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Document 52014DC0158
COMMUNICATION FROM THE COMMISSION TO THE EUROPEAN PARLIAMENT AND THE COUNCIL A new EU Framework to strengthen the Rule of Law
MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DEN RAT Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips
MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DEN RAT Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips
/* COM/2014/0158 final */
MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DEN RAT Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips /* COM/2014/0158 final */
INHALT MITTEILUNG
DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DEN RAT Ein neuer EU-Rahmen zur
Stärkung des Rechtsstaatsprinzips 1........... Einführung.................................................................................................................... 2 2........... Warum das Rechtsstaatsprinzip für die EU von grundlegender Bedeutung
ist........... 4 3........... Warum ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips
erforderlich ist 5 4........... Funktionsweise des neuen EU-Rahmens...................................................................... 7 4.1........ Anwendung des neuen EU-Rahmens........................................................................... 7 4.2........ Der neue EU-Rahmen als dreistufiges Verfahren........................................................ 8 5........... Fazit............................................................................................................................ 10
1.
Einführung
Das Rechtsstaatsprinzip ist das Rückgrat jeder modernen
demokratischen Grundordnung. Es gehört zu den tragenden Grundsätzen der
gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen aller EU-Mitgliedstaaten und mithin zu
den Grundwerten, auf die die Union gestützt ist. Dies folgt aus Artikel 2
des Vertrags über die Europäische Union (EUV) sowie aus seiner Präambel und der
Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Aus diesem Grund ist die Achtung
des Rechtsstaatsprinzips gemäß Artikel 49 EUV auch eine Voraussetzung für
die Aufnahme in die EU. Die Rechtsstaatlichkeit ist neben Demokratie und
Menschenrechten eine der drei Säulen des Europarats und in der Präambel der
Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(EMRK) verankert.[1] Die Europäische Union ist auf dem Vertrauen ihrer Mitgliedstaaten
untereinander und auf deren Rechtsordnungen gegründet. Wie dem Vorrang des
Rechts auf nationaler Ebene Geltung verschafft wird, ist hier von
entscheidender Bedeutung. Das Vertrauen aller EU-Bürger und nationalen Behörden
in das Rechtsstaatsprinzip hat für die Weiterentwicklung der EU zu einem „Raum
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen“[2] besonderes Gewicht. Dieses Vertrauen
kann nur wachsen und gedeihen, wenn der Vorrang des Rechts in allen
Mitgliedstaaten beachtet wird. Die Verfassungs- und Justizordnungen der EU-Mitgliedstaaten sind
im Prinzip so angelegt und ausgestaltet, dass sie die Bürger vor jeder
Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit schützen können. Wie die Ereignisse in
einigen Mitgliedstaaten jedoch unlängst gezeigt haben, kann die mangelnde
Achtung der Rechtsstaatlichkeit und mithin der Grundwerte, die durch den
Vorrang des Rechts geschützt werden sollen, Anlass zu ernster Sorge geben. In
diesen Fällen ist die EU und insbesondere die Kommission von der Öffentlichkeit
unmissverständlich aufgefordert worden, tätig zu werden. Es wurde so manches
erreicht. Doch musste die Kommission – und die EU – von Fall zu Fall geeignete
Lösungen finden, da es mit den vorhandenen EU-Mechanismen und -verfahren nicht
immer möglich war, wirksam und zügig auf die Bedrohung zu reagieren. Der Kommission obliegen als Hüterin der Verträge die Achtung der
Werte, auf die sich die EU gründet, und der Schutz der allgemeinen Interessen
der Union. Sie muss daher jetzt aktiv werden.[3] In
seiner jährlichen Rede vor dem Europäischen Parlament zur Lage der Union im
September 2012 sagte Kommissionspräsident Barroso: „Wir brauchen ein besseres
Instrumentarium – nicht nur die Alternative zwischen der „sanften Gewalt“
politischer Überzeugungskunst und der „radikalen Option“ von Artikel 7 des
Vertrags.“ In seiner Rede im darauffolgenden Jahr 2013 sagte er: „Die Erfahrung
hat gezeigt, wie wichtig die Rolle der Kommission als unabhängiger und
neutraler Schlichterin ist. Wir sollten auf dieser Erfahrung aufbauen und einen
allgemeineren Rahmen dafür schaffen. […] Die Kommission wird zu diesem Thema
eine Mitteilung vorlegen. Diese Debatte ist meiner Meinung nach von zentraler
Bedeutung für unsere Vorstellung von Europa.“[4] Auf seiner Tagung im Juni 2013 unterstrich der Rat „Justiz und
Inneres“, dass „die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit eine Grundvoraussetzung für
den Schutz der Grundrechte“ ist und forderte die Kommission auf, „die Debatte
über die Frage, ob diese Themen im Wege einer auf Zusammenarbeit beruhenden,
systematischen Methode behandelt werden sollten und wie diese Methode aussehen
könnte, im Einklang mit den Verträgen voranzutreiben“. Im April 2013 hielt der
Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ eine umfassende Aussprache zu diesem Thema ab.[5] Im Juli 2013 forderte das Europäische Parlament mit Nachdruck,
„dass die kontinuierliche Einhaltung der Grundwerte der Union und der
Anforderungen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit durch die
Mitgliedstaaten regelmäßig überprüft wird“[6]. Mit der vorliegenden Mitteilung kommt die Kommission diesen
Aufforderungen nach. In der Mitteilung wird ein neuer Rahmen für einen
wirksamen, einheitlichen Schutz der Rechtsstaatlichkeit in allen
Mitgliedstaaten vorgestellt, in den die Erfahrungen der Kommission, der
interinstitutionelle Meinungsaustausch und die Ergebnisse umfassender
Konsultationen[7]
eingeflossen sind. Er soll in Fällen greifen, in denen systembedingte Gefahren
für die Rechtsstaatlichkeit bestehen.[8] Mit diesem Rahmen sollen Gefahren für das Rechtsstaatsprinzip abgewendet
werden, bevor die Voraussetzungen für die Aktivierung des Mechanismus in
Artikel 7 EUV gegeben sind. Er ist keine Alternative zu Artikel 7
EUV, sondern er ergänzt ihn und dient eher dazu, eine Lücke im Vorfeld zu
schließen. Die Befugnis der Kommission, in bestimmten Fällen, für die EU-Recht
maßgebend ist, auf das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Artikel 258 des
Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zurückzugreifen,
bleibt hiervon unberührt. Aus der Sicht des weiteren Europas soll der EU-Rahmen – auch mit
Hilfe der Expertise der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht
(Venedig-Kommission)[9] – dazu
beitragen, die Ziele des Europarats zu verwirklichen.
