URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

22. Dezember 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 18 und 21 AEUV – An einen Mitgliedstaat gerichtetes Ersuchen eines Drittstaats um Auslieferung eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und von seinem Recht auf Freizügigkeit im erstgenannten Mitgliedstaat Gebrauch gemacht hat – Zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gestelltes Ersuchen – Nur für eigene Staatsangehörige geltendes Auslieferungsverbot – Beschränkung der Freizügigkeit – Rechtfertigung mit der Verhinderung von Straflosigkeit – Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑237/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht München (Deutschland) mit Beschluss vom 9. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 13. April 2021, in dem Verfahren betreffend die Auslieferung von

S.M.,

Beteiligte:

Generalstaatsanwaltschaft München,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten E. Regan und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, der Richter M. Ilešič, I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele, des Richters J. Passer und der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. April 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Generalstaatsanwaltschaft München, vertreten durch J. Ettenhofer und F. Halabi als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und M. Hellmann als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch A. Edelmannová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,

der kroatischen Regierung, vertreten durch G. Vidović Mesarek als Bevollmächtigte,

der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis und R. Dzikovič als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Baumgart, S. Grünheid und H. Leupold als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Juli 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18 und 21 AEUV.

2

Es ergeht im Rahmen eines Auslieferungsersuchens der bosnisch-herzegowinischen Behörden an die Behörden der Bundesrepublik Deutschland betreffend S.M., der die kroatische, die bosnisch-herzegowinische und die serbische Staatsangehörigkeit besitzt, zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe.

Rechtlicher Rahmen

Europäisches Auslieferungsübereinkommen

3

Art. 1 des am 13. Dezember 1957 in Paris unterzeichneten Europäischen Auslieferungsübereinkommens (im Folgenden: Europäisches Auslieferungsübereinkommen) bestimmt:

„Die Vertragsparteien verpflichten sich, gemäß den nachstehenden Vorschriften und Bedingungen einander die Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des ersuchenden Staates wegen einer strafbaren Handlung verfolgt oder zur Vollstreckung einer Strafe oder einer Maßregel der Sicherung und Besserung gesucht werden.“

4

Art. 6 („Auslieferung eigener Staatsangehöriger“) dieses Übereinkommens sieht vor:

„1   

a

Jede Vertragspartei ist berechtigt, die Auslieferung ihrer Staatsangehörigen abzulehnen.

b

Jede Vertragspartei kann, was sie betrifft, bei der Unterzeichnung oder der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde durch eine Erklärung den Begriff ‚Staatsangehörige‘ im Sinne dieses Übereinkommens bestimmen.

c

Für die Beurteilung der Eigenschaft als Staatsangehöriger ist der Zeitpunkt der Entscheidung über die Auslieferung maßgebend. …

2   Liefert der ersuchte Staat seinen Staatsangehörigen nicht aus, so hat er auf Begehren des ersuchenden Staates die Angelegenheit den zuständigen Behörden zu unterbreiten, damit gegebenenfalls eine gerichtliche Verfolgung durchgeführt werden kann. Zu diesem Zweck sind die auf die strafbare Handlung bezüglichen Akten, Unterlagen und Gegenstände kostenlos auf dem in Artikel 12 Abs. 1 vorgesehenen Wege zu übermitteln. Dem ersuchenden Staat ist mitzuteilen, inwieweit seinem Begehren Folge gegeben worden ist.“

5

Die Bundesrepublik Deutschland gab bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde am 2. Oktober 1976 folgende Erklärung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Buchst. b des Europäischen Auslieferungsübereinkommens ab:

„Die Auslieferung eines Deutschen aus der Bundesrepublik Deutschland an das Ausland ist nach Artikel 16 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland [vom 23. Mai 1949, (BGBl. 1949 I, S. 1)] nicht zulässig und muss daher in jedem Fall abgelehnt werden.

Der Begriff ‚Staatsangehörige‘ im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 Buchstabe b des Europäischen Auslieferungsübereinkommens umfasst alle Deutschen im Sinne des Artikels 116 Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland.“

Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen

6

Nach Art. 2 des Übereinkommens des Europarats vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen (im Folgenden: Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen) können im Hoheitsgebiet eines Unterzeichnerstaats (Urteilsstaat) verurteilte Personen zum Vollzug der gegen sie verhängten Sanktion in das Hoheitsgebiet ihres Herkunftslands (Vollstreckungsstaat) überstellt werden. Dabei kann nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b dieses Übereinkommens die im Urteilsstaat verhängte Sanktion durch eine nach dem Recht des Vollstreckungsstaats für dieselbe Straftat vorgesehene Sanktion ersetzt werden.

