EUR-Lex Access to European Union law

Back to EUR-Lex homepage

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62022CC0519

Schlussanträge der Generalanwältin J. Kokott vom 14. Dezember 2023.


ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:998

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 14. Dezember 2023(1)

Rechtssache C519/22

MAX7 Design Kft.

gegen

Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága

(Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék [Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – nachträgliche Festsetzung einer Sicherheitsleistung – Sicherheitsleistung, die an die Höhe der Steuerschulden eines Dritten gekoppelt ist – Löschung der Steuernummer bei Nichtbezahlung der Sicherheitsleistung – Grundrechte – Eigentumsfreiheit und unternehmerische Freiheit – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf“






I.      Einführung

1.        Dieses Vorabentscheidungsverfahren zeigt erneut, wie schwierig es im Mehrwertsteuerrecht für die Mitgliedstaaten ist, einen angemessenen Ausgleich zwischen einer wirksamen Steuererhebung und den Rechtspositionen der Steuerpflichtigen zu schaffen. Einerseits ist ein indirektes Steuererhebungssystem über alle Transaktionsstufen unter gleichzeitiger Gewährung eines Vorsteuerabzugs besonders missbrauchsanfällig. Auch trägt der Mitgliedstaat ein gewisses Insolvenzrisiko für Steuerpflichtige mit Steuerrückständen, während deren Leistungsempfänger noch einen Vorsteuerabzug geltend machen können. Andererseits erlaubt dies den Mitgliedstaaten einen konstanten Mittelzufluss, geringe Erhebungskosten durch die Einschaltung der Privaten als Steuereinnehmer, eine hohe Kontrolldichte auch für andere Steuerarten und insgesamt einen relativ geringen Erhebungsaufwand.

2.        Einige Mitgliedstaaten neigen derzeit dazu, die Vorteile des derzeitigen Mehrwertsteuersystems in Anspruch zu nehmen, die systemimmanenten Risiken aber dem Steuerpflichtigen aufzubürden. Es überrascht daher nicht, dass mehrwertsteuerrechtliche Vorlagen immer häufiger die Reichweite der Grundrechte des Steuerpflichtigen betreffen. Im konkreten Fall verlangt Ungarn von einem Unternehmen eine zusätzliche Sicherheit, wenn einer seiner leitenden Angestellten bis zu fünf Jahre zuvor bei einer anderen Gesellschaft in der gleichen Position tätig war, diese andere Gesellschaft Steuerschulden von mehr als ca. 2 500 Euro aufwies und aufgelöst wurde. Die Höhe der Sicherheit für die eigenen potenziellen Steuerschulden knüpft an die Höhe der Steuerschulden der anderen Gesellschaft an. Dieser Bescheid muss binnen acht Tagen angefochten werden. Ansonsten bleibt die Sicherheitsleistung bestehen, auch wenn der leitende Angestellte zeitnah entlassen wird. Ohne Sicherheitsleistung wird die Löschung der Steuernummer angeordnet, was einem Tätigkeitsverbot gleichkommt.

3.        Offensichtlich soll damit verhindert werden, dass dieselben Personen immer wieder neue Gesellschaften gründen, mit diesen Steuerrückstände anhäufen und sie dann liquidieren, so dass Teile des Steueraufkommens ausfallen. Andererseits erfasst diese Regelung wohl auch Unternehmen, die zu dem liquidierten Unternehmen keinen näheren Bezug aufweisen. Auch scheint sie nicht vorauszusetzen, dass der leitende Angestellte den Steuerrückstand bei seinem früheren Arbeitgeber verursacht hat. Daher ist die Verhältnismäßigkeit dieser Regelung im Hinblick auf die damit verbundenen Eingriffe in die Grundrechte der Betroffenen näher zu untersuchen.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

4.        Der unionsrechtliche Rahmen ergibt sich aus Art. 16, 17, 47 und 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).(2)

5.        Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht Möglichkeiten der Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung etc. vor:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen. …“

B.      Ungarisches Recht

6.        Im ungarischen Recht sind die §§ 19, 24, 26, 28 und 246 des Az adózás rendjéről szóló 2017. évi CL. törvény (Gesetz CL von 2017 über die Besteuerungsordnung, im Folgenden: Besteuerungsordnung) relevant.

7.        Gemäß den genannten Bestimmungen der Besteuerungsordnung ist nach der Erteilung der Steuernummer eine Steuersicherheit zu stellen, wenn ein leitender Angestellter des Steuerpflichtigen zuvor die gleiche Position bei einem anderen Steuerpflichtigen innehatte, der innerhalb von fünf Jahren vor dem Tag des Antrags auf Erteilung einer Steuernummer mit Steuerschulden, die 1 Mio. Forint (HUF) (ca. 2 500 Euro) übersteigen, ohne Rechtsnachfolge aufgelöst wurde. Gegen den Bescheid über die Verpflichtung zur Leistung einer Steuersicherheit kann innerhalb von acht Tagen ab seiner Bekanntgabe ein Rechtsbehelf eingelegt werden, über den spätestens binnen 23 Tagen zu entscheiden ist. Dieser Rechtsbehelf hat für die Leistung der Steuersicherheit keine aufschiebende Wirkung.

8.        Ebenfalls binnen acht Tagen kann der betroffene leitende Angestellte eine Befreiung von der Sicherheitsleistung beantragen, wenn – so die Ausführungen Ungarns in der mündlichen Verhandlung – drei Bedingungen erfüllt sind. Erstens muss die damalige Nichtbezahlung der Steuerschulden auf der Nichtbezahlung durch die Kunden beruhen, zweitens diese offenen Forderungen dem Betrag der Steuerschuld entsprechen oder diesen übersteigen und drittens der leitende Angestellte damals sorgfältig gehandelt haben. Über diesen Antrag ist binnen 30 Tagen zu entscheiden. Auch dieser Antrag auf Befreiung hat laut Auskunft Ungarns in der mündlichen Verhandlung keine aufschiebende Wirkung gegenüber der Anforderung der Sicherheitsleistung gegenüber dem Steuerpflichtigen. Wurde dieser abgelehnt und die Sicherheitsleistung in der Zwischenzeit nicht gezahlt, wird die Steuernummer gelöscht. Die Steuersicherheit ist auch dann noch zu leisten, wenn der betreffende leitende Angestellte nach der Bestandskraft des Bescheids, aber noch vor Ablauf der Zahlungsfrist das Unternehmen verlässt, so dass dadurch der Grund für die Steuersicherheit nicht mehr besteht.

9.        Die Steuersicherheit für die eigenen zukünftigen Steuerschulden entspricht laut Auskunft Ungarns in der mündlichen Verhandlung der Höhe nach der offenen Steuerschuld des Steuerpflichtigen, bei dem der leitende Angestellte zuvor die gleiche Position innehatte und kann mittels Einmalzahlung oder Vorlage einer Bankgarantie geleistet werden. Die Frist für die Leistung beträgt 30 Tage ab Zustellung des Bescheids über die Verpflichtung zur Leistung einer Steuersicherheit. Dieser Betrag wird laut Auskunft Ungarns in der mündlichen Verhandlung nach zwölf Monaten zurückerstattet. Im Fall der Versäumung der Zahlungsfrist ist ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zulässig. Leistet der Steuerpflichtige die Steuersicherheit nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist, ordnet die Steuerbehörde die Löschung seiner Steuernummer an.

