SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ANTHONY COLLINS

vom 26. Januar 2023 ( 1 )

Rechtssache C‑817/21

R. I.

gegen

Inspecţia Judiciară,

N. L.

(Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Bucureşti [Berufungsgericht Bukarest, Rumänien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Art. 2 EUV – Art. 19 Abs. 1 EUV – Entscheidung 2006/928/EG – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Unabhängigkeit der Justiz – Disziplinaruntersuchung und ‑verfahren – Inspecţia Judiciară (Justizinspektion) – Befugnisse eines Chefinspektors – Behandlung von Disziplinarverfahren gegen einen Chefinspektor – Funktion eines stellvertretenden Chefinspektors“

I. Einleitung

1.

Die Inspecţia Judiciară (Justizinspektion, Rumänien) ist die Einrichtung der Justiz, die für die Durchführung von Disziplinarermittlungen und die Einleitung von Disziplinarverfahren gegen Richter und Staatsanwälte in Rumänien zuständig ist. Nach den für die Justizinspektion geltenden Regelungen ernennt der Chefinspektor den stellvertretenden Chefinspektor nach seinem alleinigen Ermessen; die Amtszeit des stellvertretenden Chefinspektors ist von derjenigen des Chefinspektors abhängig und mit ihr identisch; ferner sind alle Justizinspektoren dem Chefinspektor unterstellt, von dem die Fortentwicklung ihrer beruflichen Laufbahn abhängt.

2.

R. I. (im Folgenden: Klägerin) hat bei der Justizinspektion mehrere Beschwerden gegen an Strafverfahren gegen sie beteiligte Richter und Staatsanwälte eingelegt. Ihre Beschwerden wurden von der Justizinspektion zurückgewiesen. Die Entscheidungen der Justizinspektion wurden vom Chefinspektor bestätigt. Gegen diese Entscheidungen hat die Klägerin sodann vor den rumänischen Gerichten Klage erhoben. Im Rahmen dieses Verfahrens möchte die Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) geklärt wissen, ob eine Einrichtung wie die Justizinspektion die gleichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bieten muss, die nach dem Unionsrecht für Gerichte erforderlich sind ( 2 ). Das vorlegende Gericht fragt insbesondere, ob das Unionsrecht im Licht der oben genannten Regelungen nationalen Rechtsvorschriften oder Regelungen entgegensteht, wonach der stellvertretende Chefinspektor der Justizinspektion für die Leitung der Überprüfung von Beschwerden gegen den Chefinspektor der Justizinspektion und jedweder sich hieraus möglicherweise ergebender Disziplinaruntersuchungen und ‑verfahren zuständig ist.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht – Entscheidung 2006/928/EG

3.

Die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung ( 3 ) beruht auf zwei wahrgenommenen Gefahren. Die erste war diejenige einer ernsthaften Beeinträchtigung des Funktionierens des Binnenmarkts infolge der Nichterfüllung von Verpflichtungen durch Rumänien, die es mit seinem Beitritt zur Europäischen Union übernommen hatte. Die zweite Gefahr bestand in ernsthaften Mängeln bei der Einhaltung des Unionsrechts durch Rumänien im Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Um diese Mängel zu beheben, schrieb der Anhang der Entscheidung 2006/928 Vorgaben für die Reform der Justiz und der Korruptionsbekämpfung vor. Diese Vorgaben dienen dazu, die Wahrung des Wertes der Rechtsstaatlichkeit im Sinne von Art. 2 EUV durch Rumänien zu gewährleisten. Rumänien ist verpflichtet, zur Erreichung dieser Vorgaben geeignete Maßnahmen zu ergreifen, wobei es gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV von der Europäischen Kommission auf der Grundlage der Entscheidung 2006/928 erstellte Berichte, insbesondere die darin enthaltenen Empfehlungen, gebührend zu berücksichtigen hat ( 4 ).

4.

Art. 1 der Entscheidung 2006/928 sieht daher vor, dass Rumänien der Kommission ab 2007 bis zum 31. März jedes Jahres Bericht über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang aufgeführten Vorgaben erstattet. Die Kommission kann jederzeit mit verschiedenen Maßnahmen technische Hilfe leisten oder Informationen zur Erfüllung dieser Vorgaben sammeln und austauschen sowie zu diesem Zweck Fachleute nach Rumänien entsenden. Die rumänischen Behörden müssen der Kommission in diesem Zusammenhang die erforderliche Unterstützung leisten. Im Anhang der Entscheidung 2006/928 sind u. a. die in Art. 1 genannten Vorgaben genannt:

„1.   Gewährleistung transparenterer und leistungsfähigerer Gerichtsverfahren durch Stärkung der Kapazitäten und Rechenschaftspflicht des [Consiliul Superior al Magistraturii, Obersten Rats der Richter und Staatsanwälte]. Berichterstattung und Kontrolle der Auswirkungen neuer Zivil- und Strafprozessordnungen.

3.   Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene.

4.   Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere in den Kommunalverwaltungen.“

B.   Rumänisches Recht

1. Gesetz Nr. 317/2004

5.

Art. 44 der Legea nr. 317/2004 privind Consiliul Superior al Magistraturii (Gesetz Nr. 317/2004 über den Obersten Rat der Richter und Staatsanwälte) vom 1. Juli 2004 ( 5 ) in geänderter und ergänzter Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 317/2004) bestimmt:

„(1)   Der Oberste Rat der Richter und Staatsanwälte erfüllt über seine Abteilungen die Rolle eines Rechtsprechungsorgans im Bereich der disziplinarrechtlichen Haftung von Richtern und Staatsanwälten für Handlungen im Sinne des Gesetzes Nr. 303/2004 in neu veröffentlichter, geänderter und ergänzter Fassung.

(3)   Disziplinarverfahren in Fällen eines Fehlverhaltens von Richtern, Staatsanwälten und Richteramtsanwärtern werden von der Justizinspektion durch Justizinspektoren eingeleitet.

(6)   Für die Einleitung eines Disziplinarverfahrens ist die Durchführung einer Disziplinaruntersuchung durch die Justizinspektion zwingend erforderlich.“

6.

Art. 45 des Gesetzes Nr. 317/2004 bestimmt:

„(1)   Ein Verfahren kann von der Justizinspektion von Amts wegen eingeleitet werden, oder es kann bei ihr von jeder interessierten Person, einschließlich des Obersten Rats der Richter und Staatsanwälte, eine schriftliche und begründete Beschwerde gegen ein disziplinarisches Fehlverhalten von Richtern und Staatsanwälten eingelegt werden.

(4)   Ergeben sich aus den Vorermittlungen keine Anhaltspunkte für ein disziplinarisches Fehlverhalten, wird die Beschwerde nicht weiter verfolgt; das Ergebnis ist dem Beschwerdeführer und der von der Beschwerde betroffenen Person unmittelbar mitzuteilen. Die Entscheidung zur Einstellung des Verfahrens bedarf der Bestätigung durch den Chefinspektor. Die Entscheidung kann vom Chefinspektor lediglich einmal aufgehoben werden; dieser kann durch schriftliche und begründete Entscheidung weitere Ermittlungen anordnen.

…“

7.

