URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

24. November 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 85/374/EWG – Art. 3 – Haftung für fehlerhafte Produkte – Begriff des Herstellers – Stromverteilernetzbetreiber, der die Spannungsebene des Stroms ändert, um dessen Verteilung zu ermöglichen“

In der Rechtssache C‑691/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 10. November 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 18. November 2021, in dem Verfahren

Cafpi SA,

Aviva assurances SA

gegen

Enedis SA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter I. Jarukaitis und Z. Csehi (Berichterstatter),

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Enedis SA, vertreten durch G. Thouvenin, Avocat,

der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und W. Zemamta als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara und K. Talabér-Ritz als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (ABl. 1985, L 210, S. 29) in der durch die Richtlinie 1999/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. Mai 1999 (ABl. 1999, L 141, S. 20) geänderten Fassung.

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Cafpi SA und ihrem Versicherer, der Aviva assurances SA, einerseits und der Enedis SA, der Stromverteilernetzbetreiberin, andererseits wegen Ersatz des durch eine Überspannung verursachten Schadens.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 4 und 5 der Richtlinie 85/374 heißt es:

„Der Schutz des Verbrauchers erfordert es, dass alle am Produktionsprozess Beteiligten haften, wenn das Endprodukt oder der von ihnen gelieferte Bestandteil oder Grundstoff fehlerhaft war. Aus demselben Grunde hat die Person, die Produkte in die Gemeinschaft einführt, sowie jede Person zu haften, die sich als Hersteller ausgibt, indem sie ihren Namen, ihr Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen anbringt, oder die ein Produkt liefert, dessen Hersteller nicht festgestellt werden kann.

Haften mehrere Personen für denselben Schaden, so erfordert der Schutz des Verbrauchers, dass der Geschädigte eine jede für den vollen Ersatz des Schadens in Anspruch nehmen kann.“

4

Art. 1 der Richtlinie 85/374 bestimmt:

„Der Hersteller eines Produkts haftet für den Schaden, der durch einen Fehler dieses Produkts verursacht worden ist.“

5

Art. 2 der Richtlinie 85/374 bestimmt:

„Bei der Anwendung dieser Richtlinie gilt als ‚Produkt‘ jede bewegliche Sache, auch wenn sie einen Teil einer anderen beweglichen Sache oder einer unbeweglichen Sache bildet. Unter ‚Produkt‘ ist auch Elektrizität zu verstehen.“

6

Art. 3 der Richtlinie 85/374 bestimmt:

„(1)   ‚Hersteller‘ ist der Hersteller des Endprodukts, eines Grundstoffs oder eines Teilprodukts sowie jede Person, die sich als Hersteller ausgibt, indem sie ihren Namen, ihr Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen auf dem Produkt anbringt.

(2)   Unbeschadet der Haftung des Herstellers gilt jede Person, die ein Produkt zum Zweck des Verkaufs, der Vermietung, des Mietkaufs oder einer anderen Form des Vertriebs im Rahmen ihrer geschäftlichen Tätigkeit in die Gemeinschaft einführt, im Sinne dieser Richtlinie als Hersteller dieses Produkts und haftet wie der Hersteller.

(3)   Kann der Hersteller des Produkts nicht festgestellt werden, so wird jeder Lieferant als dessen Hersteller behandelt, es sei denn, dass er dem Geschädigten innerhalb angemessener Zeit den Hersteller oder diejenige Person benennt, die ihm das Produkt geliefert hat. Dies gilt auch für eingeführte Produkte, wenn sich bei diesen der Importeur im Sinne des Absatzes 2 nicht feststellen lässt, selbst wenn der Name des Herstellers angegeben ist.“

7

Art. 5 der Richtlinie 85/374 bestimmt:

„Haften aufgrund dieser Richtlinie mehrere Personen für denselben Schaden, so haften sie unbeschadet des einzelstaatlichen Rückgriffsrechts gesamtschuldnerisch.“

8

Art. 9 der Richtlinie 85/374 bestimmt:

„Der Begriff ‚Schaden‘ im Sinne des Artikels 1 umfasst

b)

die Beschädigung oder Zerstörung einer anderen Sache als des fehlerhaften Produktes – bei einer Selbstbeteiligung von 500 [Euro] –, sofern diese Sache

i)

von einer Art ist, wie sie gewöhnlich für den privaten Ge- oder Verbrauch bestimmt ist, und

ii)

von dem Geschädigten hauptsächlich zum privaten Ge- oder Verbrauch verwendet worden ist.