10.      Im Rahmen der Vorschriften über das Steuerregistrierungsverfahren sieht die Besteuerungsordnung vor, dass die Steuerbehörde die Erteilung einer Steuernummer verweigert, wenn ein leitender Angestellter des Steuerpflichtigen die gleiche Position bei einem anderen Steuerpflichtigen ausübt oder ausgeübt hat, der zum Zeitpunkt des Antrags auf Erteilung einer Steuernummer Steuerschulden in Höhe von mehr als 5 Mio. HUF (ca. 12 500 Euro) hat. In einem solchen Fall fordert die Steuerbehörde den Steuerpflichtigen auf, das Hindernis für die Erteilung einer Steuernummer innerhalb von 45 Tagen nach Zustellung der Aufforderung zu beseitigen. Kommt der Steuerpflichtige dieser Aufforderung nicht nach, ordnet die Steuerbehörde die Löschung seiner Steuernummer an.

11.      Nach den §§ 3:17 und 3:190 des A Polgári Törvénykönyvről szóló 2013. évi V. törvény (Gesetz Nr. V von 2013 über das Bürgerliche Gesetzbuch, im Folgenden: Bürgerliches Gesetzbuch) sind die Gesellschafter unter Mitteilung der Tagesordnung zur Gesellschafterversammlung einzuladen. Zwischen dem Verschicken der Einladungen und dem Tag der Gesellschafterversammlung müssen mindestens 15 Tage liegen.

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsverfahren

12.      Mit Bescheid vom 19. Dezember 2019 verpflichtete die Nemzeti Adó- és Vámhivatal Észak-Budapesti Adó- és Vámigazgatósága (Steuer- und Zolldirektion Budapest-Nord der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn, im Folgenden: Steuerbehörde) die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die MAX7 Design Kft. (im Folgenden: Klägerin), eine Steuersicherheit in Höhe von 1 930 979 HUF (etwa 4 900 Euro) für etwaige spätere eigene Steuerschulden zu leisten. Diese Verpflichtung wurde damit begründet, dass einer der leitenden Angestellten der Klägerin zwischen dem 14. Februar 2017 und dem 2. Juni 2017 leitender Angestellter einer anderen Gesellschaft in Liquidation war, die mit einer Steuerschuld in Höhe der Steuersicherheit aufgelöst worden war.

13.      Der Bescheid über die Verpflichtung zur Leistung einer Steuersicherheit wurde von der Steuerbehörde an die Klägerin und den betreffenden leitenden Angestellten gesandt. In beiden Fällen nahm der betreffende leitende Angestellte den Bescheid entgegen. Tag der Entgegennahme war der 21. Dezember 2019. Die Steuersicherheit hätte innerhalb von 30 Tagen nach dem Eingangsdatum, d. h. spätestens bis zum 20. Januar 2020, geleistet werden müssen. Ein Rechtsbehelf gegen den Bescheid hätte innerhalb von acht Tagen nach der Zustellung eingereicht werden müssen. Da dies nicht geschah, wurde der Bescheid am 31. Dezember 2019 bestandskräftig.

14.      Am 7. Januar 2020 entließen die Gesellschafter der Klägerin den betreffenden leitenden Angestellten und ernannten an seiner Stelle einen neuen leitenden Angestellten. Da damit der Grund für die Verpflichtung zur Leistung einer Steuersicherheit weggefallen war, stellte die Klägerin keine Sicherheit.

15.      Die Steuerbehörde ordnete nach dem 20. Januar 2020 dennoch die Löschung der Steuernummer und der Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer der Klägerin mit der Begründung an, dass die Klägerin die Steuersicherheit nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist geleistet habe. Die Klägerin focht diesen Bescheid an. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens, die Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn, im Folgenden: Beklagte) bestätigte den Bescheid.

16.      Die Klägerin hat gegen diesen Bescheid Klage erhoben. Nach dem ungarischen Recht könne dann, wenn eine zur Leistung einer Steuersicherheit verpflichtete Gesellschaft keine Sicherheit stellt, diese auch dann nicht von den sich daraus ergebenden Rechtsfolgen befreit werden, wenn der Grund für die Steuersicherheit nach dem Eintritt der Bestandskraft des Bescheids über die Verpflichtung zur Leistung einer Steuersicherheit, jedoch innerhalb der für die Leistung der Sicherheit vorgesehenen Frist, beseitigt wird. Die im vorliegenden Fall anwendbare nationale Regelung beschränke die unternehmerische Freiheit daher unverhältnismäßig.

17.      Die Beklagte betont, dass der angefochtene Bescheid die Klägerin nicht zur Beseitigung des Grundes für die Steuersicherheit, sondern zur Leistung der Steuersicherheit aufgefordert hat. Gegen diesen Bescheid hätte ein Rechtsbehelf eingelegt werden können. Davon habe die Klägerin jedoch keinen Gebrauch gemacht, so dass Gegenstand des Ausgangsverfahrens nicht mehr die Rechtmäßigkeit dieses Bescheids, sondern die Rechtmäßigkeit des die Löschung der Steuernummer anordnenden Bescheids sei.

18.      Der für die Klage zuständige Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV folgende drei Fragen vorgelegt:

1.      Ist die Regelung eines Mitgliedstaats, die vorsieht, dass die Steuernummer bzw. die Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer einer Gesellschaft wegen der unterbliebenen Zahlung einer Steuersicherheit, zu der die Gesellschaft verpflichtet wurde, auch dann gelöscht werden kann, wenn die Gesellschafter nicht unmittelbar von der Verpflichtung der Gesellschaft zur Leistung einer Steuersicherheit bzw. davon unterrichtet werden, dass die Verpflichtung der Gesellschaft zur Leistung einer Steuersicherheit aus einer früheren oder noch bestehenden Gesellschafter- oder Führungsposition eines leitenden Angestellten der Gesellschaft in einer anderen juristischen Person mit einer ausstehenden Steuerschuld resultiert, mit der unternehmerischen Freiheit gemäß Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unter Berücksichtigung von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta vereinbar?

2.      Ist die Regelung eines Mitgliedstaats, die vorsieht, dass die Steuernummer bzw. die Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer einer Gesellschaft wegen der unterbliebenen Zahlung einer Steuersicherheit, zu der die Gesellschaft verpflichtet wurde, auch dann gelöscht werden kann, wenn die in den allgemeinen Bestimmungen der Regelung des Mitgliedstaats für die ordnungsgemäße Einberufung des Entscheidungsgremiums der Gesellschaft vorgesehene Mindestfrist es nicht zulässt, dass das Entscheidungsgremium den leitenden Angestellten, in dessen Person das Hindernis vorliegt, das die Verpflichtung zur Leistung einer Steuersicherheit begründet, vor Bestandskraft des Bescheids der Steuerbehörde, mit dem die Leistung einer Steuersicherheit angeordnet wird, abberuft, und damit dieses Hindernis innerhalb einer zum Wegfall der Verpflichtung zur Leistung der Sicherheit führenden Frist beseitigt, so dass die Löschung der Steuernummer verhindert wird, mit der unternehmerischen Freiheit gemäß Art. 16 der Charta und dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Art. 47 der Charta unter Berücksichtigung der Erforderlichkeit gemäß Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta vereinbar?