Art. 451 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 317/2004 bestimmt:

„Der Beschwerdeführer kann gegen die Entscheidung zur Einstellung des Verfahrens nach Art. 45 Abs. 4 innerhalb von 15 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung beim Chefinspektor Einspruch einlegen. Über den Einspruch wird innerhalb von 20 Tagen nach dem Datum seines Eingangs bei der Justizinspektion entschieden.“

8.

Art. 47 des Gesetzes Nr. 317/2004 bestimmt:

„(1)   Nach Abschluss der Disziplinaruntersuchung kann der Justizinspektor durch schriftliche und begründete Entscheidung anordnen,

a)

dass der Beschwerde stattgegeben wird, indem ein Disziplinarverfahren eingeleitet und die Sache an die zuständige Abteilung des Obersten Rats der Richter und Staatsanwälte verwiesen wird;

b)

dass die Beschwerde zurückgewiesen wird, wenn der [Justizi]nspektor nach einer Disziplinaruntersuchung feststellt, dass die Voraussetzungen für eine Einleitung des Verfahrens nicht erfüllt sind.

(3)   Die Entscheidung des Justizinspektors bedarf der Bestätigung durch den Chefinspektor. Der Chefinspektor kann den Justizinspektor anweisen, weitere Disziplinarermittlungen durchzuführen. Diese weiteren Ermittlungen sind vom Justizinspektor innerhalb von 30 Tagen nach ihrer Anordnung durch den Chefinspektor durchzuführen.

(4)   Die Entscheidung des Justizinspektors kann vom Chefinspektor lediglich einmal durch schriftliche und begründete Entscheidung aufgehoben werden; der Chefinspektor kann durch schriftliche und begründete Entscheidung weitere Disziplinarermittlungen anordnen. Nach Abschluss der Disziplinaruntersuchung kann der Chefinspektor durch schriftliche und begründete Entscheidung eine der Maßnahmen nach Abs. 1 Buchst. a oder b anordnen.

…“

9.

Art. 65 Abs. 2 bis 4 des Gesetzes Nr. 317/2004 bestimmt:

„(2)   Die Justizinspektion wird von einem die Funktion des Chefinspektors wahrnehmenden Richter geleitet, der aufgrund eines vom [Obersten Rat der Richter und Staatsanwälte, Rumänien] durchgeführten Auswahlverfahrens ernannt wird; er wird von einem die Funktion des stellvertretenden Chefinspektors wahrnehmenden Staatsanwalt unterstützt, der vom Chefinspektor ausgewählt wird.

(3)   Die Justizinspektion handelt im Einklang mit dem Grundsatz der operativen Unabhängigkeit gegenüber dem Obersten Rat der Richter und Staatsanwälte, den Gerichten, den ihnen angeschlossenen Staatsanwaltschaften und den sonstigen Behörden und nimmt ihre Prüfungs‑, Ermittlungs- und Aufsichtsbefugnisse in bestimmten Tätigkeitsbereichen nach den gesetzlichen Bestimmungen und mit dem Ziel, ihre Einhaltung zu gewährleisten, wahr.

(4)   Die Regelungen für die Durchführung der Inspektionstätigkeit werden vom Chefinspektor im Wege einer Verordnung genehmigt.“

10.

Art. 66 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 317/2004 in geänderter Fassung bestimmt:

„(3) Die Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion sowie die Organisationsstruktur und Aufgaben ihrer Abteilungen werden durch eine Verordnung festgelegt, die durch Erlass des Chefinspektors genehmigt wird …“

11.

Art. 69 Abs. 1 und 4 des Gesetzes Nr. 317/2004 bestimmt:

„(1)   Der Chefinspektor hat folgende Hauptaufgaben:

a)

Er wählt aus dem Kreis der Justizinspektoren die Geschäftsleitung – den stellvertretenden Chefinspektor, die Leiter der Direktionen – auf der Grundlage eines Verfahrens, das die Beurteilung der für jede Stelle spezifisch geltenden Geschäftsleitungspläne einschließt, in der Weise aus, dass der Zusammenhalt der Geschäftsleitung, die fachliche Kompetenz und eine effiziente Kommunikation gewährleistet sind. Ihre Amtszeit endet mit derjenigen des Chefinspektors.

a1) Er nimmt die Aufgaben der Geschäftsleitung und Organisation der Tätigkeit der Justizinspektion wahr.

a2) Er ergreift Maßnahmen zur Koordinierung der Tätigkeit der sonstigen Mitarbeiter der Justizinspektion, die keine Justizinspektoren sind.

g)

Er ernennt nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen die Justizinspektoren und Mitarbeiter sonstiger Kategorien der Justizinspektion und ordnet die Änderung, Suspendierung oder Beendigung ihrer Beschäftigungs- oder Dienstverhältnisse an.

h)

Er legt die individuellen Pflichten und Aufgaben der ihm unterstellten Mitarbeiter durch Genehmigung ihrer Tätigkeitsbeschreibungen fest.

i)

Er nimmt nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen die Bewertung der ihm unterstellten Mitarbeiter vor.

(4)   Der stellvertretende Chefinspektor vertritt den Chefinspektor von Amts wegen; er unterstützt ihn bei der Überprüfung des Handelns und der Entscheidungen der Justizinspektoren und bei der Abgabe von Stellungnahmen hierzu und nimmt alle sonstigen, vom Chefinspektor festgelegten Aufgaben wahr.“

12.

Art. 70 des Gesetzes Nr. 317/2004 bestimmt:

„(1)   Die Inspektoren der Justizinspektion werden vom Chefinspektor aufgrund eines von der Justizinspektion durchgeführten Auswahlverfahrens ernannt. …

(2)   Dieses Auswahlverfahren besteht aus einer schriftlichen Prüfung und einem Gespräch. … Die Verordnung über die Organisation und die Durchführung des Auswahlverfahrens wird durch Erlass des Chefinspektors genehmigt und im Monitorul Oficial al României, Teil I, veröffentlicht.“

13.

Art. 71 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 317/2004 bestimmt:

„(2) Die Bestimmungen über Sanktionen, disziplinarisches Fehlverhalten und Disziplinarverfahren finden auf die Justizinspektoren entsprechende Anwendung.“

14.

Art. 72 des Gesetzes Nr. 317/2004 bestimmt:

„(1)   Die Justizinspektoren üben ihre Tätigkeit unabhängig und unparteiisch aus.

…“

15.

Art. 77 des Gesetzes Nr. 317/2004 bestimmt:

„(1)   Die Diensttätigkeit der Justizinspektoren wird jedes Jahr von einer Kommission, die aus dem Chefinspektor und zwei weiteren, von der Generalversammlung der Justizinspektoren gewählten Mitgliedern besteht, mit folgender Bewertung beurteilt: ‚sehr gut‘, ‚gut‘, ‚befriedigend‘ oder ‚unbefriedigend‘.

(5)   Ein Justizinspektor, der mit ‚unbefriedigend‘ oder zweimal in Folge mit ‚befriedigend‘ bewertet wird, wird aus dem Amt des Justizinspektors entlassen.

(6)   Die Kriterien für die Beurteilung der Diensttätigkeit der Justizinspektoren und das Beurteilungsverfahren werden durch die Verordnung über die Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion festgelegt.“

2. Vom Chefinspektor der Justizinspektion angenommene Verordnungen

16.

