SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 24. März 2022 ( 1 )

Rechtssache C‑720/20

RO, gesetzlich vertreten,

gegen

Bundesrepublik Deutschland

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Cottbus, Deutschland)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 33 Abs. 2 Buchst. a – Ablehnung eines von einem Kind gestellten Antrags auf internationalen Schutz als unzulässig, weil seinen Familienangehörigen zuvor internationaler Schutz gewährt wurde – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung dieses Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Wohl des Kindes“

I. Einleitung

1.

Die vorliegende Rechtssache macht deutlich, mit welchen Schwierigkeiten die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der in der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ( 2 ) festgelegten Kriterien konfrontiert sind, wenn die technische Prägung der betreffenden Normen mit der Komplexität der sozialen Gegebenheiten, insbesondere des realen Familienlebens von Flüchtlingen, zusammentrifft. Wie viele der derzeit beim Gerichtshof anhängigen Fälle belegen, ist dieses Familienleben weder zeitlich noch räumlich endgültig festgeschrieben ( 3 ). Familien begeben sich von einem Mitgliedstaat in einen anderen, obwohl der den einzelnen Familienangehörigen zuerkannte internationale Schutzstatus es ihnen nicht erlaubt, sich nach Belieben im Hoheitsgebiet der Union niederzulassen ( 4 ). Gleichzeitig werden Familien größer, was die Frage aufwirft, welches die Rechtsstellung eines Kindes ist, das in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen geboren wurde, der seinen Familienangehörigen internationalen Schutz gewährt (im Folgenden: Aufnahmestaat), und insbesondere, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Kindes zuständig ist.

2.

Die vorliegende Rechtssache ist ein Beispiel für eine solche Verkettung von Umständen. In diesem Fall wurde den Mitgliedern einer Familie mit russischer Staatsangehörigkeit im Jahr 2012 in Polen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, bevor sie nach Deutschland übersiedelten und dort ihren Wohnsitz begründeten, ohne dass ihnen hierfür eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt worden wäre. In dem letztgenannten Mitgliedstaat, in dem sich diese Familie widerrechtlich aufhält, wurde im Jahr 2015 ein weiteres Kind (im Folgenden: Klägerin) geboren. Dieses Kind stellte bei den deutschen Behörden einen Antrag auf internationalen Schutz, der gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU ( 5 ) für unzulässig erklärt wurde.

3.

Mit dem Vorabentscheidungsersuchen soll geklärt werden, welche Verfahrensvorschriften für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz gelten, den das betreffende Kind im Gebiet des Mitgliedstaats, in dem es geboren wurde und in dem es mit seinen Familienangehörigen lebt, gestellt hat, während Letzteren in einem anderen Mitgliedstaat, den sie verlassen haben und in den sie nicht zurückkehren möchten, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist.

4.

Es steht fest, dass sowohl bei Personen, die internationalen Schutz beantragen, als auch bei solchen, die diesen Schutz genießen, der Familienverband zu wahren ist und dass die Interessen des Kindes gemäß Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) gebührend zu berücksichtigen sind. Desgleichen muss die Wirksamkeit des in Art. 18 der Charta verankerten Asylrechts sowohl hinsichtlich des Zugangs des Kindes zu einem Prüfungsverfahren für seinen Antrag auf internationalen Schutz als auch hinsichtlich der Rechte gewährleistet werden, die seinen Familienangehörigen aufgrund ihrer Flüchtlingseigenschaft zustehen. Zwar regelt die Verordnung Nr. 604/2013 den Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung dieses Antrags auf internationalen Schutz, jedoch können die darin enthaltenen Bestimmungen nicht alle möglichen Konstellationen erfassen, die sich namentlich aus dem Umzug von Familien innerhalb der Union ergeben. Diese Verordnung soll außerdem nicht den in Fällen wie dem hier vorliegenden ebenso wichtigen Übergang der Zuständigkeit für den internationalen Schutz regeln, der derzeit Gegenstand des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ( 6 ) und des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge ( 7 ) ist.

5.

In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich meine Vorbehalte gegenüber den im Vorabentscheidungsersuchen wie auch in der Verhandlung erörterten Verfahrenswegen – einer analogen Anwendung von Art. 9 der Verordnung Nr. 604/2013, von deren Art. 20 Abs. 3 oder von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 – darlegen. Ich werde den Gerichtshof daher auffordern, einen anderen, auf das Kindeswohl gestützten Weg zu beschreiten, und ihm vorschlagen, für Recht zu erkennen, dass in einer Situation wie der hier in Rede stehenden, in der das Kind seinen Antrag auf internationalen Schutz in dem Mitgliedstaat gestellt hat, in dessen Hoheitsgebiet es geboren wurde und zum Zeitpunkt der Antragstellung zusammen mit seinen Familienangehörigen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 dahin auszulegen sind, dass das Wohl des Kindes es gebietet, dass dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig ist.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht

6.

Im Rahmen der vorliegenden Schlussanträge werde ich auf die Art. 7, 18 und 24 der Charta sowie auf die Art. 3, 6, 9, 20 und 21 der Verordnung Nr. 604/2013 Bezug nehmen. Ich werde auch Art. 33 der Richtlinie 2013/32 und Art. 24 der Richtlinie 2011/95 ansprechen.

B.   Deutsches Recht

7.

§ 29 („Unzulässige Anträge“) des Asylgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 ( 8 ) und in der Änderungsfassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 ( 9 ), das am 6. August 2016 in Kraft getreten ist, sieht vor:

„(1)   Ein Asylantrag ist unzulässig, wenn

1.

ein anderer Staat

a)

nach Maßgabe der Verordnung … Nr. 604/2013 … oder

b)

auf Grund von anderen Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages

für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist,

…“.

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

8.

Die Klägerin und ihre Familienangehörigen sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Herkunft. Am 19. März 2012, als die Klägerin noch nicht geboren war, wurde ihren Familienangehörigen in Polen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Im Dezember 2012 verließen sie dann diesen Mitgliedstaat und begaben sich nach Deutschland, wo sie erneut Anträge auf internationalen Schutz stellten. Die zuständigen deutschen Behörden ersuchten daraufhin die polnischen Behörden, die betreffenden Personen wieder aufzunehmen, was von polnischer Seite mit der Begründung abgelehnt wurde, dass den Familienangehörigen in Polen bereits internationaler Schutz gewährt worden sei ( 10 ).

9.

Daraufhin erklärten die zuständigen deutschen Behörden diese Anträge auf internationalen Schutz am 2. Oktober 2013 für unzulässig. Sie wiesen die Familienmitglieder sodann an, das Land unter Androhung der Abschiebung zu verlassen, da sie unter die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) fielen ( 11 ).

10.

Die Klägerin wurde am 21. Dezember 2015 in Deutschland geboren. Sie besitzt wie ihre Familienangehörigen die russische Staatsangehörigkeit. Im Jahr 2016 stellte sie einen Antrag auf internationalen Schutz. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts wurde im Zusammenhang mit diesem Antrag kein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats eingeleitet.

11.

Mit Bescheid der deutschen Behörden vom 14. Februar 2019, der am 19. März 2019 aktualisiert wurde, wurde den Familienangehörigen der Klägerin unter Androhung der Abschiebung erneut aufgegeben, das Land zu verlassen.

12.

Mit Bescheid vom 20. März 2019 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) den Antrag der Klägerin auf internationalen Schutz als unzulässig ab. Diesen Bescheid focht die Klägerin beim vorlegenden Gericht an. Letzteres ist sich im Unklaren darüber, ob die Bundesrepublik Deutschland nach der Verordnung Nr. 604/2013 der für die Prüfung dieses Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat ist oder ob sie – wenn dies nicht der Fall sein sollte – gleichwohl den Antrag gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 als unzulässig ablehnen darf.