7

Nach den Erwägungsgründen dieses Übereinkommens besteht das Ziel einer solchen Überstellung u. a. darin, die soziale Wiedereingliederung verurteilter Personen dadurch zu fördern, dass Ausländern, denen wegen der Begehung einer Straftat ihre Freiheit entzogen ist, Gelegenheit gegeben wird, die gegen sie verhängte Sanktion in ihrer Heimat zu verbüßen.

8

Seit dem 1. November 1995 sind alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union an das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen gebunden. Dieses Übereinkommen, das auch Bosnien und Herzegowina bindet, trat in Deutschland am 1. Februar 1992 in Kraft.

Deutsches Recht

9

Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland bestimmt:

„Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.“

10

Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland lautet:

„Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.“

11

§ 48 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 23. Dezember 1982 (BGBl. 1982 I, S. 2071) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: IRG) sieht vor:

„Rechtshilfe kann für ein Verfahren in einer strafrechtlichen Angelegenheit durch Vollstreckung einer im Ausland rechtskräftig verhängten Strafe oder sonstigen Sanktion geleistet werden. …“

12

Nach den §§ 54 und 55 IRG wird, soweit die Vollstreckung des ausländischen Erkenntnisses in Deutschland zulässig ist, die verhängte Sanktion in die ihr im deutschen Recht am meisten entsprechende Sanktion umgewandelt und das ausländische Erkenntnis für vollstreckbar erklärt. Nach § 57 Abs. 1 IRG führt die deutsche Staatsanwaltschaft die Vollstreckung durch, „soweit der ausländische Staat mit der Vollstreckung einverstanden ist“.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

13

Am 5. November 2020 ersuchten die bosnisch-herzegowinischen Behörden die Bundesrepublik Deutschland um Auslieferung von S.M., der die kroatische, die bosnisch-herzegowinische und die serbische Staatsangehörigkeit besitzt, zur Vollstreckung der im Urteil des Gemeindegerichts Bosanska Krupa (Bosnien und Herzegowina) vom 24. März 2017 wegen Bestechlichkeit verhängten Freiheitsstrafe von sechs Monaten. S.M. lebt mit seiner Ehefrau seit Mitte des Jahres 2017 in Deutschland. Er arbeitet dort seit dem 22. Mai 2020 und befindet sich, nachdem er zwischenzeitlich in Auslieferungshaft war, auf freiem Fuß.

14

Die deutschen Behörden setzten die kroatischen Behörden von dem S.M. betreffenden Auslieferungsersuchen in Kenntnis, ohne dass diese hierauf reagierten.

15

Die Generalstaatsanwaltschaft München (Deutschland) beantragte unter Bezugnahme auf das Urteil vom 13. November 2018, Raugevicius (C‑247/17, im Folgenden: Urteil Raugevicius, EU:C:2018:898), die Auslieferung von S.M. für unzulässig zu erklären.

16

Nach Ansicht des Oberlandesgerichts München (Deutschland), das das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache ist, hängt die Begründetheit des Antrags der Generalstaatsanwaltschaft München von der Frage ab, ob die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie die Nichtauslieferung eines Unionsbürgers auch dann vorschreiben, wenn der ersuchte Mitgliedstaat völkervertraglich zu dessen Auslieferung verpflichtet ist.

17

Diese Frage sei durch das Urteil Raugevicius nicht beantwortet worden, da die Republik Finnland in der Rechtssache, die zu jenem Urteil geführt habe, nach den anwendbaren völkerrechtlichen Verträgen berechtigt gewesen sei, den betroffenen litauischen Staatsangehörigen nicht an die Russische Föderation auszuliefern.

18

Ebenso hätten es die besonderen Auslieferungsabkommen bzw. das Europäische Auslieferungsübereinkommen, um die es in den Rechtssachen gegangen sei, die zu den Urteilen vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), vom 10. April 2018, Pisciotti (C‑191/16, EU:C:2018:222), und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Auslieferung an die Ukraine) (C‑398/19, EU:C:2020:1032), geführt hätten, in die Hände des ersuchten Mitgliedstaats gelegt, zu entscheiden, an welchen von mehreren ersuchenden Staaten der Verfolgte ausgeliefert werde. Eine Auslieferung an den Heimatmitgliedstaat des verfolgten Unionsbürgers wäre in allen diesen Fällen möglich gewesen, ohne dass die betreffenden Mitgliedstaaten dadurch ihre gegenüber den betreffenden Drittländern bestehenden völkervertraglichen Pflichten verletzten.