Der Chefinspektor der Justizinspektion hat 2018 in Ausübung seiner Befugnis nach Art. 66 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 317/2004 drei Verordnungen ( 6 ) angenommen.

17.

Nach dem Ordinul nr. 131/2018 al inspectorului-șef al Inspecției Judiciare privind aprobarea Regulamentului de organizare și desfășurare a concursului pentru numirea în funcție a inspectorilor judiciari (Erlass Nr. 131/2018 des Chefinspektors der Justizinspektion zur Genehmigung der Verordnung über die Organisation und Durchführung des Auswahlverfahrens für die Ernennung von Justizinspektoren) ( 7 ) ernennt der Chefinspektor die Justizinspektoren aufgrund eines Auswahlverfahrens in Form einer schriftlichen Prüfung und eines Gesprächs. Der Chefinspektor führt den Vorsitz im Prüfungsausschuss, dem er selbst sowie die Direktoren der Justizinspektionsdirektionen und ein vom Chefinspektor ernannter Psychologe mit beratender Funktion angehören.

18.

Nach dem Ordinul nr. 134/2018 al inspectorului-șef al Inspecției Judiciare privind aprobarea Regulamentului de organizare și funcționare a Inspecției Judiciare (Erlass Nr. 134/2018 des Chefinspektors der Justizinspektion zur Genehmigung der Verordnung über die Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion) ( 8 ) ernennt der Chefinspektor aus den Reihen der Justizinspektoren die Geschäftsleitung der Justizinspektion. Diese besteht aus dem stellvertretenden Chefinspektor und den Direktoren der Justizinspektionsdirektionen. Das Ernennungsverfahren für diese Stellen besteht darin, dass der Chefinspektor mit den Kandidaten anhand eines zu bearbeitenden Geschäftsleitungsprojekts Gespräche führt. Die Leistung der Mitarbeiter der Justizinspektion wird von einem Ausschuss, der sich aus dem Chefinspektor und zwei von der Generalversammlung der Justizinspektoren gewählten Justizinspektoren zusammensetzt, beurteilt. Zu den Kriterien für diese Beurteilung gehört eine Bewertung des Verhaltens der Kandidaten und ihrer Kommunikation mit dem Chefinspektor.

19.

Der Ordinul nr. 136/2018 al inspectorului-șef al Inspecției Judiciare de aprobare a Regulamentului privind normele de efectuare a lucrărilor de inspecție (Erlass Nr. 136/2018 des Chefinspektors der Justizinspektion zur Genehmigung der Verordnung über die Vorschriften für die Durchführung der Inspektionsmaßnahmen) vom 11. Dezember 2018 ( 9 ) legt die Methodik für die Analyse und Überprüfung von Disziplinaruntersuchungen gegen Richter und Staatsanwälte sowie für die Aufsicht über diese Untersuchungen fest. Sie regelt u. a. das Verfahren zur Behandlung von Beschwerden, die Auswahl von Inspektoren, die Festlegung, Berechnung und Verlängerung von Fristen sowie die Zustellung bestimmter Verfahrensdokumente.

III. Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof

20.

Die Klägerin ist Partei mehrerer Strafverfahren vor den rumänischen Gerichten. Sie hat bei der Justizinspektion mehrere Disziplinarbeschwerden gegen einige an diesen Verfahren beteiligte Richter und Staatsanwälte eingelegt. Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht in einem Verfahren vor der Judecătoria Bolintin-Vale (Gericht erster Instanz Bolintin-Vale, Rumänien) und dem Tribunalul Giurgiu (Regionalgericht Giurgiu, Rumänien). Die Justizinspektion hat mehrere Entscheidungen über die Beschwerden der Klägerin erlassen ( 10 ), von denen mehrere vom Chefinspektor bestätigt worden sind.

21.

Gegen eine Entscheidung der Justizinspektion vom 2. Juli 2018, die vom Chefinspektor bestätigt wurde, erhob die Klägerin Klage ( 11 ). Die Entscheidung vom 2. Juli 2018 wurde von der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest) am 27. September 2019 mit der Begründung aufgehoben, dass die Justizinspektion das Vorbringen der Klägerin nicht ordnungsgemäß überprüft habe. Das Gericht verwies die Sache zur weiteren Prüfung an die Justizinspektion zurück ( 12 ). Am 29. September 2020 erklärte die Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) die Berufung der Justizinspektion gegen dieses Urteil für unzulässig.

22.

Die Justizinspektion erließ am 11. März 2021 eine neue Entscheidung, mit der sie die Disziplinarbeschwerde der Klägerin erneut zurückwies ( 13 ). Das von der Klägerin gegen diese Entscheidung eingelegte Rechtsmittel wurde vom Chefinspektor am 31. Mai 2021 zurückgewiesen. Gegen die Entscheidung des Chefinspektors hat die Klägerin Klage auf Nichtigerklärung erhoben, die bei der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest) anhängig ist ( 14 ).

23.

In ihren Beschwerden an die Justizinspektion und in der vorliegenden Rechtssache hat die Klägerin vorgetragen, dass die Beschwerde zu Aktenzeichen Nr. 6172/2/2018 bewusst mit Verzögerung bearbeitet worden sei. Infolgedessen sei die gesetzliche Frist abgelaufen, innerhalb derer ein Disziplinarverfahren gegen die Person hätte eingeleitet werden können, gegen die sich die von ihr eingelegte Beschwerde gerichtet habe. Für diese Verzögerung sei der Chefinspektor verantwortlich.

24.

Die Klägerin legte am 29. November 2019 beim Ministerului Justiţiei (Justizminister, Rumänien) Beschwerde wegen Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte ein. Sie verwies auf eine „Gruppe“ von Personen „mit wichtigen Funktionen“, zu denen der Chefinspektor gehöre, „die zur Durchführung des Strafverfahrens gegen sie oder zur Verletzung ihrer Verfahrensrechte beigetragen“ hätten. Sie trug u. a. vor, dass der Chefinspektor „ein Richter … ist, der in der Stadt Giurgiu lebt und seine Amtspflichten während seiner gesamten Laufbahn in einer Weise ausgeübt hat, die erhebliche Auswirkungen auf die Rechtspflege in der Region Giurgiu und auf nationaler Ebene hatte“. Nach Aufzählung dieser Amtspflichten machte die Klägerin weiter geltend, dass in ihrem Fall „die Entscheidungen [der Justizinspektion] zur Verschleierung von durch die Staatsanwaltschaft in Bolintin-Vale, Dienststelle Giurgiu, begangenem missbräuchlichen Verhalten und Rechtsverstößen geführt hat“. Die Klägerin trug außerdem vor, dass „der [Chefinspektor der Justizinspektion] für die schwere Beeinträchtigung des Vertrauens in die Justiz zur Verantwortung gezogen werden muss, da er als Leiter und Aufseher … dieser Einrichtung, die eine Schlüsselrolle im Justizsystem spielt, verpflichtet war, sicherzustellen, dass die von [dieser Einrichtung] durchgeführten Prüfungen im vollen Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen standen“.

25.

Der Justizminister war der Ansicht, dass er für Disziplinarangelegenheiten dieser Art nicht zuständig sei, und leitete die Beschwerde der Klägerin an die Justizinspektion weiter ( 15 ).