13.

Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Cottbus (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist mit Blick auf das unionsrechtliche Anliegen, Sekundärmigration zu vermeiden, sowie den in der Verordnung Nr. 604/2013 zum Ausdruck kommenden allgemeinen Grundsatz der Familieneinheit eine analoge Anwendung des Art. 20 Abs. 3 dieser Verordnung in einer Konstellation geboten, in der ein minderjähriges Kind und seine Eltern in demselben Mitgliedstaat Anträge auf internationalen Schutz stellen, die Eltern jedoch bereits internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat genießen, während das Kind erst in dem Mitgliedstaat geboren wurde, in dem es den Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat?

2.

Sind, falls die Frage zu bejahen ist, der Asylantrag des minderjährigen Kindes nach Maßgabe der Verordnung Nr. 604/2013 nicht zu prüfen und eine Überstellungsentscheidung gemäß Art. 26 der Verordnung zu erlassen mit Blick darauf, dass etwa der Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags des minderjährigen Kindes auf internationalen Schutz zuständig ist, in dem seine Eltern internationalen Schutz genießen?

3.

Ist, falls die vorstehende Frage zu bejahen ist, Art. 20 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 auch insoweit analog anwendbar, als in seinem Satz 2 die Durchführung eines eigenen Zuständigkeitsverfahrens für das nachgeborene Kind für entbehrlich erklärt wird, obwohl dann die Gefahr besteht, dass der Aufnahmemitgliedstaat keine Kenntnis von einer möglichen Aufnahmesituation für das minderjährige Kind hat bzw. nach seiner Verwaltungspraxis eine analoge Anwendung des Art. 20 Abs. 3 dieser Verordnung ablehnt und damit für das minderjährige Kind die Gefahr besteht, ein „refugee in orbit“ zu werden?

4.

Kann, falls die Fragen 2 und 3 zu verneinen sind, gegenüber einem minderjährigen Kind, das in einem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, eine Unzulässigkeitsentscheidung gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 in analoger Anwendung auch dann ergehen, wenn zwar nicht das Kind selbst, wohl aber seine Eltern in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen?

14.

Die Klägerin, die belgische, die deutsche, die italienische, die niederländische und die polnische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche und/oder in der Sitzung vom 14. Dezember 2021 mündliche Erklärungen abgegeben.

IV. Würdigung

A.   Vorbemerkungen

15.

Zunächst halte ich es angesichts des Inhalts der von den Beteiligten eingereichten Erklärungen und der mündlichen Verhandlung für erforderlich, einige Bemerkungen zur Tragweite des Vorabentscheidungsersuchens zu machen.

16.

Das vorlegende Gericht stellt vier Vorlagefragen, die sich in ihrer Gliederung an Art. 33 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 orientieren. In diesem Artikel wird zwischen den Fällen unterschieden, in denen ein Antrag auf internationalen Schutz nicht nach Maßgabe der Verordnung Nr. 604/2013 geprüft wird – wobei der befasste Mitgliedstaat die Zuständigkeit für die Prüfung dieses Antrags auf den Mitgliedstaat überträgt, den er für zuständig hält –, und den Fällen, in denen ein solcher Antrag als unzulässig abgelehnt werden kann ( 12 ).

17.

Bei der ersten, der zweiten und der dritten Vorlagefrage geht es somit darum, inwieweit die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz eines im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats geborenen Kindes auf einen anderen Mitgliedstaat übertragen werden kann, der dessen Familienangehörigen zuvor die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat. Das vorlegende Gericht möchte vom Gerichtshof insbesondere wissen, ob eine analoge Anwendung von Art. 20 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 möglich ist und, wenn ja, ob dieses Kind dann gemäß Art. 26 dieser Verordnung zur Prüfung seines Antrags in den Mitgliedstaat überstellt werden kann, in dem seine Eltern internationalen Schutz genießen.

18.

Für den Fall, dass eine solche analoge Anwendung nicht in Betracht kommen sollte, möchte dieses Gericht dann mit seiner vierten Frage vom Gerichtshof wissen, ob dieser Antrag auf internationalen Schutz im Wege einer analogen Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 für unzulässig erklärt werden kann.

19.

In einem ersten Schritt werde ich darlegen, weshalb keiner der im Vorabentscheidungsersuchen in Betracht gezogenen Verfahrenswege geeignet erscheint, zumal jeder der Verfahrensbeteiligten offenbar Mühe hat, eine akzeptable analoge Anwendung für den einen oder anderen Weg zu begründen. Eine solche analoge Anwendung erfordert, wenn nicht eine Übereinstimmung, so doch zumindest eine Ähnlichkeit zwischen der Situation, die Gegenstand einer Regelungslücke ist, und der ausdrücklich geregelten Situation. Die in Art. 20 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 und Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 geregelten Situationen unterscheiden sich jedoch sowohl nach ihrem Wortlaut als auch nach ihrem Sinn und Zweck sehr deutlich von der Situation, um die es im Ausgangsverfahren geht.

20.

In einem zweiten Schritt werde ich andere Verfahrenswege untersuchen. Zum einen werde ich den Weg prüfen, den die Kommission in ihren Erklärungen vorgeschlagen hat, nämlich die analoge Anwendung des Kriteriums gemäß Art. 9 („Familienangehörige, die Begünstigte internationalen Schutzes sind“) der Verordnung Nr. 604/2013. Die Verfahrensbeteiligten konnten sich sowohl in ihren schriftlichen Antworten auf Fragen des Gerichtshofs als auch in der mündlichen Verhandlung zur Anwendung dieser Bestimmung äußern. Zum anderen werde ich dem Gerichtshof angesichts der Grenzen einer solchen analogen Anwendung eine Alternative zu diesem Verfahrensweg vorschlagen, die auf dem Kindeswohl als Leitgedanken beruht.

21.

Wie die Verfahrensbeteiligten in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend festgestellt haben, wird der Gerichtshof eine Entscheidung für die Zukunft zu treffen haben, da die Bundesrepublik Deutschland im Ausgangsverfahren anerkennt, dass sie wegen Ablaufs der in der Verordnung Nr. 604/2013 für die Einreichung eines Aufnahmegesuchs festgelegten Fristen für die Prüfung des Antrags des Kindes zuständig geworden sei. Diese Zukunft liegt gar nicht so fern, denn in der Rechtssache C‑153/21, Ministre de l’immigration et de l’asile ( 13 ), in der das Verfahren am 11. November 2021 ausgesetzt wurde, ist der Gerichtshof mit einer ähnlichen Problematik befasst.

B.   Prüfung des Vorabentscheidungsersuchens

1. Analoge Anwendung von Art. 20 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 zur Berücksichtigung der Situation eines Minderjährigen im Rahmen des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats (erste, zweite und dritte Vorlagefrage)

22.

Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Kern wissen, ob Art. 20 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 zur Begrenzung von Sekundärmigration und zur Wahrung des in Art. 7 der Charta verankerten Grundrechts auf Achtung des Familienlebens analog angewendet werden kann, wenn ein Kind seinen Antrag auf internationalen Schutz in dem Mitgliedstaat stellt, in dem es geboren wurde, während seine Familienangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen.

23.

Aus den Gründen, die ich im Folgenden darlegen werde, würden bei Anerkennung einer solchen Analogie der Wortlaut und die ratio legis von Art. 20 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 missachtet.

24.

Art. 20 dieser Verordnung enthält die Vorschriften über den Beginn – oder, um die Formulierung in dessen Überschrift aufzugreifen, die „Einleitung“ – des Verfahrens zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats.

25.