…“

9

Art. 11 der Richtlinie 85/374 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen in ihren Rechtsvorschriften vor, dass die dem Geschädigten aus dieser Richtlinie erwachsenden Ansprüche nach Ablauf einer Frist von zehn Jahren ab dem Zeitpunkt erlöschen, zu dem der Hersteller das Produkt, welches den Schaden verursacht hat, in den Verkehr gebracht hat, es sei denn, der Geschädigte hat in der Zwischenzeit ein gerichtliches Verfahren gegen den Hersteller eingeleitet.“

Französisches Recht

10

Die Richtlinie 85/374 wurde mit der Loi no 98-389 du 19 mai 1998, relative à la responsabilité du fait des produits défectueux (Gesetz Nr. 98-389 vom 19. Mai 1998 über die Haftung für fehlerhafte Produkte, JORF vom 21. Mai 1998, S. 7744), mit dem die Art. 1386-1 bis 1386-18 (jetzt Art. 1245 bis 1245-17) in den Code civil (Bürgerliches Gesetzbuch) eingefügt wurden, in das französische Recht umgesetzt.

11

Art. 1386-1 (jetzt Art. 1245) des Code civil bestimmt:

„Der Hersteller eines Produkts haftet unabhängig davon, ob zwischen ihm und dem Geschädigten ein Vertragsverhältnis besteht, für den Schaden, der durch einen Fehler des Produkts verursacht worden ist.“

12

Art. 1386-2 (jetzt Art. 1245-1) des Code civil bestimmt:

„Die Vorschriften dieses Kapitels gelten für den Ersatz des durch die Verletzung einer Person entstehenden Schadens.

Sie gelten auch für den Ersatz des durch die Beschädigung einer anderen Sache als des fehlerhaften Produktes verursachten Schadens, sofern dieser einen durch ein Dekret bestimmten Betrag übersteigt.“

13

Art. 1386-3 (jetzt 1245-2) des Code civil bestimmt:

„Produkt ist jede bewegliche Sache, auch wenn sie einen Teil einer unbeweglichen Sache bildet, einschließlich der Boden‑, Tierzucht‑, Jagd- und Fischereierzeugnisse. Elektrizität gilt als Produkt.“

14

Art. 1386-6 Abs. 1 (jetzt Art. 1245-5 Abs. 1) des Code civil bestimmt:

„Hersteller ist der Hersteller des Endprodukts, eines Grundstoffs oder eines Teilprodukts, sofern er im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit handelt.“

15

Art. 1386-7 (jetzt Art. 1245-6 Abs. 1) des Code civil bestimmt:

„Kann der Hersteller des Produkts nicht festgestellt werden, haften der Verkäufer, der Vermieter – mit Ausnahme des Leasinggebers oder einem mit einem Leasinggeber vergleichbaren Vermieter – oder ein anderer im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit handelnder Lieferant, wenn er seinen Lieferanten oder den Hersteller nicht innerhalb von drei Monaten ab der Zustellung des Forderungsschreibens des Geschädigten benennt, unter denselben Voraussetzungen wie der Hersteller für einen Mangel an Sicherheit des Produkts.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

16

Am 28. Juli 2010 kam es in einer Geschäftsstelle von Cafpi bei bestimmten elektrischen Geräten zu Störungen. Nach einem Gutachten eines Sachverständigen, das außerhalb eines Streitverfahrens erstattetet wurde, sollen diese Störungen durch eine Überspannung verursacht worden sein, die ihrerseits wiederum durch eine Neutralleiterunterbrechung des von Enedis betriebenen Stromverteilernetzes verursacht worden sein soll.