26.

Die Klägerin reichte am 16. Februar 2021 eine gesonderte Beschwerde bei der Justizinspektion ein, die sich ausschließlich auf angebliches Handeln des Chefinspektors bezog. Die Klägerin rügte u. a., dass zu ihren Beschwerden keine wirklichen Ermittlungen durchgeführt worden seien, dass Ermittlungen zu ihrer Beschwerde vom 29. November 2019 gegen die Justizinspektion und ihren Chefinspektor verzögert worden seien, dass der Chefinspektor zu dieser Beschwerde von Ermittlungen abgesehen habe, obwohl sie sich auf ihn bezogen habe, und dass die Justizinspektion das Urteil der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest) vom27. September 2019 missachtet habe. Diese Beschwerde wies die Justizinspektion am 17. März 2021 zurück ( 16 ). Ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung wurde vom stellvertretenden Chefinspektor am 11. Mai 2021 zurückgewiesen ( 17 ).

27.

Die Klägerin hat am 31. Mai 2021 beim vorlegenden Gericht Klage u. a. auf Nichtigerklärung der Entscheidungen vom 17. März 2021 und vom 11. Mai 2021 sowie auf Ersatz des ihr hierdurch angeblich entstandenen Schadens erhoben. Sie warf der stellvertretenden Chefinspektorin, P. M., vor, das Urteil der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest) vom 27. September 2019 missachtet zu haben, da sie die in diesem Urteil angeordnete Untersuchung nicht durchgeführt habe. Die Klägerin trägt ferner vor, dass die Justizinspektion und ihr Chefinspektor, N. L., es systematisch unterlassen hätten, auf ihre Beschwerden gegen bestimmte Richter angemessen einzugehen. Die Klägerin rügt mindestens drei systemische Unregelmäßigkeiten in der Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion, die dafür gesorgt hätten, dass ihre Beschwerden nicht unparteiisch behandelt worden seien. Erstens würden die Justizinspektoren, die für die Durchführung von Disziplinaruntersuchungen des Handelns des Chefinspektors zuständig seien, vom Chefinspektor ernannt und bewertet und könnten schließlich auch von ihm entlassen werden. Zweitens ernenne der Chefinspektor den stellvertretenden Chefinspektor, der die Entscheidung zur Zurückweisung der Beschwerde der Klägerin bestätigt habe und dessen Position ebenfalls an die Amtszeit des Chefinspektors gebunden und hiervon abhängig sei. Drittens werde die interne Verordnung über die Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion vom Chefinspektor angenommen.

28.

Angesichts der aufgeworfenen Bedenken hinsichtlich der Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion und der Rechenschaftspflicht ihres Chefinspektors im Rahmen von Disziplinaruntersuchungen und ‑verfahren hat die Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, die Entscheidung 2006/928 und die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es dem Chefinspektor der Justizinspektion gestattet, Verwaltungsmaßnahmen mit (untergesetzlichem) normativem Charakter und/oder mit individuellem Charakter zu erlassen, mit denen er über die Organisation des institutionellen Rahmens der Justizinspektion in Bezug auf die Auswahl der Justizinspektoren und die Beurteilung ihrer Tätigkeit, die Durchführung der Inspektionsmaßnahmen und die Ernennung des stellvertretenden Chefinspektors eigenständig in den Fällen entscheidet, in denen nach dem Organgesetz nur diese Personen disziplinarische Ermittlungsmaßnahmen gegen den Chefinspektor durchführen, bestätigen oder ablehnen können?

29.

Das vorlegende Gericht hat beantragt, für sein Vorabentscheidungsersuchen das beschleunigte Verfahren u. a. nach Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union durchzuführen. Diesen Antrag hat der Präsident des Gerichtshofs mit Beschluss vom 1. Februar 2022 zurückgewiesen.

30.

Die Klägerin, die Justizinspektion ( 18 ) und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV. Prüfung der Vorlagefrage

A.   Zulässigkeit

31.

Die Justizinspektion trägt vor, dass das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei. Erstens begehre das vorlegende Gericht eine Auslegung des Gesetzes Nr. 317/2004 und nicht eine Entscheidung über die Auslegung der Verträge oder über die Gültigkeit und/oder Auslegung einer Handlung eines Unionsorgans nach Art. 267 AEUV. Zweitens sei, in Ermangelung einer Feststellung, dass eine Bestimmung des nationalen Rechts gegen das Unionsrecht verstoße, die Behauptung, dass die Befugnisse des Chefinspektors die Unabhängigkeit der Justizinspektoren verletzten, unbegründet.

32.

Ich schlage dem Gerichtshof vor, die erste Einrede gegen die Zulässigkeit der vom vorlegenden Gericht gestellten Frage zurückzuweisen. Aus dem Wortlaut der Frage des vorlegenden Gerichts ergibt sich eindeutig, dass es um eine Entscheidung über die Auslegung des Unionsrechts und nicht des rumänischen Rechts ersucht. Die zweite Einrede der Justizinspektion gegen die Zulässigkeit betrifft die Begründetheit der Vorabentscheidungsfrage. Eine solche Einrede kann schon ihrem Wesen nach nicht die Feststellung rechtfertigen, dass das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei ( 19 ).

B.   Beantwortung der Vorlagefrage

1. Vorbemerkungen

33.

Im Mittelpunkt des Vorabentscheidungsersuchens stehen die Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion, die weitreichenden Befugnisse ihres Chefinspektors ( 20 ) und dessen angeblich mangelnde Rechenschaftspflicht bei Disziplinaruntersuchungen und ‑verfahren gegen ihn ( 21 ). Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion durch die vom Chefinspektor ( 22 ) angenommenen internen Verordnungen geregelt würden. Entscheidungen der Justizinspektoren über die Zulassung oder Zurückweisung von Disziplinarbeschwerden und die Einleitung von Disziplinaruntersuchungen und ‑verfahren bedürften ebenfalls der Bestätigung durch den Chefinspektor ( 23 ). Das vorlegende Gericht stellt die Frage, ob Beschwerden gegen den Chefinspektor objektiv und unparteiisch behandelt werden könnten, wenn sie von Justizinspektoren untersucht würden, die von dieser Person ernannt und bewertet würden und von ihr entlassen werden könnten ( 24 ). Ferner sei für die Überprüfung von Entscheidungen über Beschwerden gegen den Chefinspektor der stellvertretende Chefinspektor zuständig, der unmittelbar vom Chefinspektor ernannt werde und ihn unterstütze und dessen Amtszeit mit derjenigen des Chefinspektors ende.

34.

Die Justizinspektion ist eine unabhängige Einrichtung der Justiz mit eigener Rechtspersönlichkeit innerhalb des Obersten Rats der Richter und Staatsanwälte ( 25 ). Während der Oberste Rat der Richter und Staatsanwälte als „Gericht“ für Disziplinarsachen tätig wird ( 26 ), ist die Justizinspektion für die Durchführung von Disziplinaruntersuchungen und die Einleitung von Disziplinarverfahren gegen Richter und Staatsanwälte zuständig. Die Justizinspektion übt somit weitreichende Ermittlungsbefugnisse im Rahmen von Disziplinarverfahren gegen Richter und Staatsanwälte aus ( 27 ).

