskussion, dass die EU eine Finanzierungsbeihilfe bereitstellt, sobald etwa eine erste Etappe erreicht ist, z.B. 50 000 Unterschriften aus drei Mitgliedstaaten, um aussichtslose oder nicht ernst gemeinte Kampagnen auszuschließen. Auch hier könnte das angeregte System gelber/roter Karten eine Rolle spielen.

4.14   Überprüfung von erfolgreichen Bürgerinitiativen durch die Kommission

4.14.1

Dem Ausschuss erscheint der von der Kommission vorgeschlagene Zeitraum von 6 Monaten eine absolute Obergrenze und er unterstützt den vom Europäischen Parlament in seiner Entschließung vorgeschlagenen 2-stufigen Ansatz (2 Monate zur Prüfung der Formalkriterien und 3 Monate für die sachliche Entscheidungsfindung (14). Die Kommission sollte diesen internen Entscheidungsprozess so transparent wie möglich gestalten.

4.14.2

Im Anschluss an die Überreichung einer erfolgreichen Bürgerinitiative ist die rechtliche Zulässigkeit endgültig zu prüfen.

4.14.3

Während der Phase der politischen Evaluierung durch die Kommission veranstaltet der Ausschuss - eventuell unter Einbeziehung des Parlaments und der Ratspräsidentschaft - Anhörungen, bei denen die Organisatoren ihre Initiative der Kommission vorstellen. Der EWSA könnte diesen Prozess gegebenenfalls auch durch eine Sondierungs- oder Initiativstellungnahme zum Thema ergänzen.

4.14.4

Die Annahme, teilweise Übernahme oder Ablehnung der Initiative durch die Kommission ist gegenüber den Initiatoren im Detail und öffentlich zu begründen. Im Fall einer Ablehnung hat die Kommission einen förmlichen Bescheid zu erlassen, gegen den Klagemöglichkeit beim EuGH bestehen muss.

4.15   Initiativen zu ein und demselben Thema

4.15.1

Nach Ansicht des Ausschusses liegt es in der Verantwortlichkeit der Initiatoren, eine thematisch ähnliche Initiative dennoch zu starten. Einmal mehr ist daran zu erinnern, dass es sich beim neuen Europäischen Bürgerinitiativrecht um eine „Agendainitiative“ handelt. Der Ausschuss sieht deshalb keinen Grund, hier Verbote oder Hürden einzubauen.

4.16   Ergänzende Bemerkungen

4.16.1

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die Kommission für die Organisatoren einer Bürgerinitiative, die bereits 50 000 Unterstützer aus drei Mitgliedstaaten gefunden hat, die Übersetzung des Textes in alle Amtssprachen übernehmen sollte.

5.   Schlussbemerkungen

5.1   Die Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze der Union, insbesondere Artikel 11 EUV, bilden nach Ansicht des Ausschusses einen Meilenstein für ein tatsächlich gelebtes und praktisch nutz- und gestaltbares Europa der Bürger. Allerdings ist es notwendig, die einzelnen demokratischen Prozesse verbindlicher zu definieren und sie mit den notwendigen Strukturen zu versehen.

5.2   So fordert der Ausschuss die Kommission auf, nach dem Grünbuch zur Europäischen Bürgerinitiative auch ein Grünbuch zum Zivilen Dialog über die konkrete Ausgestaltung von Artikel 11 Absatz 1 und Absatz 2 vorzulegen, um über die bereits existierende Praxis nachzudenken, Verfahren und Grundsätze näher zu definieren, sie zu evaluieren und, gemeinsam mit der organisierten Zivilgesellschaft, Verbesserungen anzubringen, insbesondere klare Strukturen zu schaffen. Auch in diesem Zusammenhang wiederholt der Ausschuss seine Bereitschaft, sich im Rahmen seiner Aufgaben einzubringen.

5.3   Weiters fordert er die anderen Organe auf, ihrerseits zu erklären, wie sie die neuen Vertragsbestimmungen in der Praxis umzusetzen gedenken.

5.4   Mit Artikel 11 Absatz 4 EUV wird selbst im weltweiten Vergleich demokratisches Neuland betreten. Zum ersten Mal in der Geschichte der Demokratie erhalten Bürgerinnen und Bürger aus mehreren Staaten gemeinsam ein transnationales Mitbestimmungsrecht.

5.5   Dieses neue demokratische Bürgerrecht birgt enorme Potenziale. Es ist darauf angelegt, die repräsentative Demokratie in Europa zu stärken. Unmittelbar festigt es das partizipative Element des europäischen Demokratiemodells. Mittelbar kann es aber zur Integration der EU, zu deren Stärkung, einer europäischen Öffentlichkeit und einer stärkeren Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit der EU beitragen. Gerade im Hinblick auf die Größe und Vielfalt Europas muss darauf geachtet werden, dass alle Bürgerinnen und Bürger, auch solche, die nicht über viel Mittel verfügen oder großen etablierten Organisationen angehören, sich aller demokratischen Mittel bedienen können. Die Ausübung demokratischer Mittel darf nicht an Vorhandensein großer finanzieller Ressourcen gebunden sein.

5.6   Der Ausschuss, der im Vertrag von Lissabon als beratende Einrichtung zur Unterstützung, des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission bestätigt wird, wird wie bisher seine Kernaufgaben wahrnehmen und Stellungnahmen im Rahmen seiner im Vertrag vorgegebenen Verpflichtungen abgeben. Er wird sich - in Wahrnehmung seiner Brückenfunktion - noch stärker als bisher als Kernstück einer umfassenden demokratischen Infrastruktur auf europäischer Ebene einbringen.

5.7   Im Bestreben, durch seine Tätigkeit die genannten Organe der Union bestmöglich zu unterstützen und seine Arbeitsweise zu optimieren, schlägt er im Rahmen der Europäischen Bürgerinitiative zusätzlich vor:

Erarbeitung einer Stellungnahme zu einer von der Kommission formal akzeptierten Bürgerinitiative innerhalb der Evaluierungsfrist;

eventuelle Erarbeitung einer Stellungnahme zur Unterstützung einer laufenden Bürgerinitiative;

Organisation von Anhörungen zu erfolgreichen Initiativen (Organisatoren, Kommission, Parlament, Rat);

Einrichtung eines Info-Helpdesk (als Anlaufstelle für Bürger zu Verfahrensfragen u. Ä.);

begleitende Information (Herausgabe eines Leitfadens „Partizipative Demokratie“, Konferenzen zur praktischen Umsetzung, etc.)

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Dem Konvent gehörten neben dem Vorsitzenden Valéry GISCARD D'ESTAING und seinen beiden Stellvertretern Giuliano AMATO sowie Jean Luc DEHAENE die folgenden Mitglieder an:

15 Vertreter der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten,

13 Vertreter der Staats- und Regierungschefs der beitrittswilligen Länder,

30 Vertreter der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten,

26 Vertreter der nationalen Parlamente der beitrittswilligen Länder,

16 Vertreter aus den Reihen der Mitglieder des Europäischen Parlaments,

2 Vertreter der Europäischen Kommission.

Hinzu kamen 13 Beobachter, aus den Reihen des EWSA, des AdR, der Sozialpartner sowie der Europäische Ombudsmann. Beobachter des EWSA waren Göke FRERICHS, Roger BRIESCH und Anne-Marie SIGMUND.

(2)  Artikel 10 EUV legt fest, dass die „Arbeitsweise der Union“ auf der „repräsentativen Demokratie“ beruht.

(3)  KOM(2009) 622 endg. vom 11.11.2009.

(4)  Stellungnahme zum Thema „Die organisierte Zivilgesellschaft und europäische Governance - Beitrag des Ausschusses zur Erarbeitung des Weißbuchs“ vom 25.4.2001 - ABl. C 193 vom 10.7.2001.

(5)  Stellungnahme zum Thema „Die Repräsentativität der europäischen Organisationen der Zivilgesellschaft im Rahmen des zivilen Dialogs“ vom 14.2.2006 - ABl. C 88 vom 11.4.2006.

(6)  Sondierungsstellungnahme zum Thema „Ein neues sozialpolitisches Aktionsprogramm der EU“ vom 9.7.2008 - ABl. C 27 vom 3.2.2009 (Ziffern 7.6 und 7.7).

(7)  vgl. Fußnote 5

(8)  Stellungnahme zum Thema „Ausbau der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der Kommission und Nichtregierungsorganisationen“ vom 13.7.2000 - ABl. C 268 vom 19.9.2000. sowie Stellungnahme zum Thema „Die Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Einigungswerk“ vom 24.9.1999 - ABl. C 329 vom 17.11.1999.

(9)  Stellungnahme zum Thema „Die organisierte Zivilgesellschaft und europäische Governance - Beitrag des Ausschusses zur Erarbeitung des Weißbuchs“ vom 25.4.2001 - ABl. C 193 vom 10.7.2001.

(10)  Stellungnahme zum Thema „Europäisches Regieren - ein Weißbuch“ vom 20.4.2002 - ABl. C 125 vom 27.5.2002.

(11)  KOM(2001) 428 endg. vom 25.7.2001.

(12)  Resolution des Europäischen Parlaments vom 7.5.2009, Berichterstatterin Sylvia-Yvonne KAUFMANN (T6-0389/2009).

(13)  Dieser Prozentsatz orientiert sich am Mindesterfordernis von 0,08 % für eine Bürgerinitiative in Italien.

(14)  Dies sollte analog zur Prozedur der Initiativen des Europäischen Parlaments nach Artikel 225 AEUV ausgestaltet werden, vgl. Entschließung des Europäischen Parlaments zu einer revidierten Rahmenvereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission für die nächste Wahlperiode vom 9.2.2010 (P7_TA(2010)0009).


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

461. Plenartagung am 17./18. März 2010

28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/66


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines langfristigen Plans für die nördlichen Seehechtbestände und die Fischereien, die diese Bestände befischen“

KOM(2009) 122 endg. — 2009/0039 (CNS) (1)

2010/C 354/11

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 18. Januar 2010 bzw. am 5. März 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV (Ex-Artikel 37 EGV) um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines langfristigen Plans für die nördlichen Seehechtbestände und die Fischereien, die diese Bestände befischen

KOM(2009) 122 endg. — 2009/0039 (CNS) (1).

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Als (COD) zu lesen.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/67


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates mit einer Kontroll- und Durchsetzungsregelung für den Bereich des Übereinkommens über die künftige multilaterale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Fischerei im Nordostatlantik“

KOM(2009) 151 endg. — 2009/0051 (CNS) (1)

2010/C 354/12

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 18. Januar 2010 bzw. am 5. März 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV (Ex-Artikel 37 EGV) um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

„Vorschlag für eine Verordnung des Rates mit einer Kontroll- und Durchsetzungsregelung für den Bereich des Übereinkommens über die künftige multilaterale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Fischerei im Nordostatlantik“

KOM(2009) 151 endg. — 2009/0051 (CNS) (1).

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Als (COD) zu lesen.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/68


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresplans für den westlichen Stöckerbestand und für die Fischereien, die diesen Bestand befischen“

KOM(2009) 189 endg. — 2009/0057 (CNS) (1)

2010/C 354/13

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 18. Januar 2010 bzw. am 5. März 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV (Ex-Artikel 37 EGV) um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines Mehrjahresplans für den westlichen Stöckerbestand und für die Fischereien, die diesen Bestand befischen

KOM(2009) 189 endg. — 2009/0057 (CNS) (1).

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Als (COD) zu lesen.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/69


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines langfristigen Plans für den Sardellenbestand im Golf von Biskaya und die Fischereien, die diesen Bestand befischen“

KOM(2009) 399 endg. — 2009/0112 (CNS) (1)

2010/C 354/14

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 19. Januar 2010 bzw. am 5. März 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV (Ex-Artikel 37 EGV) um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung eines langfristigen Plans für den Sardellenbestand im Golf von Biskaya und die Fischereien, die diesen Bestand befischen

KOM(2009) 399 endg. — 2009/0112 (CNS) (1).

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Als (COD) zu lesen.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/70


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Einführung einer Fangdokumentationsregelung für Roten Thun Thunnus thynnus und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1984/2003“

KOM(2009) 406 endg. — 2009/0116 (CNS) (1)

2010/C 354/15

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 19. Januar 2010 bzw. am 5. März 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV (Ex-Artikel 37 EGV) um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Einführung einer Fangdokumentationsregelung für Roten Thun Thunnus thynnus und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1984/2003

KOM(2009) 406 endg. — 2009/0116 (CNS) (1).