2.
Warum
das Rechtsstaatsprinzip für die EU von grundlegender Bedeutung ist
Die Rechtsstaatlichkeit ist im modernen Verfassungsrecht und in
internationalen Organisationen (u. a. in den Vereinten Nationen und im
Europarat) nach und nach zum beherrschenden Ordnungsprinzip für die Regelung
der Ausübung öffentlicher Gewalt geworden. Der Vorrang des Rechts
gewährleistet, dass öffentliche Gewalt innerhalb der gesetzlichen Grenzen im
Einklang mit den Werten der Demokratie und Grundrechte unter der Kontrolle
unabhängiger und unparteiischer Gerichte ausgeübt wird. Wie die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Grundsätze und
Normen auf nationaler Ebene im Einzelnen ausgestaltet sind, kann je nach
Verfassungssystem der Mitgliedstaaten unterschiedlich sein, doch ist der
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) und des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sowie den Texten des
Europarats, die sich vor allem auf das Wissen der Venedig-Kommission stützen,
eine nicht erschöpfende Aufstellung dieser Grundsätze zu entnehmen, die das
Rechtsstaatsprinzip im Kern als gemeinsamen Wert der EU im Sinne des
Artikels 2 EUV definieren. Zu diesen Grundsätzen zählen das Rechtmäßigkeitsprinzip
(das einen transparenten, rechenschaftspflichtigen, demokratischen und
pluralistischen Gesetzgebungsprozess impliziert), die Rechtssicherheit, das
Willkürverbot, unabhängige und unparteiische Gerichte, eine wirksame
richterliche Kontrolle, die Achtung der Grundrechte und Gleichheit vor dem
Gesetz.[10] Wie EuGH und EGMR übereinstimmend bestätigt haben, handelt es sich
bei diesen Grundsätzen nicht um rein formale, prozedurale Anforderungen. Sie
sind die Vektoren, die die Wahrung und Achtung der Demokratie und
Menschenrechte sicherstellen. Die Rechtsstaatlichkeit ist mithin ein
Verfassungsgrundsatz mit formaler wie inhaltlicher Komponente.[11] Dies bedeutet, dass die Achtung des Rechtsstaatsprinzips
untrennbar mit der Achtung der Demokratie und der Grundrechte verbunden ist:
Demokratie und Achtung der Grundrechte sind ohne Wahrung der
Rechtsstaatlichkeit nicht möglich, was umgekehrt genauso gilt. Grundrechte
können ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn sie einklagbar sind. Wenn die
Justiz – einschließlich der Verfassungsgerichte – ihre grundlegende Aufgabe
wahrnimmt und es ihr gelingt, die Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und
die Einhaltung der Regeln, die die politischen Abläufe und das Wahlrecht
bestimmen, zu garantieren, dann ist auch der Schutz der Demokratie garantiert. Das Rechtsstaatsprinzip ist in der EU von besonderer Bedeutung.
Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit ist nicht nur Voraussetzung für den Schutz
sämtlicher in Artikel 2 EUV aufgelisteter Grundwerte, sie ist auch eine
Voraussetzung für die Wahrnehmung aller Rechte und Pflichten, die sich aus den
Verträgen und dem Völkerrecht ergeben. Die EU kann nur dann als „Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen“ wirken, wenn alle
EU-Bürger und nationalen Behörden Vertrauen in die Rechtsordnung der anderen
Mitgliedstaaten haben. Heute muss ein Urteil in Zivil- oder Handelssachen in
einem anderen Mitgliedstaat ohne weitere Formalitäten anerkannt und vollstreckt
werden. Gleiches gilt für einen Europäischen Haftbefehl.[12] Diese Beispiele machen deutlich,
warum es alle Mitgliedstaaten angeht, wenn das Rechtsstaatsprinzip in einem
Mitgliedstaat nicht voll und ganz beachtet wird. Die EU hat deshalb ein großes
Interesse daran, dass das Rechtsstaatsprinzip unionsweit geschützt und gestärkt
wird.
3.