17

Cafpi wurde der ihr entstandene Schaden von ihrem Versicherer, Aviva assurances, teilweise ersetzt. Cafpi und Aviva assurances erhoben gegen Enedis Klage auf Schadensersatz. Sie stützten sich dabei auf die allgemeinen Vorschriften über die vertragliche Haftung (Art. 1147 a. F. des Code civil). Enedis machte geltend, dass allein die Vorschriften des Code civil über die Haftung für fehlerhafte Produkte anwendbar seien und dass der von Cafpi und Aviva assurances mit ihrer Klage geltend gemachte Schadensersatzanspruch verjährt sei.

18

Mit Urteil vom 6. Juli 2018 stellte das Gericht, das über die Klage zu entscheiden hatte, fest, dass die Vorschriften des Code civil über die Haftung für fehlerhafte Produkte nicht anwendbar seien. Es wies die Anträge der Klägerinnen aber als unbegründet zurück.

19

Dieses Urteil wurde von der Cour d’appel de Versailles (Berufungsgerichtshof Versailles, Frankreich) aufgehoben. Der von der Électricité de France SA erzeugte Strom sei kein Endprodukt. Es handele sich um Hochspannungsstrom, der so nicht verbraucht werden könne. Der Hochspannungsstrom werde von Enedis transformiert, um an den Endverbraucher verteilt werden zu können. Als Hersteller des für die Verteilung an den Verbraucher bestimmten Endprodukts sei Enedis daher als Hersteller im Sinne der Vorschriften über die Haftung für fehlerhafte Produkte anzusehen. Diese Vorschriften seien daher anwendbar. Die von Cafpi und Aviva assurances erhobene Klage sei wegen Verjährung unzulässig.

20

Cafpi und Aviva assurances legten gegen dieses Urteil bei der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich), dem vorlegenden Gericht, eine Kassationsbeschwerde ein.

21

Das vorlegende Gericht fragt sich, ob der Stromverteilernetzbetreiber, der die Stromstärke und die elektrische Spannung verändert, um den Strom an den Endverbraucher verteilen zu können, als „Hersteller“ von Elektrizität im Sinne der Richtlinie 85/374 anzusehen ist.

22

Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass die Einstufung eines Anbieters wie Enedis als Hersteller von Elektrizität nach Auffassung seines Generalanwalts „nicht der Lebenswirklichkeit der vertraglichen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Wirtschaftsteilnehmern des Sektors entspricht“. Der Verteilernetzbetreiber könne aus einem Grundstoff, den er nicht erworben habe, keinen Strom erzeugen. Außerdem verkaufe er keinen Strom. Der Strom werde vom Verbraucher beim Lieferanten gekauft.

23

Weiter weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Bundesgerichtshof (Deutschland) in einem ähnlich gelagerten Fall mit Urteil vom 25. Februar 2014 entschieden habe, dass der Stromverteilernetzbetreiber als Hersteller anzusehen sei, da er die Elektrizität in entscheidender Weise verändere, wenn er sie auf eine andere Spannungsebene transformiere, damit sie vom Endverbraucher nutzbar sei.

24

Das vorlegende Gericht hat Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit des Ansatzes des Bundesgerichtshofs mit den Richtlinien zum Elektrizitätsbinnenmarkt, nämlich der Richtlinie 96/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Dezember 1996 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt (ABl. 1997, L 27, S. 20), der Richtlinie 2003/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/92/EG (ABl. 2003, L 176, S. 37) und der Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG (ABl. 2009, L 211, S. 55), die die Unabhängigkeit der Übertragungs- und Verteilernetzbetreiber gegenüber den für den Wettbewerb offenen Tätigkeiten der Erzeugung von Elektrizität und der Versorgung mit Elektrizität vorgeschrieben hätten.

25

Die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 2 und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 dahin auszulegen, dass der Stromverteilernetzbetreiber als „Hersteller“ angesehen werden kann, wenn er die Spannungsebene des Stroms des Lieferanten ändert, um ihn an den Endkunden verteilen zu können?