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Als (COD) zu lesen.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/71


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates mit Vorschriften für die Fischerei im Übereinkommensgebiet der GFCM (Allgemeine Kommission für die Fischerei im Mittelmeer)“

KOM(2009) 477 endg. — 2009/0129 (CNS) (1)

2010/C 354/16

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 19. Januar 2010 bzw. am 5. März 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV (Ex-Artikel 37 EGV) um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Rates mit Vorschriften für die Fischerei im Übereinkommensgebiet der GFCM (Allgemeine Kommission für die Fischerei im Mittelmeer)

KOM(2009) 477 endg. — 2009/0129 (CNS) (1).

Da der Ausschuss dem Inhalt des Vorschlags zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Als (COD) zu lesen.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/72


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 247/2006 über Sondermaßnahmen im Bereich der Landwirtschaft zugunsten der Regionen in äußerster Randlage der Union“

KOM(2009) 510 endg. — 2009/0138 (CNS) (1)

2010/C 354/17

Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 19. Februar 2010 bzw. am 18. Februar 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 43 AEUV (Ex-Artikel 37 EGV) um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 247/2006 über Sondermaßnahmen im Bereich der Landwirtschaft zugunsten der Regionen in äußerster Randlage der Union

KOM(2009) 510 endg. — 2009/0138 (CNS) (1).

Da der Ausschuss dem Inhalt dieses Vorschlags vollkommen zustimmt und sich bereits in seinen Stellungnahmen CESE 771/2008 vom 22. April 2008 (2) und CESE 255/2010 vom 17. Februar 2010 (3) dazu geäußert hat, beschloss er auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) einstimmig, eine befürwortende Stellungnahme abzugeben und auf den Standpunkt zu verweisen, den er in den oben genannten Stellungnahmen vertreten hat.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Als (COD) zu lesen.

(2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Strategie für Regionen in äußerster Randlage: Fortschritte und Ausblick“ – ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 72.

(3)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Auswirkungen der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen auf die Regionen in äußerster Randlage (Karibik)“ – ABl. C … vom …, S. ….


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/73


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission — Der künftige wettbewerbsrechtliche Rahmen für den Kfz Sektor“

KOM(2009) 388 endg.

2010/C 354/18

Berichterstatter: Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER

Die Europäische Kommission beschloss am 22. Juli 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission - Der künftige wettbewerbsrechtliche Rahmen für den Kfz-Sektor

KOM(2009) 388 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 2. März 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 18. März) mit 84 gegen 5 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stimmt der Diagnose der Kommission hinsichtlich des Sektors und der Bereiche, in denen ein größerer Wettbewerb erforderlich ist, zu. Unter den von der Kommission vorgestellten Optionen bevorzugt der Ausschuss die Verabschiedung sektorspezifischer Vorschriften in Form von ergänzenden Leitlinien zu der allgemeinen Gruppenfreistellung. Daher begrüßt der EWSA den Verordnungsvorschlag und den Vorschlag für ergänzende Leitlinien, betont jedoch, dass beide im Zusammenhang mit und als Ergänzung zu den allgemeinen Leitlinien für vertikale Beschränkungen zu sehen sind. Letztere wurden allerdings noch nicht vorgelegt, was eine eigenständige Bewertung ersterer erschwert.

1.2   Der EWSA pflichtet der Kommission darin bei, dass ein Rechtsrahmen geschaffen werden muss, der sich insgesamt positiv auf das Wohl und den Schutz der Verbraucher auswirkt. Er bekräftigt den Ansatz, den er bereits in früheren Stellungnahmen zum Thema Wettbewerb dargelegt hat (1).

1.3   Jedoch muss in diesem Fall eine zweijährige Übergangsfrist für die zugelassenen Händler vorgesehen werden, bei denen es sich zum Großteil um kleine und mittlere Unternehmen handelt, die aus Gründen der Rechtssicherheit und gemäß den Grundsätzen des berechtigten Vertrauens und der Verhältnismäßigkeit einen angemessenen Zeitraum benötigen, um die getätigten Investitionen amortisieren, sich besser an die technische Entwicklung des Marktes anpassen und zur Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit beitragen zu können.

1.4   Ebenso hofft der EWSA, dass der neue Rechtsrahmen zwar Rechtssicherheit für alle Wirtschaftsbeteiligten, aber keine neuen Hindernisse für Unternehmen schafft - im Sinne der Grundsätze des „Small Business Act“ und der Wettbewerbsziele, die derzeit auch in der Verordnung 1400/2002 festgelegt sind.

1.5   Der EWSA ist der Ansicht, dass die ergänzenden Leitlinien keine Grenze für die Vereinbarungen mit Markenzwang vorsehen sollten, was stärker in Einklang mit der neuen Freistellungsverordnung stehen würde.

1.6   Die Vereinbarungen bezüglich der Nutzfahrzeuge könnten durch die allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Beschränkungen hinsichtlich des Zubehör- und Ersatzteilmarkts geregelt werden.

2.   Einleitung

2.1   Mit der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 der Kommission vom 31. Juli 2002 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor (2) wurden die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 2790/1999 der Kommission vom 22. Dezember 1999 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen (3) verschärft.

2.2   In der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 der Kommission geht es in erster Linie um die Praktiken und Verhaltensweisen, die gravierende Beschränkungen des Wettbewerbs zur Folge haben. Sie enthält eine Liste von Beschränkungen, die zum absoluten Ausschluss der jeweiligen Vereinbarungen von der Anwendung der Verordnung führen („Kernbeschränkungen“), sowie eine weitere Liste mit Beschränkungen, die zwar verboten sind, aber kein Hindernis für die Anwendung der in der Verordnung vorgesehenen Freistellung auf den Rest der Vereinbarung darstellen („Besondere Voraussetzungen“).

2.3   Die Hauptmerkmale der Verordnung Nr. 1400/2002 der Kommission sind folgende:

sie gilt nicht nur für Personenkraftwagen, sondern auch für andere Fahrzeugarten wie Busse oder Lastkraftwagen;

sie zwingt jeden Hersteller, zwischen einem System des selektiven Vertriebs und einem Alleinvertriebssystem zu wählen, wobei im Wesentlichen zwei unterschiedliche Vertriebsformen freigestellt sind:

das Alleinvertriebssystem, wenn der Hersteller jedem Händler oder jeder Werkstatt ein ausschließliches Gebiet (oder eine ausschließliche Gruppe von Kunden) zuweist. Innerhalb des zugeteilten Gebiets kann kein anderer Händler ernannt werden. Auch können diesen Händlern Mindestqualitätsniveaus auferlegt werden. Der Wettbewerb wird durch die Förderung des passiven Verkaufs im Alleinvertriebsgebiet und insbesondere des Verkaufs an nicht zum Vertriebsnetz gehörende Wiederverkäufer gestärkt;

das selektive Vertriebssystem, wenn der Lieferant sich dazu verpflichtet, die Vertragswaren oder -dienstleistungen mittelbar oder unmittelbar nur an Händler oder Werkstätten zu verkaufen, die aufgrund bestimmter Kriterien ausgewählt wurden. Ein selektives Vertriebssystem kann sich auf quantitative oder qualitative Kriterien oder auf beide Arten von Kriterien stützen.

Es ist nicht zulässig, in ein und demselben Vertrag Klauseln für den selektiven Vertrieb und den Alleinvertrieb zu kombinieren. Insbesondere ist die so genannte Standortklausel (location clause) innerhalb eines selektiven Vertriebssystems nicht erlaubt, während sie im Rahmen eines Alleinvertriebssystems den Händlern auferlegt werden konnte.

In Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung wird zwischen drei verschiedenen Produktmärkten unterschieden:

Vertrieb von Neufahrzeugen: Berechnung der Marktanteile auf der Grundlage der Absatzmengen der vom Lieferanten verkauften Vertragswaren und ihnen entsprechenden Waren sowie der sonstigen vom Hersteller verkauften Waren, die vom Händler aufgrund der Eigenschaften, der Preise und des Verwendungszwecks der Produkte als austauschbar oder substituierbar angesehen werden;

Vertrieb von Ersatzteilen: Berechnung der Marktanteile auf der Grundlage des Absatzwerts der vom Hersteller verkauften Vertragswaren und sonstigen Waren sowie der sonstigen vom Hersteller verkauften Waren, die vom Händler aufgrund der Eigenschaften, der Preise und des Verwendungszwecks der Produkte als austauschbar oder substituierbar angesehen werden;

Erbringung von Instandsetzungs- und Wartungsdienstleistungen: Berechnung der Marktanteile auf der Grundlage des Absatzwerts der von den Mitgliedern des Vertriebsnetzes des Lieferanten erbrachten Vertragsdienstleistungen und der sonstigen von diesen Mitgliedern verkauften Waren, die vom Käufer aufgrund ihrer Eigenschaften, ihrer Preise und ihres Verwendungszwecks als austauschbar oder substituierbar angesehen werden.

Über die Grenzwerte für die Marktanteile hinaus wird in Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung die Tatsache, dass „sich Preise oder Lieferbedingungen für Vertragswaren oder ihnen entsprechende Waren zwischen räumlichen Märkten erheblich voneinander unterscheiden“, als mit dem Vertrag unvereinbar erachtet. In solchen Fällen könnte die Kommission die in der Verordnung vorgesehene Freistellung zurückziehen.

Die Kommission hat versucht, Barrieren für den Parallelhandel aufzuheben. So wird in der Verordnung 1400/2002 davon ausgegangen, dass vom Händler vorgenommene Beschränkungen der Verkäufe an die Endverbraucher in anderen Mitgliedstaaten (indem beispielsweise der Verkaufspreis und die Vergütung des Händlers von dem Bestimmungsort des Fahrzeugs oder dem Wohnort der Endverbraucher abhängig gemacht werden) eine mittelbare Verkaufsbeschränkung darstellen. Darüber hinaus sind Absatzvorgaben, die Zuteilung von Produkten oder Prämienregelungen, die sich auf ein Gebiet, das kleiner als der Binnenmarkt ist, beziehen, nicht länger zulässig.

2.4   Der Rechtsrahmen für den Automobilsektor hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt; von besonderer Bedeutung ist hier die Verabschiedung der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (4), deren ursprünglich freiwilligen Bestimmungen seit September 2009 bindend sind (5). Der Fahrzeugbestand wird jedoch noch einige Jahre lang zahlreiche Fahrzeuge umfassen, die nicht unter diese Verordnung fallen und somit für unabhängige Werkstätten einen bedeutenden Markt darstellen.

2.4.1   Was den Wettbewerb auf dem Markt für Fahrzeugersatzteile angeht, hat - basierend auf den gewerblichen Schutzrechten des Herstellers - der weit verbreitete Abschluss verschiedener Vereinbarungen über Unteraufträge mit Originalersatzteillieferanten zur Folge, dass bestimmte Ersatzteile nur im Rahmen der Netze der Kfz-Hersteller vertrieben werden können.

2.4.2   Daher regte die Kommission in ihrem Vorschlag für eine überarbeitete Richtlinie über Muster und Modelle die Einführung einer „Reparaturklausel“ an. Der Ausschuss (6) begrüßte diesen Vorschlag und bekräftigte, dass „sich das einem Inhaber eines Musters oder Modells eingeräumte Monopol lediglich auf das äußere Erscheinungsbild eines Produkts, nicht jedoch auf das Produkt als solches bezieht“ und dass „die Ausdehnung des Rechtschutzes für Muster und Modelle auf Ersatzteile, die unter die Reparaturklausel fallen, ein Produktmonopol im Sekundärmarkt schaffen würde, das im Widerspruch zum eigentlichen Charakter des Rechtschutzes für Muster und Modelle stünde“.

2.5   Hinsichtlich des Automobilsektors verabschiedete der EWSA eine Stellungnahme zum Thema „Zulieferer und nachgelagerte Märkte der Automobilindustrie“ (7), in der er darauf verweist, dass die Akteure im nachgelagerten Markt die Kfz-Hersteller, ihre Zulieferer und die unabhängigen oder zugelassenen Anbieter im Bereich Serviceleistungen, Ersatzteile und Zubehör sowie in den Bereichen Fertigung, Vertrieb und Einzelhandel sind. Hierbei handelt es sich um ein Netz von 834 700 Unternehmen, überwiegend KMU, mit einem Gesamtumsatz von 1 107 Mrd. EUR und rund 4,6 Mio. Beschäftigten.

3.   Jüngste Entwicklungen bei den Kommissionsdokumenten

3.1   Am 21. Dezember 2009 billigte die Kommission folgende Entwürfe:

„Entwurf einer Verordnung (EG) Nr. …/… der Kommission vom … über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 AEUV auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor“

„Entwurf einer Mitteilung der Kommission: Ergänzende Leitlinien für vertikale Beschränkungen in Vereinbarungen über den Verkauf und die Instandsetzung von Kraftfahrzeugen und den Vertrieb von Kraftfahrzeugersatzteilen“.