Warum
ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips erforderlich ist
Wenn die auf nationaler Ebene etablierten Mechanismen zur
Sicherung des Rechtsstaatsprinzips nicht mehr richtig funktionieren, erwächst
aus dem Systemversagen eine Bedrohung für den Rechtsstaat und damit für den
europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne
Binnengrenzen. In solchen Fällen muss die EU tätig werden, um die
Rechtsstaatlichkeit als gemeinsamen Wert der Union zu schützen. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass das auf Ebene der Union
vorhandene Instrumentarium nicht in allen Fällen ausreicht, um einer
systemischen Gefährdung des Rechtsstaatsprinzips in den Mitgliedstaaten zu
begegnen. Von der Kommission auf der Grundlage von Artikel 258 AEUV eingeleitete
Vertragsverletzungsverfahren haben sich als wichtiges Instrument
erwiesen, um bestimmten rechtsstaatlichen Anliegen Geltung zu verschaffen.[13] Vertragsverletzungsverfahren stehen
der Kommission allerdings nur dann zur Verfügung, wenn diese Anliegen mit einer
Zuwiderhandlung gegen EU-Recht einhergehen.[14] Es gibt Problemfälle, die nicht vom EU-Recht erfasst sind und deshalb
nicht als Verletzung von aus den EU-Verträgen erwachsenden Pflichten angesehen
werden können, aber dennoch eine systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit
darstellen. In diesen Fällen kann auf das in Artikel 7 EUV vorgesehenen
Präventiv- und Sanktionsverfahren zurückgegriffen werden. Die Kommission
gehört zu den Akteuren, die der EUV zur Vorlage eines begründeten Vorschlags,
mit dem das Verfahren in Gang gesetzt wird, ermächtigt. Artikel 7 EUV soll
sicherstellen, dass alle Mitgliedstaaten die gemeinsamen Werte der EU,
einschließlich der Rechtsstaatlichkeit, beachten. Sein Anwendungsbereich ist
nicht auf die durch Unionsrecht geregelten Bereiche beschränkt. Zum Schutz der
Rechtsstaatlichkeit kann die EU auf dieser Grundlage auch in Bereichen tätig
werden, in denen die Mitgliedstaaten autonom handeln. Wie in der Mitteilung der
Kommission zu Artikel 7 EUV ausgeführt, ist ein Eingreifen der EU
gerechtfertigt, weil „die Gefahr besteht, dass die Grundlagen der Union und das
Vertrauen unter den Mitgliedstaaten erschüttert werden, wenn ein Mitgliedstaat
die Grundwerte in so schwerwiegendem Maße verletzt, dass die Voraussetzungen
für eine Anwendung von Artikel 7 erfüllt sind, und zwar ungeachtet des
Bereichs, in dem diese Verletzungen erfolgen“[15]. Das Präventivverfahren des Artikels 7 Absatz 1 EUV kann
allerdings nur bei einer „eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“
eingeleitet werden, und die Einleitung des Sanktionsverfahrens des
Artikels 7 Absatz 2 EUV setzt eine „schwerwiegende und anhaltende
Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat“
voraus. Die Schwellen für die Aktivierung von Artikel 7 EUV sind sehr
hoch, was deutlich macht, dass diese beiden Verfahren nur als letztes Mittel
zur Anwendung gelangen. Die jüngsten Entwicklungen in einigen Mitgliedstaaten haben
gezeigt, dass diese Verfahren nicht immer geeignet sind, um schnell auf eine
Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat reagieren zu können. Es gibt somit Situationen, in denen die vorhandenen Instrumente
nicht ausreichen.[16]
Zusätzlich zu den Vertragsverletzungsverfahren und den Verfahren nach
Artikel 7 EUV ist daher ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des
Rechtsstaatsprinzips, das zu den gemeinsamen Grundwerten der EU gehört,
erforderlich. Dieser EU-Rahmen soll die auf Ebene des Europarats bereits
vorhandenen Mechanismen zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit ergänzen.[17] Er ist Ausdruck der Zielsetzung der
EU, die Grundwerte der Union zu schützen und gleichzeitig das Vertrauen und die
Integration im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne
Binnengrenzen weiter zu vertiefen. Mit dem neuen EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips will
die Kommission mehr Klarheit in Bezug auf die Maßnahmen schaffen, zu denen sie
künftig aufgefordert werden könnte, und diese so berechenbarer machen.
Gleichzeitig soll die Gleichbehandlung aller Mitgliedstaaten gewährleistet
sein. Die Kommission möchte diese Fragen auf der Grundlage dieser Mitteilung
mit den Mitgliedstaaten, dem Rat und dem Europäischen Parlament weiter
erörtern.
4.
Funktionsweise
des neuen EU-Rahmens
Der neue EU-Rahmen soll die Kommission in die Lage versetzen,
zusammen mit dem betroffenen Mitgliedstaat eine Lösung zu finden, um zu
verhindern, dass sich in diesem Mitgliedstaat eine systemimmanente Gefahr für
das Rechtsstaatsprinzip herausbildet, die sich zu einer „eindeutigen Gefahr
einer schwerwiegenden Verletzung“ der Rechtsstaatlichkeit im Sinne des
Artikels 7 EUV entwickeln könnte und die Aktivierung der dort vorgesehenen
Verfahren erforderlich machen würde. Der EU-Rahmen wird für alle Mitgliedstaaten in gleicher Weise und
auf der Grundlage derselben Parameter zur Bestimmung einer systemischen
Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit gelten. Alle Mitgliedstaaten sind auf diese
Weise gleichgestellt.
4.1.
Anwendung
des neuen EU-Rahmens
Der neue EU-Rahmen gelangt zur Anwendung, wenn die Behörden eines
Mitgliedstaats Maßnahmen ergreifen oder Umstände tolerieren, die aller
Wahrscheinlichkeit nach die Integrität, Stabilität oder das ordnungsgemäße
Funktionieren der Organe und der auf nationaler Ebene zum Schutz des
Rechtsstaats vorgesehenen Sicherheitsvorkehrungen systematisch beeinträchtigen.