In Art. 20 Abs. 1 und 2 der Verordnung sieht der Unionsgesetzgeber erstens vor, dass das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats eingeleitet wird, „sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird“ ( 14 ) (Abs. 1), und dass ein solcher Antrag als gestellt gilt, wenn die zuständige Behörde entweder das vom Antragsteller zu diesem Zweck eingereichte Formular oder das von den zuständigen nationalen Behörden erstellte Protokoll erhalten hat (Abs. 2).

26.

In Art. 20 Abs. 3 der Verordnung regelt der Unionsgesetzgeber zweitens, unter welchen Voraussetzungen die zuständige nationale Behörde im Rahmen dieses Verfahrens die „Situation des Minderjährigen“ berücksichtigen muss. Dieser Absatz lautet:

„Für die Zwecke dieser Verordnung ist die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, auch wenn der Minderjährige selbst kein Antragsteller ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient. Ebenso wird bei Kindern verfahren, die nach der Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, ohne dass ein neues Zuständigkeitsverfahren für diese eingeleitet werden muss.“ ( 15 )

27.

Erstens stellt der Unionsgesetzgeber auf die Situation eines Minderjährigen ab, dessen Familienangehörige erstmals in einem Mitgliedstaat internationalen Schutz im Sinne von Art. 20 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 604/2013 beantragt haben, woraufhin die zuständigen nationalen Behörden ein Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung dieser Anträge zuständigen Mitgliedstaats eingeleitet haben ( 16 ).

28.

Es lässt sich aber keine Analogie zwischen der Situation eines Minderjährigen, dessen Familienangehörige internationalen Schutz beantragen, und der Situation eines Minderjährigen herstellen, dessen Familienangehörige einen solchen Schutz bereits genießen. In Art. 2 Buchst. b, c und f der Verordnung Nr. 604/2013 werden Personen, die einen „Antrag auf internationalen Schutz“ stellen, und solche, die „Begünstigte internationalen Schutzes“ sind, unterschiedlich definiert, und die jeweiligen Begriffe beziehen sich auf unterschiedliche Rechtsstellungen, deren Anerkennung und Inhalt in jeweils spezifischen Bestimmungen geregelt sind. Aus diesem Grund grenzt der Unionsgesetzgeber übrigens die Situation des Minderjährigen, dessen Familienangehörige Begünstigte internationalen Schutzes sind (Art. 9 der Verordnung), von der Situation des Minderjährigen ab, dessen Familienangehörige internationalen Schutz beantragt haben (Art. 10 und Art. 20 Abs. 3 der Verordnung). Ließe man eine solche Analogie zwischen der vom Unionsgesetzgeber in Art. 20 Abs. 3 der Verordnung geregelten Situation und der vom vorlegenden Gericht angesprochenen Situation zu, könnte dies daher die vom Unionsgesetzgeber zwischen diesen beiden Begriffen getroffene Unterscheidung gefährden. Dadurch würde im Wesentlichen ein weiteres Zuständigkeitskriterium zu den in Kapitel III der Verordnung Nr. 604/2013 abschließend aufgezählten Kriterien hinzugefügt, das von dem in deren Art. 9 ausdrücklich festgelegten Kriterium abwiche.

29.

Zweitens würde bei Anwendung einer solchen Analogie die ratio legis von Art. 20 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 missachtet.

30.

Diese geht aus den Vorarbeiten zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 ( 17 ) hervor, deren Art. 4 Abs. 2 im Wesentlichen in Art. 20 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 übernommen wurde. Aus der Begründung des Kommissionsvorschlags ( 18 ), der zum Erlass der Verordnung Nr. 343/2003 geführt hat, ergibt sich, dass mit dieser Bestimmung die Familieneinheit gewahrt und der Minderjährige zusammen mit seinen Familienangehörigen in den Mitgliedstaat überstellt werden soll, der für die Prüfung der von Letzteren gestellten Anträge auf internationalen Schutz zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob der Minderjährige förmlich als Antragsteller im Sinne der Vorschriften des Mitgliedstaats in Erscheinung tritt, bei dem diese Anträge gestellt wurden. Damit soll vermieden werden, dass die Mitgliedstaaten die Vorschriften zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats unterschiedlich anwenden, sofern sie die Förmlichkeiten, die ein in Begleitung eines Erwachsenen einreisender Minderjähriger erfüllen muss, um als Antragsteller zu gelten, unterschiedlich regeln.

31.

Damit will der Unionsgesetzgeber, vorausgesetzt, dass dies dem Wohl des Kindes dient, eine Parallele zwischen der Situation dieses Kindes und derjenigen seiner Familienangehörigen ziehen, die er in der Phase der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats als „untrennbar“ betrachtet, da ihre Anträge zeitlich und räumlich eng miteinander verbunden seien.

32.

Eine Situation wie die hier vorliegende unterscheidet sich jedoch grundlegend von der Situation, die der Unionsgesetzgeber in Art. 20 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 geregelt hat. Denn im Gegensatz zu der in diesem Artikel genannten Fallkonstellation hat das minderjährige Kind förmlich und persönlich internationalen Schutz beantragt, so dass es als Antragsteller anzusehen ist. Da seine Familienangehörigen keinen internationalen Schutz beantragt haben, gibt es für die zuständige nationale Behörde auch keinen Grund, ein Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung dieser Anträge zuständigen Mitgliedstaats einzuleiten. Aufgrund des Geburtsdatums und ‑ortes des Kindes sind der von ihm gestellte Antrag auf internationalen Schutz und das daraus resultierende Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats daher zeitlich und räumlich von den Anträgen auf internationalen Schutz zu trennen, die seine Familienangehörigen zuvor in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hatten ( 19 ). In dieser Hinsicht lässt sich die Situation des betreffenden Kindes de facto von der Situation seiner Familienangehörigen trennen.

33.

Drittens kann eine analoge Anwendung von Art. 20 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 nach meiner Ansicht nicht auf das mit dem Unionsrecht verfolgte Ziel der Vermeidung von „Sekundärmigration“ gestützt werden. Wie der Gerichtshof nämlich festgestellt hat, sollen mit dieser Verordnung Ortswechsel von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, verhindert werden. So soll ausgeschlossen werden, dass Antragsteller, nachdem sie ihren Antrag in einem ersten Mitgliedstaat gestellt haben, diesen Staat verlassen, bevor über ihren Antrag entschieden wurde, um sich in einen zweiten Mitgliedstaat zu begeben, in dem sie erneut internationalen Schutz beantragen.

34.

In dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Fall haben die Familienangehörigen der Antragstellerin aber nicht gleichzeitig in mehreren Mitgliedstaaten internationalen Schutz beantragt, da ihnen in einem dieser Staaten bereits die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde ( 20 ). Diese Situation verstößt vielmehr gegen Art. 33 der Richtlinie 2011/95, der die Freizügigkeit von Begünstigten internationalen Schutzes auf das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats beschränkt, in dem der Schutz gewährt wird, da die Familienangehörigen sich in einen anderen Mitgliedstaat – hier Deutschland – begeben und dort ihren Wohnsitz begründet haben, ohne dass ihnen hierfür eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden wäre.

35.

Infolgedessen kann Art. 20 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 angesichts der erheblichen Unterschiede zwischen beiden Situationen meines Erachtens nicht analog auf eine Fallgestaltung, wie sie das vorlegende Gericht beschreibt, angewandt werden.

36.

Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, für Recht zu erkennen, dass Art. 20 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 nicht analog angewandt werden kann, wenn ein Kind seinen Antrag auf internationalen Schutz in dem Mitgliedstaat stellt, in dessen Hoheitsgebiet es geboren wurde, und sich dort zusammen mit seinen Familienangehörigen aufhält, während Letztere in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen.

37.

Angesichts der von mir vorgeschlagenen Antwort auf die erste Frage erübrigt sich eine Beantwortung der zweiten und der dritten Vorlagefrage.