Die Kommission leitete eine öffentliche Anhörung zu diesen Entwürfen ein.

3.2   Am 15. Januar 2010 beschloss das für Wettbewerb zuständige Kommissionsmitglied, die vorgenannten Dokumente dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zu übermitteln, um dessen Meinung zu diesen beiden Rechtsetzungsvorhaben einzuholen.

3.3   In dieser Stellungnahme zu der Mitteilung KOM(2009) 388 endg. analysiert der Berichterstatter also zugleich die unter Ziffer 3.1 genannten Rechtsetzungsvorhaben.

4.   Wesentlicher Inhalt der Kommissionsdokumente

4.1   In der Mitteilung der Kommission über den künftigen wettbewerbsrechtlichen Rahmen für den Kfz-Sektor werden folgende Vorschläge unterbreitet:

a)

Hinsichtlich der Vereinbarungen über den Verkauf von Neuwagen mit Wirkung ab dem 31. Mai 2013:

gelten die allgemeinen Regeln des Vorschlags für eine neue Gruppenfreistellung für vertikale Vereinbarungen;

werden sektorspezifische Leitlinien verabschiedet, um den Ausschluss konkurrierender Kfz-Hersteller zu verhindern und ihren Zugang zu den Vertriebs- und Instandsetzungsmärkten zu schützen, den markeninternen Wettbewerb zu schützen und die Abschreckungswirkung von Artikel 81 EG-Vertrag zu erhalten;

bleiben die Bestimmungen der Verordnung, die Vereinbarungen über den Kfz-Vertrieb betreffen, bis zum 31. Mai 2013 in Kraft.

b)

Hinsichtlich der Vereinbarungen über Instandsetzungs- und Wartungsdienste und den Vertrieb von Ersatzteilen mit Wirkung ab dem 31. Mai 2013:

gelten die allgemeinen Regeln, wie sie in dem Vorschlag für eine neue Gruppenfreistellung für vertikale Vereinbarungen festgeschrieben sind;

werden sektorspezifische Leitlinien verabschiedet, die entweder eine Gruppenfreistellungsverordnung ergänzen oder eine Kombination beider Instrumente darstellen, damit die Wettbewerbsbehörden bei wettbewerbsrechtlichen Bedenken umfassender und weitreichender reagieren können. Dies betrifft insbesondere folgende Aspekte: i) Zugang zu technischen Informationen; ii) Zugang zu Ersatzteilen; iii) Missbrauch von Gewährleistungen und iv) Zugang zu Vertragswerkstattnetzen.

4.2   Entwurf einer Freistellungsverordnung

4.2.1   Dank vertikaler Vereinbarungen kann die wirtschaftliche Effizienz einer Produktions- oder Vertriebskette verbessert werden, indem eine bessere Abstimmung zwischen den beteiligten Unternehmen ermöglicht wird, auch wenn dies von der Marktmacht der Vertragspartner abhängt.

4.2.2   Vertikale Vereinbarungen, die Beschränkungen beinhalten, die den Wettbewerb hemmen und die Verbraucher schädigen können oder für die Erzielung der oben genannten positiven Effekte nicht unerlässlich sind, sollten vom Vorteil der Gruppenfreistellung ausgeschlossen werden.

4.2.3   In dem Entwurf wird zwischen Vereinbarungen über den Vertrieb von Neufahrzeugen („Primärmarkt“) und Vereinbarungen über Instandsetzungs- und Wartungsdienstleistungen und den Ersatzteilevertrieb („Sekundärmarkt“) unterschieden.

4.2.4   Für den „Primärmarkt“ gelten die Vorschriften der allgemeinen Verordnung über vertikale Vereinbarungen, insbesondere bezüglich der Begrenzung der Marktanteile. Der Ausschluss bestimmter vertikaler Vereinbarungen von der Gruppenfreistellung und die in dieser Verordnung genannten Voraussetzungen bewirken, dass diese vertikalen Vereinbarungen für die in der allgemeinen Verordnung vorgesehenen Gruppenfreistellung in Frage kommen, falls darin die festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Dies erscheint sinnvoll, da es sich um einen Markt mit Wettbewerb handelt.

4.2.5   Hinsichtlich des „Sekundärmarkts“ muss bestimmten spezifischen Merkmalen des Kfz-Anschlussmarkts Rechnung getragen werden, die mit der technischen Entwicklung und der zunehmenden Komplexität und Zuverlässigkeit der Kfz-Bauteile zusammenhängen, die die Kfz-Hersteller bei Originalersatzteil-Lieferanten erwerben.

4.2.6   Der EWSA stimmt mit der Kommission darin überein, dass sich die Wettbewerbsbedingungen auf dem Kfz-Anschlussmarkt auch unmittelbar auf die öffentliche Sicherheit auswirken, da das Führen eines nicht ordnungsgemäß reparierten Fahrzeugs gefährlich sein könnte, sowie aufgrund von Kohlendioxid- und anderen Schadstoff-Emissionen, die eine regelmäßige Fahrzeugwartung erforderlich machen, Folgen für die öffentliche Gesundheit und die Umwelt haben.

4.2.7   Für Vereinbarungen über den Ersatzteilevertrieb und Instandsetzungs- und Wartungsdienstleistungen darf nur dann die Möglichkeit einer Gruppenfreistellung bestehen, wenn sie über die in der allgemeinen Verordnung über solche Vereinbarungen genannten Bedingungen hinaus strengere Kriterien bezüglich bestimmter Arten schwerwiegender Wettbewerbsbeschränkungen erfüllen, die die Versorgung des Kfz-Anschlussmarkts mit Ersatzteilen beeinträchtigen könnten. Hierbei handelt es sich insbesondere um:

Vereinbarungen, durch die der Verkauf von Ersatzteilen durch Mitglieder des selektiven Vertriebssystems eines Kfz-Herstellers an unabhängige Werkstätten eingeschränkt wird, die diese zur Erbringung von Instandsetzungs- und Wartungsdienstleistungen benötigen;

Vereinbarungen, die zwar mit der allgemeinen Verordnung im Einklang stehen, durch die aber die Möglichkeiten eines Ersatzteilproduzenten eingeschränkt wird, diese Ersatzteile an Vertragswerkstätten innerhalb des Vertriebssystems eines Kfz-Herstellers, an unabhängige Ersatzteilhändler, unabhängige Werkstätten oder Endnutzer zu verkaufen: All dies gilt unbeschadet der Anwendung der privatrechtlichen Haftungsvorschriften, der Möglichkeit, die Verwendung „qualitativ gleichwertiger Ersatzteile“ zu verlangen, und auch der Vereinbarungen, wonach Vertragswerkstätten während der Garantiedauer für diese Reparaturen ausschließlich die vom Kfz-Hersteller gelieferten Ersatzteile einbauen dürfen;

Vereinbarungen, die die Möglichkeit eines Originalbauteile- oder -ersatzteileherstellers einschränken, auf wirksame Weise und gut sichtbar ihre Marke oder ihr Logo auf diesen Teilen anzubringen.

4.3   Entwurf ergänzender Leitlinien

4.3.1   In den Leitlinien werden Grundsätze aufgestellt, um gemäß Artikel 101 des Vertrags Probleme zu bewerten, die im Zusammenhang mit den in Vereinbarungen über den Verkauf und die Instandsetzung von Fahrzeugen und den Ersatzteilevertrieb enthaltenen vertikalen Beschränkungen auftreten können. Diese Leitlinien gelten unbeschadet der Anwendbarkeit der allgemeinen Leitlinien über die vertikalen Vereinbarungen und ergänzen diese.

4.3.2   Bei der Auslegung dieser Leitlinien wird die Kommission auch dem von den Kfz-Herstellerverbänden ACEA und JAMA vorgelegten Verhaltenskodex Rechnung tragen, mit dem sich die Kfz-Hersteller verpflichten, gewisse bewährte Geschäftspraktiken anzuwenden, um bei der Erfüllung ihrer vertraglichen Verpflichtungen hinsichtlich ihrer Händler und Vertragswerkstätten nach Treu und Glauben zu handeln.

4.3.3   Die Leitlinien sind folgendermaßen gegliedert:

Anwendungsbereich der Verordnung über die Gruppenfreistellung im Kfz-Sektor und Bezug zur allgemeinen Verordnung über die Gruppenfreistellung für vertikale Vereinbarungen;

Anwendung der zusätzlichen Bestimmungen der Verordnung über die Gruppenfreistellung im Kfz-Sektor;

Umgang mit Sonderbeschränkungen: Markenzwang und selektiver Vertrieb.

4.3.4   Hinsichtlich des Markenzwangs wird eine Neuerung eingeführt, die darin besteht, dass mit dem Fünfjahreszeitraum zugleich die vertragliche Beziehung zwischen den Vertragsparteien beginnt, anstatt ein Vertragsdokument durch ein anderes einschlägiges Dokument zu ersetzen. Doch geht dies aus der Fußnote 9 und nicht aus dem eigentlichen Wortlaut der Leitlinien hervor. Angesichts der Bedeutung dieser Änderung wäre es ratsam, sie in den Hauptteil einzufügen.

4.3.5   In den Leitlinien werden die wettbewerbsbehindernden Verpflichtungen und ihre negativen Folgen (Schaffung von Hindernissen für den Markteintritt oder die Expansion konkurrierender Lieferanten) und positiven Auswirkungen (Beitrag zur Lösung des Problems des „Trittbrettfahrens“, Verbesserung des Markenimage und des Rufs des Händlernetzes) erläutert.

4.3.6   Der Zugang unabhängiger Marktteilnehmer zu technischen Informationen und die korrekte Verwendung von gesetzlichen Gewährleistungen sind für den selektiven Vertrieb von Bedeutung.

5.   Bemerkungen

5.1   Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird der Automobilsektor - leichte Personenkraftwagen und Nutzfahrzeuge - im Wettbewerbsbereich durch spezifische Gruppenfreistellungsverordnungen reguliert.

5.2   Die Kommission analysierte in ihrem Bewertungsbericht vom 31. Mai 2008 die Auswirkungen der Gruppenfreistellung auf die Verhaltensweisen im Kfz-Sektor. Zahlreiche Akteure äußerten sich zu diesem Bericht, und die Kommissionsdienststellen erstellten wiederum auf dessen Grundlage einen Folgenabschätzungsbericht (SEK(2009) 1052, SEK(2009) 1053), der in Verbindung mit der Mitteilung KOM(2009) 388 endg. gelesen werden sollte.

5.3   Derzeit wird gleichzeitig an der Überprüfung und Verabschiedung einer neuen Verordnung über die allgemeine Gruppenfreistellung gearbeitet, die ab Mai 2010 die geltende Verordnung (EG) Nr. 2790/1999 vom 22. Dezember ersetzen soll. Unter der Voraussetzung, dass die Verordnung (EG) Nr. 2790/1999 wirklich überarbeitet wird, unterbreitet die Kommission folgende Vorschläge:

anfänglich für den Kfz-Sektor drei Unteroptionen: (II)Anwendung der allgemeinen Gruppenfreistellung für vertikale Vereinbarungen; (III) Annahme sektorspezifischer Bestimmungen in Form von Leitlinien, die die allgemeine Gruppenfreistellung flankieren, (IV) Annahme einer Gruppenfreistellungsverordnung, die sich auf den Wettbewerb auf dem Anschlussmarkt konzentriert;

später im Rahmen der Verordnungs- und Leitlinienentwürfe: Annahme einer Verordnung mit sektorspezifischen Bestimmungen, die durch Leitlinien flankiert wird.

5.4   Neben dem Kauf von Wohneigentum ist der Erwerb eines Kraftfahrzeugs für die europäischen Verbraucher der größte Posten im Familienbudget; auch veranschaulicht er am deutlichsten die Bedeutung und das Maß der Vollendung des Binnenmarkts. Schätzungen des Sektors zufolge machen der Ersterwerb 40 %, die Wartung und Instandsetzung 40 % und die Versicherung 20 % der im Verlauf des „Lebenszyklus“ eines Fahrzeugs entstehenden Gesamtkosten aus.

5.5   Die wesentlichen Ziele der europäischen Verbraucher hinsichtlich des Wettbewerbs im Automobilsektor ließen sich folgendermaßen zusammenfassen: Wahl, wo sie das Fahrzeug zum besten Preis kaufen und erforderlichenfalls reparieren lassen können, und größere Sicherheit im Straßenverkehr.

5.6   Einerseits ist es unabdingbar, einen dynamischen und wettbewerbsfähigen Markt durch eine entsprechende technische Entwicklung und die Einbeziehung sämtlicher Wirtschaftsakteure des Automobilsektors (insbesondere der kleinen und mittleren Instandsetzungsunternehmen) sicherzustellen; andererseits ist es auch wichtig, Vertrauenssignale an die Verbraucher zu senden.