35.

In nach Art. 2 der Entscheidung 2006/928 erstellten Berichten der Kommission wird die institutionelle Struktur und Tätigkeit der Justizinspektion erwähnt ( 28 ). Im Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat von 2021 über Rumäniens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens ( 29 ) wird festgestellt, dass „[i]n den letzten Jahren … die Justizorgane, einschließlich des [Obersten Rats der Richter und Staatsanwälte], ihre Besorgnis über die mangelnde Rechenschaftspflicht der Justizinspektion zum Ausdruck gebracht [haben] und dabei auf den hohen Anteil der von der [Justizi]nspektion eingebrachten Fälle, die schließlich vor Gericht abgelehnt werden, die Konzentration aller Entscheidungsprozesse beim Chefinspekteur und die eingeschränkten Aufsichtsbefugnisse des [Obersten Rats der Richter und Staatsanwälte] hingewiesen [haben]“. Insoweit „[kann d]er Chefinspekteur … nur einer externen Prüfung unterzogen werden, die von der Inspektion selbst angeordnet wird, und dann wird der Prüfungsbericht nur von ausgewählten wenigen Mitgliedern des Rates geprüft“.

36.

Trotz der Bedenken der Kommission gibt es nach den dem Gerichtshof vorliegenden Akten keinen Hinweis darauf, dass dieses Organ wegen der Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Rumänien eingeleitet hat. Auch gibt es keinen Hinweis darauf, dass Rumänien Maßnahmen ergriffen hat, um den von der Kommission in den vorgenannten Berichten geäußerten Bedenken Rechnung zu tragen.

37.

Das vorlegende Gericht erwähnt am Rande die schwerwiegenden Vorwürfe, die die Klägerin gegen die Justizinspektion, ihren Chefinspektor und bestimmte Richter und Staatsanwälte erhoben hat und die, falls sie sich bestätigen sollten, Zweifel an der Einhaltung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Entscheidung 2006/928 aufwerfen würden ( 30 ). Es äußert stattdessen jedoch Bedenken systemischer Art im Hinblick auf die institutionelle Struktur der Justizinspektion und ihre mangelnde Rechenschaftspflicht. Seine Bedenken richten sich insbesondere darauf, dass der Chefinspektor die uneingeschränkte Befugnis habe, sämtliche Entscheidungen über die Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion, zur Auswahl, Bewertung und Entlassung von Justizinspektoren, einschließlich des stellvertretenden Chefinspektors, treffen und sämtliche, von der Justizinspektion getroffenen Einzelentscheidungen genehmigen bzw. durch seinen Widerspruch verhindern zu können.

2. Würdigung

38.

Zwar fällt die Organisation der Justiz, einschließlich der Vorschriften für Disziplinarverfahren gegen Richter, in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, die Ausübung dieser Zuständigkeit muss jedoch mit dem Unionsrecht im Einklang stehen. Das Erfordernis einer unabhängigen Justiz im Sinne des Unionsrechts verlangt, dass die für Richter geltende Disziplinarregelung die erforderlichen Garantien aufweist, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass eine solche Regelung als System zur politischen Kontrolle ihrer Tätigkeiten eingesetzt wird. Regeln, die festlegen, welche Verhaltensweise ein Disziplinarvergehen darstellt und welche Sanktionen hierauf anwendbar sind, die die Einschaltung einer unabhängigen Instanz gemäß einem Verfahren vorsehen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstellt, und die die Möglichkeit festschreiben, Entscheidungen der Disziplinarorgane anzufechten, sind eine wesentliche Garantie für die Unabhängigkeit der Justiz ( 31 ).

39.

Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass es angesichts dessen, dass die Aussicht auf die Einleitung einer Disziplinaruntersuchung geeignet ist, Druck auf Personen auszuüben, deren Aufgabe es ist, über Streitfälle zu entscheiden, wesentlich ist, dass eine für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen zuständige Einrichtung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben objektiv und unparteiisch handelt und zu diesem Zweck frei von jeder unmittelbaren oder mittelbaren äußeren Beeinflussung ist ( 32 ). Eine Disziplinarordnung darf nicht entgegen ihrem legitimen Zweck eingesetzt werden ( 33 ).

40.

Zur Gewährleistung der Unabhängigkeit der Justiz betont der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung die Garantien, die Richtern gewährt werden, gegen die Disziplinarermittlungen und ‑verfahren geführt werden. Diese Garantien der Objektivität und Unparteilichkeit gelten unabhängig davon, ob es darum geht, dass gegen einen Richter ein Disziplinarverfahren geführt wird oder, wie in der dem vorlegenden Gericht vorliegenden Rechtssache, dass Beschwerden gegen Richter oder Staatsanwälte zurückgewiesen und keine Disziplinarermittlungen und ‑verfahren eingeleitet werden. Insoweit ist hervorzuheben, dass diese Garantien gewährleisten, dass die Öffentlichkeit die in einer demokratischen Gesellschaft unerlässliche Wahrnehmung einer unabhängigen und unparteiischen Justiz behält. Die Beeinträchtigung des Vertrauens der Öffentlichkeit dadurch, dass Disziplinaruntersuchungen oder ‑verfahren unsachgemäß oder voreingenommen durchgeführt werden, wie von der Klägerin mit ihren Vorwürfen geltend gemacht, kann dazu führen, dass ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV de facto verweigert wird ( 34 ).

41.

Im Urteil Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a. stellte der Gerichtshof fest, dass die rumänische Regelung über die vorläufige Ernennung auf Leitungsstellen der Justizinspektion in den Anwendungsbereich der Entscheidung 2006/928 fällt und den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen, insbesondere der Rechtsstaatlichkeit, genügen muss ( 35 ). Angesichts des Umfangs der Befugnisse der Justizinspektion zur Durchführung von Disziplinaruntersuchungen und zur Einleitung von Disziplinarverfahren gegen Richter und Staatsanwälte gelten diese Anforderungen ebenso für die vorläufige Ernennung ihres Chefinspektors sowie für die Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion. Da das Gesetz ferner dem Chefinspektor weitreichende Befugnisse und Vorrechte einräumt ( 36 ), ist er ebenfalls zur Erfüllung dieser Anforderungen verpflichtet.

42.

Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass gegen die Entscheidung der Justizinspektion, eine Beschwerde gegen einen Richter oder Staatsanwalt zurückzuweisen, ein Rechtsmittel bei der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest) und sodann auch noch bei der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof) eingelegt werden kann ( 37 ). Dass ein solches Verfahren zur Verfügung steht, ist unabdingbar ( 38 ), um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Disziplinarregelung zu gewährleisten. Ein gerichtliches Verfahren, mit dem Beschwerdeführer die Entscheidungen eines Disziplinarorgans anfechten können, ist jedoch möglicherweise nicht ausreichend, um den im Hinblick auf die Arbeitsweise dieser Disziplinarordnung aufgeworfenen systemischen Bedenken Rechnung zu tragen. Die Klägerin hat vor dem vorlegenden Gericht geltend gemacht, dass die Disziplinarordnung vor dem Hintergrund des Ablaufs der Fristen, innerhalb deren ein Disziplinarverfahren wirksam hätte eingeleitet werden können, infolge der verzögerten und mangelhaften Behandlung ihrer Beschwerden nicht zu ihren Gunsten habe Anwendung finden können und sie von den sich hieraus ergebenden Rechtsansprüchen oder Rechtsbehelfen keinen Gebrauch habe machen können. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es sich in diesem Stadium des bei ihm anhängigen Verfahrens zu dieser Frage nicht äußern müsse. Es lege lediglich den Zusammenhang zwischen den von der Klägerin verfolgten Ansprüchen und der Auslegung des Unionsrechts dar, um die es den Gerichtshof ersuche ( 39 ).