Bei vereinzelten Grundrechtsverstößen oder Justizirrtümern
hingegen soll das neue EU-Verfahren nicht greifen. Diese Fälle können und
sollen der nationalen Justiz oder den Kontrollmechanismen der Europäischen
Menschenrechtskonvention, der alle EU-Mitgliedstaaten beigetreten sind,
überlassen werden. Der neue EU-Rahmen soll in erster Linie bei einer Gefährdung
der Rechtsstaatlichkeit (im Sinne der Begriffsbestimmung in Abschnitt 2)
zur Anwendung kommen, die ihrem Wesen nach systemimmanent ist[18]. Die Gefährdung muss sich gegen die
politische, institutionelle und/oder rechtliche Ordnung eines Mitgliedstaats
als solche, die verfassungsmäßige Struktur, die Gewaltenteilung, die
Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit der Justiz oder das System der
richterlichen Kontrolle einschließlich der Verfassungsjustiz (sofern vorhanden) richten
und beispielsweise von neuen Maßnahmen oder weit verbreiteten Praktiken der
Behörden und fehlendem Rechtsschutz ausgehen. Das neue EU-Verfahren kommt zum
Einsatz, wenn die nationalen Vorkehrungen zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit
nicht ausreichend erscheinen, um die Gefährdung effektiv abzustellen. Die Kommission wäre durch das neue EU-Verfahren nicht daran
gehindert, in Situationen, in denen EU-Recht maßgebend ist, von ihren
Befugnissen gemäß Artikel 258 AEUV Gebrauch zu machen. Auch spricht nichts
dagegen, die Verfahren des Artikels 7 EUV bei einer plötzlichen
Verschlechterung der Lage in einem Mitgliedstaat, die eine energischere
Reaktion der EU erfordert, direkt in Gang zu setzen.[19]
4.2.
Der
neue EU-Rahmen als dreistufiges Verfahren
Gibt es klare Hinweise auf eine systemische Gefährdung der
Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat, tritt die Kommission mit diesem
Mitgliedstaat in einen strukturierten Dialog. Das Verfahren basiert auf
folgenden Grundsätzen: - Problemlösung im Wege eines Dialogs
mit dem betroffenen Mitgliedstaat - objektive, sorgfältige
Sachstandsanalyse - Achtung des
Gebots der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten - Empfehlung rascher
und konkreter Maßnahmen gegen die systemische Gefährdung der
Rechtsstaatlichkeit und zur Abwendung des Verfahrens nach Artikel 7 EUV. Das Verfahren zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit läuft
grundsätzlich in drei Stufen ab: Sachstandsanalyse der Kommission, Empfehlung
der Kommission und Follow-up zur Empfehlung. Sachstandsanalyse der Kommission Die Kommission wird alle relevanten Informationen einholen und
daraufhin prüfen, ob es klare Anzeichen für eine systemische Gefährdung der
Rechtsstaatlichkeit (wie vorstehend beschrieben) gibt. Die Analyse kann auf
Hinweise aus verfügbaren Quellen und von anerkannten Institutionen, unter
anderem von Einrichtungen des Europarats und der Agentur der Europäischen Union
für Grundrechte[20],
gestützt werden. Gelangt die Kommission nach dieser vorläufigen Prüfung zu dem
Ergebnis, dass in der Tat eine systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit
vorliegt, tritt sie mit dem betroffenen Mitgliedstaat in einen Dialog, in dem
sie eine „Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit“ an den Mitgliedstaat richtet,
in der sie ihre Bedenken begründet und dem Mitgliedstaat Gelegenheit gibt, sich
dazu zu äußern. Dieser Stellungnahme können ein Schriftwechsel und Treffen mit
den zuständigen Behörden vorausgehen, gegebenenfalls gefolgt von weiteren
Kontakten. Von dem betroffenen Mitgliedstaat wird erwartet, dass er im
Einklang mit der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit gemäß Artikel 4
Absatz 3 EUV während des gesamten Verfahrens kooperiert und von
irreversiblen Maßnahmen in Bezug auf die von der Kommission geltend gemachten
Bedenken Abstand nimmt, solange die Kommission ihre Sachstandsanalyse noch
nicht abgeschlossen hat. Der Umstand, dass ein Mitgliedstaat nicht kooperiert
oder das Verfahren sogar behindert, wird bei der Beurteilung der Schwere der
Gefährdung berücksichtigt. In diesem Stadium des Verfahrens gibt die Kommission zwar bekannt,
dass sie eine Rechtsstaatlichkeitsanalyse und eine Stellungnahme auf den Weg
gebracht hat, die Kontakte mit dem betroffenen Mitgliedstaat selbst werden
jedoch grundsätzlich vertraulich behandelt, um eine rasche Problemlösung zu
ermöglichen. Empfehlung der Kommission In der zweiten Verfahrensphase wird die Kommission, wenn sie
feststellt, dass es objektive Hinweise auf eine systemische Gefährdung der
Rechtsstaatlichkeit gibt und der betroffene Mitgliedstaat auf diese Gefährdung
nicht angemessen reagiert, eine „Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit“ an den
Mitgliedstaat richten, sofern die Angelegenheit in der Zwischenzeit nicht
zufriedenstellend geregelt werden konnte. In ihrer Empfehlung legt die Kommission in klaren Worten die
Gründe für ihre Bedenken dar und setzt dem Mitgliedstaat eine Frist, innerhalb
deren er die beanstandeten Probleme zu beheben hat. Der Mitgliedstaat
informiert die Kommission über die hierzu von ihm unternommenen Schritte. Die
Empfehlung kann gegebenenfalls konkrete Hinweise zur Problemlösung enthalten. Die Sachstandsanalyse der Kommission und die Schlussfolgerungen