2. Analoge Anwendung des in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 angegebenen Grundes für die Unzulässigkeit des Antrags (vierte Vorlagefrage)

38.

Mit seiner vierten Vorabentscheidungsfrage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob ein Mitgliedstaat im Wege einer analogen Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 den Antrag eines Kindes auf internationalen Schutz deshalb als unzulässig betrachten kann, weil dessen Familienangehörigen von einem anderen Mitgliedstaat ein solcher Schutz gewährt worden ist.

39.

Aus den Gründen, die ich im Folgenden darlegen werde, bin ich der Ansicht, dass für den Gerichtshof auch eine solche analoge Anwendung nicht in Betracht kommt.

40.

Erstens geht aus Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 hervor, dass die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können, wenn „ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat“. Die Tragweite dieser Bestimmung wird im 43. Erwägungsgrund dieser Richtlinie wie folgt erläutert:

„(43)   Die Mitgliedstaaten sollten alle Anträge in der Sache prüfen, d. h. beurteilen, ob der betreffende Antragsteller gemäß der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anerkannt werden kann … Die Mitgliedstaaten sollten insbesondere nicht verpflichtet sein, einen Antrag auf internationalen Schutz in der Sache zu prüfen, wenn der erste Asylstaat dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat …“ ( 21 )

41.

Diese Formulierungen zeigen unmissverständlich, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 auf eine Situation Anwendung finden soll, in der die Person, die internationalen Schutz beantragt, bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen solchen Schutz genießt. Da ein und dieselbe Person diesen internationalen Schutz beantragt und genießt, ist dieser Artikel im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems Ausdruck des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens ( 22 ). Eine derartige Fallgestaltung kann eindeutig nicht mit einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden gleichgesetzt werden, in welcher der Antragsteller und der Begünstigte des internationalen Schutzes verschiedene Personen sind.

42.

Zweitens sind in Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 die Gründe für die Unzulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz aufgezählt. Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass diese Aufzählung als abschließend zu verstehen ist, und zwar sowohl im Hinblick auf den Wortlaut dieses Artikels und die Verwendung des Wortes „ausschließlich“, das der Aufzählung dieser Gründe vorausgeht, als auch im Hinblick auf den mit diesem Artikel verfolgten Zweck, der gerade darin besteht, „die Pflicht des zuständigen Mitgliedstaats, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, dadurch zu lockern, dass Fälle definiert werden, in denen ein solcher Antrag als unzulässig zu betrachten ist“ ( 23 ). Unter diesen Umständen kann Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 nicht analog auf eine Situation angewandt werden, die in keiner Weise vergleichbar ist, denn damit würden letztlich die vom Unionsgesetzgeber in diesem Artikel ausdrücklich aufgezählten Unzulässigkeitsgründe um einen weiteren ergänzt, was im Widerspruch zu dem klar geäußerten Willen des Gesetzgebers stünde.

43.

Damit würde außerdem einem Kind wie der Klägerin der effektive Zugang zu den Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes verwehrt, was eindeutig gegen seine Grundrechte und insbesondere gegen Art. 18 und Art. 24 Abs. 2 der Charta ( 24 ) verstieße, auf denen die Richtlinie 2013/32 beruht. Das Asylrecht ist ein individuelles Recht. Erklären die zuständigen nationalen Behörden den Antrag des betreffenden Kindes auf internationalen Schutz für unzulässig, weil seinen Familienangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt wurde, besteht die Gefahr, dass der Antrag dieses Kindes nie geprüft wird. Eine Unzulässigkeitsentscheidung hat gravierende Folgen, deren Tragweite eng begrenzt werden muss. Ich weise z. B. darauf hin, dass in der beim Gerichtshof noch anhängigen Rechtssache Bundesrepublik Deutschland (C‑504/21) die deutschen Behörden das Ersuchen der griechischen Behörden, die Familienangehörigen eines Begünstigten internationalen Schutzes gemäß Art. 9 und Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 aufzunehmen, mit der Begründung abgelehnt haben, deren Anträge auf internationalen Schutz seien nach Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 für unzulässig erklärt worden.

44.

Drittens vermag ich mich der von einem Verfahrensbeteiligten in der mündlichen Verhandlung geäußerten Ansicht, dem Kind könnten trotz der Unzulässigkeit seines Antrags und trotz seiner Überstellung in den Aufnahmestaat als einem Familienangehörigen von Begünstigten internationalen Schutzes die in den Art. 23 bis 35 der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen wirtschaftlichen und sozialen Rechte und Leistungen zustehen, nicht anzuschließen.

45.

Zum einen kommt ein Anspruch auf diese Rechte und Leistungen nicht der Anerkennung des Flüchtlingsstatus oder des subsidiären Schutzstatus gleich, der jeder Person zusteht, die individuell die Anspruchsvoraussetzungen in den Kapiteln II und III der Richtlinie 2011/95 u. a. deshalb erfüllt, weil ihr in ihrem Herkunftsland Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden droht oder drohen könnte. Aus diesem Grund sieht der Unionsgesetzgeber übrigens in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie die Gewährung dieser Rechte und Leistungen ausdrücklich nur für Familienangehörige vor, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllen ( 25 ). Es darf aber davon ausgegangen werden, dass dieser Schutz dem Kind im Ausgangsverfahren genauso wie seinen Familienangehörigen gewährt werden könnte ( 26 ). Daher gibt es keinen Grund, warum sich das Kind, wenn es in den Aufnahmestaat überstellt würde, allein mit den Leistungen aus den Art. 24 bis 35 der Richtlinie begnügen sollte.

46.

Zum anderen ergibt sich, wie der Gerichtshof im Urteil vom 9. November 2021, Bundesrepublik Deutschland (Wahrung des Familienverbands) ( 27 ), entschieden hat, „aus Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95, der für die Zwecke der Richtlinie den Begriff ‚Familienangehörige‘ definiert, in Verbindung mit Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie, dass sich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den Anspruch auf diese Leistungen vorzusehen, nicht auf Kinder einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, erstreckt, die im Aufnahmemitgliedstaat einer Familie geboren wurden, die dort gegründet worden ist“ ( 28 ). In einer Situation wie der hier vorliegenden, in der das Kind nicht unter den Begriff „Familienangehörige“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie fällt, ist der Aufnahmestaat daher nicht verpflichtet, dem Kind die Rechte und Leistungen aus den Art. 24 bis 35 der Richtlinie zu gewähren.

47.

Infolgedessen kann ein Mitgliedstaat den Antrag eines Kindes auf internationalen Schutz meines Erachtens nicht im Wege einer analogen Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 deshalb als unzulässig betrachten, weil dessen Familienangehörigen von einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden ist.

C.   Prüfung anderer in Betracht kommender Verfahrenswege

48.

Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu erteilen, schlage ich dem Gerichtshof vor, andere Verfahrenswege zu prüfen: erstens das Verfahren, das die Kommission in ihren Erklärungen vorgeschlagen hat, nämlich eine analoge Anwendung von Art. 9 der Verordnung Nr. 604/2013, und zweitens das Verfahren, das meines Erachtens das einfachste ist, den Interessen des Kindes am besten gerecht wird und auf einer Anwendung der dieser Verordnung zugrunde liegenden allgemeinen Prinzipien beruht, d. h. auf deren Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1.

1. Analoge Anwendung des Zuständigkeitskriteriums gemäß Art. 9 der Verordnung Nr. 604/2013

49.

Art. 9 der Verordnung Nr. 604/2013 legt, wie sich aus Kapitel III ergibt, zu dem der Artikel gehört, ein Kriterium zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats fest. Dieses Kriterium trägt die Bezeichnung „Familienangehörige, die Begünstigte internationalen Schutzes sind“. Es beruht auf familienbezogenen Erwägungen, die auch für die Kriterien in Art. 8 („Minderjährige“), Art. 10 („Familienangehörige, die internationalen Schutz beantragt haben“), Art. 11 („Familienverfahren“) und Art. 17 Abs. 2 („Ermessensklauseln“) dieser Verordnung gelten.