43.

Die Klägerin und die Kommission sind der Ansicht, dass die vorläufig erfolgte Verlängerung der Ernennung des Chefinspektors durch die rumänische Regierung im Jahr 2018 ( 40 ) unter Außerachtlassung des ordentlichen Ernennungsverfahrens geeignet gewesen sei, Bedenken hinsichtlich einer Verwendung der Befugnisse und Aufgaben der Justizinspektion zur Ausübung von Druck auf die Tätigkeit von Richtern und Staatsanwälten oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit hervorzurufen ( 41 ). Diese Verlängerung sollte daher im vorliegenden Verfahren berücksichtigt werden.

44.

Der Chefinspektor der Justizinspektion, N. L., wurde vom Plenum des Obersten Rats der Richter und Staatsanwälte mit Wirkung vom 1. September 2015 ernannt. Ungeachtet des Ablaufs seiner dreijährigen Amtszeit am 31. August 2018 verlängerte die rumänische Regierung diese Ernennung vorläufig mit Wirkung vom 1. September 2018 bis zum 14. Mai 2019. Zum Zeitpunkt der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens, am 10. Dezember 2021, war der Chefinspektor nach seiner Wiederernennung durch den Obersten Rat der Richter und Staatsanwälte für eine zweite Amtszeit weiter im Amt ( 42 ). Vor allem aber hat die Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova, Rumänien) ( 43 ) am 7. Dezember 2021 mit rechtskräftigem Urteil entschieden, dass die vorläufige Verlängerung der Ernennung des Chefinspektors nicht geeignet gewesen sei, Zweifel hinsichtlich einer Ausübung von politischem Druck auf Richter und Staatsanwälte hervorzurufen ( 44 ). Inwieweit die Art und Weise, in der die Ernennung des Chefinspektors vom 1. September 2018 bis zum 14. Mai 2019 vorläufig verlängert wurde, für das vorliegende Verfahren relevant ist, ist daher nicht ohne Weiteres ersichtlich.

45.

Die Klägerin bringt vor, dass die Verordnungen von 2018 nach dem Unionsrecht ungültig seien, da sie von Chefinspektor N. L. zu einem Zeitpunkt angenommen worden seien, als seine vorläufig erfolgte Ernennung rechtswidrig verlängert worden sei. Die Justizinspektion trägt vor, dass das Urteil des Gerichtshofs Asociația „Forumul Judecătorilor din România“ u. a. ( 45 ) zur Gültigkeit dieser Verordnungen keine Stellung genommen habe. Ferner seien die Verordnungen von 2018 zur Gewährleistung der Rechtssicherheit als gültig zu betrachten.

46.

In Anbetracht des Grundtenors des in Nr. 44 der vorliegenden Schlussanträge erwähnten Urteils Nr. 3014/2021 der Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova) kann der Ansicht, dass die Verordnungen von 2018 ungültig seien, da sie von Chefinspektor N. L. während des Zeitraums seiner vorläufigen Ernennung erlassen worden seien, nicht gefolgt werden.

47.

Hervorzuheben ist weiter, dass Art. 66 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 317/2004 eindeutig vorsieht, dass der Chefinspektor der Justizinspektion eine Verordnung über die Organisation und Arbeitsweise dieser Einrichtung annimmt. Ferner hat der Chefinspektor der Justizinspektion nach den Art. 45 und 451 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzes Nr. 317/2004 auch weitreichende Befugnisse, Einzelentscheidungen dieser Einrichtung über Disziplinaruntersuchungen und ‑verfahren zu genehmigen bzw. durch seinen Widerspruch zu verhindern ( 46 ).

48.

Dass der Chefinspektor eine entscheidende Rolle für die Geschäftsleitung und Organisation der Justizinspektion spielt, interne Verordnungen annehmen und sämtliche Einzelentscheidungen der Justizinspektion genehmigen oder durch seinen Widerspruch verhindern kann, ist in Ermangelung sonstiger Faktoren nicht notwendigerweise geeignet, Zweifel dahin hervorzurufen, dass die Befugnisse und Aufgaben der Justizinspektion in der Tat als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Tätigkeit von Richtern und Staatsanwälten oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit oder, wenn auch nur mittelbar, zur Beeinträchtigung des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Justiz verwendet werden ( 47 ).

49.

Angesichts der weitreichenden Befugnisse des Chefinspektors, seiner entscheidenden Rolle innerhalb der Justizinspektion und des Fehlens eines internen Mechanismus ( 48 ), der einem unsachgemäßen Gebrauch dieser Befugnisse entgegenwirken könnte, muss die Justizinspektion ( 49 ) Disziplinarbeschwerden gegen ihn mit äußerster Sachlichkeit und Unparteilichkeit behandeln, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in diese Einrichtung und in die Justiz in ihrer Gesamtheit zu gewährleisten.

50.

Wie von der Justizinspektion vorgetragen, könnte es unnötig sein, eine gesonderte Stelle einzurichten, die mit Disziplinarbeschwerden gegen den Chefinspektor der Justizinspektion befasst ist ( 50 ). Dies gilt unter dem Vorbehalt, dass es zur unparteiischen Behandlung aller derartigen Beschwerden wirksame und transparente Verfahren gibt ( 51 ). Auf Bedenken stoßen könnte insoweit der Umstand, dass der stellvertretende Chefinspektor der Justizinspektion vom Chefinspektor der Justizinspektion nach seinem alleinigen Ermessen ernannt wird ( 52 ), da der stellvertretende Chefinspektor die Aufgabe hat, darüber zu entscheiden, ob auf Beschwerden hin eine Untersuchung und ein Verfahren gegen den Chefinspektor durchgeführt bzw. eingeleitet wird.

51.

Vor dem Erlass der Legea nr. 234/2018 (Gesetz Nr. 234/2018) vom 4. Oktober 2018 ( 53 ) (im Folgenden: Gesetz Nr. 234/2018) wurden sowohl der Chefinspektor als auch der stellvertretende Chefinspektor vom Obersten Rat der Richter und Staatsanwälte nach einem ähnlichen Verfahren ernannt, und die Amtszeit des stellvertretenden Chefinspektors war von derjenigen des Chefinspektors unabhängig. Vorbehaltlich entsprechender Feststellungen durch das vorlegende Gericht wird seit Erlass des Gesetzes Nr. 234/2018 der stellvertretende Chefinspektor der Justizinspektion offenbar nach dem alleinigen Ermessen des Chefinspektors ernannt und ist seine Amtszeit anscheinend von derjenigen des Chefinspektors abhängig und mit dieser identisch ( 54 ). Die gesetzlichen Bestimmungen und Verordnungen über die Justizinspektion sehen keinen internen Mechanismus vor, um Vorwürfe in Bezug auf einen unsachgemäßen Gebrauch der weitreichenden Befugnisse des Chefinspektors in anderer Weise als im Wege eines Disziplinarverfahrens zu überprüfen. Bei Berücksichtigung aller dieser Umstände kann meines Erachtens das Gesetz Nr. 234/2018 die öffentliche Wahrnehmung erheblich beeinträchtigen, dass der stellvertretende Chefinspektor Disziplinaruntersuchungen und ‑verfahren in Bezug auf Beschwerden gegen den Chefinspektor objektiv und unparteiisch leiten kann. Der Erlass des Gesetzes Nr. 234/2018 dürfte somit einen Rückschritt beim Schutz der Rechtsstaatlichkeit in Rumänien darstellen.