19

In der vorliegenden Rechtssache dagegen sei die Bundesrepublik Deutschland gegenüber Bosnien und Herzegowina gemäß Art. 1 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens zur Auslieferung von S.M. verpflichtet.

20

Nach dieser Bestimmung seien die Bundesrepublik Deutschland sowie Bosnien und Herzegowina verpflichtet, einander Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des ersuchenden Staates zur Vollstreckung einer Strafe gesucht würden, soweit die entsprechenden Bedingungen des Übereinkommens erfüllt seien und nicht eine der anderen Vorschriften des Übereinkommens eine Ausnahme vorsehe.

21

Im vorliegenden Fall seien die Voraussetzungen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens für eine Auslieferung von S.M. erfüllt und es lägen keine Auslieferungshindernisse nach den einschlägigen Bestimmungen dieses Übereinkommens vor. Insbesondere würden diese Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akten den in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren und die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze bzw. das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz nicht verletzen.

22

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist mithin zweifelhaft, ob die aus dem Urteil Raugevicius hervorgegangene Rechtsprechung auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens anwendbar ist.

23

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stelle die Ungleichbehandlung, die darin bestehe, dass ein Unionsbürger, der die Staatsangehörigkeit eines anderen als des ersuchten Mitgliedstaats besitze, im Gegensatz zu einem Staatsangehörigen des ersuchten Mitgliedstaats ausgeliefert werden könne, eine Beschränkung des Rechts aus Art. 21 AEUV dar, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

24

Eine solche Beschränkung sei nur gerechtfertigt, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruhe und in angemessenem Verhältnis zu dem vom ersuchten Mitgliedstaat verfolgten legitimen Zweck stehe. Der Gerichtshof habe insoweit anerkannt, dass das Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Personen, die eine Straftat begangen hätten, sich der entsprechenden Strafe entzögen, als legitimer Zweck einzustufen sei und eine beschränkende Maßnahme wie die Auslieferung grundsätzlich rechtfertigen könne.

25

Die Frage, ob die Notwendigkeit, weniger einschränkende Maßnahmen als die Auslieferung ins Auge zu fassen, bedeuten könne, dass der ersuchte Mitgliedstaat gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen verstoße, sei indessen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht behandelt worden.

26

Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass eine Vollstreckung der vom Gemeindegericht Bosanska Krupa verhängten Freiheitsstrafe in Deutschland möglich wäre. Da sich S.M. bereits im deutschen Hoheitsgebiet aufhalte, sei das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen, das sowohl von der Bundesrepublik Deutschland als auch von Bosnien und Herzegowina ratifiziert worden sei, nicht einschlägig. Die Vollstreckung der Strafe richte sich daher nach dem deutschen Recht, das weder die deutsche Staatsangehörigkeit des Verfolgten noch seine Zustimmung erfordere. Die Vollstreckung könne allerdings nur durchgeführt werden, wenn und soweit der Urteilsstaat damit einverstanden sei. Dies sei vorliegend nicht der Fall, da die bosnisch-herzegowinischen Behörden um die Auslieferung von S.M. und nicht um Übernahme der Vollstreckung durch die deutschen Behörden ersucht hätten.

27

Unter diesen Umständen hat das Oberlandesgericht München beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Gebieten es die Grundsätze aus dem Urteil Raugevicius zur Anwendung der Art. 18 und 21 AEUV, ein auf das Europäische Auslieferungsübereinkommen gestütztes Ersuchen eines Drittstaats um Auslieferung eines Unionsbürgers zur Strafvollstreckung auch dann abzulehnen, wenn der ersuchte Mitgliedstaat nach diesem Übereinkommen völkervertraglich zur Auslieferung des Unionsbürgers verpflichtet ist, weil er den Begriff „Staatsangehörige“ gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. b des Übereinkommens dahin bestimmt hat, dass nur seine eigenen Staatsangehörigen und nicht auch andere Unionsbürger davon erfasst werden?