Zur Vorlagefrage

Zur Zulässigkeit

26

Ohne formell eine Einrede der Unzulässigkeit zu erheben, gibt die Europäische Kommission zu bedenken, dass die Vorlagefrage wegen fehlender Erheblichkeit für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unzulässig sein könnte. Bei dem Schaden, den Cafpi ersetzt verlange, handele sich um einen Schaden, der an elektrischen Geräten entstanden sei, die diese Gesellschaft im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit verwende. Nach ihrem Art. 9 regele die Richtlinie 85/374 aber ausschließlich die Haftung eines Anbieters für fehlerhafte Produkte gegenüber einem Verbraucher.

27

Nach ihrem Art. 9 Buchst. b gilt die Richtlinie 85/374 für die Beschädigung oder Zerstörung einer Sache, sofern diese Sache von einer Art ist, wie sie gewöhnlich für den privaten Ge- oder Verbrauch bestimmt ist, und von dem Geschädigten hauptsächlich zum privaten Ge- oder Verbrauch verwendet worden ist.

28

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hindert die Richtlinie 85/374, da die mit ihr erfolgte Harmonisierung nicht den Ersatz von Schäden an einer Sache umfasst, die für den beruflichen Gebrauch bestimmt ist und beruflich verwendet wird, einen Mitgliedstaat aber nicht daran, insoweit eine Haftungsregelung vorzusehen, die der mit der Richtlinie eingeführten entspricht (Urteil vom 4. Juni 2009, Moteurs Leroy Somer, C‑285/08, EU:C:2009:351, Rn. 31).

29

Wie das vorlegende Gericht auf ein Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellung mitgeteilt hat, ergibt sich im vorliegenden Fall aus Art. 1386-2 (jetzt Art. 1245-1) des Code civil, dass der nationale Gesetzgeber den Geltungsbereich der Haftung für fehlerhafte Produkte bei der Umsetzung der Richtlinie 85/374 in das französische Recht nicht auf den Ersatz des Schadens beschränkt hat, der an einer für den privaten Ge- oder Verbrauch bestimmten und hierzu verwendeten Sache entsteht.

30

Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen zuständig, die Vorschriften des Unionsrechts in Fällen betreffen, in denen der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zwar nicht unmittelbar in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, aber die genannten Vorschriften durch das nationale Recht aufgrund eines darin enthaltenen Verweises auf ihren Inhalt für anwendbar erklärt worden sind (Urteil vom 7. November 2018, K und B, C‑380/17, EU:C:2018:877, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

In solchen Fällen besteht nämlich ein klares Interesse der Europäischen Union daran, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu vermeiden (Urteil vom 7. November 2018, K und B, C‑380/17, EU:C:2018:877, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Somit ist eine Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts durch den Gerichtshof in Sachverhalten, die nicht in deren Anwendungsbereich fallen, gerechtfertigt, wenn diese Vorschriften vom nationalen Recht unmittelbar und unbedingt für auf diese Sachverhalte anwendbar erklärt worden sind, um zu gewährleisten, dass diese Sachverhalte und die durch diese Vorschriften geregelten Sachverhalte gleich behandelt werden (Urteil vom 7. November 2018, K und B, C‑380/17, EU:C:2018:877, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 29) hat sich der Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie 85/374 in das französische Recht dafür entschieden, die durch die Richtlinie eingeführte Regelung der Haftung für fehlerhafte Produkte auch auf Schäden anzuwenden, die an Sachen entstehen, die nicht für den privaten Ge- oder Verbrauch bestimmt sind und nicht hierzu verwendet werden. Nach der oben in den Rn. 30 bis 32 angeführten Rechtsprechung besteht daher ein klares Interesse der Union daran, dass der Gerichtshof über das Vorabentscheidungsersuchen entscheidet. Das Vorabentscheidungsersuchen ist mithin zulässig.