5.7   In der geltenden Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 sind einige dieser positiven Signale enthalten: So soll gemäß der Verordnung die in einem Mitgliedstaat von einem Hersteller gewährte Garantie unter denselben Bedingungen in allen Mitgliedstaaten gelten; ein Verbraucher mit einem Garantieschein, der von einem Händler in einem anderen Mitgliedstaat ausgefüllt wurde, muss nicht mehr darauf warten, dass die Garantie in seinem Herkunftsland anerkannt wird; und die Händler oder die Vertragswerkstätten, zu denen der Verbraucher sein Fahrzeug bringt, dürfen keinen Aufpreis oder zusätzlichen Unterlagen mehr verlangen.

5.8   Jedoch wird es nach wie vor Schwierigkeiten geben im Zusammenhang mit dem Wiederverkauf von Neufahrzeugen über Zwischenhändler, mit den Forderungen, die die Lieferanten an die Händler stellen (insbesondere hinsichtlich der Erfüllung von Kriterien der „Markenidentität“), mit der Freiheit, sich von anderen zugelassenen Händlern oder nationalen Importeuren beliefern zu lassen, sowie den indirekten Beschränkungen für Querlieferungen von Fahrzeugen zwischen zugelassenen Händlern.

5.9   Die Kommission hat die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 sehr genau überwacht, was exemplarische Entscheidungen zeigen, wie die vier Entscheidungen vom September 2007, die dem Sektor wichtige Orientierungshilfen im Bereich des Zugangs zu technischen Informationen bieten (Comp/39.139-143 bezüglich der Hersteller DaimlerChrysler, Fiat, Toyota und Opel) (8).

5.10   Acht Jahre nach der Verabschiedung der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 hat sich den Wirtschaftsindikatoren zufolge der Grad des Wettbewerbs, der die Kommission ursprünglich zu strengeren Bestimmungen für die Gruppenfreistellung veranlasst hatte, in den betreffenden Märkten erheblich verbessert.

5.11   Von diesem dynamischen und komplexen Wettbewerbsklima zeugt insbesondere ein Rückgang der realen Preise für Neufahrzeuge, die Einführung neuer Marken auf dem Markt, die schwankenden Marktanteile konkurrierender Marken, eine mäßige und abnehmende Konzentration und ein größeres Angebot für die Verbraucher in verschiedenen vergleichbaren Segmenten. Die Vielfalt der nationalen Märkte besteht jedoch im Rahmen des Binnenmarkts fort, insbesondere in den neuen Mitgliedstaaten, in denen der Markt für Gebrauchtfahrzeuge und unabhängige Werkstätten stärker entwickelt ist.

5.12   Vor allem im Bezug auf den Zugang zu Ersatzteilen und technischen Informationen seitens der unabhängigen Werkstätten wird ein stärkerer Wettbewerb auch weiterhin behindert, zum offensichtlichen Nachteil der Verbraucher. Die Nachahmung und Piraterie bei Ersatzteilen geben im Sektor immer noch Anlass zur Sorge, in einigen Fällen wegen der geringen Qualität und in anderen Fällen wegen der möglichen Beeinträchtigung der Straßenverkehrssicherheit durch die Verwendung derartiger Ersatzteile.

5.13   Die Vorschläge der Kommission hinsichtlich des künftigen wettbewerbsrechtlichen Rahmens für den Kfz-Sektor stehen mit dieser Durchsetzungslinie und -politik im Einklang. Der EWSA verweist deshalb auf seine früheren Stellungnahmen, in denen er seine Unterstützung für die Arbeiten der Kommission in Bezug auf Sammelklagen sowohl allgemeiner Art als auch bei Verletzung der Wettbewerbsregeln zum Ausdruck gebracht hat.

6.   Besondere Bemerkungen

6.1   Der EWSA ist der Ansicht, dass die Entscheidung der Kommission, eine spezifische Verordnung und Leitlinien vorzuschlagen, ausgewogen ist, da damit die eventuellen wirtschaftlichen Folgen, die Konsequenzen für die kleinen und mittleren Unternehmen, die einen großen Teil des Markts für die Instandsetzung- und Wartung sowie den Ersatzteilevertrieb ausmachen, sowie die möglichen Auswirkungen auf den sozialen und ökologischen Bereich sowie auf die Straßenverkehrssicherheit berücksichtigt werden.

Der EWSA möchte die folgenden Aspekte des Vorschlags herausstellen:

6.2   Sonderbestimmungen für den Kfz-Sektor als Ergänzung zur allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung - Der EWSA stellt fest, dass die von der Kommission für den Kfz-Sektor vorgeschlagenen ergänzenden Leitlinien im Zusammenhang mit und als ergänzende Dokumente zu den allgemeinen Leitlinien für vertikale Beschränkungen (siehe Ziffer 1.1) zu sehen sind, die allerdings noch nicht vorgelegt wurden, was natürlich eine eigenständige und gesonderte Bewertung ersterer erschwert.

6.3   Inkrafttreten der neuen Bestimmungen - Der Entwurf einer Verordnung sieht zwei verschiedene Regelungen für das Inkrafttreten vor, je nach dem welcher Markt anvisiert wird. Eine neue Regelung tritt für den Markt für Ersatzteile, Instandsetzung und Wartung ab dem 1. Juni 2010 unmittelbar in Kraft, während für den Handel mit Neufahrzeugen die Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 bis zum 31. Mai 2013 verlängert wird.

6.3.1   Der EWSA erkennt an, dass der Wettbewerb auf dem erstgenannten dieser Märkte derzeit geringer ausgeprägt ist und daher stimuliert werden muss; zwei verschiedene Regelungen können aber Probleme mit sich bringen, da die zwischen Einzel- und Großhändlern geschlossenen Verträge oft beide Komponenten umfassen.

6.3.2   Der EWSA behält das Interesse der Verbraucher hinsichtlich der sich rasch wandelnden Wettbewerbsentwicklung auf dem Markt für Ersatzteile, Instandsetzung und Wartung durchaus im Auge, räumt jedoch ein, dass möglicherweise eine Übergangsregelung festgelegt werden sollte, um zusätzliche Hindernisse bei der Neuverhandlung bestehender Verträge zwischen Einzel- und Großhändlern im Lichte der neuen Bestimmungen zu vermeiden.

6.3.3   Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die gesamte neue Gruppenfreistellungsverordnung für den Kfz-Sektor ab dem 1. Juni 2010 anzuwenden und zugleich eine zweijährige Übergangsfrist für den Primärmarkt vorzusehen, um die bestehenden Vertriebsvereinbarungen an die neuen Vorschriften anzupassen.

6.3.4   Es ist darauf hinzuweisen, dass die Hersteller ihre Vereinbarungen nur mit einer zweijährigen Kündigungsfrist lösen können. Händler, die auf der Grundlage der geltenden Gruppenfreistellungsverordnung eine bestimmte Wahl getroffen und entsprechende Investitionen getätigt haben, müssten also bis Juni 2013 warten, bevor sie eine neue Vertriebsvereinbarung unterzeichnen können, es sei denn, den Herstellern und Händlern würde erlaubt, ihre Verträge schon früher anzupassen, wenn sie dies aufgrund der neuen Vorschriften und möglicherweise veränderter Marktbedingungen für erforderlich halten.

6.3.5   Die Anwendung der neuen Gruppenfreistellungsverordnung auf den Primärmarkt ab dem 1. Juni 2010 hätte weiterhin den Vorteil, dass die neue Gruppenfreistellungsverordnung und die Leitlinien für den Anschlussmarkt zeitgleich in Kraft träten.

6.3.6   Angesichts dessen, dass die überwiegende Mehrheit der Händler auch Kundendienstleistungen erbringen, ist nachvollziehbar, warum der EWSA eine Anwendung der neuen Gruppenfreistellungsverordnung zugleich auf den Primär- und den Sekundärmarkt befürwortet. Diese Möglichkeit wird für eine Vereinfachung, mehr Flexibilität und nicht zuletzt geringere Übergangskosten sorgen.

6.4   Markenzwang

Gemäß den Leitlinien (Absatz 25 und Fußnote 9) dürfen die Hersteller in neue Vereinbarungen mit bestehenden Händlern keine Bestimmungen über einen Markenzwang mehr aufnehmen, sobald die neue Gruppenfreistellungsverordnung in Kraft tritt. Da die große Mehrheit der Hersteller auch in den kommenden Jahren weiterhin mit demselben Händlernetz zusammenarbeiten wird, dürfte mit dieser Entscheidung der Markenzwang praktisch abgeschafft werden. Diese Einschränkung steht nicht nur im Widerspruch zum Vorschlag des EWSA (siehe erste Bemerkung des Ausschusses), sondern auch zu der neuen Verordnung über die allgemeine Gruppenfreistellung (vom 28. Juli 2009), in der keine Beschränkung für Vereinbarungen mit Markenzwang vorgesehen sind.

6.5   PKW und Nutzfahrzeuge

Wie in der geltenden Verordnung stellt die Kommission Personenkraftwagen und Nutzfahrzeuge auf die gleiche Stufe, obwohl es sich bei Ersteren um Verbrauchsgüter handelt und bei Letzteren um Investitionsgüter, die in einem Business-to-Business-Umfeld genutzt werden, in dem der Kunde nicht nur das Fahrzeug kauft, sondern ein Paket, in dem die erbrachten Dienstleistungen ein grundlegendes Kriterium für die Fahrzeugwahl darstellen (mit dem Ziel eines maximalen Einsatzes des Nutzfahrzeugs wie im Falle von landwirtschaftlichen Zug- und Baumaschinen). Solche Marktunterschiede bedeuten, dass nicht einmal die Wettbewerbsaspekte bei den beiden Produkttypen übereinstimmen.

6.5.1   Im Nutzfahrzeugsektor - sowohl was den Primär- als auch den Sekundärmarkt angeht - gab es bislang keinerlei Wettbewerbsprobleme oder Kritik seitens der Endverbraucher, da es sich um einen hart umkämpften Markt mit einem hohen Marktanteil für unabhängige Lieferanten von Ersatzteilen handelt.

6.5.2   Aus diesem Grund ist der EWSA der Ansicht, dass - wie im Falle von Traktoren und Baumaschinen - die Vereinbarungen über Nutzfahrzeuge auch im Hinblick auf den Anschlussmarkt unter die neue Gruppenfreistellungsverordnung fallen sollten.

6.6   Die Ersatzteilversorgung

6.6.1   In Artikel 5 Buchstabe b des Verordnungsentwurfs heißt es: „Die Freistellung […] gilt nicht für […] die zwischen einem Anbieter von Ersatzteilen, Instandsetzungsgeräten, Diagnose- oder Ausrüstungsgegenständen und einem Kraftfahrzeughersteller vereinbarte Beschränkung der Möglichkeiten des Anbieters, diese Waren und Dienstleistungen an zugelassene oder unabhängige Händler, zugelassene oder unabhängige Werkstätten oder an Endverbraucher zu verkaufen.“

6.6.2   Die Formulierung dieser Beschränkung scheint nicht dem von der Kommission verfolgten Ziel zu entsprechen.

6.6.3   Aufgrund der Klausel über den Kauf von Ersatzteilen in der geltenden Gruppenfreistellungsverordnung kann ein Kfz-Hersteller nämlich die Käufer nicht zwingen, mehr als 30 % der Lieferungen von ihm zu beziehen. Folglich bringt die Diversifizierung der Belieferung der Netze eine Preissenkung mit sich. Zwar haben die Kfz-Hersteller nach wie vor einen Anteil von über 30 % an den Lieferungen, doch lässt sich dies mit den von den Kfz-Herstellern eingeführten Zielvorgaben-, Prämien- und Rabattsystemen erklären. Diese Situation zeigt, wie groß der Konkurrenzdruck der Ersatzteilproduzenten auf die Kfz-Hersteller ist.

6.6.4   In dem vorgeschlagenen Artikel 5 Buchstabe b ist jedoch keine Rede von einem Prozentsatz, über den hinaus die Händler oder Werkstätten nicht verpflichtet sind, Lieferungen vom Kfz-Hersteller zu beziehen (wie in der aktuellen 30 %-Klausel).

6.6.5   Zudem wird gesagt, dass die Ersatzteilproduzenten die Vertragswerkstätten beliefern können müssen. Diese Möglichkeit wird jedoch rein theoretisch bleiben, wenn die Kfz-Hersteller eine ausschließliche oder fast ausschließliche Belieferung durch ihre Ersatzteilvertriebsnetze vorschreiben können.