Zur Vorlagefrage

28

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass ein Mitgliedstaat, wenn von einem Drittstaat ein Auslieferungsersuchen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gegen einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats gestellt wird, der seinen ständigen Wohnsitz im erstgenannten Mitgliedstaat hat, nach dessen Recht nur die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Union verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, die Strafe – vorausgesetzt, der Drittstaat stimmt dem zu – in seinem Hoheitsgebiet zu vollstrecken, diesen Unionsbürger gemäß seinen völkervertraglichen Pflichten ausliefert, wenn er mangels einer solchen Zustimmung die Vollstreckung der Strafe nicht übernehmen kann.

29

Erstens ist darauf hinzuweisen, dass das Urteil Raugevicius wie das Ausgangsverfahren ein Auslieferungsersuchen eines Drittstaats betraf, mit dem die Union kein Auslieferungsabkommen geschlossen hat. Der Gerichtshof hat in Rn. 45 jenes Urteils entschieden, dass zwar mangels einer unionsrechtlichen Regelung der Auslieferung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten an Drittstaaten die Mitgliedstaaten für den Erlass solcher Regelungen zuständig sind, sie jedoch bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht und insbesondere das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV sowie das durch Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistete Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, beachten müssen.

30

Eine Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, hat aber als Unionsbürger das Recht, sich auf Art. 21 Abs. 1 AEUV zu berufen, und fällt in den Anwendungsbereich der Verträge im Sinne von Art. 18 AEUV, der den Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit enthält (Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin [Auslieferung an die Ukraine], C‑398/19, EU:C:2020:1032, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Der Umstand, dass ein solcher Staatsangehöriger eines anderen als des um Auslieferung ersuchten Mitgliedstaats auch die Staatsangehörigkeit des um die Auslieferung ersuchenden Drittstaats besitzt, kann diesen Staatsangehörigen nicht an der Geltendmachung der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen, insbesondere in den Art. 18 und 21 AEUV garantierten Rechte und Freiheiten hindern. Der Gerichtshof hat nämlich wiederholt entschieden, dass die doppelte Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und eines Drittstaats dem Betroffenen diese Rechte und Freiheiten nicht nehmen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile Raugevicius, Rn. 29, und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin [Auslieferung an die Ukraine], C‑398/19, EU:C:2020:1032, Rn. 32).

32

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorlagebeschluss, dass S.M., der u. a. die kroatische Staatsangehörigkeit besitzt, in seiner Eigenschaft als Unionsbürger von seinem in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Recht Gebrauch gemacht hat, sich in einem anderen Mitgliedstaat, hier der Bundesrepublik Deutschland, frei zu bewegen und aufzuhalten, so dass seine Situation in den Anwendungsbereich der Verträge im Sinne von Art. 18 AEUV fällt, obwohl er auch Staatsangehöriger des um seine Auslieferung ersuchenden Drittstaats ist.

33

Zweitens sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Auslieferungsvorschriften eines Mitgliedstaats, die – wie im Ausgangsverfahren – eine Ungleichbehandlung in Abhängigkeit davon schaffen, ob die gesuchte Person ein Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats oder ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, geeignet, das Recht der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zu beeinträchtigen, da sie dazu führen, dass Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet des ersuchten Mitgliedstaats aufhalten, der Schutz vor Auslieferung, den die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats genießen, nicht gewährt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile Raugevicius, Rn. 28, und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin [Auslieferung an die Ukraine], C‑398/19, EU:C:2020:1032, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Folglich führt in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Ungleichbehandlung, die darin besteht, dass ein Unionsbürger, der die Staatsangehörigkeit eines anderen als des ersuchten Mitgliedstaats besitzt, ausgeliefert werden kann, zu einer Beschränkung des Rechts aus Art. 21 AEUV, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Urteile Raugevicius, Rn. 30, und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin [Auslieferung an die Ukraine], C‑398/19, EU:C:2020:1032, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Eine solche Beschränkung lässt sich nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht (Urteile Raugevicius, Rn. 31, und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin [Auslieferung an die Ukraine], C‑398/19, EU:C:2020:1032, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Insoweit hat der Gerichtshof anerkannt, dass das Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Personen, die eine Straftat begangen haben, straflos bleiben, als legitim anzusehen ist und dass eine Maßnahme, durch die eine Grundfreiheit wie die in Art. 21 AEUV vorgesehene eingeschränkt wird, mit diesem Ziel gerechtfertigt werden kann, wenn diese Maßnahme zum Schutz der Belange, die sie gewährleisten soll, erforderlich ist, und auch nur insoweit, als diese Ziele nicht mit weniger einschränkenden Maßnahmen erreicht werden können (Urteile Raugevicius, Rn. 32, und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin [Auslieferung an die Ukraine], C‑398/19, EU:C:2020:1032, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Zwar kann das nach nationalem Recht gewährleistete Verbot der Doppelbestrafung für einen Mitgliedstaat ein Hindernis bei der Strafverfolgung von Personen darstellen, gegen die ein Auslieferungsersuchen zum Zweck der Strafvollstreckung vorliegt. Um jedoch der Gefahr entgegenzuwirken, dass solche Personen einer Strafe entgehen, gibt es im nationalen Recht und/oder im Völkerrecht Mechanismen, die es ermöglichen, dass diese Personen ihre Strafe etwa in dem Mitgliedstaat verbüßen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, wodurch ihre Chancen auf eine soziale Wiedereingliederung nach dem Strafvollzug steigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Raugevicius, Rn. 36).