50.

Art. 9 dieser Verordnung sieht für den Fall, dass ein Mitgliedstaat einem Familienangehörigen des Antragstellers in seiner Eigenschaft als Begünstigtem internationalen Schutzes eine Aufenthaltsberechtigung erteilt hat, die Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats für die Prüfung des Schutzantrags der übrigen Familienangehörigen vor, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun ( 29 ).

51.

Eine Prüfung der Vorarbeiten zur Verordnung Nr. 343/2003 zeigt, dass mit diesem Kriterium mehrere Ziele verfolgt werden. Zum einen soll es die Familienzusammenführung gewährleisten, indem der Antragsteller seinen Familienangehörigen in dem Mitgliedstaat, in dem diese als Begünstigte internationalen Schutzes aufenthaltsberechtigt sind, räumlich angenähert wird. Zum anderen soll damit ein zügiges Verfahren zur Prüfung des Antrags sichergestellt werden, wobei davon ausgegangen wird, dass der Mitgliedstaat, in dem mindestens ein Familienangehöriger bereits als Flüchtling anerkannt wurde und aufenthaltsberechtigt ist, am besten beurteilen kann, ob die Angst des Antragstellers vor Verfolgung in seinem Herkunftsland begründet ist.

52.

Das Kriterium gemäß Art. 9 der Verordnung Nr. 604/2013 findet nur Anwendung, wenn mehrere Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens ist der betreffende Mitgliedstaat nur dann für die Prüfung des Schutzantrags zuständig, wenn mindestens ein Familienangehöriger des Antragstellers als Begünstigter internationalen Schutzes im Hoheitsgebiet dieses Staates aufenthaltsberechtigt ist. Zweitens hängt die Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats für die Prüfung des Schutzantrags davon ab, dass der Antragsteller und sein in dessen Hoheitsgebiet aufenthaltsberechtigter Familienangehöriger ihrer Zusammenführung schriftlich zustimmen.

53.

Nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 ( 30 ) müssen dem Aufnahmegesuch, das gemäß dem Zuständigkeitskriterium des Art. 9 der Verordnung Nr. 604/2013 an den ersuchten Staat gerichtet ist, daher nicht nur die schriftliche Bestätigung des „legalen Wohnsitzes“ der Familienangehörigen im Hoheitsgebiet dieses Staates, die ihnen erteilten Aufenthaltstitel und der Registerauszug, sondern auch die Dokumente zum Nachweis des Verwandtschaftsverhältnisses, sofern diese vorliegen, beigefügt und die Zustimmung der Betroffenen bestätigt werden.

54.

Diese beiden Voraussetzungen stehen meines Erachtens einer analogen Anwendung von Art. 9 der Verordnung Nr. 604/2013 auf eine Situation, wie sie Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, entgegen.

55.

Was die Voraussetzung betrifft, wonach der Familienangehörige „in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes“ im Hoheitsgebiet des ersuchten Staates „aufenthaltsberechtigt“ sein muss, so stelle ich fest, dass sie von der in Art. 8 Abs. 1 und 2 der Verordnung genannten Voraussetzung abweicht, wonach sich der betreffende Familienangehörige in diesem Hoheitsgebiet „rechtmäßig auf[halten]“ muss ( 31 ). Angesichts des vom Unionsgesetzgeber verfolgten Ziels – der Familienzusammenführung – dürfte diese Voraussetzung jedoch bedeuten, dass der Familienangehörige des Antragstellers in diesem Hoheitsgebiet nicht nur über den Aufenthaltstitel verfügt, der ihm aufgrund seiner Stellung als Begünstigter internationalen Schutzes zusteht ( 32 ), sondern dass er sich auch tatsächlich in diesem Hoheitsgebiet aufhält. Ein Antragsteller kann nämlich, insbesondere, wenn es sich dabei um ein Kind handelt, einem Familienangehörigen nicht räumlich angenähert werden, wenn Letzterer sich nicht im Hoheitsgebiet des ersuchten Staates tatsächlich aufhält oder wenn er dort nicht zum Aufenthalt berechtigt ist, weil er eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellt oder weil sein Aufenthaltstitel widerrufen oder beendet wurde ( 33 ). In derartigen Fällen würde die Familienzusammenführung verhindert, und das Verfahren zur Aufnahme und Überstellung des betreffenden Antragstellers könnte zur Einleitung eines neuen Verfahrens zur Bestimmung des für die Prüfung des Antrags zuständigen Mitgliedstaats führen.

56.

Ich weise außerdem darauf hin, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der sich die Familienangehörigen nicht mehr im Hoheitsgebiet des Aufnahmestaats aufhalten und sich ihrer Rückkehr dorthin widersetzen, diese Voraussetzung nur dann erfüllt ist, wenn der ersuchende Staat, bevor er sein Aufnahmegesuch stellt, gewisse Schritte unternimmt und sich insbesondere von der Gültigkeit des Aufenthaltstitels dieser Familienangehörigen im Aufnahmestaat überzeugt ( 34 ) und ihre Abschiebung in diesen Staat veranlasst. Diese Schritte können jedoch zu Verzögerungen führen, die erheblich die Fristen überschreiten dürften, innerhalb deren gemäß Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 ein Aufnahmegesuch gestellt werden muss.

57.

Nach dieser Bestimmung muss der Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, sein Gesuch um Aufnahme des Antragstellers „so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung“ unterbreiten ( 35 ). In einer Fallkonstellation, in der sich die Familienangehörigen ihrer Rückkehr in das Hoheitsgebiet des Aufnahmestaats widersetzen, müsste vor der Übermittlung dieses Aufnahmegesuchs und des entsprechenden Beweismaterials aber ein Rückführungsverfahren nach der Richtlinie 2008/115 durchgeführt werden, eventuell sogar unter Anwendung von Zwangsmaßnahmen gegen die Familie. Ein solches Verfahren – bei dem die Rechte der Betroffenen zu wahren sind – dürfte sich jedoch trotz aller Bemühungen der zuständigen nationalen Behörden kaum innerhalb der mit der Verordnung Nr. 604/2013 festgelegten Fristen durchführen lassen. Unter Berücksichtigung der Fristen für die Erhebung einer Klage gegen eine Rückführungsentscheidung und der mit dem Vollzug einer solchen Entscheidung verbundenen Unwägbarkeiten müsste der ersuchende Staat, in dem das Kind seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, den endgültigen Ausgang des Verfahrens über eine (eventuelle) Klage gegen die gegenüber seinen Familienangehörigen angeordneten Abschiebungsverfügungen abwarten, bevor er einen Antrag auf Übernahme des Kindes durch den ersuchten Staat stellen könnte. Dies hätte nicht nur Rechtsunsicherheit, sondern auch eine unvermeidliche Wartezeit zur Folge, während deren das Kind im Ungewissen über das Schicksal seines Antrags gelassen würde.

58.

Dadurch würde das Kindeswohl missachtet, das bei der Auslegung und Anwendung der in der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehenen Verfahren stets berücksichtigt werden muss ( 36 ). Im 13. Erwägungsgrund dieser Verordnung heißt es ausdrücklich, dass „[b]ei der Anwendung dieser Verordnung … das Wohl des Kindes im Einklang mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes von 1989 und mit der Charta … eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein [sollte]“.

59.

Außerdem könnte auf diese Weise nicht rasch bestimmt werden, welcher Mitgliedstaat zuständig ist, weshalb die Gefahr bestünde, dass weder ein effektiver Zugang zum Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes noch eine zügige Bearbeitung der Anträge auf diesen Schutz gewährleistet wäre, was im Widerspruch zu den mit der Verordnung Nr. 604/2013 laut ihrem fünften Erwägungsgrund verfolgten Zielen stünde.