Zur Begründetheit

34

Soweit sich das vorlegende Gericht in seiner Frage auf Art. 2 der Richtlinie 85/374 bezieht, ist zunächst festzustellen, dass dort der Begriff des Produkts bestimmt wird und in diesem Zusammenhang ausdrücklich klargestellt wird, dass Elektrizität als ein Produkt im Sinne der Richtlinie anzusehen ist.

35

Der Kreis der haftenden Personen, gegen die der Geschädigte eine Klage im Rahmen des in der Richtlinie 85/374 vorgesehenen Haftungssystems erheben kann, ist in den Art. 1 und 3 der Richtlinie festgelegt. Da die Richtlinie für die in ihr geregelten Punkte eine vollständige Harmonisierung bezweckt, ist die in den Art. 1 und 3 vorgenommene Festlegung des Kreises der haftenden Personen als erschöpfend anzusehen; sie kann nicht von der Festsetzung zusätzlicher Kriterien abhängig gemacht werden, die sich nicht aus dem Wortlaut der Art. 1 und 3 der Richtlinie 85/374 ergeben (Urteile vom 10. Januar 2006, Skov und Bilka, C‑402/03, EU:C:2006:6, Rn. 32 und 33, und vom 7. Juli 2022, Keskinäinen Vakuutusyhtiö Fennia, C‑264/21, EU:C:2022:536, Rn. 29).

36

Danach ist die Vorlagefrage dahin zu verstehen, dass sie darauf abzielt, ob Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 dahin auszulegen ist, dass der Stromverteilernetzbetreiber als „Hersteller“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist, wenn er die Spannungsebene des Stroms ändert, um ihn an den Endkunden verteilen zu können.

37

Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 17. Dezember 2020, CLCV u. a. [Abschalteinrichtung für Dieselmotoren], C‑693/18, EU:C:2020:1040, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Als Erstes ist festzustellen, dass „Hersteller“ nach dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 „der Hersteller des Endprodukts, eines Grundstoffs oder eines Teilprodukts sowie jede Person, die sich als Hersteller ausgibt, indem sie ihren Namen, ihr Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen auf dem Produkt anbringt“, ist.

39

Als Zweites ist zu dem Kontext der Bestimmung festzustellen, dass sich aus Art. 5 der Richtlinie 85/374 in Verbindung mit dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, dass es durchaus denkbar ist, dass bei ein und demselben Produkt mehrere Personen als „Hersteller“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie einzustufen sind und somit alle gesamtschuldnerisch für den durch das Produkt verursachten Schaden haften.

40

Was die jeweiligen Rollen der verschiedenen in den Herstellungs‑ und Vertriebsketten tätig werdenden Wirtschaftsteilnehmer angeht, hat der Gerichtshof entschieden, dass die Entscheidung getroffen wurde, die Haftung für durch fehlerhafte Produkte verursachte Schäden grundsätzlich dem Hersteller aufzubürden, da der Lieferant in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle lediglich das gekaufte Produkt unverändert weitergibt und nur der Hersteller die Möglichkeit hat, auf die Qualität des Produkts einzuwirken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Januar 2006, Skov und Bilka, C‑402/03, EU:C:2006:6, Rn. 28 und 29).

41

Insoweit ist, was die Abgrenzung zwischen dem Prozess der Herstellung und dem Prozess der Vermarktung eines Produkts angeht, ferner festzustellen, dass ein Produkt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs als im Sinne von Art. 11 der Richtlinie 85/374 in den Verkehr gebracht anzusehen ist, wenn es den vom Hersteller eingerichteten Prozess der Herstellung verlassen hat und in einen Prozess der Vermarktung eingetreten ist, in dem es in ge‑ oder verbrauchsfertigem Zustand öffentlich angeboten wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Februar 2006, O’Byrne, C‑127/04, EU:C:2006:93, Rn. 27).

42

Als Drittes ist zu dem Ziel der Richtlinie 85/374 festzustellen, dass es in deren viertem Erwägungsgrund heißt, dass es der Schutz des Verbrauchers erfordert, dass alle am Produktionsprozess Beteiligten haften, wenn das Endprodukt oder der von ihnen gelieferte Bestandteil oder Grundstoff fehlerhaft war.