52.

Durch das Gesetz Nr. 234/2018 werden die Laufbahnen des Chefinspektors und des stellvertretenden Chefinspektors der Justizinspektion miteinander verknüpft. Auch wenn der stellvertretende Chefinspektor zu unabhängigem und unparteiischem Handeln verpflichtet ist, kann der Eindruck entstehen, dass er ein persönliches Interesse am Ausgang von Disziplinaruntersuchungen und/oder ‑verfahren gegen den Chefinspektor hat. Im Übrigen ist offenkundig, dass alle Justizinspektoren innerhalb der Justizinspektion dem Chefinspektor unterstellt sind und dass die Fortentwicklung ihrer beruflichen Laufbahn davon abhängt, wer dieses Amt innehat ( 55 ). Dies kann ebenso die öffentliche Wahrnehmung beeinträchtigen, dass die Justizinspektoren Beschwerden gegen den Chefinspektor sachgemäß und unparteiisch untersuchen.

V. Ergebnis

53.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die von der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Art. 2 EUV, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung

sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften oder Regelungen entgegenstehen, wonach

die Leitung von Disziplinaruntersuchungen und ‑verfahren gegen den Chefinspektor der Inspecţia Judiciară (Justizinspektion, Rumänien) durch ihren stellvertretenden Chefinspektor und die Untersuchung solcher Beschwerden durch Justizinspektoren dieser Einrichtung unter Umständen erfolgt, unter denen dieser stellvertretende Chefinspektor nach dem alleinigen Ermessen des Chefinspektors ernannt wird, die Amtszeit des stellvertretenden Chefinspektors von derjenigen des Chefinspektors abhängig und mit dieser identisch ist und alle Justizinspektoren dem Chefinspektor, von dem die Fortentwicklung ihrer beruflichen Laufbahn abhängig ist, unterstellt sind.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Die nach dem Unionsrecht für ein Gericht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 53).

( 3 ) ABl. 2006, L 354, S. 56.

( 4 ) Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 158 und 178). Vgl. auch Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 155 bis 175). Der Gerichtshof stellte in Rn. 223 des letztgenannten Urteils fest, dass sich u. a. aus den betreffenden Vorgaben ergibt, dass der Existenz eines unparteiischen, unabhängigen und effizienten Justizsystems eine besondere Bedeutung für die Bekämpfung der Korruption, namentlich der Korruption auf höchster Ebene, zukommt. Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Vorgaben unmittelbare Wirkung haben, Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 249).

( 5 ) Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 827 vom 13. September 2005.

( 6 ) Im Folgenden zusammen auch: Verordnungen von 2018.

( 7 ) Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 1038 vom 6. Dezember 2018.

( 8 ) Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 1049 vom 11. Dezember 2018.

( 9 ) Nicht veröffentlicht. Vgl. auch Art. 65 Abs. 4 des Gesetzes Nr. 317/2004. Die Erlasse Nr. 131/2018 und Nr. 134/2018 wurden 2021 aufgehoben und ersetzt. Dem vorlegenden Gericht zufolge sind auf die vorliegende Rechtssache die ursprünglichen Erlasse zeitlich anwendbar.

( 10 ) Auch wenn dies aus dem Vorabentscheidungsersuchen nicht ganz klar hervorgeht, hat die Justizinspektion die Beschwerden der Klägerin offenbar zurückgewiesen.

( 11 ) Entscheidung Nr. 3935/IJ/1000/DIP/2018.

( 12 ) Aktenzeichen 6172/2/2018.

( 13 ) Entscheidung Nr. 654.

( 14 ) Aktenzeichen 4402/2/2021.

( 15 ) Die Beschwerde ging bei der Justizinspektion am 29. Januar 2020 ein.

( 16 ) Entscheidung Nr. 728/2021.

( 17 ) Entscheidung Nr. C21-723.

( 18 ) Die Justizinspektion wurde von ihrem Chefinspektor, N. L., vertreten.

( 19 ) Vgl. Urteil vom 20. April 2021, Repubblika (C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 20 ) „[D]er Chefinspekteur [besitzt] wesentliche Befugnisse …: Er ernennt die Inspekteure in leitenden Funktionen, leitet die Tätigkeit der Inspektion und die Disziplinarverfahren, organisiert die Zuteilung der Akten, legt die spezifischen Tätigkeitsbereiche fest, in denen Überprüfungsmaßnahmen durchgeführt werden, ist der leitende Anweisungsbefugte und hat die Befugnis, selbst Disziplinarverfahren einzuleiten“, Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19 und C‑355/19, EU:C:2020:746, Nr. 267).

( 21 ) In der vorliegenden Rechtssache geht es nicht um die Möglichkeit, gegen die Justizinspektion oder ihren Chefinspektor zivil- oder strafrechtlich vorzugehen.

( 22 ) Vgl. z. B. Art. 66 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 317/2004.

( 23 ) Vgl. z. B. Art. 45 Abs. 4 und Art. 47 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 317/2004.

( 24 ) Vgl. Art. 69 Abs. 1 Buchst. g, Art. 70 und Art. 77 des Gesetzes Nr. 317/2004. Ungeachtet der umfassenden Befugnisse des Chefinspektors der Justizinspektion sind die Justizinspektoren nach Art. 72 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 317/2004 zu unabhängigem und unparteiischem Handeln verpflichtet.

( 25 ) Vgl. Art. 65 Abs. 1 und 3 des Gesetzes Nr. 317/2004.

( 26 ) Nach Art. 133 Abs. 1 der Constituția României (im Folgenden: rumänische Verfassung) ist der Oberste Rat der Richter und Staatsanwälte der Garant der richterlichen Unabhängigkeit. Nach Art. 134 Abs. 2 der rumänischen Verfassung erfüllt der Oberste Rat der Richter und Staatsanwälte „die Rolle eines Rechtsprechungsorgans im Bereich der disziplinarrechtlichen Haftung von Richtern und Staatsanwälten“. Vgl. auch Art. 44 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 317/2004. Gegen Entscheidungen des Obersten Rats der Richter und Staatsanwälte in Disziplinarsachen kann ein Rechtsmittel bei einem aus fünf Richtern bestehenden Spruchkörper der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof) eingelegt werden. Im Anhang der Entscheidung 2006/928 sind in Bezug auf die Gewährleistung transparenterer und leistungsfähigerer Gerichtsverfahren ausdrücklich die Kapazitäten und Rechenschaftspflicht des Obersten Rats der Richter und Staatsanwälte genannt.

