Rechtssache C‑68/15

X

gegen

Ministerraad

(Vorabentscheidungsersuchen des Grondwettelijk Hof)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Niederlassungsfreiheit – Mutter‑Tochter‑Richtlinie – Steuerrecht – Steuer auf die Gewinne von Gesellschaften – Ausschüttung von Dividenden – Steuerabzug an der Quelle – Doppelbesteuerung – Fairness Tax“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 17. Mai 2017

  1. Freizügigkeit–Niederlassungsfreiheit–Steuerrecht–Steuer auf die Gewinne von Gesellschaften–Ausschüttung von Dividenden–Erhebung einer Fairness Tax sowohl bei einer gebietsfremden als auch bei einer gebietsansässigen Gesellschaft anlässlich der Ausschüttung nicht besteuerter Dividenden–Zulässigkeit–Voraussetzung–Keine weniger günstige Behandlung der gebietsfremden Gesellschaft gegenüber einer gebietsansässigen Gesellschaft–Dem nationalen Gericht obliegende Prüfung

    (Art. 49 und 54 AEUV)

  2. Rechtsangleichung–Gemeinsames Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten–Richtlinie 2011/96/EU–Befreiung der an die Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne vom Steuerabzug an der Quelle im Mitgliedstaat der Tochtergesellschaft–Steuerabzug an der Quelle–Begriff–Erhebung einer Fairness Tax sowohl bei einer gebietsfremden als auch bei einer gebietsansässigen Gesellschaft anlässlich der Ausschüttung nicht besteuerter Dividenden–Steuerpflichtigkeit der ausschüttenden Gesellschaft, nicht aber des Inhabers der Wertpapiere–Nichteinbeziehung

    (Richtlinie 2011/96 des Rates, Art. 5)

  3. Rechtsangleichung–Gemeinsames Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten–Richtlinie 2011/96/EU–Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung–Erhebung einer Fairness Tax sowohl bei einer gebietsfremden als auch bei einer gebietsansässigen Gesellschaft anlässlich der Ausschüttung nicht besteuerter Dividenden–Besteuerung der Gewinne, die einer Muttergesellschaft von ihrer Tochtergesellschaft zufließen, anlässlich der Weiterausschüttung dieser Gewinne–Besteuerung, die im Fall der Weiterausschüttung nach Ablauf des Jahres des Zuflusses den in der Richtlinie 2011/96 vorgesehenen Höchstsatz von 5 % übersteigt–Unzulässigkeit

    (Richtlinie 2011/96 des Rates, Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3)

  1.  Die Niederlassungsfreiheit ist dahin auszulegen, dass sie einer Steuerregelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden – nach der sowohl eine gebietsfremde Gesellschaft, die in diesem Mitgliedstaat eine Tätigkeit über eine Betriebsstätte ausübt, als auch eine gebietsansässige Gesellschaft, einschließlich der gebietsansässigen Tochtergesellschaft einer gebietsfremden Gesellschaft, einer Steuer wie der Fairness Tax unterliegen, wenn sie Dividenden ausschütten, die aufgrund der Anwendung bestimmter, im nationalen Steuerrecht vorgesehener Steuervergünstigungen nicht in ihrem endgültigen steuerpflichtigen Ergebnis enthalten sind – nicht entgegensteht, vorausgesetzt, die Art und Weise der Ermittlung der Bemessungsgrundlage dieser Steuer hat nicht tatsächlich zur Folge, dass die gebietsfremde Gesellschaft weniger günstig behandelt wird als eine gebietsansässige Gesellschaft, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

    Im Rahmen dieser Prüfung hat das vorlegende Gericht den Umstand zu berücksichtigen, dass mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung der belgischen Steuerhoheit unterliegende Gewinne besteuert werden sollen, die zwar ausgeschüttet wurden, aber über die dieser Mitgliedstaat seine Steuerhoheit aufgrund der Anwendung bestimmter, im nationalen Steuerrecht vorgesehener Steuervergünstigungen nicht ausgeübt hat. In einer Situation, in der die Art und Weise der Berechnung der Steuerbemessungsgrundlage einer gebietsfremden Gesellschaft zur Folge hätte, dass diese Gesellschaft auch mit den Gewinnen besteuert würde, die nicht in die Steuerhoheit dieses Mitgliedstaats fallen, erführe die gebietsfremde Gesellschaft eine weniger günstige Behandlung als die gebietsansässige Gesellschaft.