stützen sich sowohl auf die Ergebnisse des Dialogs mit dem betroffenen
Mitgliedstaat als auch auf etwaige zusätzliche Hinweise, zu denen der
Mitgliedstaat ebenfalls im Voraus gehört werden muss. Die Versendung der Empfehlung und deren wesentlicher Inhalt werden
von der Kommission bekanntgegeben. Follow-up zur Empfehlung der Kommission Als dritten Schritt wird die Kommission die Maßnahmen verfolgen,
die der betroffene Mitgliedstaat auf die an ihn gerichtete Empfehlung hin
ergriffen hat. Das Monitoring kann auf der Grundlage weiterer Kontakte mit dem
betroffenen Mitgliedstaat erfolgen und sich beispielsweise darauf richten, ob
bestimmte problematische Praktiken andauern oder wie der Mitgliedstaat seine in
der Zwischenzeit eingegangenen Verpflichtungen zur Überwindung der Probleme
einlöst. Kommt der Mitgliedstaat der Empfehlung innerhalb der gesetzten
Frist nicht zufriedenstellend nach, prüft die Kommission die Möglichkeit, eines
der Verfahren nach Artikel 7 EUV einzuleiten.[21] Einbeziehung der anderen Organe Das Europäische Parlament und der Rat werden über die in den
einzelnen Verfahrensabschnitten erzielten Fortschritte regelmäßig und eingehend
informiert. Inanspruchnahme der Expertise Dritter Die Kommission kann insbesondere in der Analysephase auf externes
Fachwissen, u. a. der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte[22], zurückgreifen, um sich über
bestimmte Aspekte im Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsprinzip in den
Mitgliedstaaten sachkundig zu machen. Mithilfe externen Fachwissens könnte eine
vergleichende Analyse der bestehenden Bestimmungen und Praktiken in anderen
Mitgliedstaaten erstellt werden, um auf der Grundlage einer gemeinsamen
Interpretation des Rechtsstaatsprinzips in der EU die Gleichbehandlung der
Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Je nach Situation kann sich die Kommission hierzu an die
Mitglieder der justiziellen Netze (z. B. des Netzes der Präsidenten der
Obersten Gerichtshöfe der EU[23], der
Vereinigung der Staatsräte und der Obersten Verwaltungsgerichte der EU[24] oder der Richterräte[25]) wenden. Die Kommission wird
zusammen mit diesen Netzwerken erörtern, wie diese bei Bedarf rasche
Unterstützung leisten können und ob hierzu besondere Vereinbarungen nötig sind. Die Kommission wird sich prinzipiell in geeigneten Fällen an den
Europarat und/oder die Venedig-Kommission wenden und ihre Analyse in allen
Fällen, in denen auch diese Institutionen befasst sind, mit ihnen abstimmen.
5.
Fazit
In dieser Mitteilung stellt die Kommission einen neuen EU-Rahmen
zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips vor. Dieser ist als Beitrag der
Kommission zur Stärkung der Fähigkeit der EU gedacht, das Rechtsstaatsprinzip
in allen Mitgliedstaaten wirksam und in gleichem Maße zu schützen. Die
Kommission kommt damit einer Aufforderung des Europäischen Parlaments und des
Rates nach. Sie stützt sich dabei auf die ihr durch die EU-Verträge
übertragenen Befugnisse, ohne künftigen Entwicklungen der Verträge in diesem
Bereich, die im Rahmen der allgemeineren Überlegungen zur Zukunft Europas
erörtert werden müssen, vorzugreifen. Zusätzlich zu den Maßnahmen der
Kommission wird es in entscheidendem Maße auf das Europäische Parlament und den
Rat ankommen, damit sich die EU entschlossener für die Wahrung der
Rechtsstaatlichkeit einsetzt. [1] Vgl. Präambel der EMRK und Artikel 3 der Satzung
des Europarats (http://conventions.coe.int/Treaty/GER/Treaties/Html/001.htm). [2] Vgl. Artikel 3 Absatz 2 EUV und Artikel 67
AEUV. [3] Rede von EU-Justizkommissarin und Vizepräsidentin
Reding, „The EU and the Rule of Law – What next?“ (http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-13-677_en.htm). [4] http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-12-596_de.htm und http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-13-684_de.htm [5] Im März 2013 hatten die Außenminister Dänemarks,
Deutschlands, Finnlands und der Niederlande auf europäischer Ebene bessere
Mechanismen zur Wahrung der Grundrechte der Union in den Mitgliedstaaten
gefordert. Zur Aussprache im Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ vgl. http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_Data/docs/pressdata/EN/genaff/136915.pdf. Zu den Schlussfolgerungen des Rats „Justiz und Inneres“ vgl. http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/jha/137404.pdf. [6] Vgl. die Entschließungen des EP mit diversen
Empfehlungen an die EU-Organe für einen besseren Schutz des Artikels 2 EUV
(zu den Berichten von Rui Tavares (2013), Louis Michel (2014) und Kinga Göncz (2014)
– http://www.europarl.europa.eu/committees/en/libe/reports.html). [7] Auf der hochrangigen Konferenz zur Rolle der Justiz in
der Europäischen Union (Assises
de la Justice), die im November 2013 stattfand und an der über 600 Personen
teilnahmen, war eine Veranstaltung speziell diesem Thema („Towards a new rule
of law mechanism“) gewidmet. Sowohl vor als auch nach der Konferenz erging ein
Aufruf zur Einreichung schriftlicher Beiträge, dem zahlreiche Personen folgten (vgl.