6.7   Garantien

Abschließend möchte der EWSA die Position der Kommission bezüglich der Garantien für Kraftfahrzeuge herausstellen. Angesichts der direkten Herstellerhaftung für das ordnungsgemäße Funktionieren und die Behebung von Mängeln sieht die Kommission vor, dass die Pflicht der Werkstätten, während der gesetzlichen Garantiedauer ausschließlich vom Hersteller gelieferte Teile zu verwenden, unter die Freistellung fällt. Der EWSA kann sich dieser Haltung anschließen, die allerdings nicht dazu führen darf, dass die Verbraucher überhaupt keine unabhängigen Werkstätten mehr für die regelmäßige Wartung ihres Fahrzeugs in Anspruch nehmen können, da dies die Rechte der Verbraucher auf Qualitätserzeugnisse und entsprechende Garantien beeinträchtigen würde.

Brüssel, den 18. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 47; ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 20.

(2)  ABl. L 203 vom 1.8.2002, S. 30.

(3)  ABl. L 336 vom 29.12.1999, S. 21.

(4)  ABl. L 171 vom 29.6.2007, S. 1.

(5)  ABl. C 318 vom 23.12.2006, S. 62.

(6)  Siehe Stellungnahmen des EWSA: ABl. C 388 vom 31.12.1994, S. 9; (ABl. C 286 vom 17.11.2005, S. 8).

(7)  ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 29–36.

(8)  ABl. C 66 vom 22.3.2007, S. 18.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/80


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Überarbeitung der Innovationspolitik der Gemeinschaft in einer Welt im Wandel“

KOM(2009) 442 endg.

2010/C 354/19

Berichterstatter: Henri MALOSSE

Die Europäische Kommission beschloss am 2. September 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Überarbeitung der Innovationspolitik der Gemeinschaft in einer Welt im Wandel

KOM(2009) 442 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 2. März 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) mit 108 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Was ist Innovation?

1.1   In der Mitteilung heißt es: „Innovation ist die Fähigkeit, neue Ideen aufzugreifen und sie durch die Verwendung neuer Verfahren, Produkte oder Dienstleistungen besser und schneller als die Konkurrenz in kommerzielle Ergebnisse umzusetzen (1).

1.1.1   Unter Innovation ist weniger die Fähigkeit als das aktive Handeln zu verstehen, der Prozess, der es ermöglicht, bereits existierende oder neue Ideen in Ergebnisse umzusetzen.

1.1.2   Innovation ist häufig Ergebnis einer gemeinsamen Arbeit (Unternehmenszusammenschlüsse, Sozialpartner, Forscher); sie findet auch in den Unternehmen selbst statt, insbesondere dank der Ideen der Arbeitnehmer. Angesichts des internationalen Wettbewerbs werden die europäischen Unternehmen bessere Verfahren entwickeln müssen, um die Arbeitnehmer an ihren Ergebnissen zu beteiligen und ihre Kreativität zu fördern.

1.1.3   Innovation kann auch Bereiche betreffen, die nicht unmittelbar mit dem Markt zu tun haben wie beispielsweise die menschliche Entwicklung, die Gesundheit, soziale und ökologische Innovation, Innovation im Bereich der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, der Staatsbürgerschaft oder der Entwicklungshilfe.

1.2   Bei der Innovation handelt es sich eher um ein Gesellschaftsziel, die Nutzanwendung der menschlichen Kreativität zur Förderung einer nachhaltigen und harmonischeren wirtschaftlichen Entwicklung.

1.2.1   Innovation muss Antworten auf die Herausforderungen dieses Jahrhunderts finden: nachhaltige Energieversorgung und Klimaschutz, demografische Entwicklung, Globalisierung, Attraktivität der Regionen, Schaffung von Arbeitsplätzen sowie sozialer Zusammenhalt und soziale Gerechtigkeit.

1.3   Innovation ist kein Selbstzweck; sie dient gesellschaftlichen Zielsetzungen, die sich unter den Begriffen Fortschritt und Nachhaltigkeit zusammenfassen lassen; allerdings muss man sich darüber verständigen, wie diese Begriffe definiert sind und gemessen werden sollen.

Es erscheint dem Ausschuss erwähnenswert, dass die Union, indem sie neue Wirtschafts- und Gesellschaftsindikatoren festlegt und verwendet, mit denen sich das Wachstum und seine Entwicklung im Zeitverlauf messen lassen (2), Vorreiter auf diesem Gebiet sein könnte.

2.   Was hat die Europäische Union bislang unternommen?

Die in der Mitteilung gezogene Bilanz über die von der Union durchgeführten Maßnahmen fällt naturgemäß schmeichelhaft aus, sowohl hinsichtlich der Verbesserungen der Rahmenbedingungen und der Förderung einer größeren Marktakzeptanz innovativer Produkte und Dienstleistungen als auch in Bezug auf die Schaffung von Synergien und die Mittelausstattung. Es ist zu betonen, dass zur Untermauerung dieser Sichtweise hauptsächlich technische Innovationen herangezogen werden.

Die Verwendung des Begriffs „Gemeinschaftspolitik“ im Zusammenhang mit Innovation ist ein wenig übertrieben, da es sich - wie die in dieser Mitteilung dargelegte Bilanz aufzeigt - eher um eine Reihe aufeinander abgestimmter Maßnahmen und Aktionen handelt. Die EU besitzt nämlich keine einschlägigen rechtlichen Befugnisse (Nebenzuständigkeit).

2.1   Verbesserung der Rahmenbedingungen

2.1.1   Einige der von der EU ergriffene Maßnahmen haben sich tatsächlich positiv ausgewirkt, wie zum Beispiel die Überarbeitung der Regeln für die staatlichen Beihilfen, in deren Rahmen die Ökoinvestitionen und die Investitionen in Forschung und Entwicklung stärker begünstigt wurden, oder die Zusammenlegung der Netze Euro Info Centres und Innovation Relay Centres im Rahmen des Netzes Enterprise Europe Network. Mit der Lancierung des Small Business Act für Europa wurden große Hoffnungen geweckt, denen bis heute aber nicht genügend konkrete und sichtbare Maßnahmen zugunsten der KMU gefolgt sind (3). Hier ließe sich außerdem die Mitteilung „Neue Kompetenzen für neue Beschäftigungen“ anführen, die in die richtige Richtung geht, es handelt sich hierbei jedoch lediglich um eine Mitteilung, für deren Umsetzung es bislang keine Instrumente gibt.

2.1.2   Auf der anderen Seite zeugt die Tatsache, dass in der Frage des Gemeinschaftspatents noch immer keine Entscheidung gefallen ist, deutlich von dem Unvermögen des Europäischen Rats, hier die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, die sich unmittelbar auf die Innovation auswirken würden, wie die im Vergleich zum Rest der Welt ständig sinkende Zahl der in Europa beantragten Patente, aber auch die für Europäer deutlich höheren Kosten zeigen. Aus diesem Grund herrscht in der EU ein Schutzdefizit, durch das die Unternehmen, insbesondere die KMU, benachteiligt werden.

2.1.3   Die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen und Instrumente sind bisher vorwiegend auf die notwendigen der Innovation vorgeschalteten Etappen und große öffentliche oder private Forschungsträger ausgerichtet. Dies sollte durch zusätzliche Maßnahmen und Instrumente ergänzt werden, wie z.B. Normungsprozesse, die sich stärker und systematisch auf den innovativen Umsetzungsprozess konzentrieren.

2.1.4   Generell können die Verwaltungen, insbesondere auf lokaler Ebene, eine Quelle für Innovation in allen Bereichen sein.

2.1.4.1   Was die öffentlichen Aufträge anbelangt, so geben die Auftraggeber nur allzu häufig dem Billigstbieter den Vorzug, worunter die Qualität der Angebote leidet. Innovation kann aber gefördert werden, indem die Vergabe öffentlicher Aufträge entsprechend ausgerichtet und somit die Qualität der Dienstleistungen für die Bürger verbessert wird (4).

2.2   Umsetzung der innovationspolitischen Maßnahmen

2.2.1   In der Mitteilung werden die zunehmenden Finanzierungsmöglichkeiten mit EU-Mitteln im Rahmen der Finanziellen Vorausschau 2007-2013 betont.

2.2.1.1   Diese Zunahme ist für die Akteure, die die Schwerfälligkeit und Komplexität der Verfahren beklagen, insbesondere beim 7. Rahmenprogramm für Forschung und Entwicklung (RP7) nicht ersichtlich. Dasselbe gilt für die europäischen Strukturfonds, die sich aufgrund der bürokratischen Schwerfälligkeit und der mangelnden Sichtbarkeit infolge der Verteilung der Beihilfen nach dem Gießkannenprinzip und des Zusätzlichkeitsgrundsatzes nicht als echte Innovationshebel einsetzen lassen.

2.2.1.2   Im Zuge der bevorstehenden Revision der Haushaltsordnung sollten die Regeln für die Teilnahme, die Förderfähigkeit und die Berichterstattung vereinfacht, gebündelt und standardisiert werden.

2.2.2   Diese Feststellung gilt auch für die Finanzinstrumente der Europäischen Investitionsbank (EIB), die in der Regel über Mittler agiert, die ihre eigenen Bedingungen anwenden. Die EIB und die Kommission haben zwar erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Finanzierung innovativer KMU zu fördern, doch zeigen diese keine spürbare Wirkung. Der europäische Finanzierungsmarkt ist nach wie vor fragmentiert und nicht auf Technik ausgerichteten innovativen KMU wenig gewogen. Der Bankensektor muss auf nationaler Ebene dazu gebracht werden, größere Risiken bei der Finanzierung der KMU einzugehen.

2.2.3   Mit dem neuen Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (CIP) sollten bereits existierende, aber isolierte Maßnahmen und Programme zusammengeführt werden. In Wirklichkeit sind die Maßnahmen in Unterprogrammen scharf voneinander getrennt geblieben, und ihre Stimmigkeit ist nicht erwiesen. Darüber hinaus ist das CIP mit Mitteln in Höhe von 3,6 Mrd. EUR über einen Zeitraum von sieben Jahren ausgestattet worden, was angesichts der Herausforderungen, denen die EU gegenübersteht, wenig ist.

2.2.4   Nur mit Mühe werden die europäischen Programme ihren eigenen Zielen gerecht, insbesondere im Hinblick auf die Beteiligung des Privatsektors, vor allem der KMU. Die verfügbaren Mittel werden vorzugsweise den öffentlichen Einrichtungen zugeteilt, was zu Lasten des Privatsektors geht. Für den EWSA sind eine gute Verwaltung der für Forschung und Innovation bereitgestellten öffentlichen Mittel und die tatsächliche Wirkung dieser Investitionen für die europäische Wirtschaft wichtige Anliegen.

2.2.5   Die gemeinschaftlichen und die nationalen Programme sind nicht effizient aufeinander abgestimmt. So gibt es keine gemeinsame Programmplanung der Mitgliedstaaten und der EU, mit der eine Verwechslung von Zusätzlichkeit und Komplementarität vermieden werden könnte.

2.3   Schaffung von Synergien

2.3.1   Dank der nationalen Reformprogramme, die im Rahmen der Lissabon-Strategie durchgeführt werden, verfügen die Mitgliedstaaten im Bereich der Innovation über einen Bezugsrahmen. Allerdings leiden ihre Wirkung und Effizienz unter der großen Vielfalt unterschiedlicher Ansätze und der geringen Einbindung der Sozialpartner und der anderen Akteure der Zivilgesellschaft in ihre Konzipierung und Umsetzung.

2.3.2   Der „Europäische Forschungsraum“ wurde eingerichtet, um die Kohärenz des Systems und die Synergien mit den Mitgliedstaaten zu fördern. Nach Ansicht des EWSA sollte dieser Punkt mit deutlich mehr Engagement zu einer Priorität für die Zukunft gemacht werden.

2.3.2.1   So kann beispielsweise das Europäische Innovations- und Technologieinstitut (EIT) in seiner jetzigen Struktur nicht seinem ursprünglichen Auftrag gerecht werden, für einen Dialog zwischen dem Forschungssektor, den Unternehmen und dem Bildungssektor zu sorgen. Mit seiner relativ geringen Mittelausstattung (2,8 Mrd. EUR für den Zeitraum von 2008 bis 2013 (5) bleibt das EIT ein virtuelles Instrument, das den Unternehmen, die mit den europäischen Programmen nicht vertraut sind, kaum zugänglich ist.

2.3.3   Der jüngsten Ausgabe des Innovationsanzeigers (6) zufolge weisen die Länder, die in Europa auf dem Gebiet der Innovation führend sind, Gemeinsamkeiten auf: hohe Bildungsausgaben, lebenslanges Lernen, hohe Forschungs- und Entwicklungsausgaben und Instrumente zur Innovationsförderung. Hier könnten zusätzlich die bewährten Verfahren des sozialen und des zivilen Dialogs genannt werden.