60.

Was die Voraussetzung der schriftlichen Zustimmung der Betroffenen angeht, so ist damit eine eindeutige positive Handlung des Antragstellers und seiner Familienangehörigen gemeint, mit der sie ihren Willen zur Zusammenführung bekunden. Mit dieser Voraussetzung sollen Situationen vermieden werden, in denen diese Betroffenen aus persönlichen Gründen nicht zusammengeführt werden wollen. Die genannte Voraussetzung findet sich auch in Art. 10, in Art. 16 Abs. 1 und in Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013. Sie ist offensichtlich nicht für die Anwendung auf eine Situation wie die vom vorlegenden Gericht beschriebene vorgesehen, in der der Antragsteller und seine Familienangehörigen schon zusammengeführt sind und gemeinsam unter einem Dach in ein und demselben Mitgliedstaat leben. Auch hier ergäbe die Voraussetzung nur dann einen Sinn, wenn die Familienangehörigen in den Staat abgeschoben würden, in dem ihnen internationaler Schutz gewährt wurde. In einem solchen Fall diente die Voraussetzung jedoch einem anderen als dem vom Unionsgesetzgeber vorgesehenen Zweck, da sie nicht auf die Familienzusammenführung der über das Unionsgebiet verstreuten Familienmitglieder ausgerichtet wäre, sondern vielmehr auf die Aufrechterhaltung des Familienverbands.

61.

Auch wenn einige Verfahrensbeteiligte im Lauf des Verfahrens dem Gerichtshof vorgeschlagen haben, von der Anwendung dieser Voraussetzung abzusehen, erscheint mir dies nicht ratsam, da der Unionsgesetzgeber das Erfordernis einer schriftlichen Zustimmung ausdrücklich als Voraussetzung in Art. 9 der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehen hat.

62.

Wegen der zahlreichen Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung dieser Verordnung auf Situationen, in denen die Interessen eines Kindes auf dem Spiel stehen, halte ich es in der Tat für geboten, bei der Auslegung der Verordnungsbestimmungen besondere Vorsicht walten zu lassen. Die Verordnung Nr. 604/2013 ist ein Instrument vorwiegend verfahrensrechtlicher Art, von dem die Mitgliedstaaten Gebrauch machen können, um anhand abschließend aufgeführter Kriterien und unter Wahrung der Grundrechte der Betroffenen zu bestimmen, welcher von ihnen für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist.

63.

Ebenso wenig wie die übrigen Kriterien in Kapitel III der Verordnung Nr. 604/2013 scheint mir aber das Kriterium gemäß Art. 9 dieser Verordnung auf eine Situation wie die hier vorliegende anwendbar zu sein, in der sich die Familienangehörigen des Antragstellers, die internationalen Schutz genießen, nicht mehr im Hoheitsgebiet des Staates, der diesen Schutz gewährt, aufhalten und sich einer Rückkehr in diesen Staat widersetzen.

64.

Ich werde dem Gerichtshof daher einen anderen Ansatz vorschlagen, der auf den der Verordnung Nr. 604/2013 zugrunde liegenden allgemeinen Prinzipien beruht, insbesondere auf dem Wohl des Kindes.

2. Verwirklichung der in Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 für minderjährige Kinder vorgesehenen Garantien

65.

Zunächst ist festzustellen, dass es in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 heißt: „Lässt sich anhand der Kriterien [in Kapitel III] dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.“ In einer Situation wie der hier vorliegenden ist keines der in Kapitel III dieser Verordnung aufgeführten Kriterien anwendbar, so dass der erste Mitgliedstaat, in dem das Kind seinen Antrag gestellt hat, für die Prüfung des Antrags zuständig ist. Im Einklang mit dem fünften Erwägungsgrund der Verordnung wird diesem Kind so ein effektiver Zugang zu den Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes gewährleistet, ohne dass das Ziel einer zügigen Bearbeitung seines Antrags gefährdet wird.

66.

Die Anwendung dieses Grundsatzes erlaubt es hier, dem Wohl des Kindes die nach Art. 24 Abs. 2 der Charta ( 37 ) gebotene vorrangige Berücksichtigung zukommen zu lassen, da dieser Mitgliedstaat auch der Staat ist, in dessen Hoheitsgebiet das Kind geboren wurde und in dem es sich zusammen mit seinen Familienangehörigen aufhält.

67.

Nach Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 ist „[d]as Wohl des Kindes in allen Verfahren, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten“. In diesem Kontext schreibt der Unionsgesetzgeber in Art. 6 Abs. 3 der Verordnung den Mitgliedstaaten vor, bei der Würdigung des Kindeswohls miteinander zusammenzuarbeiten und „insbesondere“ den Möglichkeiten der Familienzusammenführung, dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des minderjährigen Kindes, Erwägungen der Sicherheit und der Gefahrenabwehr, namentlich wenn es sich bei dem minderjährigen Kind um ein Opfer des Menschenhandels handeln könnte, und schließlich den Ansichten des minderjährigen Kindes entsprechend seinem Alter und seiner Reife, einschließlich seines Hintergrunds, gebührend Rechnung zu tragen ( 38 ).

68.

Im Hinblick auf das Wohl des Kindes ist daher der Mitgliedstaat zu bestimmen, der am besten in der Lage ist, über dessen Antrag auf internationalen Schutz zu entscheiden, und zwar anhand aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls ( 39 ). Dabei gehören die körperliche Anwesenheit dieses Kindes im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem es geboren wurde und seinen Antrag gestellt hat, die Dauer, die Regelmäßigkeit, die Umstände sowie die Gründe für seinen Aufenthalt zusammen mit seiner Familie im Hoheitsgebiet dieses Staates zu den Faktoren, denen die zuständigen nationalen Behörden Rechnung tragen müssen, um das Wohl des Kindes zu beurteilen.

69.

In diesem Kontext ist meines Erachtens zu berücksichtigen, aus welchen Gründen die Familienangehörigen den Aufnahmestaat verlassen haben. Zwar unterscheidet sich der dem Gerichtshof hier vorliegende Fall von den Situationen, die er im Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. ( 40 ), beurteilt hat, in denen die ernsthafte Gefahr bestand, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt hatte, im Aufnahmestaat in einer mit ihren Grundrechten unvereinbaren Weise behandelt würde, da systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorlagen. Es wäre jedoch eine Missachtung der Garantien, die der Unionsgesetzgeber minderjährigen Kindern gewährleistet, und der Bestimmungen, die er ausdrücklich auf die Würdigung des Kindeswohls verwendet, wenn die Gründe, aus denen die Familienangehörigen den Aufnahmestaat verlassen haben, unberücksichtigt blieben. Indem der Unionsgesetzgeber in Art. 6 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 den Mitgliedstaaten vorschreibt, „eng zusammenzuarbeiten“ und dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Kindes gebührend Rechnung zu tragen, verlangt er von den zuständigen nationalen Behörden, dass sie sämtliche Gegebenheiten bezüglich der Lebensverhältnisse des Kindes in den betreffenden Mitgliedstaaten abwägen.

70.