http://ec.europa.eu/justice/events/assises-justice-2013/contributions_en.htm). [8] Wie
Kommissionspräsident Barroso in seiner Rede zur Lage der Union vom September 2013
betonte, sollte sich der Rahmen „auf den Grundsatz stützen, dass alle
Mitgliedstaaten einander gleichgestellt sind, und nur herangezogen werden, wenn
eine große, systembedingte Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit eintritt und
vorab festgelegte Benchmarks dies nahelegen“ (http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-13-684_de.htm). [9] Die Venedig-Kommission (Europäische Kommission für
Demokratie durch Recht) ist eine Einrichtung des Europarats, die Staaten
verfassungsrechtlich berät (vgl. http://www.venice.coe.int/WebForms/pages/default.aspx?p=01_Presentation). [10] Eine Übersicht über die einschlägige Rechtsprechung zur
Rechtsstaatlichkeit und zu den sich daraus ableitenden Grundsätzen findet sich
in Anhang I. [11] Der EuGH sieht in der Rechtsstaatlichkeit nicht allein ein
formales, prozedurales Erfordernis, sondern unterstreicht auch ihren
materiellen Gehalt, wenn er feststellt, dass die Union eine
„Rechtsgemeinschaft“ ist, in der die Handlungen ihrer Organe nicht nur daraufhin
kontrolliert werden, ob sie mit dem Vertrag, sondern auch, ob sie mit „den
allgemeinen Rechtsgrundsätzen, zu denen auch die Grundrechte gehören,“
vereinbar sind (vgl. hierzu u. a. Rechtssache C-50/00 P, Unión de
Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6677, Randnrn. 38 und 39;
verbundene Rechtssachen C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi, Slg. 2008,
I-6351, Randnr. 316). Dies hat auch der Menschenrechtsgerichtshof
bestätigt, der mit der Feststellung, dass das Rechtsstaatsprinzip als Leitidee
in allen Artikeln der EMRK verankert ist, dessen inhaltlichen Gehalt anerkannt
hat (vgl. u. a. EGMR, Stafford/Vereinigtes Königreich, 28. Mai 2001,
Randnr. 63). Es sei darauf hingewiesen, dass der Gerichtshof in der
französischen Fassung nicht nur den Ausdruck „pré-éminence du droit“ („Vorrang
des Rechts“) verwendet, sondern auch vom „État de droit („Rechtsstaat“)
spricht. [12] Vgl. Rechtssache C-168/13, Jeremy F./Premier ministre,
noch nicht in der Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 35 und 36. [13] Vgl. u. a. Rechtssache C-286/12, Kommission/Ungarn,
noch nicht in der Sammlung veröffentlicht (Gleichbehandlung in Bezug auf das
Pensionsalter von Richtern und Staatsanwälten), Rechtssache C-518/07,
Kommission/Deutschland, Slg. 2010, I-1885, und Rechtssache C-614/10,
Kommission/Österreich, noch nicht in der Sammlung veröffentlicht
(Unabhängigkeit der Datenschutzbehörden). [14] Diese rechtliche Beschränkung aus dem AEUV wird deutlich,
wenn die Kommission die Beachtung der Grundrechtecharta einfordern will. Wie die Kommission in ihrer
Mitteilung „Strategie zur wirksamen Umsetzung der Charta der Grundrechte durch
die Europäische Union“ vom 19. Oktober 2010 (KOM(2010) 573 endg.)
ausgeführt hat, ist sie entschlossen, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel
zu nutzen, um die uneingeschränkte Beachtung der Charta durch die
Mitgliedstaaten sicherzustellen. Dies betrifft insbesondere Artikel 47 der
Charta, wonach jede Person, deren durch EU-Recht garantierte Rechte verletzt
werden, das Recht hat, bei einem unabhängigen Gericht einen wirksamen
Rechtsbehelf einzulegen. Den Mitgliedstaaten gegenüber kann die Kommission aber
nur dann tätig werden, wenn es, wie es in Artikel 51 der Charta
ausdrücklich heißt, um die „Durchführung des Unionsrechts“ durch die
Mitgliedstaaten geht. Vgl. u. a. Rechtssache C-87/12, Kreshnik
Ymeraga u. a./Ministre du Travail, de l'Emploi et de l'Immigration, noch
nicht in der Sammlung veröffentlicht, Rechtssache C-370/12, Thomas
Pringle/Governement of Ireland, Ireland und The Attorney General, noch nicht in
der Sammlung veröffentlicht, und Rechtssache C-617/10, Åklagaren/Hans Åkerberg
Fransson, noch nicht in der Sammlung veröffentlicht. [15] Mitteilung der Kommission vom 15. Oktober 2003:
„Wahrung und Förderung der Grundwerte der Europäischen Union“, KOM(2003) 606
endg. [16] In
manchen Fällen können systembedingte Defizite beim Rechtsstaatsprinzip im Wege
des Kooperations- und Kontrollverfahrens auf der Grundlage der Akte über den
Beitritt Rumäniens und Bulgarien angegangen werden. Diese Verfahren, die direkt
im Primärrecht der EU gründen, sind jedoch für Situationen vor dem EU-Beitritt
und somit für Übergangssituationen gedacht. Sie eignen sich daher nicht als
Reaktion auf eine Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in allen
EU-Mitgliedstaaten. [17] Nach Artikel 8 der Satzung des Europarats kann einem Mitglied,
das sich eines „schweren Verstoßes“ gegen den Vorrang des Rechts und die
Menschenrechte schuldig macht, sein Recht auf Vertretung vorläufig abgesprochen
und es kann vom Europarat sogar ausgeschlossen werden. Dieses Verfahren ist wie
die Verfahren des Artikels 7 EUV bislang nicht zum Einsatz gekommen. [18] Zum Begriff der „systemischen Mängel“ in Bezug auf die
Achtung der Grundrechte bei Maßnahmen innerhalb des EU-Rechts vgl. u. a.
verbundene Rechtssachen C-411/10 und 493/10, N.S., noch nicht in der Sammlung
veröffentlicht, Randnrn. 94 und 106, und Rechtssache C-4/11,
Deutschland/Kaveh Puid, noch nicht in der Sammlung veröffentlicht,
Randnr. 36. Im Zusammenhang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention
sei auch auf die Rolle des Menschenrechtsgerichtshofs bei der Aufdeckung
„systemischer“ bzw. „struktureller“ Probleme im Sinne der Entschließung Res(2004)3
des Ministerkomitees vom 12. Mai 2004 über die Urteile, die ein zugrunde
liegendes strukturelles Problem aufzeigen, verwiesen (https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=743257&Lang=fr). [19] Siehe auch die Mitteilung der Kommission vom 15. Oktober
2003 (Fußnote 15). [20] Vgl. insbesondere Artikel 4 Absatz 1
Buchstabe a der Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des Rates vom 15. Februar
2007 zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Grundrechte
(ABl. L 53 vom 22.2.2007. S. 1). [21] Siehe auch die Mitteilung der Kommission vom 15. Oktober
2003 (Fußnote 15). [22] Die Grundrechteagentur kann innerhalb ihres
Aufgabenbereichs nach Maßgabe der Ratsverordnung (EG) Nr. 168/2007 (vgl.