3.      Ist die Regelung eines Mitgliedstaats, die zwingend, und ohne den Rechtsanwendungsorganen einen Ermessensspielraum einzuräumen, vorsieht, dass

a)      die Beseitigung des die Verpflichtung zur Leistung einer Steuersicherheit begründenden Hindernisses durch die Gesellschaft als Steuerpflichtige nach Bestandskraft des Bescheids über die Verpflichtung zur Leistung einer Steuersicherheit auch dann keine Auswirkungen auf die Pflicht zur Leistung der Steuersicherheit und damit auf die mögliche Löschung der Steuernummer des Steuerpflichtigen hat, wenn das Hindernis nach Bestandskraft des Bescheids über die Verpflichtung zur Leistung einer Steuersicherheit, aber innerhalb der Frist für die Zahlung der Steuersicherheit beseitigt worden ist,

b)      die Gesellschaft als Steuerpflichtige den Rechtsfolgen der Löschung ihrer Steuernummer im Fall der unterbliebenen Zahlung der Steuersicherheit nach Ablauf der Frist für die Zahlung der Sicherheit auch dann nicht abhelfen kann, wenn sie das die Verpflichtung zur Leistung einer Steuersicherheit begründende Hindernis nach Bestandskraft des Bescheids über die Verpflichtung zur Leistung einer Steuersicherheit, aber innerhalb der Frist für die Zahlung der Steuersicherheit beseitigt hat,

mit der unternehmerischen Freiheit gemäß Art. 16 der Charta und deren gemäß Art. 273 der Richtlinie 2006/112 erforderlichen bzw. gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta verhältnismäßigen Beschränkung sowie mit dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Art. 47 der Charta vereinbar?

19.      Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben lediglich Ungarn und die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen und sich an der mündlichen Verhandlung am 29. Juni 2023 beteiligt.

IV.    Rechtliche Würdigung

A.      Zu den Vorlagefragen und dem Gang der Untersuchung

20.      Die drei Vorlagefragen werfen die Frage auf, wie weit das den Mitgliedstaaten in Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeräumte Ermessen geht, weitere Pflichten für Steuerpflichtige vorzusehen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden.

21.      Dies setzt zunächst voraus, dass die Verpflichtung zu einer zusätzlichen Sicherheitsleistung in Höhe fremder Steuerschulden von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie überhaupt erfasst wird (dazu unter B.). Anschließend ist zum einen zu untersuchen, ob die Grundrechte des Steuerpflichtigen aus der Charta (insbesondere das Recht auf unternehmerische Freiheit nach Art. 16 der Charta, aber auch das Eigentumsrecht nach Art. 17 der Charta) dieses Ermessen einschränken (dazu unter C.), wenn ein Steuerpflichtiger eine Sicherheit für Steuerschulden eines anderen – ihm möglicherweise völlig unbekannten – Steuerpflichtigen leisten muss. Zum anderen ist zu untersuchen, ob die sogenannten Justizgrundrechte (insbesondere das Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf nach Art. 47 der Charta) hier das Ermessen beschränken, wenn es mangels aufschiebender Wirkung des Rechtsbehelfs weder möglich ist, die Zahlungsanforderung zu hemmen, noch die Beseitigung des Grundes der Sicherheitsleistung vor Ablauf der Zahlungsfrist ausreichend ist (dazu unter D.). Ungarn und die Kommission gehen beide von einer insoweit verhältnismäßigen Einschränkung der Grundrechte des Steuerpflichtigen aus.

B.      Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und eine zusätzliche Sicherheitsleistung in Höhe fremder Mehrwertsteuerschulden unter Androhung der Löschung der Steuernummer

22.      Zu klären ist zunächst, ob Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie es den Mitgliedstaaten erlaubt, den Steuerpflichtigen unter gewissen Umständen (Anstellung eines leitenden Angestellten, der zuvor bei einem anderen Unternehmen angestellt war, welches bei Löschung noch Steuerrückstände aufwies) zu einer zusätzlichen Sicherheitsleistung zu verpflichten und ihm die Steuernummer zu löschen, wenn er dieser Verpflichtung nicht nachkommt.

1.      Zur Bedeutung der Steuernummer im Mehrwertsteuerrecht

23.      Dies erfordert eine nähere Betrachtung der Bedeutung der Steuernummer im Mehrwertsteuerrecht. Art. 213 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor, dass jeder Steuerpflichtige die Aufnahme seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen hat. Nach Art. 214 der Mehrwertsteuerrichtlinie müssen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit fast alle Steuerpflichtigen eine individuelle Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer erhalten. Diese ist z. B. notwendig, um steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen zu empfangen oder einem anderen Unternehmen eine Rechnung nach Art. 226 der Mehrwertsteuerrichtlinie auszustellen (vgl. Nrn. 3 und 4), und auch, um seinen Kunden die eigene Eigenschaft als Steuerpflichtiger nachzuweisen.(3) Daher kann kein Mitgliedstaat einem Steuerpflichtigen die Zuweisung einer Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer ohne berechtigten Grund verweigern.(4)

24.      Die Löschung der Steuernummer eines aktiven Unternehmens im Mehrwertsteuerrecht kommt insofern einem faktischen Tätigkeitsverbot gleich. Wohl auch deshalb hat der Gerichtshof schon mehrfach klargestellt, dass dies im Mehrwertsteuerrecht nicht ohne Weiteres möglich ist. Soweit z. B. die Löschung der Steuer‑Identifikationsnummer die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug betrifft, erscheint nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine solche Sanktion als unangemessen, wenn kein Betrug und keine Schädigung des Haushalts des Staates nachgewiesen sind.(5) Der Klägerin hier können weder Betrug noch Schädigung des Haushaltes des Staates vorgeworfen werden.

25.      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass die Steuernummer der Klägerin bereits gelöscht wurde. Daraus folgte in Ungarn sogar der Verlust der Rechtspersönlichkeit, weswegen das Registergericht der Klägerin bereits die Fortsetzung der Tätigkeit untersagt und die Eröffnung eines Zwangsliquidationsverfahrens angeordnet hat.

26.      Als Zwischenergebnis kann daher festgehalten werden, dass der Mehrwertsteuernummer eine besondere Bedeutung zukommt. Deswegen sieht die Mehrwertsteuerrichtlinie auch eine Pflicht der Mitgliedstaaten zur Erteilung dieser Nummer an jeden Steuerpflichtigen vor. Eine Regelung, wonach einem aktiven Steuerpflichtigen diese Nummer entzogen werden kann, enthält die Mehrwertsteuerrichtlinie hingegen nicht. Eine Sanktion, wonach ein Steuerpflichtiger gelöscht wird, wenn er eine zusätzliche Sicherheitsleistung nicht zahlt, ist der Mehrwertsteuerrichtlinie ebenfalls fremd. Dies gilt erst recht, sofern – so wie hier – die Klägerin eine „normale“ Steuerpflichtige im Sinne von Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie war, die bislang keinen Mehrwertsteuerbetrug etc. selbst begangen hat.

2.      Pflicht zur Sicherheitsleistung im Mehrwertsteuerrecht?

27.      Ebenso wenig sieht die Mehrwertsteuerrichtlinie vor, dass ein Steuerpflichtiger nach der Aufnahme seiner wirtschaftlichen Tätigkeit eine zusätzliche Sicherheit leisten muss, wenn er seine Steuernummer behalten will. Allerdings können die Mitgliedstaaten nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehungen zu vermeiden.

28.      Die ungarische Regelung ordnet hier u. a. eine besondere Sicherheitsleistung für die eigene Steuerschuld an, wenn ein leitender Angestellter in einem Zeitraum von fünf Jahren zuvor als leitender Angestellter bei einem anderen Steuerpflichtigen angestellt war, der seine Steuern in einem Umfang von mindestens ca. 2 500 Euro nicht bezahlt hat und nun gelöscht wurde, mithin dessen Steuerschuld ausgefallen ist. Die Sicherheitsleistung knüpft in der Höhe an die nicht bezahlte Steuerschuld dieses anderen Steuerpflichtigen an. Für die Anordnung der Sicherheitsleistung scheint irrelevant zu sein, ob der betroffene Steuerpflichtige und der ausgefallene Steuerpflichtige in irgendeiner Beziehung zueinander stehen. Ausreichend ist bereits, dass der leitende Angestellte derselbe ist. Irrelevant für die Anordnung der Sicherheitsleistung ist anscheinend auch, ob der leitende Angestellte verantwortlich für den Steuerausfall war.