    (vgl. Rn. 48, 61, Tenor 1)

  2.  Art. 5 der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass er einer Steuerregelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden – die eine Steuer wie die Fairness Tax vorsieht, der sowohl die gebietsfremden Gesellschaften, die in diesem Mitgliedstaat eine Tätigkeit über eine Betriebsstätte ausüben, als auch die gebietsansässigen Gesellschaften, einschließlich der gebietsansässigen Tochtergesellschaft einer gebietsfremden Gesellschaft, unterliegen, wenn sie Dividenden ausschütten, die aufgrund der Anwendung bestimmter, im nationalen Steuerrecht vorgesehener Steuervergünstigungen nicht in ihrem endgültigen steuerpflichtigen Ergebnis enthalten sind – nicht entgegensteht.

    Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen drei Kriterien kumulativ erfüllt sein, damit eine Steuer als Quellensteuer im Sinne von Art. 5 der Mutter-Tochter-Richtlinie eingestuft werden kann. So muss erstens die Steuer in dem Staat erhoben werden, in dem die Dividenden ausgeschüttet werden, und der sie auslösende Tatbestand in der Zahlung von Dividenden oder anderen Erträgen von Wertpapieren bestehen, zweitens die Bemessungsgrundlage dieser Steuer im Ertrag dieser Wertpapiere bestehen und drittens der Steuerpflichtige Inhaber dieser Wertpapiere sein (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Juni 2010, P. Ferrero e C. und General Beverage Europe, C‑338/08 und C‑339/08, EU:C:2010:364, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    Jedoch fehlt es insoweit, als Steuerpflichtiger einer Steuer wie der Fairness Tax nicht der Inhaber der Wertpapiere ist, sondern die ausschüttende Gesellschaft, an der dritten Voraussetzung.

    (vgl. Rn. 63, 65, 68, Tenor 2)

  3.  Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/96 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Steuerregelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, soweit diese Regelung in einer Situation, in der die Gewinne, die einer Muttergesellschaft von ihrer Tochtergesellschaft zufließen, von dieser Muttergesellschaft nach Ablauf des Jahres, in dem ihr diese Gewinne zugeflossen sind, ausgeschüttet werden, zur Folge hat, dass diese Gewinne einer Besteuerung unterworfen werden, die den in dieser Vorschrift vorgesehenen Höchstbetrag von 5 % übersteigt.

    Erstens untersagt diese Vorschrift den Mitgliedstaaten nämlich, indem sie vorsieht, dass der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft und der Mitgliedstaat der Betriebstätte „diese Gewinne nicht besteuern“, die Muttergesellschaft oder deren Betriebstätte wegen der von der Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne zu besteuern, ohne dass danach unterschieden würde, ob der die Besteuerung der Muttergesellschaft auslösende Tatbestand im Zufluss dieser Gewinne oder in deren Weiterausschüttung besteht.

    Zweitens zielt die Mutter-Tochter-Richtlinie, wie in den Rn. 70 und 71 des vorliegenden Urteils ausgeführt, darauf ab, die Doppelbesteuerung der von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne auf Ebene der Muttergesellschaft zu beseitigen. Eine Besteuerung dieser Gewinne durch den Mitgliedstaat der Muttergesellschaft bei dieser anlässlich der Weiterausschüttung dieser Gewinne, die zur Folge hat, dass diese Gewinne einer Besteuerung unterliegen, die tatsächlich den in Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie vorgesehenen Höchstbetrag von 5 % übersteigt, würde aber zu einer nach der genannten Richtlinie verbotenen Doppelbesteuerung auf Ebene der Muttergesellschaft führen.

    (vgl. Rn. 79, 80, 82, Tenor 3)