Fußnote 20) beratend tätig werden. [23] Netz der Präsidenten der Obersten Gerichtshöfe der
Europäischen Union (http://www.networkpresidents.eu/). [24] Vereinigung der Staatsräte und der Obersten
Verwaltungsgerichte der Europäischen Union (http://www.aca-europe.eu/index.php/en/). [25] Europäisches Netz der Räte für das Justizwesen (http://www.encj.eu). Anhang I: Das Rechtsstaatsprinzip als tragendes Prinzip der Union Das
Rechtsstaatsprinzip und das Rechtssystem der Union Das
Rechtsstaatsprinzip ist ein rechtsverbindlicher Verfassungsgrundsatz. Er gilt
übereinstimmend als tragendes Prinzip aller Verfassungssysteme der
Mitgliedstaaten der EU und des Europarats. Lange
bevor in den EU-Verträgen ausdrücklich auf das Rechtsstaatsprinzip Bezug
genommen wurde[1],
hatte der Gerichtshof in seinem Urteil „Les Verts“ aus dem Jahr 1986 bereits
hervorgehoben, dass die EU „eine Rechtsgemeinschaft der Art ist, daß weder die
Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen
sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der
Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen“[2]. Laut
Rechtsprechung des Gerichtshofs leiten sich aus dem Rechtsstaatsprinzip eine
Reihe voll einklagbarer Rechtsgrundsätze ab, die im Rechtssystem der EU
Anwendung finden. Bei diesen Grundsätzen handelt es sich dem Gerichtshof
zufolge um allgemeine Rechtsgrundsätze, die sich aus den gemeinsamen
Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben. In diesem Zusammenhang
sind folgende Grundsätze von Bedeutung: a)
Das Rechtmäßigkeitsprinzip, das einen transparenten, demokratischen und
auf der Rechenschaftspflicht beruhenden pluralistischen Gesetzgebungsprozess
impliziert: Der Gerichtshof hat das Rechtmäßigkeitsprinzip als fundamentalen
Grundsatz der Union mit der Feststellung bestätigt, „dass in einer
Rechtsgemeinschaft die Wahrung der Rechtmäßigkeit gebührend sichergestellt sein
muss“[3]. b)
Rechtssicherheit: Diesem Grundsatz zufolge müssen
Rechtsvorschriften klar und vorhersehbar sein und dürfen nicht rückwirkend
geändert werden. Der Gerichtshof hat die Bedeutung der Rechtssicherheit
wiederholt hervorgehoben und erklärt, dass nach den Grundsätzen der
Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes „die [Unions]gesetzgebung klar und
für die Betroffenen vorhersehbar sein muß“. Des Weiteren hat der Gerichtshof im
selben Urteil ausgeführt, dass „der Grundsatz der Rechtssicherheit es im allgemeinen
verbietet, den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsakts der [Union] auf einen
Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen; dies könne ausnahmsweise nur
dann anders sein, wenn das angestrebte Ziel es verlange und das berechtigte
Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet sei“[4].
c)
Willkürverbot
der Exekutive: Hierzu
hat der Gerichtshof Folgendes ausgeführt: „Indessen bedürfen in allen
Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die
Sphäre der privaten Betätigung jeder – natürlichen oder juristischen – Person
einer Rechtsgrundlage und müssen aus den gesetzlich vorgesehenen Gründen
gerechtfertigt sein; diese Rechtsordnungen sehen daher, wenn auch in
unterschiedlicher Ausgestaltung, einen Schutz gegen willkürliche oder unverhältnismäßige
Eingriffe vor. Das Erfordernis eines solchen Schutzes ist folglich als
allgemeiner Grundsatz des [Unions]rechts anzuerkennen.“[5]
d)
Unabhängige,
wirksame richterliche Kontrolle einschließlich im Hinblick auf die Grundrechte: Wie der Gerichtshof wiederholt
bestätigt hat, „ist die Union eine Rechtsunion, in der ihre Organe der
Kontrolle daraufhin unterliegen, ob ihre Handlungen insbesondere mit den
Verträgen, den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und den Grundrechten im Einklang
stehen“. Dies bedeutet dem Gerichtshof zufolge auch, dass der Einzelne einen
effektiven gerichtlichen Schutz der Rechte in Anspruch nehmen kann, die sich
aus der Unionsrechtsordnung ergeben. Das Recht auf einen solchen Schutz gehört,
wie der Gerichtshof klar ausgeführt hat, zu den „allgemeinen
Rechtsgrundsätzen“, die sich aus den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen
der Mitgliedstaaten“ ergeben und „in den Artikeln 6 und 13 der
Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
verankert“ sind.[6] e)
In Bezug auf den
Zusammenhang zwischen dem Recht auf ein faires Verfahren und der
Gewaltenteilung erklärte der Gerichtshof zudem ausdrücklich, dass „der aufgrund
von Artikel 6 EMRK entwickelte allgemeine [unions]rechtliche Grundsatz,
daß jedermann Anspruch auf einen fairen Prozeß hat […], den Anspruch auf ein
Gericht [umfasst], das insbesondere von der vollziehenden Gewalt unabhängig
ist“[7].