38

Dies gilt insbesondere für das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen. Sowohl alle Mitgliedstaaten als auch Bosnien und Herzegowina sind Vertragsparteien dieses Übereinkommens. Nach dessen Art. 2 kann eine im Hoheitsgebiet eines der Unterzeichnerstaaten verurteilte Person beantragen, zum Vollzug der gegen sie verhängten Sanktion in das Hoheitsgebiet ihres Herkunftslands überstellt zu werden, wobei aus den Erwägungsgründen des Übereinkommens hervorgeht, dass mit einer solchen Überstellung u. a. die soziale Wiedereingliederung verurteilter Personen gefördert werden soll, indem Ausländern, denen wegen der Begehung einer Straftat ihre Freiheit entzogen worden ist, Gelegenheit gegeben wird, die gegen sie verhängte Sanktion in ihrer Heimat zu verbüßen (vgl. in diesem Sinne Urteil Raugevicius, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Außerdem sehen einige Mitgliedstaaten, wie die Bundesrepublik Deutschland, vor, dass Rechtshilfe für ein Verfahren in einer strafrechtlichen Angelegenheit durch Vollstreckung einer im Ausland verhängten Strafe geleistet werden kann.

40

Wie der Generalanwalt in Nr. 50 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, besteht aber im Fall eines Auslieferungsersuchens zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe die alternative Maßnahme zur Auslieferung, die die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt eines Unionsbürgers, der seinen ständigen Wohnsitz im ersuchten Mitgliedstaat hat, weniger beeinträchtigt – wenn sie im Recht des ersuchten Mitgliedstaats vorgesehen ist –, gerade darin, dass diese Strafe im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats vollstreckt werden kann.

41

Für den Fall, dass diese Möglichkeit besteht, hat der Gerichtshof zudem entschieden, dass sich im Hinblick auf das Ziel, einer Straflosigkeit entgegenzuwirken, die Staatsangehörigen des ersuchten Mitgliedstaats und die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die ihren ständigen Wohnsitz im ersuchten Mitgliedstaat haben und somit ein bestimmtes Maß an Integration in dessen Gesellschaft aufweisen, in einer vergleichbaren Situation befinden (vgl. in diesem Sinne Urteil Raugevicius, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42

Unter diesen Umständen verlangen die Art. 18 und 21 AEUV, dass Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die ihren ständigen Wohnsitz im ersuchten Mitgliedstaat haben und gegen die ein Auslieferungsersuchen eines Drittstaats zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe vorliegt, ihre Strafe unter denselben Bedingungen wie die Staatsangehörigen des ersuchten Mitgliedstaats in diesem Mitgliedstaat verbüßen können.

43

Im vorliegenden Fall geht das vorlegende Gericht von der Prämisse aus, dass S.M., der seit 2017 mit seiner Ehefrau im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland lebt und seit 2020 dort arbeitet, als Unionsbürger anzusehen ist, der seinen ständigen Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat hat.

44

Außerdem ist nach den vom vorlegenden Gericht gegenüber dem Gerichtshof gemachten Angaben die Vollstreckung der in Bosnien und Herzegowina gegenüber S.M. verhängten Strafe im deutschen Hoheitsgebiet möglich. Nach § 48 und § 57 Abs. 1 IRG ist nämlich die Vollstreckung einer in einem Drittstaat verhängten Strafe im deutschen Hoheitsgebiet zulässig, sofern der Drittstaat damit einverstanden ist.