43

Der Begriff des Herstellers im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 85/374, bei dem es sich um einen autonomen Begriff des Unionsrechts handelt, entspricht somit dem Ziel des Schutzes des Verbrauchers, der erfordert, dass zum einen mehrere Personen als Hersteller angesehen werden können und zum anderen der Verbraucher seinen Anspruch gegen jede beliebige dieser Personen geltend machen kann, weshalb die Suche nach einer einzigen verantwortlichen Person – der „am besten geeigneten“ –, der gegenüber der Verbraucher seine Rechte geltend machen müsste, nicht relevant ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 2022, Keskinäinen Vakuutusyhtiö Fennia, C‑264/21, EU:C:2022:536, Rn. 35).

44

Im vorliegenden Fall bezieht sich die Vorlagefrage auf den Fall eines Stromverteilernetzbetreibers, der die Spannungsebene des Stroms ändert, um ihn an den Endkunden verteilen zu können. Dabei ist zu beachten, dass der von Électricité de France erzeugte Hochspannungsstrom vom Verbraucher ohne Eingriff des Stromverteilernetzbetreibers in keiner Weise genutzt werden könnte.

45

Ein Stromverteilernetzbetreiber, der die Spannungsebene des Stroms ändert, um ihn an den Endkunden verteilen zu können, liefert daher nicht lediglich ein Produkt – hier den Strom –, sondern ist am Prozess der Herstellung des Produkts beteiligt, indem er ein Merkmal des Produkts – die Spannung – ändert, um es in ge‑ oder verbrauchsfertigem Zustand öffentlich anbieten zu können.

46

Entgegen dem Vorbringen der französischen Regierung handelt es sich bei der Spannungsebene des Stroms um ein Merkmal des Produkts, und zwar unabhängig davon, ob eine Überspannung einen Mangel an Sicherheit darstellt, die von der Allgemeinheit berechtigterweise erwartet werden darf. Ein Merkmal eines Produkts kann verändert werden, ohne dass das Produkt vor oder nach der betreffenden Veränderung fehlerhaft wäre.

47

Somit ist festzustellen, dass ein Stromverteilernetzbetreiber, der die Spannungsebene des Stroms ändert, als Hersteller im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 anzusehen ist.

48

Anders als das vorlegende Gericht annimmt, verstößt diese Auslegung des Begriffs des Herstellers nicht gegen die Bestimmungen der oben in Rn. 24 genannten Richtlinien, insbesondere auch nicht gegen die Vorschriften, mit denen eine Trennung zwischen den Aufgaben der Erzeugung und den Aufgaben der Verteilung von Elektrizität vorgeschrieben worden ist.

49

Denn, wie sich aus der oben in Rn. 35 angeführten Rechtsprechung ergibt, ist die Festlegung des Kreises der haftenden Personen, gegen die der Geschädigte eine Klage im Rahmen des in der Richtlinie 85/374 vorgesehenen Haftungssystems erheben kann, ausschließlich nach den Art. 1 und 3 der Richtlinie vorzunehmen. Es ist nicht möglich, zusätzliche Voraussetzungen aufzustellen, die in diesen Artikeln nicht vorgesehen sind. Was die oben in Rn. 24 genannten Richtlinien angeht, ist festzustellen, dass mit ihnen andere Ziele verfolgt werden.

50

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 dahin auszulegen ist, dass der Stromverteilernetzbetreiber als „Hersteller“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist, wenn er die Spannungsebene des Stroms ändert, um ihn an den Endkunden verteilen zu können.

Kosten

51

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte in der durch die Richtlinie 1999/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. Mai 1999 geänderten Fassung

 

ist wie folgt auszulegen:

 

Der Stromverteilernetzbetreiber ist als „Hersteller“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen, wenn er die Spannungsebene des Stroms ändert, um ihn an den Endkunden verteilen zu können.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.