Insoweit lässt sich meines Erachtens der Entscheidung der Eltern, den Aufnahmestaat zu verlassen, nicht ohne Weiteres die Absicht einer Umgehung oder eines Missbrauchs der Regeln des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems entnehmen. Die Entscheidung, diesen Staat, in dem alle Familienmitglieder, einschließlich der Kleinkinder, internationalen Schutz genießen, zu verlassen, nachdem sie aus ihrem Herkunftsland flüchten mussten, und damit das Risiko des Verlusts der Sicherheit und der Vorteile, die dieser Schutzstatus für die gesamte Familie mit sich bringt, in Kauf zu nehmen, ist entweder ein Ausdruck von Leichtfertigkeit oder aber ein Akt der Notwendigkeit und eine wohlüberlegte Entscheidung von Eltern zum Wohl ihrer Kinder. So scheinen im Ausgangsverfahren die Familienangehörigen der Klägerin Polen verlassen und sich nach Deutschland begeben zu haben, weil sie wegen ihrer Herkunft im Aufnahmestaat unter Einschüchterungen litten. Auch in der Rechtssache Ministre de l’immigration et de l’asile (C‑153/21), in der das Verfahren derzeit ausgesetzt ist, haben die Eltern beschlossen, Griechenland u. a. wegen der nach ihrer Ansicht mangelhaften Lebens‑, Aufnahme- und Betreuungsbedingungen für ihre Kinder zu verlassen. Deshalb können diese Ortswechsel meines Erachtens nicht auf einen – um die Wortwahl in einigen Schriftsätzen aufzugreifen – „Elterntourismus“ reduziert oder dergestalt zusammengefasst werden.

71.

Wenn das Kind wie im vorliegenden Fall seinen Antrag auf internationalen Schutz in dem Mitgliedstaat gestellt hat, in dessen Hoheitsgebiet es geboren wurde und zum Zeitpunkt der Antragstellung zusammen mit seinen Familienangehörigen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat – was die zuständigen nationalen Behörden zu überprüfen haben –, gebietet es nach meinem Dafürhalten das Wohl dieses Kindes, dass die Prüfung seines Antrags in die Zuständigkeit dieses Staates fällt. Jede andere Lösung, die darin bestünde, dieses Kind und seine Familienangehörigen aus dem sozialen Umfeld, in das sie sich integriert haben, mit der Begründung zu entfernen, dass Letzteren in einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt werde, liefe dem Kindeswohl diametral zuwider.

72.

Dieses Kriterium scheint mir das einfachste zu sein und dem Kindeswohl am ehesten gerecht zu werden, da es geeignet ist, die Wirksamkeit der Rechte des Kindes aus Art. 18 der Charta zu gewährleisten, indem es ihm einen effektiven Zugang zum Verfahren zur Prüfung seines Antrags sowie dessen zügige Bearbeitung garantiert.

73.

Ich bin mir indes bewusst, dass dieses Kriterium auch einen Übergang der Zuständigkeit für den internationalen Schutz der Familienangehörigen des Kindes bewirken sollte, damit die Wirksamkeit des Asylrechts gewährleistet ist, das ihnen nach diesem Artikel zusteht.

74.

Denn dieses Recht ist nur wirksam, wenn nicht nur dem Kind der Zugang zu einem Verfahren zur Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz, sondern auch seinen Familienangehörigen die Wahrnehmung der mit ihrem Flüchtlingsstatus verbundenen Rechte garantiert wird, solange dieser Status weder widerrufen noch beendet wird. Beim derzeitigen Stand kann der Staat, der den Status gewährt hat, seinen Verpflichtungen jedoch faktisch nicht nachkommen, da die Familienangehörigen ihn verlassen haben, ohne dass ihnen hierfür eine Genehmigung erteilt worden wäre. Die Bundesrepublik Deutschland ist auch rechtlich nicht in der Lage, den Schutz des Herkunftslandes durch ihren eigenen Schutz zu ersetzen, da sich die Familienangehörigen im Übrigen illegal im deutschen Hoheitsgebiet aufhalten.

75.

Darüber hinaus kommen die Familienangehörigen aus den gleichen Gründen, wie ich sie in den Nrn. 44 bis 46 der vorliegenden Schlussanträge dargelegt habe, nicht für die wirtschaftlichen und sozialen Rechte und Leistungen nach den Art. 23 bis 35 der Richtlinie 2011/95 in Betracht, da sie individuell die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllen, was durch den ihnen bereits verliehenen Flüchtlingsstatus belegt wird.

76.

Unter diesen Umständen sollte ein Übergang der Zuständigkeit für den internationalen Schutz der Familienangehörigen des Kindes gemäß dem Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge erfolgen. Im vorliegenden Fall scheinen die polnischen Behörden diesem Übergang nach Art. 4 Abs. 1 des Übereinkommens zwar zugestimmt zu haben, die deutschen Behörden haben jedoch offenbar keine weiteren Schritte in dieser Hinsicht unternommen ( 41 ). Ich erinnere allerdings daran, dass nach Art. 2 des Übereinkommens die Verantwortung für Flüchtlinge nach Ablauf von zwei Jahren des tatsächlichen und dauernden Aufenthalts im Zweitstaat mit Zustimmung von dessen Behörden oder zu einem früheren Zeitpunkt als übergegangen gilt, wenn der Zweitstaat dem Flüchtling gestattet hat, entweder dauernd oder länger als für die Gültigkeitsdauer des Reiseausweises in seinem Hoheitsgebiet zu bleiben.

77.

Infolgedessen schlage ich dem Gerichtshof vor, für Recht zu erkennen, dass in einer Situation, in der ein Mitgliedstaat mit einem Antrag auf internationalen Schutz befasst ist, den ein Kind gestellt hat, dessen Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat als Flüchtlinge anerkannt wurden, Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 dahin auszulegen sind, dass es aus Gründen des Kindeswohls geboten ist, dass der mit dem Antrag befasste Mitgliedstaat für dessen Prüfung zuständig ist, wenn das Kind im Hoheitsgebiet dieses Staates geboren wurde und dort zusammen mit seinen Familienangehörigen zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

V. Ergebnis

78.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Verwaltungsgerichts Cottbus (Deutschland) wie folgt zu beantworten:

1.

Art. 20 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass er nicht analog angewandt werden kann, wenn ein Kind seinen Antrag auf internationalen Schutz in dem Mitgliedstaat stellt, in dessen Hoheitsgebiet es geboren wurde, und sich dort zusammen mit seinen Familienangehörigen aufhält, während Letztere in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen.

2.

Ein Mitgliedstaat kann den Antrag eines Kindes auf internationalen Schutz nicht im Wege einer analogen Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes deshalb als unzulässig betrachten, weil dessen Familienangehörigen von einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden ist.

3.

In einer Situation, in der ein Mitgliedstaat mit einem Antrag auf internationalen Schutz befasst ist, den ein Kind gestellt hat, dessen Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat als Flüchtlinge anerkannt wurden, sind Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 dahin auszulegen, dass es aus Gründen des Kindeswohls geboten ist, dass der mit dem Antrag befasste Mitgliedstaat für dessen Prüfung zuständig ist, wenn das Kind im Hoheitsgebiet dieses Staates geboren wurde und dort zusammen mit seinen Familienangehörigen zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31).

( 3 ) Vgl. dazu die Schlussanträge des Generalanwalts Pikamäe in der Rechtssache Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Familienverband – bereits gewährter Schutz) (C‑483/20, EU:C:2021:780) und das Urteil vom 22. Februar 2022, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Familienverband – bereits gewährter Schutz) (C‑483/20, EU:C:2022:103). Vgl. auch die beim Gerichtshof noch anhängige Rechtssache Ministre de l’immigration et de l’asile (C‑153/21), die eine ähnliche Frage wie die vorliegende Rechtssache aufwirft, und die Rechtssache C‑745/21, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid, in der es um die Rechte eines ungeborenen Kindes geht, gegen dessen Mutter eine Entscheidung zur Überstellung nach Litauen aufgrund der Verordnung Nr. 604/2013 ergangen ist, während sein Vater in den Niederlanden internationalen Schutz genießt.

( 4 ) Vgl. in diesem Sinne Art. 33 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9), wonach nur Personen, die internationalen Schutz genießen, sich im Gebiet des Mitgliedstaats, der diesen Schutz gewährt hat, frei bewegen und dort ihren Aufenthalt wählen dürfen, sowie Urteil vom 1. März 2016, Alo und Osso (C‑443/14 und C‑444/14, EU:C:2016:127, Rn. 37).