45

Das vorlegende Gericht gibt jedoch zu bedenken, dass im vorliegenden Fall die Vollstreckung dieser Strafe im deutschen Hoheitsgebiet dazu führen würde, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen die Auslieferungspflicht verstoße, die dem ersuchten Mitgliedstaat nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen obliege.

46

In diesem Zusammenhang weist es darauf hin, dass der Begriff „Staatsangehörige“ im Sinne des Europäischen Auslieferungsübereinkommens, was die Bundesrepublik Deutschland betreffe, gemäß ihrer Erklärung nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. b dieses Übereinkommens nur die Personen umfasse, die die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besäßen. Unter diesen Umständen verstoße – im Unterschied zu der Rechtssache, in der das Urteil Raugevicius ergangen sei – eine etwaige Weigerung der Bundesrepublik Deutschland, S.M. an Bosnien und Herzegowina auszuliefern, gegen die Verpflichtungen dieses Mitgliedstaats aus diesem Übereinkommen.

47

In Anbetracht dieser Erwägungen ist drittens klarzustellen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 32 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die aus dem Urteil Raugevicius hervorgegangene Rechtsprechung des Gerichtshofs kein automatisches und absolutes Recht für die Unionsbürger anerkannt hat, nicht nach außerhalb des Unionsgebiets ausgeliefert zu werden.

48

Wie sich nämlich aus den Rn. 35 bis 42 des vorliegenden Urteils ergibt, ist der ersuchte Mitgliedstaat bei einer nationalen Regelung, die wie im Ausgangsverfahren eine Ungleichbehandlung zwischen den Staatsangehörigen des ersuchten Mitgliedstaats und den dort dauerhaft ansässigen Unionsbürgern einführt, indem sie nur die Auslieferung Ersterer verbietet, verpflichtet, aktiv nach einer alternativen Maßnahme zur Auslieferung zu suchen, die die Ausübung der solchen Unionsbürgern aus den Art. 18 und 21 AEUV erwachsenden Rechte und Freiheiten weniger beeinträchtigt, wenn sie von einem Auslieferungsersuchen eines Drittstaats betroffen sind.

49

Besteht die Anwendung einer solchen alternativen Maßnahme zur Auslieferung wie im vorliegenden Fall darin, dass die Unionsbürger, die im ersuchten Mitgliedstaat ihren ständigen Wohnsitz haben, ihre Strafe in diesem Mitgliedstaat unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats verbüßen können, wobei die Anwendung aber davon abhängt, dass der um Auslieferung ersuchende Drittstaat dem zustimmt, so verpflichten die Art. 18 und 21 AEUV den ersuchten Staat demnach dazu, sich aktiv zu bemühen, die Zustimmung dieses Drittstaats zu erlangen. Hierzu ist der ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet, alle Mechanismen der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Unterstützung in Strafsachen zu nutzen, über die er im Rahmen seiner Beziehungen zu dem betreffenden Drittstaat verfügt.

50

Stimmt der um Auslieferung ersuchende Drittstaat der Vollstreckung der Freiheitsstrafe im Hoheitsgebiet des ersuchten Mitgliedstaats zu, so ist dieser Mitgliedstaat in der Lage, den Unionsbürgern, auf die sich das Auslieferungsersuchen bezieht und die in diesem Hoheitsgebiet ihren ständigen Wohnsitz haben, Gelegenheit zu geben, ihre Strafe dort zu verbüßen, und damit die gleiche Behandlung zu gewährleisten, die er seinen eigenen Staatsangehörigen im Bereich der Auslieferung vorbehält.

51

Für einen solchen Fall geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Angaben hervor, dass es die Anwendung dieser alternativen Maßnahme zur Auslieferung dem ersuchten Mitgliedstaat auch ermöglichen könnte, seine Befugnisse im Einklang mit seinen vertraglichen Verpflichtungen gegenüber dem um Auslieferung ersuchenden Drittstaat auszuüben. Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen ist nämlich die Zustimmung dieses Drittstaats dazu, dass die gesamte Strafe, die Gegenstand des Auslieferungsersuchens ist, im Hoheitsgebiet des ersuchten Mitgliedstaats vollstreckt wird, grundsätzlich geeignet, die Vollstreckung des Ersuchens hinfällig zu machen.