( 27 ) Vgl. Art. 44 Abs. 6 des Gesetzes Nr. 317/2004. Vgl. auch Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 182).

( 28 ) Insbesondere in denjenigen von 2010, 2011, 2017 bis 2019 und 2021.

( 29 ) COM(2021) 370 final.

( 30 ) Vgl. z. B. Nr. 24 der vorliegenden Schlussanträge.

( 31 ) Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 198).

( 32 ) Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 199).

( 33 ) Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Entscheidungen eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 84).

( 34 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 196, 197 und 216). Der Gerichtshof hat in Rn. 216 jenes Urteils festgestellt, dass die Abteilung innerhalb der Staatsanwaltschaft, die mit der Untersuchung von durch Richter und Staatsanwälte begangenen Straftaten betraut ist, aufgrund ihrer autonomen Struktur und des Umstands, dass sie nach Maßgabe der Vorschriften über die Zuständigkeit, die Zusammensetzung und die Arbeitsweise einer solchen Struktur sowie des einschlägigen nationalen Kontexts so wahrgenommen werden könnte, dass damit ein Instrument zur Ausübung von Druck auf und zur Einschüchterung von Richtern eingeführt werden soll, und damit der Eindruck erweckt werden könnte, dass diese Richter nicht unabhängig und unparteiisch sind, geeignet ist, das Vertrauen zu beeinträchtigen, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss. Vgl. auch Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 226).

( 35 ) Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 182 und 184). Die nationalen Rechtsvorschriften, um die es in der vorliegenden Rechtssache geht, gelten für die rumänische Justiz in ihrer Gesamtheit und damit auch für die ordentlichen Gerichte, die über Fragen der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben. Da die Letzteren als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts innerhalb des rumänischen Justizsystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV tätig sind, müssen sie die Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz erfüllen.

( 36 ) Die Justizinspektion bestreitet nicht, dass der Chefinspektor über diese weitreichenden Befugnisse verfügt. Die Justizinspektion betont vielmehr, dass das Gesetz Nr. 317/2004 ihm diese Befugnisse ausdrücklich übertrage und dass ihre Ausübung genau geregelt sei. Die Justizinspektion macht geltend, dass die Klägerin sich in Wahrheit gegen die institutionelle Stärkung der Justizinspektion durch das Gesetz Nr. 317/2004 und ihre gestärkte Unabhängigkeit gegenüber dem Obersten Rat der Richter und Staatsanwälte wende.

( 37 ) Diese Gerichte können Entscheidungen der Justizinspektion zur Zurückweisung von Beschwerden entweder bestätigen oder aufheben.

( 38 ) Und unionsrechtlich erforderlich. Vgl. Nr. 38 der vorliegenden Schlussanträge.

( 39 ) Wie in Rn. 22 des Vorabentscheidungsersuchens ausgeführt.

( 40 ) Rechtsgrundlage für diese vorläufige Verlängerung war die Ordonanța de Urgență a Guvernului nr. 77/2018 (Dringlichkeitsverordnung Nr. 77/2018 der Regierung) vom 5. September 2018(Monitorul Oficial al României, Nr. 767 vom 5. September 2018) (im Folgenden: Verordnung Nr. 77/2018).

( 41 ) Im Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 206 und 207), betonte der Gerichtshof, dass es letztlich Sache des vorlegenden Gerichts war, dies zu prüfen.

( 42 ) Vorbehaltlich entsprechender Feststellungen durch das vorlegende Gericht ist offenbar nach Eingang des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens bei der Kanzlei des Gerichtshofs Chefinspektor N. L. in den Ruhestand getreten und sind er und die stellvertretende Chefinspektorin, P. M., abgelöst worden.

( 43 ) Das zuständige Gericht in dem Ausgangsverfahren, das dem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑83/19 zugrunde lag, vgl. Urteil Nr. 3014/2021 (abrufbar unter http://rolii.ro/hotarari/61d2683fe4900928170001a5).

( 44 ) Der genaue Tenor jenes Urteils, das nach dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen erging, liegt dem Gerichtshof nicht vor; entsprechende Feststellungen hierzu zu treffen, ist daher Sache des vorlegenden Gerichts.

( 45 ) Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393).

( 46 ) Vgl. Art. 69 des Gesetzes Nr. 317/2004.

( 47 ) Die Justizinspektion macht geltend, dass die Verordnungen von 2018 erforderlich seien, um ihre Unabhängigkeit und Arbeitsweise in kohärenter Weise zu gewährleisten. Sie weist ferner darauf hin, dass in Kapitel VII des Gesetzes Nr. 317/2004 detaillierte Vorschriften über die Arbeitsweise der Justizinspektion, die Ernennung des Chefinspektors und seine Amtszeit sowie die Ernennung von Mitarbeitern in leitenden Positionen der Justizinspektion enthalten seien.

( 48 ) Vorbehaltlich entsprechender Feststellungen durch das vorlegende Gericht kann der Chefinspektor offenbar nach Art. 67 Abs. 5 des Gesetzes Nr. 317/2004 im Fall der Nichterfüllung oder der unzureichenden Erfüllung seiner Leitungsaufgaben vom Plenum des Obersten Rats der Richter und Staatsanwälte abberufen werden.

( 49 ) Der Justizminister ist offenbar der Ansicht, dass die Justizinspektion für die Behandlung von Disziplinarbeschwerden gegen ihren Chefinspektor zuständig ist: Nr. 25 der vorliegenden Schlussanträge.

( 50 ) Dass es eine solche gesonderte Stelle nicht gibt, könnte die Unabhängigkeit des Chefinspektors der Justizinspektion stärken.

( 51 ) Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts sollte ein rechtlicher Rahmen „auf Organgesetzebene“ erlassen werden, „der objektive Garantien dafür bietet, dass die Justizinspektoren gegenüber dem Chefinspektor unabhängig und unparteiisch sind, wenn dieser die Person ist, gegen die sich die disziplinarische Rüge richtet“. Meines Erachtens kann aufgrund des Grundsatzes der Subsidiarität nach Art. 5 EUV ein Mitgliedstaat entscheiden, welcher Art die zu erlassenden Maßnahmen im Hinblick auf Disziplinarermittlungen und ‑verfahren gegen Richter und Staatsanwälte, einschließlich Justizinspektoren, sein sollen, um die Anforderungen nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Entscheidung 2006/928 zu erfüllen, sofern diese Maßnahmen die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität wahren.

( 52 ) Vgl. Erlass Nr. 134/2018.

( 53 ) Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 850 vom 8. Oktober 2018.

( 54 ) Vgl. Art. 69 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzes Nr. 317/2004. Nach dieser Bestimmung ernennt der Chefinspektor auch die Direktoren der Justizinspektion für eine Amtszeit, die von derjenigen des Chefinspektors abhängig ist.

( 55 ) Der Chefinspektor ist an der Ernennung, Bewertung und Entlassung von Justizinspektoren beteiligt. Vgl. u. a. Erlass Nr. 131/2018. Einen Mechanismus, der den Chefinspektor daran hindert, Ermittlungen und Disziplinarverfahren gegen Justizinspektoren einzuleiten, die disziplinarische Ermittlungen gegen ihn durchführen oder durchgeführt haben, gibt es offenbar nicht.