Es müssen noch bessere Synergien herbeigeführt werden, damit diese bewährten Verfahren in Europa allgemeine Verbreitung finden und auf offenere Weise eine Annäherung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten bei der gemeinsamen und aufeinander abgestimmten politischen Entscheidungsfindung zur Förderung dieser für den Erfolg entscheidenden Schlüsselfaktoren begünstigt wird.

2.3.4   Auch die Akteure der Zivilgesellschaft und die öffentlich-privaten Partnerschaften müssen in dieses Zusammenwirken einbezogen werden.

Beispielsweise ermöglichen heutzutage die „Cluster“ im Rahmen von durch öffentliche und private Investitionen geförderten Strukturen eine effiziente Zusammenarbeit der Hochschulen und Forschungseinrichtungen mit den Unternehmen. Mit diesen „Clustern“ wurden zwar auf nationaler Ebene positive Erfahrungen gemacht, aber die EU kann daraus keinen Nutzen ziehen, weil es an einer gemeinschaftlichen Förderungspolitik fehlt. Die EU sollte Initiativen ergreifen, um eine „Europäisierung“ der Cluster zu ermöglichen und somit ihre Verwaltung zu professionalisieren, sie international auszuweiten und so ihre Funktionsweise und Finanzierung zu optimieren.

2.3.5   Angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen sollten die Synergien zwischen den Prioritäten, die in den verschiedenen europäischen Programmen zur Innovationsförderung festgelegt werden, Vorrang haben. In den verschiedenen gemeinschaftlichen Programmen sind mehrfach dieselben Prioritäten zu finden, ohne dass Schnittstellen vorgesehen wären.

3.   Empfehlungen des EWSA

Der EWSA befürwortet die Einführung einer ehrgeizigen europäischen Innovationsstrategie, die eine umfassendere und integriertere Sichtweise beinhaltet.

3.1   Ausgangsprinzipien

Innovation ist in einem breiten Sinne zu verstehen, sowohl bezüglich der auf dem Markt angebotenen Produkte und Dienstleistungen als auch des gemeinnützigen Sektors und des gesellschaftlichen und sozialen Bereichs.

Mit dem Lissabon-Vertrag werden die Handlungsfelder der Gemeinschaftspolitik in den Bereichen erweitert, die Innovation begünstigen: Handels-, Energie-, Weltraum-, Fremdenverkehrs- Kultur-, Gesundheitspolitik usw.

Innovation ist vom Wesen her disziplinübergreifend und sektorübergreifend, weshalb auch die Strategie und die Umsetzungsinstrumente so angelegt sein sollten.

Innovation muss mit den Prinzipien und Werten der Union vereinbar sein. Eine Innovation kann technisch gesehen durchaus „gut“ sein, aber unerwünschte Auswirkungen auf die Umwelt oder den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben.

Die Notwendigkeit, die Bürger mit den neuen Technologien vertraut zu machen, indem sie in die öffentliche Debatte einbezogen werden (GVO, Kernenergie usw.).

Die Entwicklung der Schlüsseltechnologien (7) (Nanotechnologie, Mikro- und Nanoelektronik, Photonik, fortschrittliche Werkstoffe, Biotechnologie, Informationstechnologie, Simulationswissenschaft) muss gezielt und unter Berücksichtigung ihres interdisziplinären Charakters gefördert werden. Die europäischen Forschungsprogramme müssen allerdings ein Element der interdisziplinären Nutzung enthalten, und die Schlüsseltechnologien müssen auch in traditionellen Sektoren eingesetzt werden können.

Die Prioritäten müssen unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Zielsetzungen der EU (Gesundheit, Umweltschutz, Energie usw.) festgelegt werden.

Die europäische Innovationsstrategie muss sich auf die Synergien und die Partnerschaften mit den Akteuren des privaten Sektors und der Zivilgesellschaft stützen.

Die KMU müssen das Herzstück des künftigen europäischen Innovationsplans bilden. Alle Rahmenmaßnahmen, Programme und Vorschriften, mit denen Innovation in den KMU gefördert wird, müssen unterstützt werden.

3.2   Vorschläge

3.2.1   Der EWSA hat im Rahmen der Arbeiten der Studiengruppe am 14. Januar 2009 am Institut für technologische Zukunftsforschung (IPTS) in Sevilla eine öffentliche Anhörung veranstaltet. Aus dieser Anhörung, an der Vertreter des Instituts und lokale Akteure, die in der Innovationsförderung aktiv sind, teilnahmen, ging eine Reihe konkreter Vorschläge hervor.

3.2.2   Grundlage jeder Politik ist das Vorhandensein geeigneter Indikatoren und Analyseinstrumente. Die EU verfügt über mehrere Analyseinstrumente: den „Europäischen Innovationsanzeiger“, die synoptische Übersicht über die Innovationspolitik „INNO-Policy TrendChart“, die Beobachtungsstelle für europäische Cluster „European Cluster Observatory“, das „Innobarometer“, die Beobachtungsstelle für sektorale Innovation „Sectoral Innovation Watch“ und den Investitionsanzeiger „EU Industrial R&D Investments Scoreboard“. Aus Gründen der Kohärenz empfiehlt der EWSA die Schaffung einer einzigen „Europäischen Beobachtungsstelle für Innovation“, die die bestehenden Instrumente übernehmen, sie aber besser aufeinander abstimmen und noch bekannter machen würde. Darüber hinaus ist eine Bewertung nur dann aussagekräftig, wenn die Ergebnisse an den vorgegebenen Zielen gemessen werden; der künftige europäische Plan sollte mit klaren Zielen versehen werden, bis hin zu quantitativen Indikatoren. Diese Beobachtungsstelle sollte in der Lage sein, an Hand klarer Ziele und Indikatoren auf transparente Weise und unabhängig zu arbeiten, um eine objektive Bewertung der Maßnahmen zu gewährleisten.

3.2.3   Grundlagenforschung schafft das unverzichtbare Saatgut für zukünftige Innovationen. Daher plädiert der EWSA für eine beträchtliche Aufstockung der diesbezüglichen EU-Forschungsmittel, insbesondere für das nächste Rahmenprogramm für Forschung und Entwicklung der EU, unter der Bedingung, dass dessen Prioritäten gezielt ausgerichtet werden (im Einklang mit den gesellschaftlichen Herausforderungen) und die Hebelwirkungen im Hinblick auf die nationalen Programme und den Privatsektor genutzt werden.

3.2.3.1   Des Weiteren schlägt der EWSA vor, neue Ansätze für die Förderung der Teilnahme der KMU an den Gemeinschaftsprogrammen zu prüfen wie das Konzept der verantwortungsvollen Partnerschaft. Hierbei ginge es darum, auf der Grundlage einer gemeinsamen Charta die Verwaltungsformalitäten (Audits, Berichterstattung) zu vereinfachen.

3.2.4   Auch die Entwicklung von Partnerschaften zwischen Forschungs- sowie Bildungseinrichtungen, insbesondere den Hochschulen und den wirtschaftlichen und sozialen Akteuren, ist ein guter Weg, um positive Synergien zur Begünstigung von Innovation nicht nur in den Unternehmen, sondern auch im Bildungssektor zu entwickeln (8).

3.2.4.1   Das EIT sollte als „Kopf“ eines Netzes bereits vorhandener Strukturen fungieren, um die Ausbreitung der neuen Technologien auf alle Sektoren zu fördern. Auf lange Sicht sollte das EIT die Finanzierung von Investitionen in europäischem Maßstab ermöglichen, bei denen die Forschungs-, die Bildungs- und die Innovationspolitik zusammenlaufen würden.

3.2.4.2   Ferner müssen Programme zugunsten der Mobilität von Forschern - sowohl zwischen den Mitgliedstaten als auch zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor - gefördert werden. Der dänische Doktorstudiengang in Industrie, der in Unternehmen tätigen Ingenieuren die Promotion an einer Universität ermöglicht, insbesondere durch Absolvierung von Kursen in einem anderen Mitgliedstaat (9), ist ein Beispiel für ein bewährtes Verfahren, das auf europäischer Ebene erprobt werden sollte.

3.2.5   Die Instrumente zur Öffnung der innovationsfördernden Maßnahmen zwischen EU und Mitgliedstaaten sollten nach Ansicht des EWSA zu den vorrangigen Elementen des künftigen Programms gemacht werden. In diesem Sinne müssen die bürgernahen Netze gestärkt werden, die als Schnittstelle zwischen der europäischen und der lokalen Ebene fungieren, indem für einen Informationsaustausch über die Ideen und Projekte gesorgt wird. Der EWSA empfiehlt, europäische Partnerschaftsplattformen einzurichten, die den Akteuren der Zivilgesellschaft zugänglich sind. Das Netz Enterprise Europe Network, das auf lokaler Ebene für die Unternehmen tätig ist, könnte als Grundlage für diese Plattform dienen.

3.2.6   Ein besserer Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten ist von entscheidender Bedeutung, vor allem für die Entwicklung der innovativen KMU und der Start-up-Unternehmen. Die Rolle der EIB muss gestärkt werden, insbesondere indem die Fazilität für Finanzierungen auf Risikoteilungsbasis ausgebaut wird, und es muss ein europäischer Kapitalrisikomarkt geschaffen werden.

3.2.6.1   Darüber hinaus empfiehlt der EWSA spezifische Maßnahmen im Rahmen des Small Business Act wie z.B. die Förderung eines „zweiten Börsenmarkts“ in Europa und Steueranreize für Investitionen von Privatpersonen in Innovation und die Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer.

3.2.7   In vielen Ländern ist festzustellen, dass die jungen Menschen immer weniger Innovations- und Unternehmergeist zeigen. Die Kreativität und der Unternehmergeist müssen mit Hilfe der Lehrpläne gefördert werden.

3.2.7.1   Der EWSA schlägt vor, in Anlehnung an das Konzept der Botschafter für die Unternehmertätigkeit von Frauen mit Unterstützung der europäischen Institutionen ein Netz von Botschaftern für Jungunternehmer zu entwickeln.

3.2.8   Wenn Innovation in den unter die Kohäsionspolitik fallenden Ländern gefördert werden soll, ist eine bessere Verwendung der Strukturfonds erforderlich. Insbesondere sollten die Maßnahmen zielgerichteter gestaltet werden und der obligatorische Grundsatz der Zusätzlichkeit, der zu Verzögerungen und einer mangelnden Sichtbarkeit führt, sollte vermieden werden. Der EWSA unterstreicht das Potenzial der Akteure der bislang von den Struktur- und Bildungsprogrammen völlig vernachlässigten Zivilgesellschaft für gesellschaftliche Innovation.

3.2.9   Außerdem sollte die EU-Wettbewerbspolitik (staatliche Beihilfen, Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen) so gestaltet werden, dass eine bessere Valorisierung von Innovationen und der Transfer von Technologien stärker gefördert werden. Hierbei sollte spezifischen Sektoren wie dem Wohnungsbau oder der Verkehrsinfrastruktur und den Verkehrsmitteln aufgrund ihrer Rolle im Kontext des Klimawandels besonderes Augenmerk gewidmet werden.

3.2.10   Mit dem Lissabon-Vertrag werden die Zuständigkeiten der EU im Bereich der Außenhandelspolitik und der außenpolitischen Zusammenarbeit gestärkt. Diese Chance muss ergriffen werden, um eine auf die Politik der einzelnen Mitgliedstaaten abgestimmte europäische Politik für den Austausch im Bereich Wissenschaft und Technik zu konzipieren. Besondere Beachtung sollten hierbei der Austausch und die Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten der EU finden.

4.   Fazit

4.1   Der Erfolg dieser Strategie wird weniger von der Mittelausstattung abhängen als vom tatsächlichen politischen Willen der Europäischen Kommission und der Mitgliedstaaten, für ihre Umsetzung zu sorgen, sowie von der Qualität der Partnerschaften - insbesondere mit der Zivilgesellschaft - und der Einleitung eines Dialogs mit den Bürgern. Der EWSA fordert daher den Europäischen Rat und die Europäische Kommission auf, einen Aktionsplan zur Förderung von Innovation vorzulegen, der als Eckpfeiler für eine Strategie für Wachstum und Beschäftigung in Europa dient (EU 2020).

4.2   Der künftige europäische Innovationsplan sollte Hand in Hand mit einem echten Aktionsplan gehen, der einen Zeitplan für die Umsetzung und die Verfolgung der erzielten Fortschritte beinhaltet. In diesem Zusammenhang spielt die Rechtsform dieses Plans (Empfehlungen, Rechtsakt oder eine andere Rechtsform) eine untergeordnete Rolle. Seine Wirksamkeit wird von seinem Inhalt und den darin im Hinblick auf seine Umsetzung eingegangenen konkreten, bezifferten und mit Fristen versehenen Verpflichtungen abhängen.