29.      Laut den Erklärungen Ungarns in der mündlichen Verhandlung soll damit dem Umstand Rechnung getragen werden, dass in Ungarn häufig Steuerpflichtige (wohl als Gesellschaften) gegründet werden, ohne Bezahlung der Steuerschulden verschwinden und dann in ähnlicher Form wieder neu gegründet werden. Diese Kettengründungen zulasten der Gläubiger und des Fiskus können in der Tat einen beträchtlichen Schaden anrichten und auch zur Steuerhinterziehung genutzt werden. Wenn dies aber das Ziel der Regelung ist, dann habe ich – anders als die Kommission – Zweifel, ob Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine solche zusätzliche Sicherheitsleistung im vorliegenden Fall überhaupt erlaubt.

30.      Zum einen ist Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie keine Vorschrift, die es den Mitgliedstaaten ermöglicht, beliebig von den Regelungen der Mehrwertsteuersystemrichtlinie abzuweichen. Eine Bestimmung des nationalen Rechts – so der Gerichtshof(6) – kann nur dann als mit Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar angesehen werden, wenn sie u. a. die anderen Bestimmungen dieser Richtlinie beachtet. Wenn die Richtlinie daher die Erteilung einer Steuernummer zwingend vorschreibt, ermöglicht Art. 273, weitere Modalitäten – zuweilen spricht der Gerichtshof auch von Formalien(7) – vorzusehen, nicht aber die Steuernummer eines aktiven Steuerpflichtigen zu verweigern oder einzuziehen. Darüber hinaus erlaubt Art. 273 weitere Pflichten nur, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden.

31.      Wie der Gerichtshof schon klargestellt hat, kann allein eine verspätete Zahlung (d. h. eine Nichtzahlung bei Fälligkeit) für sich genommen nicht einer Steuerhinterziehung gleichgestellt werden.(8) Eine Steuerhinterziehung vermeidet die ungarische Regelung daher allenfalls, wenn die alte Gesellschaft bewusst keine Steuern abführte und in die Insolvenz geschickt wurde, um dann ihre Tätigkeit mit einer von denselben Personen neu gegründeten Gesellschaft fortzuführen. Dies setzt aber eine Verbindung dieser beiden Gesellschaften auf Gesellschafterebene voraus; mithin müsste der Gründer der ersten Gesellschaft auch der Gründer der zweiten Gesellschaft gewesen sein, um von einer Gefahr der Steuerhinterziehung durch die zweite Gesellschaft sprechen zu können. Im vorliegenden Fall scheint dies nicht ansatzweise der Fall zu sein. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte in dem Vorabentscheidungsverfahren für eine Verbindung zwischen dem früheren Arbeitgeber des leitenden Angestellten und der Klägerin. Ohne eine solche Verbindung kann die Sicherheitsleistung hier mangels Anhaltspunkten für eine Steuerhinterziehung diese auch nicht vermeiden. Von Art. 273 ist sie insoweit nicht gedeckt.

32.      Dies unterscheidet – anders als die Kommission meint – die vorliegende Regelung entscheidend von der Regelung, die in der Rechtssache BB construct zu beurteilen war. Diese ermöglichte es damals, von einem neuen Steuerpflichtigen eine Sicherheitsleistung zu verlangen, die an die Mehrwertsteuerrückstände einer anderen Gesellschaft gekoppelt war, mit der der Geschäftsführer oder der Gesellschafter von BB construct persönlich oder mit seinem Vermögen verbunden war.(9) Entscheidend war dort eine bestehende Verflechtung zwischen zwei Steuerpflichtigen.(10) Daran fehlt es hier.

33.      Die Sicherheitsleistung stellt hier auch keine genaue Erhebung(11) der Steuer im Sinne von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sicher. Die Genauigkeit der Steuererhebung wird durch eine zusätzliche Sicherheit für eigene Steuerschulden nämlich nicht gesteigert. Es wird lediglich das Ausfallrisiko des Staates reduziert. Ein Ausfallrisiko ist aber immer vorhanden (sogar bei einer direkten Steuer) und hat als solches nichts mit der genauen Erhebung der Steuer zu tun. Eine genaue Erhebung ist etwas anderes als eine vollständige Erhebung.

34.      Die Mehrwertsteuerrichtlinie reduziert das Ausfallrisiko des Staates bereits durch ihre Technik der fraktionierten Steuererhebung auf jeder Umsatzstufe, so dass in einer Umsatzkette immer nur ein Teil des Steueraufkommens ausfällt, wenn einer der Unternehmer insolvent wird. Das restliche Ausfallrisiko nimmt die Mehrwertsteuerrichtlinie mithin in Kauf, ohne dass dadurch die genaue Erhebung der Steuer betroffen wäre. Mithin ist die Reduzierung des allgemeinen Insolvenzrisikos eines Steuergläubigers (hier von Ungarn) ebenso wenig von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie gedeckt.

35.      Dies zeigt sich auch in der Anwendung der betreffenden Regel auf den vorliegenden Fall. Bis zur Einstellung des leitenden Angestellten gab es offenbar keine Schwierigkeiten bei der genauen Erhebung der Steuer bei der Klägerin. Dann kann die zusätzliche Sicherheitsleistung auch keine Schwierigkeiten bei der genauen Berechnung, der genauen Festsetzung oder auch der genauen Durchsetzung der von der Klägerin geschuldeten Steuer beheben oder sicherstellen. Besonders deutlich wird dies angesichts des Umstands, dass die Höhe der Sicherheitsleistung allein von der Höhe der offenen Steuerschulden eines anderen Steuerpflichtigen abhängt. Wenn dieser Steuerpflichtige B mit dem von der Sicherheitsleistung betroffenen Steuerpflichtigen A aber keine besondere Nähe oder Verbindung aufweist, bleibt offen, warum die genaue Erhebung der Steuer von A von den offenen Steuerschulden des B abhängen können soll.

36.      Damit der Tatbestand von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie für eine zusätzliche Sicherheitsleistung wie hier erfüllt ist, muss daher eine gesellschaftsrechtliche Verbindung zwischen den beiden Steuerpflichtigen vorliegen.(12) Die Tatsache, dass beide nacheinander Arbeitgeber desselben leitenden Angestellten sind, ist allenfalls dann ausreichend, wenn zugleich auch eine darüber hinausgehende Verbindung zwischen den beiden Steuerpflichtigen besteht oder bestand. Ohne diese zusätzliche Verbindung erlaubt Art. 273 keine zusätzliche Sicherheitsleistung aufgrund fremder, noch offener Steuerschulden. Eine solche zusätzliche Verbindung ist hier nicht erkennbar.

C.      Ermessenseinschränkung durch Grundrechte des Steuerpflichtigen

37.      Selbst wenn man davon ausginge, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie als Rechtsgrundlage für diese zusätzliche Sicherheitsleistung in Betracht käme, wäre dessen Reichweite nicht grenzenlos.