Der Grundsatz der Gewaltenteilung ist selbstredend ein wichtiges Element für
die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit. Die Gewaltenteilung kann aufgrund der
verschiedenen parlamentarischen Modelle und des unterschiedlichen Maßes, in dem
dieser Grundsatz auf nationaler Ebene Anwendung findet, verschiedene Formen
annehmen. In diesem Zusammenhang verwies der Gerichtshof auf die operative
Gewaltenteilung, die eine unabhängige und effektive richterliche Kontrolle
voraussetzt, und führte aus, „dass das Unionsrecht nicht verbietet, dass ein
Mitgliedstaat Legislative, Exekutive und Judikative zugleich verkörpert, sofern
diese Aufgaben unter Wahrung des Gewaltenteilungsgrundsatzes wahrgenommen
werden, der für die Funktionsweise eines Rechtsstaats kennzeichnend ist“[8].
f)
Gleichheit vor
dem Gesetz: Der
Grundsatz der Gleichbehandlung ist dem Gerichtshof zufolge „ein allgemeiner
Grundsatz des Unionsrechts, der in den Artikeln 20 und 21 der Charta der
Grundrechte der Europäischen Union verankert ist“[9].
Das
Rechtsstaatsprinzip und der Europarat Das
Rechtsstaatsprinzip, das als gemeinsamer Nenner der Union angesehen werden
kann, kommt in seinen vorstehend ausgeführten Ausprägungen auch auf Ebene des
Europarats vollständig zum Tragen. Zwar gibt es in der Satzung des Europarats
oder in der EMRK[10]
keine Definition der Rechtsstaatlichkeit, und die sich daraus ableitenden
Grundsätze, Normen und Werte können auf nationaler Ebene unterschiedlich
ausgeprägt sein, doch hat die Venedig-Kommission die Rechtsstaatlichkeit in
einem Bericht von 2011 als grundlegende, gemeinsame europäische Norm
bezeichnet, die zugleich Richtschnur und Schranke für die Ausübung demokratischer
Gewalt („fundamental and common European standard to guide and constrain the
exercise of democratic powers“) und inhärenter Bestandteil jeder demokratischen
Gesellschaft ist. Das Rechtsstaatsprinzip verlange von all denen, die
Entscheidungen treffen, dass die ihren Entscheidungen Unterworfenen
respektvoll, unter Achtung des Gleichbehandlungsgebots, des Übermaßverbots und
im Einklang mit Recht und Gesetz behandelt werden und dass ihnen Gelegenheit
gegeben wird, Entscheidungen vor unabhängigen und unparteiischen Gerichten
anzufechten („everyone to be treated by all decisions-makers with dignity,
equality and rationality and in accordance with the law, and to have the
opportunity to challenge decisions before independent and impartial courts“)[11]. Insbesondere
hat die Venedig-Kommission in ihrem Bericht unter Bezugnahme auf die
einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
eine nicht erschöpfende Liste der wichtigsten gemeinsamen und im Allgemeinen
konsensuellen Merkmale des Rechtsstaatsprinzips zusammengestellt: a)
Rechtmäßigkeit (einschließlich
eines transparenten, demokratischen und auf der Rechenschaftspflicht beruhenden
Gesetzgebungsprozesses) b)
Rechtssicherheit c)
Willkürverbot d)
Rechtsschutz durch
unabhängige, unparteiische Gerichte e)
Achtung der
Menschenrechte, Diskriminierungsverbot und Gleichheit vor dem Gesetz Das
Rechtsstaatsprinzip auf nationaler Ebene Das
Rechtsstaatsprinzip ist Bestandteil aller modernen europäischen
Verfassungsüberlieferungen, auch wenn es in den geschriebenen Verfassungen
nicht immer klar und einheitlich kodifiziert und in der einzelstaatlichen
Rechtsprechung wie auch in den Verfassungen nicht präzise oder erschöpfend
definiert ist. Die einzelstaatlichen Gerichte nehmen in vielen Fällen bei der Auslegung
ihres innerstaatlichen Rechts auf diesen Rechtsgrundsatz Bezug oder entwickeln
auf seiner Grundlage weitere voll einklagbare Rechte. Anhang II [1] Der erste Verweis auf das Rechtsstaatsprinzip findet
sich in der Präambel zum Vertrag von Maastricht aus dem Jahr 1992. Der Vertrag
von Amsterdam enthielt in Artikel 6 Absatz 1 einen im Wesentlichen
gleichen Verweis auf das Rechtsstaatsprinzip wie der geltende Artikel 2
EUV. [2] Rechtssache 294/83, „Les Verts“/Europäisches Parlament,
Slg. 1986, 1339, Randnr. 23. [3] Rechtssache C-496/99 P, Kommission/CAS Succhi di
Frutta SpA, Slg. 2004, I-3801, Randnr. 63. [4] Verbundene Rechtssachen 212 bis 217/80, Amministrazione
delle finanze dello Stato/Salumi, Slg. 1981, 2735, Randnr. 10. [5] Verbundene Rechtssachen 46/87 und 227/88, Hoechst
AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Randnr. 19. [6] Rechtssache C-583/11 P; Inuit Tapiriit Kanatami
u. a./Parlament und Rat, noch nicht in der Sammlung veröffentlicht,
Randnr. 91; Rechtssache C-550/09, E und F, Slg. 2010, I-6213,
Randnr. 44; Rechtssache C-50/00 P, Unión de Pequeños Agricultores,
Slg. 2002, I-6677, Randnrn. 38 und 39. [7] Verbundene Rechtssachen C-174/98 P und C-189/98 P,
Niederlande und van der Wal/Kommission, Slg. 2000, I-1, Randnr. 17. [8] Rechtssache C-279/09, DEB, Slg. 2010, I-13849,
Randnr. 58. [9] Rechtssache C-550/07 P, Akzo Nobel Chemicals und
Akcros Chemicals/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Randnr. 54. [10] In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der
Vereinten Nationen (1948) findet sich in der Präambel ebenfalls ein Verweis auf
das Rechtsstaatsprinzip, aber keine Begriffsbestimmung. [11] Vgl. Bericht der Venedig-Kommission vom 4. April 2011,
Studie Nr. 512/2009 (CDL-AD(2011)003rev) – nur in englischer Sprache.