4.3   Ziel dieser Strategie muss die konkrete Durchführung einer wahrhaft „gemeinschaftlichen“ Politik im Interesse des wirtschaftlichen Wiederaufschwungs in Europa sein.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  „Creating a national innovation Framework“ (Schaffung eines internationalen Rahmens für die Innovation), Science Progress, Richard NEDIS und Ethan BYLER, April 2009.

(2)  Wie im Bericht der Kommission über die Messung der Wirtschaftsleistung und den sozialen Fortschritt (Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress) (www.stiglitz-sen-fitoussi.fr) empfohlen wird, sollten diese Indikatoren über die einfache Messung des BIP hinausgehen und genaue und differenzierte Messungen des verfügbaren Einkommens, der Bildung, der Umwelt und der Verteilung des Reichtums beinhalten.

(3)  ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 30.

(4)  Ein erster verhaltener Schritt wurde im Rahmen der Leitmarktinitiative (Annäherung der Auftraggeber, um die Vergabe öffentlicher Aufträge an innovative Unternehmen zu fördern) getan, die Ergebnisse sollten jedoch genau im Auge behalten werden (denn die Initiative ist erst im September 2009 angelaufen).

(5)  Zum Vergleich: Dem MIT (Massachusetts Institute of Technology) stehen für seine Tätigkeit jährlich Mittel in Höhe von 2,4 Mrd. Dollar zur Verfügung.

(6)  European Innovation Scoreboard – PRO INNO Europe.

(7)  Siehe Mitteilung der Europäischen Kommission „An die Zukunft denken: Entwicklung einer gemeinsamen EU-Strategie für Schlüsseltechnologien“, KOM(2009) 512 endg.

(8)  ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 9.

(9)  Über die europäischen Marie Curie-Stipendien finanziert.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/85


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 1998/26/EG, 2002/87/EG, 2003/6/EG, 2003/41/EG, 2003/71/EG, 2004/39/EG, 2004/109/EG, 2005/60/EG, 2006/48/EG, 2006/49/EG und 2009/65/EG im Hinblick auf die Befugnisse der Europäischen Bankaufsichtsbehörde, der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung und der Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde“

KOM(2009) 576 endg. — 2009/0161 (COD)

2010/C 354/20

Alleinberichterstatter: Wautier ROBYNS DE SCHNEIDAUER

Der Rat beschloss am 25. November 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 1998/26/EG, 2002/87/EG, 2003/6/EG, 2003/41/EG, 2003/71/EG, 2004/39/EG, 2004/109/EG, 2005/60/EG, 2006/48/EG, 2006/49/EG und 2009/65/EG im Hinblick auf die Befugnisse der Europäischen Bankaufsichtsbehörde, der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung und der Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde

KOM(2009) 576 endg. — 2009/0161 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 3. März 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 18. März) mit 115 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Auffassung, dass die Krise die Gelegenheit bietet, möglichst rasch eine bedeutsame Reform des Aufsichtssystems ins Werk zu setzen. Diese Reform muss zum Ziel haben, sowohl vereinzelten Zwischenfällen als auch umfassenderen Krisen vorzubeugen und die Widerstandskraft in Bezug auf solche Schocks zu vergrößern. Deshalb sollte von auf Unionsebene festgelegten Grundlagen ausgegangen werden und selbst eine Interaktion zwischen einem soliden System der Union und analogen Systemen in anderen Ländern ins Auge gefasst werden.

1.2

Der EWSA bedauert, dass die unzureichende Harmonisierung im Bereich der Marktzugangsbedingungen und der aufsichtsrechtlichen Bestimmungen bis jetzt die Ausnutzung von Unterschieden in den Regelungen (regulatorische Arbitrage) ermöglicht und zu Wettbewerbsverzerrungen führt. Eine Angleichung dieser Erfordernisse auf der Grundlage von Stabilität, der Beherrschung der durch die Finanzakteure eingegangenen Risiken und der Qualität der Informationen für die Öffentlichkeit bildet die unerlässliche Grundlage für eine Interessengemeinschaft im Europäischen Wirtschaftsraum. Dies muss mit ständiger Aufmerksamkeit für die Qualifikationen der für die Aufsicht zuständigen Personen - insbesondere auf der Grundlage der Zusammenarbeit – einhergehen.

1.3

Der EWSA unterstützt aus diesen Gründen das Bestreben der Kommission, die Aufsichtsbehörden in den einzelnen Wirtschaftszweigen mit Befugnissen auszustatten, die es ihnen gestatten, gemeinsame technische Standards festzusetzen und bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden zu schlichten. Er begrüßt die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen den Aufsichtsbehörden hin zu einer Methode der gemeinsamen Beilegung eventueller Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf Aufsichtspraktiken in Bereichen, für die bereits eine gemeinsame Beschlussfassung vorgesehen ist. Der Ausschuss begrüßt das Bestreben der Kommission, eine klare Unterscheidung vorzunehmen zwischen Fragen technischen Charakters zum einen und dem politischen Bereich zum anderen, für den die Institutionen der Union, die über ein politisches Mandat verfügen, zuständig sind.

1.4

Der EWSA fordert die Kommission auf, sich bei den Arbeiten im Rahmen ihres Programms mit Nachdruck dafür einzusetzen, dass die Veränderungen bezüglich der technischen Standards für den Wertpapiersektor und im Bereich der künftigen Richtlinien für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung zum Abschluss gebracht werden.

2.   Hintergrund

2.1

Die Europäische Kommission legte am 26. Oktober 2009 einen ersten Vorschlag für eine Sammelrichtlinie zur Änderung einer Reihe von Richtlinien vor, die Aktivitäten im Bereich der Finanzdienstleistungen zum Gegenstand haben. Im Einzelnen handelt es sich dabei um die Richtlinien bezüglich der Eigenkapitalanforderungen, der Finanzkonglomerate, der betrieblichen Altersversorgung, des Marktmissbrauchs, der Märkte für Finanzinstrumente, der Prospekte, der Wirksamkeit von Abrechnungen, der Transparenz, der Geldwäsche und der Investmentfonds.

2.2

Die Kommission verfolgt das Ziel, die Öffentlichkeit zu schützen, finanzielle Stabilität zu erlangen und den Binnenmarkt zu vollenden. Dies kann von - auch teilweise harmonisierten -nationalen Aufsichtssystemen nicht geleistet werden.

2.3

Um diese Ziele zu erreichen, müssen folglich der Umfang der in den Regelungen vorgesehenen Befugnisse festgelegt und die aus der Umwandlung der bestehenden europäischen Aufsichtsausschüsse hervorgehenden Behörden eingerichtet werden. Der Vorschlag für eine Änderungsrichtlinie ermöglicht eine Anpassung der bestehenden Vorschriften im Hinblick auf die angestrebte Einheitlichkeit.

2.4

Dieser Vorschlag steht voll und ganz im Einklang mit der Politik, die von der Kommission im Anschluss an die Analyse der Schlussfolgerungen des Berichts der hochrangigen Expertengruppe unter dem Vorsitz von Jacques de Larosière entwickelt wurde. Diese Politik hat das Ziel, ein effizienteres, stärker integriertes und auf Dauer tragfähiges europäisches Aufsichtssystem zu schaffen. Gemäß der Mitteilung der Kommission vom Mai 2009 soll dieses System zum einen aus einem Europäischen Ausschuss für Systemrisiken bestehen, der mit der makroökonomischen Aufsicht und der Überwachung der Risiken für die Finanzmarktstabilität beauftragt ist. Zum anderen soll ein Europäisches Finanzaufsichtssystem eingerichtet werden, in dem die nationalen Finanzaufsichtsbehörden im Netzverbund mit den neuen Europäischen Finanzaufsichtsbehörden koordiniert zusammenarbeiten.

2.5

Diese Behörden sollen aus den drei mit der Aufsicht betrauten, sogenannten „Stufe-3-Ausschüssen“ hervorgehen, die im Zuge des „Lamfalussy-Prozesses“ entstanden sind und für die Aktivitäten der Banken, für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung sowie für die Finanzmärkte zuständig sind.

2.6

Damit Europa mit besser harmonisierten Finanzvorschriften ausgestattet wird, zielt die Kommissionsmitteilung „Europäische Finanzaufsicht“ (1) vom Mai 2009 darauf ab, den Behörden die Ausarbeitung von Entwürfen technischer Standards zu ermöglichen und den Austausch von Informationen über die Beaufsichtigung von Einzelunternehmen zu fördern.

2.7

Im aktuellen Kommissionsvorschlag wird diese Mitteilung in drei zentralen Punkten weiterentwickelt: der Anwendungsbereich der technischen Standards im eigentlichen Sinne (Instrumente, Verfahren, Statistiken, Formulare etc.) wird definiert, um die Konvergenz bei der Überwachung zu gewährleisten und größere Einheitlichkeit zu erzielen. Diese Standards müssen anschließend von der Kommission angenommen werden.

2.8

Die Behörden erhalten die Befugnis, Meinungsunterschiede zwischen den nationalen Behörden in den Bereichen zu schlichten, in denen die Zusammenarbeit im Sinne der Zügelung nationaler Interessen im Interesse der Union erforderlich ist, oder wenn eine Schlichtung gegebenenfalls einem bindenden Beschluss vorausgehen muss.

2.9

Schließlich werden angemessene Informationskanäle geschaffen, um ohne rechtliche Hindernisse zu einer Gemeinschaftsdoktrin gelangen zu können, was insbesondere die Beziehungen zwischen den nationalen und den neuen europäischen Behörden betrifft.

2.10

Letztgenannte sollen die Befugnis erhalten, auch mit Aufsichtsbehörden aus Drittländern Verhandlungen aufzunehmen, Stellungnahmen zu Fragen wie die aufsichtsrechtliche Beurteilung grenzübergreifender Zusammenschlüsse und Übernahmen zu veröffentlichen und Verzeichnisse der zugelassenen Finanzakteure in der Union aufzustellen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die vorliegende Stellungnahme des EWSA knüpft an die Stellungnahmen an, die im Gefolge der Finanzkrise 2007/2008 verabschiedet wurden, insbesondere an die Stellungnahme zum Bericht der de-Larosière-Gruppe (2) und zur „Makro- und Mikroaufsicht“. Wenngleich die unmittelbaren Hauptgründe dieser Krise auf die Schwächen des US-Finanzsystems zurückzuführen sind, hat die Krise doch auch die Schwächen der europäischen Aufsichtssysteme sowie größere Unterschiede zwischen diesen aufgedeckt. Der Ausschuss bedauert, dass weder frühere Krisen noch Zwischenfälle in der Vergangenheit (insbesondere die Equitable-Life-Affäre) nicht schon früher zur Durchführung der notwendigen Reformen geführt haben.

3.2

Die schlechten Erfahrungen der Kunden von Finanzinstituten mit grenzüberschreitenden Aktivitäten sind in der Tat geeignet, das Vertrauen der Verbraucher in den Binnenmarkt zu schmälern.

3.3

Die neuen Aufsichtsbehörden sollten über Strukturen zur Konsultation der betroffenen Berufssparten, der Gewerkschaften und der Kunden von Finanzdienstleistungen verfügen und einen Dialog mit dem EWSA als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft führen.

3.4

Der EWSA unterstreicht den technischen Charakter der drei neuen Aufsichtsbehörden. Ihr Status als unabhängige Einrichtungen muss den politischen Zuständigkeiten der Kommission und letztlich des Europäischen Parlaments untergeordnet bleiben.

3.5

Der EWSA stellt fest, dass die Finanzinstitute, die in mehreren Mitgliedstaaten operieren, in den Genuss einer einheitlicheren Aufsichtspraxis kommen sollten. Es ist ihm ein besonderes Anliegen, dass durch das vorgeschlagene System keine neuen Belastungen für die Finanzakteure geschaffen werden, deren Kosten auf die Nutzer abgewälzt würden - außer in Fällen, in denen die Staaten, die von regulatorischer Arbitrage und Wettbewerbsverzerrungen profitierten, ihre Verfahren angleichen mussten.

3.6

Der EWSA begrüßt die Berücksichtigung der Grundsätze der „besseren Rechtsetzung“ in der vorgeschlagenen Regelung mittels öffentlicher Anhörungen und Folgenabschätzungen bereits ab der Konzeption der Maßnahmen. Der Ausschuss begrüßt ebenfalls das Bemühen der Kommission um Flexibilität und „Notwendigkeit“.

3.7

In Bezug auf den kollegialen Charakter der drei neuen Behörden plädiert der Ausschuss im Falle von Meinungsverschiedenheiten für ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen nationalen Behörden. Nach Auffassung des Ausschusses würde Kollegialität bedeuten, dass die nationalen Behörden gemeinsame Entscheidungen annehmen, ohne Vorzugsbehandlung aufgrund der Marktgröße oder der Anwesenheit von Akteuren außerhalb ihres Herkunftslands.