38.      Zwar hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie außer den von ihm festgelegten Grenzen weder die Bedingungen noch die Pflichten angibt, die die Mitgliedstaaten vorsehen können, und dass er diesen daher in Bezug auf die Mittel zur Sicherstellung der Erhebung der gesamten in ihrem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer und zur Betrugsbekämpfung einen Beurteilungsspielraum einräumt.(13) Allerdings sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht, damit auch die Unionsgrundrechte,(14) und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten.(15)

1.      Grundrechte und ihre Beschränkungen

39.      Die Auferlegung einer in Geld bestehenden zusätzlichen Sicherheitsleistung, um – wie oben unter Nr. 26 ausgeführt – seiner wirtschaftlichen Tätigkeit weiter nachgehen zu können, könnte sowohl in die Grundrechte des betroffenen Steuerpflichtigen aus Art. 16 als auch Art. 17 der Charta eingreifen. Da Art. 16 der Charta unpersönlich formuliert ist und Art. 17 von „Person“ spricht, fallen auch juristische Personen wie die Klägerin in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Grundrechte.(16)

40.      Art. 17 Abs. 1 der Charta schützt alle vermögenswerten Rechte, aus denen sich im Hinblick auf die betreffende Rechtsordnung eine gesicherte Rechtsposition ergibt, die eine selbständige Ausübung dieser Rechte durch und zugunsten ihres Inhabers ermöglicht.(17) Vorhandenes Geld ist eine solche vermögenswerte Rechtsposition. Auch wenn der Entzug des Geldes nicht endgültig ist – die Sicherheitsleistung wird nach zwölf Monaten wieder zurückgezahlt –, kann es für zwölf Monate nicht mehr genutzt werden. Folglich liegt ein Eingriff in Art. 17 der Charta vor.

41.      Der durch Art. 16 der Charta gewährte Schutz umfasst die Freiheit, eine Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit auszuüben, die Vertragsfreiheit und den freien Wettbewerb.(18) Eine zusätzliche finanzielle Sicherheitsleistung wegen einer wirtschaftlichen Tätigkeit, deren Nichtbezahlung zur Löschung der Steuernummer und damit dem Ende der wirtschaftlichen Tätigkeit führt, stellt auch einen Eingriff in Art. 16 der Charta dar.

42.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die unternehmerische Freiheit jedoch nicht schrankenlos. Sie kann einer Vielzahl von Eingriffen der öffentlichen Gewalt unterworfen werden, die im allgemeinen Interesse die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit beschränken können.(19) Gleiches gilt für die Eigentumsfreiheit, denn die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist (Art. 17 Abs. 1 Satz 3 der Charta).

2.      Zur Begrenzung der Beschränkungsmöglichkeit: der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

43.      Beschränkende Eingriffe unterliegen allerdings ihrerseits wieder Grenzen, die sich aus Art. 52 Abs. 1 der Charta ergeben und von denen hier der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die wichtigste Grenze ist.

44.      Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind Eingriffe in Grundrechte nur gerechtfertigt, wenn sie ein legitimes Ziel verfolgen, geeignet sind, dieses Ziel zu fördern, und auch erforderlich sind (d. h., es existiert kein gleich geeignetes milderes Mittel). Neben der Geeignetheit und Erforderlichkeit ist schließlich noch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu prüfen,(20) d. h., die Sicherheitsleistung muss auch in der Zweck-Mittel-Relation als angemessen zu betrachten sein.

a)      Legitimes Ziel der Regelung und deren Geeignetheit

45.      Wenn das Ziel allein in der Vermeidung von Steuerhinterziehung bestehen sollte, dann wäre dies zwar ein legitimes Ziel, aber die Regelung hier bereits offensichtlich ungeeignet und auch nicht erforderlich. Eine Mitwirkung an einer Steuerhinterziehung ist im vorliegenden Fall weit und breit nicht ersichtlich. Ohne eine gesellschaftsrechtliche Verbindung (die auch mittelbarer Natur sein kann) werden Steuerpflichtige erfasst, die zu dem Steuerpflichtigen, der einen Steuerausfall verursacht hat, keinerlei eigene Verbindung aufweisen. Diese mit einer Sicherheitsleistung zu belasten, ist ungeeignet, um Steuerhinterziehungen (welche?) zu verhindern. Insofern wäre eine Sicherheitsleistung bei einer konkreten gesellschaftsrechtlichen Verbindung zwischen dem neuen und alten Arbeitgeber auch ein mindestens gleich geeignetes, aber milderes Mittel, um eine Steuerhinterziehung durch sogenannte Kettengründungen zu vermeiden.

46.      Etwas anderes könnte gelten, wenn das eigentliche Ziel nicht in der Vermeidung einer Steuerhinterziehung, sondern in der Reduktion des Steuerausfallrisikos des Steuergläubigers für den Fall der Insolvenz von Unternehmen zu sehen wäre. Man könnte zwar im Hinblick auf den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung daran zweifeln, ob diese gesetzliche Gläubigerprivilegierung des Fiskus wirklich ein legitimes Ziel ist. Andererseits dienen die Steuern der Finanzierung des Allgemeinwesens, so dass unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Spielraums bei der Festlegung legitimer Ziele ein solches wohl noch angenommen werden kann. Eine zusätzliche Sicherheitsleistung ist auch geeignet, das Steuerausfallrisiko des Staates im Umfang der Sicherheitsleistung zu reduzieren.

b)      Kein gleich geeignetes milderes Mittel (Erforderlichkeit)?

47.      Es dürften dafür aber keine gleich geeigneten milderen Mittel existieren. Das ist hier zweifelhaft. Die betrachtete Sicherheitsleistung für die zukünftigen Steuerschulden des Steuerpflichtigen knüpft nämlich an den Steuerschaden an, den ein Dritter verursacht hat. Ein milderes und gleich geeignetes Mittel zur Reduktion des bestehenden Steuerausfallrisikos bei dem Steuerpflichtigen wäre aber, die Höhe der Sicherheitsleistung an den Steuerschaden bzw. das Risiko eines Steuerschadens anzuknüpfen, den er selbst in der Vergangenheit verursacht hat oder mit dem neuen Angestellten eventuell noch verursachen wird. Letztendlich sichert die Sicherheitsleistung ja auch nur dessen Steuerschulden, mithin dessen Steuerausfallrisiko ab.

48.      Im Zusammenhang mit der Nichterteilung einer Steuernummer hat der Gerichtshof schon ausdrücklich ausgeführt,(21) dass es über das hinausgeht, was erforderlich ist, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen, wenn einem Steuerpflichtigen eine Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer allein deshalb nicht zugewiesen wird, weil sein Geschäftsführer der Gesellschafter einer anderen Gesellschaft ist, die sich in einem Insolvenzverfahren befindet, ohne jedoch zu prüfen, ob ein Risiko für die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer oder das Risiko einer Steuerhinterziehung besteht. Gleiches gilt meines Erachtens erst recht für eine Sicherheitsleistung, die an Steuerschulden eines Dritten gekoppelt ist.

49.      Ebenso hat der Gerichtshof in diesem Zusammenhang bereits entschieden, dass es einem Mitgliedstaat verwehrt ist, die Zuteilung einer Steuernummer nur deshalb zu versagen, weil der Inhaber der Anteile des Steuerpflichtigen bereits mehrfach eine solche Nummer für Gesellschaften erhalten hat, die nie wirklich eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt haben und deren Anteile kurz nach der Zuteilung dieser Nummer übertragen wurden, ohne dass die betreffende Steuerverwaltung anhand objektiver Anhaltspunkte dargelegt hat, dass ernsthafte Anzeichen für den Verdacht bestehen, dass die zugeteilte Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer in betrügerischer Weise verwendet werden wird.(22) Das Abstellen auf die konkrete Gefahr eines schädigenden Verhaltens durch den Steuerpflichtigen scheint dort das mildere Mittel gewesen zu sein.