52

Sollte es vorliegend der Bundesrepublik Deutschland gelingen, die Zustimmung von Bosnien und Herzegowina dazu einzuholen, dass S.M. die in diesem Drittstaat verhängte Strafe im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verbüßt, würde die Anwendung dieser nach den Art. 18 und 21 AEUV gebotenen alternativen Maßnahme zur Auslieferung daher nicht zwangsläufig dazu führen, dass dieser Mitgliedstaat gegen die ihm nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen gegenüber diesem Drittstaat obliegenden Verpflichtungen verstößt, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

53

Stimmt dagegen der Drittstaat trotz Anwendung der in Rn. 49 des vorliegenden Urteils genannten Mechanismen einer Verbüßung der in Rede stehenden Freiheitsstrafe im Hoheitsgebiet des ersuchten Mitgliedstaats nicht zu, könnte die nach den Art. 18 und 21 AEUV gebotene alternative Maßnahme zur Auslieferung nicht angewandt werden. In diesem Fall kann der Mitgliedstaat die betroffene Person gemäß den ihm nach diesem Übereinkommen obliegenden Verpflichtungen ausliefern, da es die Verweigerung der Auslieferung in diesem Fall nicht ermöglichen würde, der Gefahr der Straflosigkeit dieser Person entgegenzuwirken.

54

In diesem Fall stellt die Auslieferung der betroffenen Person im Hinblick auf dieses Ziel eine zu seiner Erreichung erforderliche und verhältnismäßige Maßnahme dar, so dass die Beschränkung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechts aus Art. 21 AEUV, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, in Anbetracht der in den Rn. 35 und 36 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gerechtfertigt erscheint.

55

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs muss der ersuchte Mitgliedstaat jedoch überprüfen, dass durch die Auslieferung die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und insbesondere in deren Art. 19 verbürgten Rechte nicht beeinträchtigt werden (Urteil Raugevicius, Rn. 49; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C‑897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass

sie einen Mitgliedstaat, an den von einem Drittstaat ein Auslieferungsersuchen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gegen einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats gerichtet wird, der seinen ständigen Wohnsitz im erstgenannten Mitgliedstaat hat, nach dessen Recht nur die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Union verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, die Strafe – vorausgesetzt, der Drittstaat stimmt dem zu – in seinem Hoheitsgebiet zu vollstrecken, verpflichten, sich aktiv um diese Zustimmung des um Auslieferung ersuchenden Drittstaats zu bemühen und dabei alle Mechanismen der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Unterstützung in Strafsachen zu nutzen, über die er im Rahmen seiner Beziehungen zu diesem Drittstaat verfügt;

sie, wird diese Zustimmung nicht erlangt, dem nicht entgegenstehen, dass der erstgenannte Mitgliedstaat unter diesen Umständen den Unionsbürger im Einklang mit seinen völkervertraglichen Pflichten ausliefert, sofern durch diese Auslieferung die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Rechte nicht beeinträchtigt werden.

Kosten

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Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Art. 18 und 21 AEUV sind dahin auszulegen, dass

 

sie einen Mitgliedstaat, an den von einem Drittstaat ein Auslieferungsersuchen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gegen einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats gerichtet wird, der seinen ständigen Wohnsitz im erstgenannten Mitgliedstaat hat, nach dessen Recht nur die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Europäischen Union verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, die Strafe – vorausgesetzt, der Drittstaat stimmt dem zu – in seinem Hoheitsgebiet zu vollstrecken, verpflichten, sich aktiv um diese Zustimmung des um Auslieferung ersuchenden Drittstaats zu bemühen und dabei alle Mechanismen der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Unterstützung in Strafsachen zu nutzen, über die er im Rahmen seiner Beziehungen zu diesem Drittstaat verfügt;

sie, wird diese Zustimmung nicht erlangt, dem nicht entgegenstehen, dass der erstgenannte Mitgliedstaat unter diesen Umständen den Unionsbürger im Einklang mit seinen völkervertraglichen Pflichten ausliefert, sofern durch diese Auslieferung die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Rechte nicht beeinträchtigt werden.

 

Lenaerts

Bay Larsen

Arabadjiev

Jürimäe

Regan

Xuereb

Rossi

Ilešič

Jarukaitis

Kumin

Jääskinen

Wahl

Ziemele

Passer

Spineanu-Matei

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 22. Dezember 2022.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Der Präsident

K. Lenaerts


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.