Brüssel, den 18. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  KOM(2009) 252 endg.

(2)  ABl. C 318 vom 23. Dezember 2009, S. 57.


28.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 354/88


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 708/2007 über die Verwendung nicht heimischer und gebietsfremder Arten in der Aquakultur“

KOM(2009) 541 endg. — 2009/0153 (CNS)

2010/C 354/21

Berichterstatter: Valerio SALVATORE

Der Rat beschloss am 11. November 2009 gemäß Artikel 37 des EG-Vertrags und das Europäische Parlament am 5. März 2010 gemäß Artikel 43 Absatz 2 AEUV, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 708/2007 über die Verwendung nicht heimischer und gebietsfremder Arten in der Aquakultur

KOM(2009) 541 endg. — 2009/0153 (CNS).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 25. Februar 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 461. Plenartagung am 17./18. März 2010 (Sitzung vom 17. März) mit 130 Stimmen ohne Gegenstimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) billigt die Änderungen an der Verordnung (EG) Nr. 708/2007 des Rates über die Verwendung nicht heimischer und gebietsfremder Arten in der Aquakultur, die aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, wie etwa auch der Ergebnisse der im Zuge des 6. Rahmenprogramms durchgeführten konzertierten Aktion IMPASSE, vorgenommen werden.

1.2

Der Ausschuss befürwortet ebenfalls die beiden hiermit verfolgten Ziele: das mit der Zucht nicht heimischer und gebietsfremder Arten verbundene Risiko möglichst gering zu halten und die Wirtschaftsteilnehmer dieser Branche von schleppenden Verwaltungsverfahren zu entlasten. Der bürokratische Aufwand besteht in den nationalen Genehmigungen, die für Aquakulturanlagen für die Zucht von nicht heimischen und gebietsfremden Arten erforderlich sind.

1.3

Vor diesem Hintergrund ist die Gewährleistung der biologischen Sicherheit der Anlagen von größter Bedeutung. Dazu müssen geeignete Maßnahmen ergriffen werden: a) während des Transports, b) durch die Anwendung präzise vorgeschriebener Protokolle in den aufnehmenden Anlagen und c) durch die Einhaltung angemessener Verfahren bis zum Inverkehrbringen der Fischerzeugnisse.

1.4

In diesem Zusammenhang scheint die neue Definition von geschlossenen Aquakulturanlagen gut strukturiert zu sein und den Ergebnissen des IMPASSE-Projekts zu entsprechen, wenn auch die sehr technische Sprache eine nicht immer korrekte Auslegung zur Folge haben könnte. Um Unklarheiten in der Anwendungsphase zu vermeiden, sollte die neue Verordnung um den klaren Hinweis ergänzt werden, dass geschlossene Aquakulturanlagen als solche zu betrachten sind, wenn sie sich an Land befinden.

1.5

Außerdem muss der neuen Verordnung zufolge bei geschlossenen Aquakulturanlagen verhindert werden, dass nicht heimische Zuchttiere oder biologisches Material infolge von Überschwemmungen in offene Gewässer gelangen. Hierzu müsste für die betreffenden Anlagen ein Sicherheitsabstand zu offenen Gewässern in Abhängigkeit von der Art, Lage und Beschaffenheit des Standorts der Anlage festgelegt werden.

1.6

Des Weiteren müssen in Anbetracht der Tatsache, dass das Wasser nicht der einzige Risikofaktor für ein Entweichen ist, sämtliche erforderlichen Systeme vorgesehen werden, um geschlossene Aquakulturanlagen gegen Räuber zu schützen, durch die Zuchttiere freigesetzt werden können.

1.7

Der Ausschuss teilt auch die Annahme, dass die Verbringung aus einer geschlossenen in eine offene Aquakulturanlage nicht als routinemäßige Verbringung zu betrachten ist. In diesem Zusammenhang sollte angefügt werden, dass es wünschenswert ist, geschlossene Aquakulturanlagen von offenen Systemen getrennt zu bewirtschaften und zu verwalten, sofern dies der Produktionszyklus zulässt, um die Gefahr einer eventuellen Verunreinigung der aquatischen Ökosysteme so gering wie möglich zu halten.

2.   Einleitung

2.1

Angesichts der rückläufigen Fänge infolge der Überfischung der Meere und Binnengewässer kann die Aquakultur einen positiven Beitrag zur Deckung der steigenden Nachfrage nach Proteinen aus Fischerzeugnissen leisten. In den letzten drei Jahrzehnten war bei der Aquakulturerzeugung weltweit ein jährliches Wachstum von 11 % zu verzeichnen (NAYLOR & BURKE, 2005) (1).

2.2

Vor diesem Hintergrund ist die Einführung und Züchtung nicht heimischer und gebietsfremder Arten in Europa sehr stark von wirtschaftlichen und kommerziellen Interessen getragen, die jedoch mit den Zielen der Erhaltung der Ökosysteme, die durch eine nicht ordnungsgemäße Ausübung dieser Tätigkeit gefährdet sein könnten, in Einklang gebracht werden müssen.

2.3

Die Einführung nicht heimischer Arten ist einer der wichtigsten Faktoren für vom Menschen verursachte Störungen in aquatischen Ökosystemen und gleich nach der Zerstörung der Lebensräume weltweit die zweithäufigste Ursache für den Verlust der biologischen Vielfalt. In sämtlichen Ökosystemen herrscht ein empfindliches, in einem langsamen Evolutionsprozess entstandenes Gleichgewicht, das es allen Organismen ermöglicht, mit ihrer Umwelt zu interagieren und verschiedene Beziehungen zu ihrem Lebensraum und den anderen dort vorhandenen Organismen zu entwickeln. In einer solchen Situation spielt jeder Organismus eine ganz bestimmte Rolle und nimmt eine ganz bestimmte ökologische Nische ein. Von Interesse sind auch die Auswirkungen der Klimaveränderungen auf die Migration der Fischarten in der aquatischen Umwelt.

2.4

Sobald eine nicht heimische Art in einen neuen Lebensraum gelangt, tritt sie in Interaktion mit den bereits vorhandenen Arten und kann das zuvor erreichte Gleichgewicht auf unvorhersehbare Weise verändern. Die Neuankömmlinge können für die heimischen Arten möglicherweise Räuber oder Konkurrenten um Nahrung und Lebensraum sein; sie können neue Parasiten und andere Pathogene einschleppen, die aus ihren Ursprungsländern stammen, oder mit den heimischen Arten hybridisieren.

2.5

Daher ist es notwendig, die wichtigsten Merkmale geschlossener Aquakulturanlagen zu definieren: eine physische Barriere zwischen Wild- und Zuchtorganismen, die Behandlung von festen Abfällen, die geeignete Beseitigung toter Organismen, die Kontrolle und Behandlung des ein- und des abfließenden Wassers.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die Gefahr eines Entweichens nicht heimischer und gebietsfremder Arten aus Zuchtanlagen nimmt mit der Verringerung der Kontrollsysteme immer mehr zu. In geschlossenen Systemen, wo die Aquakultur innerhalb von sicheren, durch physische und chemische Barrieren abgegrenzten Anlagen untergebracht ist, wird die Gefahr eines Entweichens auf ein Minimum reduziert, während offene, extensive Haltungssysteme ein geringeres Maß an Sicherheit bieten und mitunter auch die unbeabsichtigte Ausbreitung der eingeführten Arten in der natürlichen Umwelt begünstigen.

3.2

Schätzungen zufolge werden 20 % der nicht heimischen Arten in offenen Anlagen und weniger als 10 % in geschlossenen Intensiv-Haltungssystemen gezüchtet, aber in einigen Fällen (Muscheln) werden die lebenden Organismen für die Reinigung sowohl in geschlossenen als auch offenen Anlagen vorübergehend auch über erhebliche Entfernungen transportiert, woraus sich zusätzliche Gefahren der Ausbreitung ergeben (IMPASSE) (2).

3.3

Bei den bestehenden geschlossenen Systemen werden unterschiedliche Technologien zur Reinigung des ein- und abfließenden Wassers genutzt, bei denen jedoch ausnahmslos eine physische Trennung zwischen der Fischzucht und den natürlichen aquatischen Ökosystemen vorgesehen ist. Die rasche Weiterentwicklung dieser Zuchttechniken und der verschiedenen Aquakultursysteme haben jedoch den Rat zu der in dieser Stellungnahme behandelten Verordnung veranlasst.

3.4

Mit der Verordnung (EG) Nr. 708/2007 des Rates wurden Rahmenvorschriften für die Aquakulturbewirtschaftung nicht heimischer und gebietsfremder Arten mit dem Ziel festgelegt, mögliche Auswirkungen dieser Arten auf aquatische Lebensräume zu prüfen und möglichst gering zu halten. Die Verordnung sieht ein auf einzelstaatlicher Ebene einzurichtendes System von Genehmigungen vor.

3.5

Derartige Genehmigungen sind nicht erforderlich, wenn durch geschlossene Aquakulturanlagen die biologische Sicherheit der Zuchtanlagen gewährleistet ist. Zur Verringerung des Risikos ist es notwendig, während des Transports geeignete Maßnahmen zu ergreifen, in der aufnehmenden Anlage präzise vorgeschriebene Protokolle anzuwenden und bis zum Inverkehrbringen der Fischerzeugnisse angemessene Verfahren einzuhalten.

3.6

Die neue Definition von geschlossenen Aquakulturanlagen trägt den Ergebnissen des IMPASSE-Projekts angemessen Rechnung, doch müsste eine klare Bestimmung aufgenommen werden, dass geschlossene Aquakulturen als solche zu betrachten sind, wenn sie sich an Land befinden.

3.7

Das in der neuen Verordnung vorgesehene Ziel, zu verhindern, dass feste Abfälle oder Zuchttiere bzw. Teile von diesen in offene Gewässer gelangen, wird vom Ausschuss uneingeschränkt gutgeheißen. Angesichts der raschen technologischen Entwicklung im Bereich der Filterung und Reinigung der Abwässer muss jedoch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die biologische Sicherheit, die stets Vorrang haben muss, durch unterschiedliche Systeme gewährleistet werden kann: physische, chemische und biologische Mittel oder eine Kombination aus diesen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Um jegliches Risiko einer Verunreinigung der aquatischen Ökosysteme auszuschließen, müssen angemessene Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen für die Einführung und Verbringung nicht heimischer und gebietsfremder Arten festgelegt werden. Dies kann nur durch die Ausarbeitung, Annahme und Umsetzung geeigneter internationaler Verhaltens- und Verfahrenskodizes erreicht werden.

4.2

Da Wasser nicht der einzige Risikofaktor für ein Entweichen ist, müssen sämtliche erforderlichen Systeme vorgesehen werden, um geschlossene Aquakulturanlagen gegen Räuber, insbesondere Vögel, zu schützen, durch die Zuchttiere in freier Natur verbreitet werden können.

4.3

Überdies ist es wünschenswert, geschlossene Aquakulturanlagen vom Zuchtbetrieb getrennt in offenen Systemen zu bewirtschaften und zu verwalten, um die Gefahr einer Verunreinigung der aquatischen Ökosysteme so gering wie möglich zu halten.

4.4

Der Ausschuss billigt die Entscheidung, den Mitgliedstaaten die Verantwortung für die regelmäßige Aktualisierung des auf einer Website veröffentlichten Verzeichnisses der in ihrem Hoheitsgebiet befindlichen geschlossenen Aquakulturanlagen zu übertragen, um so eine möglichst breite Veröffentlichung zu gewährleisten und sowohl die Wirtschaftsteilnehmer als auch die verschiedenen lokalen Interessenträger hinsichtlich der ordnungsgemäßen Bewirtschaftung der Zuchtanlagen in die Pflicht zu nehmen.

Brüssel, den 17. März 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Naylor, R. & M. Burke (2005). Aquaculture and Ocean Resources: Raising Tigers of the Sea. Annual Review of Environment and Resources 30:185-218.

(2)  IMPASSE-Projekt Nr. 44142. D1.3. Bericht 3.1. Review of risk assessment protocols associated with aquaculture, including the environmental, disease, genetic and economic issues of operations concerned with the introduction and translocation of species. (Gordon H. Copp, Esther Areikin, Abdellah Benabdelmouna, J. Robert Britton, Ian G. Cowx, Stephan Gollasch, Rodolphe E. Gozlan, Glyn Jones, Sylvie Lapègue, Paul J. Midtlyng, L. Miossec, Andy D. Nunn, Anna Occhipinti Ambrogi, S. Olenin, Edmund Peeler, Ian C. Russell, Dario Savini) - 2008 – (S. 14).