50.      Auch die Zurechnung des Risikos eines Steuerausfalls, welches durch den leitenden Angestellten möglicherweise erhöht wurde, wäre ein milderes und gleich geeignetes Mittel. Das setzt voraus, dass der leitende Angestellte kausal für den Steuerausfall damals war. Aber auch dies findet sich nicht in der ungarischen Regelung. Die Sicherheitsleistung ist davon völlig unabhängig. Wie sich in der mündlichen Verhandlung herausstellte, hat nur der leitende Angestellte (nicht jedoch der Steuerpflichtige) die Möglichkeit, einen Antrag auf Befreiung zu stellen, wenn der entstandene Steuerschaden bei seinem vorherigen Arbeitgeber „nicht vermeidbar“ war. Die Sicherheitsleistung wird daher auf der Basis einer Vermutung angeordnet, dass der leitende Angestellte etwas mit den unbezahlten Steuerschulden zu tun gehabt haben muss. Diese Vermutung kann der Steuerpflichtige anscheinend nicht selbst widerlegen.

51.      Selbst wenn eine Zurechnung eines solchen Risikos abstrakt stattfinden würde, wäre eine konkrete Risikobetrachtung – die auf die Umsätze und Steuerschulden des Steuerpflichtigen selbst (und nicht die eines Dritten) abstellt – ein milderes und gleich geeignetes Mittel. So verlangt der Gerichtshof bei Sanktionen des Steuerpflichtigen, dass diese der Höhe nach an die konkreten Umstände des Einzelfalls angepasst werden können müssen, um als erforderlich angesehen werden zu können.(23)

52.      Hier werden aber die offenen Steuerschulden eines Dritten (des früheren Arbeitgebers des leitenden Angestellten) herangezogen, ohne dass klar wird, was diese mit dem Risiko eines Steuerausfalls beim Steuerpflichtigen (dem jetzigen Arbeitgeber) zu tun haben. Ist der jetzige Arbeitgeber z. B. ein kleines Unternehmen mit 100 000 Euro Jahresumsatz und kommt der leitende Angestellte aus einem großen Unternehmen mit 100 Mio. Euro Jahresumsatz, welches z. B. infolge der Corona-Pandemie Insolvenz anmelden musste, so dass der ungarische Staat (neben anderen Gläubigern) einen Steuerausfall von z. B. 2 Mio. Euro hinnehmen musste, dann zeigt sich das Problem recht deutlich.

53.      Dies führt – wenn ich die ungarische Regelung richtig verstanden habe – nämlich zu einer Festsetzung von einer Sicherheitsleistung von 2 Mio. Euro bei dem neuen Arbeitgeber. Bei einem Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 100 000 Euro fällt es mir schwer, ein Steuerausfallrisiko von 2 Mio. Euro annehmen zu können. Eine solche Sicherheitsleistung steht – in diesem Sinne bereits der Gerichtshof und damals auch noch die Kommission(24) – außer Verhältnis zum abzusichernden Risiko. Auch in der Entscheidung BB construct, auf die die Kommission primär abstellt, betonte der Gerichtshof den Umstand, dass die Höhe der Sicherheit mit dem Risiko der Entstehung von künftigen Steuerrückständen und der Höhe der früheren Steuerschulden korreliert.(25) Dies geschieht im vorliegenden Fall jedoch nicht.

54.      Darüber hinaus wäre die Berücksichtigung des Umstandes, ob bei Fälligkeit (Ablauf der Zahlungsfrist) der Sicherheitsleistung das abstrakte Risiko, welches der neue leitende Angestellte vermittelt, überhaupt noch besteht (mithin dieser noch leitender Angestellter ist), ein milderes und gleich geeignetes Mittel als eine davon völlig losgelöste Festsetzung der Sicherheitsleistung und der gravierenden Rechtsfolgen. Dass eine solche weniger einschneidende Option besteht, zeigen die ungarischen Regelungen zur erstmaligen Steuerregistrierung. Laut dem Vorabentscheidungsersuchen können schwerwiegende Hindernisse, die dort eine Steuersicherheit hervorrufen würden, sogar binnen 45 Tagen (die Zahlungsfrist für die Steuersicherheit beträgt 30 Tage) beseitigt werden. Im vorliegenden Fall hat der Steuerpflichtige nur acht Tage Zeit. Das Abstellen auf die Fälligkeit würde es dann auch erlauben, dass die nach dem ungarischen Gesellschaftsrecht geltenden Ladungsfristen von 15 Tagen zur Einberufung einer Gesellschafterversammlung eingehalten werden könnten.

c)      Hilfsweise: Angemessenheit der Regelung?

55.      Darüber hinaus wäre auch zweifelhaft, ob die zusätzliche Sicherheitsleistung angemessen ist. Angemessen ist sie nur dann, wenn die Sicherheitsleistung keine Nachteile verursacht, die außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.(26) Dies ist im Ergebnis eine wertende Rechtsgüterabwägung.

56.      Auf der einen Seite steht das Interesse Ungarns an einer Gläubigerprivilegierung zur Sicherung des Steueraufkommens. Auf der anderen Seite stehen die Grundrechte des Steuerpflichtigen. Diesem werden Finanzmittel in einer Höhe entzogen, in der ein anderer Steuerpflichtiger offene Steuerschulden hatte. Auch wenn der Entzug nicht endgültig ist – die Sicherheitsleistung wird nach zwölf Monaten wieder zurückgezahlt –, fehlt ihm die entsprechende Liquidität für zwölf Monate. Ist es nicht möglich, diese Liquidität zu beschaffen, droht ein „Berufsverbot“ durch den Entzug der Steuernummer, obwohl die materiellen Voraussetzungen für die Steuernummer (d. h. die Steuerpflichtigeneigenschaft) vorliegen. Dieses Berufsverbot kann existenziell werden, wie dieser Fall zeigt. Mittlerweile wurde aufgrund der Löschung der Steuernummer, die in Ungarn offenbar noch den Verlust der Rechtspersönlichkeit nach sich zieht, ein Zwangsliquidationsverfahren gegen die Klägerin angeordnet.

57.      Der Eingriff in die Grundrechte der Klägerin ist damit sehr tiefgreifend. Das Interesse an einer Gläubigerprivilegierung Ungarns zur Sicherung des Steueraufkommens ist hingegen allenfalls geringfügiger Natur (siehe dazu bereits oben, Nr. 45). Es wird noch geringfügiger, wenn die Gläubigerprivilegierung kein konkretes Steuerausfallrisiko des Steuerpflichtigen, sondern lediglich ein abstraktes – durch einen Angestellten möglicherweise vermitteltes – eingetretenes Risiko bei einem Dritten auf der Ebene des Steuerpflichtigen absichern will. Ein schützenswertes Interesse Ungarns an einer solchen Privilegierung besteht meines Erachtens nicht mehr, wenn bis zum Ablauf der Zahlungsfrist die Risikoquelle nicht mehr existiert, weil der leitende Angestellte entlassen wurde. Eine solchermaßen ausgestaltete Sicherheitsleistung stünde offenkundig außer Verhältnis zu dem angestrebten Ziel.

58.      Die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt dieses Ergebnis.(27) Der Gerichtshof hat im Hinblick auf eine zusätzliche Haftung bereits festgestellt, dass nationale Maßnahmen, die de facto ein System einer verschuldensunabhängigen gesamtschuldnerischen Haftung einführen, über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Ansprüche der Staatskasse zu schützen. Eine zusätzliche Haftung für Steuerschulden eines Dritten und eine zusätzliche Sicherheitsleistung in Höhe der Steuerschulden eines Dritten für die Dauer von zwölf Monaten sind insoweit – anders als die Kommission meint – durchaus vergleichbar. In beiden Fällen ist die eigene Belastung von dem Handeln eines Dritten abhängig, auf das der Steuerpflichtige keinen Einfluss hatte. Bei der Sicherheitsleistung tritt die Belastung sogar für mindestens zwölf Monate ein, bei der Haftung ist es hingegen bis zum Eintritt des Haftungsfalls unsicher, ob es zu einer Belastung kommt.