( 5 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).

( 6 ) Am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnet und am 22. April 1954 in Kraft getreten (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]). Es wurde ergänzt durch das am 31. Januar 1967 in New York geschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das am 4. Oktober 1967 in Kraft getreten ist. Vgl. insbesondere Art. 28 dieses Abkommens.

( 7 ) Am 16. Oktober 1980 in Straßburg unterzeichnet (STE Nr. 107). In dem Grünbuch über das künftige Gemeinsame Europäische Asylsystem vom 6. Juni 2007 (KOM[2007] 301 endg., nicht im ABl. veröffentlicht, Nr. 2.3, S. 7) hat die Europäische Kommission die Anwendung dieses Mechanismus in Betracht gezogen, auf den in der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44), geändert durch die Richtlinie 2011/51/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2011 (ABl. 2011, L 132, S. 1), verwiesen wird. Vgl. zu dieser Thematik auch Ippolito, F., „Reconnaissance et confiance mutuelles en matière d’immigration et d’asile: de l’in(é)volution d’un principe?“, in Fartunova-Michel, M., und Marzo, C., Les dimensions de la reconnaissance mutuelle en droit de l’Union européenne, Bruylant, Brüssel 2018, S. 218 bis 243 (220).

( 8 ) BGBl 2008 I S. 1798.

( 9 ) BGBl 2016 I S. 1939.

( 10 ) Vgl. dazu Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219), in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass „ein Mitgliedstaat … einen anderen Mitgliedstaat nicht im Rahmen der durch die [Verordnung Nr. 604/2013] festgelegten Verfahren wirksam darum ersuchen [kann], einen Angehörigen eines Drittstaats aufzunehmen oder wieder aufzunehmen, der im ersten Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem ihm im zweiten Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt worden ist“ (Rn. 78).

( 11 ) Angesichts der kurzen Dauer ihres Aufenthalts in Polen fallen sie auch nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/109.

( 12 ) Vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 5. April 2017, Ahmed (C‑36/17, EU:C:2017:273, Rn. 38).

( 13 ) In diesem Fall verließen die Mitglieder einer syrischen Familie Griechenland, obwohl ihnen in diesem Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden war, um sich nach Luxemburg zu begeben, wo das jüngste Geschwisterkind geboren wurde. In diesem Mitgliedstaat stellte das Kind einen Antrag auf internationalen Schutz, der auch gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 für unzulässig erklärt wurde.

( 14 ) Hervorhebung nur hier.

( 15 ) Hervorhebung nur hier.

( 16 ) In diesem Zusammenhang halte ich es mit der Kommission für irrelevant, dass die Familienangehörigen der Klägerin in Deutschland internationalen Schutz beantragt haben. Diese Anträge wurden nämlich gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 für unzulässig erklärt.

( 17 ) Verordnung des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 50, S. 1).

( 18 ) Vgl. in diesem Sinne Begründung der Kommission zu ihrem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Staatsangehöriger eines dritten Landes in einem Mitgliedstaat gestellt hat (KOM[2001] 447 endg.).

( 19 ) Im vorliegenden Fall haben die Familienangehörigen der Klägerin ihren Antrag auf internationalen Schutz 2012 in Polen gestellt, während das Kind den betreffenden Antrag 2016 in Deutschland gestellt hat.

( 20 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2020, Minister for Justice and Equality (Antrag auf internationalen Schutz in Irland) (C‑616/19, EU:C:2020:1010, Rn. 51 und 52 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Dieses Ziel verfolgen auch die Richtlinie 2013/32, wie aus deren 13. Erwägungsgrund hervorgeht, dem zufolge „[d]ie Angleichung der Rechtsvorschriften über die Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes … dazu beitragen [soll], die Sekundärmigration von Antragstellern zwischen Mitgliedstaaten, soweit sie auf rechtliche Unterschiede zurückzuführen ist, einzudämmen, und gleiche Bedingungen für die Anwendung der Richtlinie 2011/95/EU in den Mitgliedstaaten zu schaffen“, sowie – laut ihrem zwölften Erwägungsgrund – die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).

( 21 ) Hervorhebung nur hier. Vgl. auch Urteil vom 22. Februar 2022, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Familienverband – bereits gewährter Schutz) (C‑483/20, EU:C:2022:103), in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass „sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 [ergibt], dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, zu prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95 zuzuerkennen ist, wenn dieser Schutz bereits in einem anderen Mitgliedstaat gewährleistet ist“ (Rn. 24).

( 22 ) Vgl. dazu Urteil vom 22. Februar 2022, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Familienverband – bereits gewährter Schutz) (C‑483/20, EU:C:2022:103, Rn. 29 und 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 23 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Tompa) (C‑564/18, EU:C:2020:218, Rn. 29 und 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 149 und 182 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 24 ) Art. 24 Abs. 2 der Charta lautet: „Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.“

( 25 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2021, Bundesrepublik Deutschland (Wahrung des Familienverbands) (C‑91/20, EU:C:2021:898, Rn. 51).

( 26 ) Dabei könnte es sich entsprechend den vom Gerichtshof im Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova (C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 72), aufgestellten und im Urteil vom 9. November 2021, Bundesrepublik Deutschland (Wahrung des Familienverbands) (C‑91/20, EU:C:2021:898, Rn. 41), bestätigten Grundsätzen um eine primäre oder eine abgeleitete Anerkennung handeln.

( 27 ) C‑91/20, EU:C:2021:898.

( 28 ) Rn. 37 dieses Urteils.

( 29 ) Der Unionsgesetzgeber stellt klar, dass diese Bestimmung ungeachtet der Frage gilt, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat, womit sie von der Definition des Begriffs „Familienangehörige“ in Art. 2 Buchst. g der Verordnung abweicht.

( 30 ) Verordnung der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 343/2003 (ABl. 2003, L 222, S. 3), zuletzt geändert durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 (ABl. 2014, L 39, S. 1). Diese Verordnung wurde aufgrund von Art. 17 Abs. 3 der Verordnung Nr. 343/2003, jetzt Art. 21 Abs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013, erlassen.

( 31 ) Dieser Unterschied in der Formulierung ist allen Sprachfassungen gemeinsam.

( 32 ) Vgl. Art. 24 der Richtlinie 2011/95.

( 33 ) Vgl. Art. 21 Abs. 3 und Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95.

( 34 ) Nach Art. 24 der Richtlinie 2011/95 ist der einer Person mit Flüchtlingsstatus gewährte Aufenthaltstitel drei Jahre gültig und verlängerbar, während der einer Person mit subsidiärem Schutzstatus gewährte Aufenthaltstitel mindestens ein Jahr gültig ist und um mindestens zwei Jahre verlängert werden kann. Im Ausgangsverfahren sind die Aufenthaltstitel der Familienangehörigen der Klägerin laut den von Polen übermittelten Informationen am 4. Mai 2015 abgelaufen.

( 35 ) Andernfalls wird nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 604/2013 der Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

( 36 ) Vgl. Art. 6 Abs. 1 dieser Verordnung.

( 37 ) Dieser Artikel besagt, dass bei allen ein Kind betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss. Vgl. auch Urteil vom 9. November 2021, Bundesrepublik Deutschland (Wahrung des Familienverbands) (C‑91/20, EU:C:2021:898, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 38 ) Vgl. auch 13. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 604/2013.

( 39 ) Vgl. in diesem Zusammenhang Urteil vom 8. Juni 2017, OL (C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 42 ff. sowie die dort angeführte Rechtsprechung), das die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1) betraf.

( 40 ) C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219.

( 41 ) Die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Polen haben dieses Übereinkommen ratifiziert.