59.      Laut dem Gerichtshof ist es als unvereinbar mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzusehen, die Haftung für die Mehrwertsteuer einer anderen Person als dem Steuerschuldner aufzuerlegen, ohne es dieser Person zu ermöglichen, sich der Haftung zu entziehen, indem sie den Beweis erbringt, dass sie mit den Machenschaften des Steuerschuldners nichts zu tun hat. Es wäre nämlich offenkundig unverhältnismäßig, dieser Person ohne Wenn und Aber den Verlust von Steuereinnahmen anzulasten, der durch das Tun eines Dritten verursacht worden ist, auf das sie keinen Einfluss hat.(28)

60.      Nichts anderes gilt für die Auferlegung einer zusätzlichen Sicherheitsleistung (unter Androhung des Entzugs der Steuernummer). Auch hier wird der Klägerin eine zusätzliche finanzielle Belastung auferlegt, die in der Höhe an die Steuerschuld einer anderen Person geknüpft ist, ohne es der Klägerin zu ermöglichen, sich dieser Sicherheitsleistung zu entziehen, indem sie den Beweis erbringt, dass sie mit den offenen Steuerschulden des anderen nichts zu tun hat. Auch hier wäre es offenkundig unverhältnismäßig, dieser Person ohne Wenn und Aber den Verlust von Steuereinnahmen – temporär – anzulasten, der durch das Tun eines Dritten verursacht worden ist, auf das sie keinen Einfluss hatte.

61.      Unabhängig von der Frage, ob Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Gläubigerprivilegierung des Mitgliedstaates durch eine zusätzliche Sicherheitsleistung tatsächlich ermöglicht, verstößt die von Ungarn hier vorgenommene Regelung gegen die Grundrechte aus Art. 16 und 17 der Charta, da sie unverhältnismäßig ausgestaltet ist.

D.      Ermessenseinschränkung durch die Justizgrundrechte

62.      Ähnliche Zweifel bestehen hinsichtlich der Berücksichtigung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 der Charta. Auch dieses Grundrecht haben die Mitgliedstaaten bei der Einführung von weiteren Pflichten nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie zu beachten.

63.      Art. 47 der Charta spricht ebenfalls von „Personen“ und erfasst damit auch juristische Personen wie die Klägerin.(29) Nach Art. 47 Abs. 1 der Charta hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

64.      Das vorlegende Gericht problematisiert insoweit, dass der Bescheid nicht den Gesellschaftern, sondern dem leitenden Angestellten der Gesellschaft bekannt gegeben wurde. Ob dies ausreichend ist, richtet sich allerdings allein danach, ob der leitende Angestellte auch zum Empfang von Bescheiden bevollmächtigt war, was z. B. bei einem Geschäftsführer als dem gesetzlichen Vertreter einer Gesellschaft wohl zu bejahen wäre. Letztendlich kann dies nur das nationale Gericht entscheiden.

1.      Ausschluss eigener Einwände des Adressaten der Sicherheitsleistung

65.      Im vorliegenden Fall besteht das Hauptproblem eher darin, dass der Steuerpflichtige die Festsetzung der Sicherheitsleistung zwar binnen acht Tagen (was sehr knapp ist) anfechten kann. Diese Anfechtung hat aber keine aufschiebende Wirkung. Mit der Anfechtung scheinen auch keine Argumente hinsichtlich der Kausalität des Steuerschadens und der Person des leitenden Angestellten vorgebracht werden zu können. Inhaltlich gegen die Festsetzung der Sicherheitsleistung vorgehen kann offenbar nur der leitende Angestellte selbst, indem er einen Antrag auf Befreiung von der Sicherheitsleistung stellt. In der mündlichen Verhandlung hat Ungarn aber bestätigt, dass dieser Antrag ebenfalls keine aufschiebende Wirkung entfaltet; gleichwohl ist die Sicherheitsleistung binnen 30 Tagen zu zahlen.

66.      Damit säße der Steuerpflichtige – wie Generalanwalt Bobek bereits vor Jahren zu einer anderen, auch ungarischen Regelung festgestellt hat(30) – zwischen zwei Stühlen. Im vorliegenden Fall wäre eine Anfechtung zwar zulässig, aber unbegründet gewesen. Der Tatbestand für die Anordnung der zusätzlichen Sicherheitsleistung war erfüllt. Möglicherweise ist die Anfechtung auch deshalb unterblieben. Gegen die Löschung der Steuernummer kann er auch nicht mit Erfolg vorgehen, da diese nur die Nichtzahlung vor Fälligkeit voraussetzt.

67.      Die Wirksamkeit der durch diesen Artikel garantierten gerichtlichen Nachprüfung erfordert es nicht nur, dass das Gericht, das die Rechtmäßigkeit einer das Unionsrecht durchführenden Entscheidung nachprüft, kontrollieren kann, ob die Beweise, auf die diese Entscheidung gestützt wird, nicht unter Verletzung der durch das Unionsrecht, insbesondere die Charta, garantierten Rechte erlangt wurden.(31) Sie erfordert meines Erachtens auch, dass der Adressat (hier die Klägerin) einer belastenden Entscheidung (hier die Anordnung einer Sicherheitsleistung) gegen diese selbst und aus eigenem Recht inhaltliche Einwände vorbringen kann. Da dies hier nicht möglich war, liegt ein Verstoß gegen Art. 47 der Charta vor, für den keine Rechtfertigung ersichtlich ist.

2.      Gerichtliche Rechtsschutzmöglichkeit vor Vollstreckbarkeit

68.      Darüber hinaus ist fraglich, ob das von Ungarn implementierte Rechtsschutzsystem gewährleistet, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf nach Maßgabe von Art. 47 der Charta einzulegen.

69.      Wenn ich die in der mündlichen Verhandlung näher erläuterte ungarische Rechtslage richtig verstehe, hätte – selbst wenn der Steuerpflichtige (und nicht nur der leitende Angestellte) inhaltliche Einwände hätte erheben können – die Finanzverwaltung insgesamt 23 Tage (acht in der ersten und 15 in der zweiten Instanz) Zeit, um über die Anfechtung der Anordnung der Sicherheitsleistung zu entscheiden. Würde der Rechtsbehelf unter Nutzung der knappen Anfechtungsfrist am achten Tag eingelegt, wäre die Sicherheitsleistung eventuell bereits zu zahlen, bevor überhaupt über den Rechtsbehelf durch die Behörde entschieden worden wäre. Die Möglichkeit, einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die behördliche Entscheidung vor Fälligkeit der Sicherheitsleistung einzulegen, scheint daher in diesem ungarischen System gar nicht vorgesehen zu sein.

70.      Zwar besteht die Möglichkeit, gegen die sich anschließende Löschung der Steuernummer einen Rechtsbehelf bis hin zu einem Gericht einzulegen. Dies ist im vorliegenden Fall geschehen. In diesem Verfahren können aber offenbar ebenfalls keine Argumente vorgebracht werden, die die Verantwortlichkeit des neu eingestellten leitenden Angestellten für den Steuerschaden in Höhe der festgesetzten Sicherheitsleistung betreffen. Offenbar besteht auch keine Möglichkeit, eine Aussetzung der Vollziehung der Sicherheitsleistung oder eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs dagegen vor Gericht zu erreichen.

71.      Wenn dem tatsächlich so ist – was das vorlegende Gericht zu prüfen hat –, dann stellt die Art und Weise, wie Ungarn den Rechtsschutz gegen die Festsetzung und Durchsetzung der Sicherheitsleistung ausgestaltet hat, auch einen Verstoß gegen den Grundsatz eines wirksamen Rechtsbehelfs aus Art. 47 der Charta dar. Der Klägerin selbst blieb keine Möglichkeit, gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Festsetzung der Sicherheitsleistung vor Gericht zu erlangen, bevor diese fällig wurde und daraufhin die Steuernummer gelöscht wurde. Eine Rechtfertigung für diese Einschränkung ist ebenfalls nicht ersichtlich.

V.      Ergebnis

72.      Somit schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt auf die Vorlagefragen des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) zu antworten:

1.      Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit den Art. 16 und 17 der Charta der Grundrechte sind dahin gehend auszulegen, dass sie einer Anordnung einer Sicherheitsleistung in Höhe unbezahlter Steuerschulden eines anderen Steuerpflichtigen, so wie sie im vorliegenden Fall ausgestaltet ist, entgegenstehen.

2.      Art. 47 der Charta ist dahin gehend auszulegen, dass er einer Regelung entgegensteht, wonach die Anordnung einer Sicherheitsleistung in Höhe unbezahlter Steuerschulden eines anderen Steuerpflichtigen selbst nicht inhaltlich angegriffen werden kann. Er steht auch einer Regelung entgegen, bei der alle denkbaren Rechtsbehelfe gegen die Anordnung einer Sicherheitsleistung keine aufschiebende Wirkung haben, so dass die Zahlungsfrist bereits abläuft, bevor behördlicherseits über diese entschieden wurde und bevor überhaupt die Möglichkeit bestand, gerichtlichen Rechtsschutz dagegen zu erlangen.


1      Originalsprache: Deutsch.


2      Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der für das Streitjahr (2019) geltenden Fassung; insoweit zuletzt geändert durch die Richtlinie (EU) 2018/2057 des Rates vom 20. Dezember 2018 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf die befristete generelle Umkehrung der Steuerschuldnerschaft auf Lieferungen bestimmter Gegenstände und Dienstleistungen oberhalb eines bestimmten Schwellenwertes (ABl. 2018, L 329, S. 3).


3      Letzteres ist nach der Rechtsprechung dieses Gerichtshofs erforderlich, da der Empfänger z. B. sein Vorsteuerabzugsrecht nachzuweisen hat, was wiederum nach Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie voraussetzt, dass die Leistung von einem anderen Steuerpflichtigen ausgeführt wurde – vgl. zuletzt Urteil vom 11. November 2021, Ferimet (C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 41).


4      Urteile vom 18. November 2021, Promexor Trade (C‑358/20, EU:C:2021:936, Rn. 41), und vom 14. März 2013, Ablessio (C‑527/11, EU:C:2013:168, Rn. 23).


5      Beschluss vom 3. Juni 2022, Megatherm-Csillaghegy (C‑188/21, EU:C:2022:444, Rn. 52), unter Hinweis auf Urteil vom 12. Juli 2012, EMS-Bulgaria Transport (C‑284/11, EU:C:2012:458, Rn. 70).


6      Urteil vom 9. September 2021, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy (Innergemeinschaftlicher Erwerb von Dieselkraftstoff) (C‑855/19, EU:C:2021:714, Rn. 36).


7      Urteil vom 3. Juli 2019, UniCredit Leasing (C‑242/18, EU:C:2019:558, Rn. 40 und 41).


8      Urteil vom 12. Juli 2012, EMS-Bulgaria Transport (C‑284/11, EU:C:2012:458, Rn. 74).


9      Urteil vom 26. Oktober 2017, BB construct (C‑534/16, EU:C:2017:820, Rn. 6).


10      Urteil vom 26. Oktober 2017, BB construct (C‑534/16, EU:C:2017:820, Rn. 22 und 45).


11      Die Richtlinie spricht in der französischen Version von „exacte perception“ und in der englischen Version von „correct collection“.


12      In diesem Sinne bereits Urteil vom 26. Oktober 2017, BB construct (C‑534/16, EU:C:2017:820, Rn. 22 und 45).


13      Urteile vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna Praktika“ (C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 69), vom 9. September 2021, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy (Innergemeinschaftlicher Erwerb von Dieselkraftstoff) (C‑855/19, EU:C:2021:714, Rn. 35), und vom 17. Mai 2018, Vámos (C‑566/16, EU:C:2018:321, Rn. 38).


14      So ausdrücklich Urteile vom 21. Dezember 2021, Bank Melli Iran (C‑124/20, EU:C:2021:1035, Rn. 72), und vom 4. Mai 2023, MV – 98 (C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 34).


15      Urteile vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna Praktika“ (C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 72), vom 9. September 2021, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy (Innergemeinschaftlicher Erwerb von Dieselkraftstoff) (C‑855/19, EU:C:2021:714, Rn. 35), vom 28. Februar 2018, Pieńkowski (C‑307/16, EU:C:2018:124, Rn. 33), und vom 15. April 2021, Grupa Warzywna (C‑935/19, EU:C:2021:287, Rn. 26).


16      In diesem Sinne auch bereits Urteil vom 22. Dezember 2010, DEB (C‑279/09, EU:C:2010:811, Rn. 38 ff.).


17      Urteile vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn (Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen) (C‑235/17, EU:C:2019:432), und vom 22. Januar 2013, Sky Österreich (C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 34).


18      Urteile vom 26. Oktober 2017, BB construct (C‑534/16, EU:C:2017:820, Rn. 35), und vom 22. Januar 2013, Sky Österreich (C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 42).


19      Urteile vom 21. Dezember 2021, Bank Melli Iran (C‑124/20, EU:C:2021:1035, Rn. 81), vom 26. Oktober 2017, BB construct (C‑534/16, EU:C:2017:820, Rn. 36), und vom 22. Januar 2013, Sky Österreich (C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 45 und 46).


20      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache PrivatBank u. a. (C‑78/21, EU:C:2022:738, Nr. 88) und in der Rechtssache G4S Secure Solutions (C‑157/15, EU:C:2016:382, Nr. 112).


21      Urteil vom 18. November 2021, Promexor Trade (C‑358/20, EU:C:2021:936, Rn. 42).


22      Urteil vom 14. März 2013, Ablessio (C‑527/11, EU:C:2013:168, Tenor).


23      Urteile vom 4. Mai 2023, MV – 98 (C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 58, 59 und 63), und vom 15. April 2021, Grupa Warzywna (C‑935/19, EU:C:2021:287, Rn. 28 ff. und 34 ff.).


24      Siehe Urteil vom 10. Juli 2008, Sosnowska (C‑25/07, EU:C:2008:395, Rn. 30 und 31).


25      Urteil vom 26. Oktober 2017, BB construct (C‑534/16, EU:C:2017:820, Rn. 28).


26      In diesem Sinne Urteil vom 28. Februar 2018, Pieńkowski (C‑307/16, EU:C:2018:124, Rn. 34).


27      Urteile vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna Praktika“ (C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 74), und vom 21. Dezember 2011, Vlaamse Oliemaatschappij (C‑499/10, EU:C:2011:871, Rn. 24).


28      Urteile vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna Praktika“ (C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 74), und vom 21. Dezember 2011, Vlaamse Oliemaatschappij (C‑499/10, EU:C:2011:871, Rn. 24).


29      Urteil vom 22. Dezember 2010, DEB (C‑279/09, EU:C:2010:811, Rn. 40 und 59).


30      Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache Glencore Agriculture Hungary (C‑189/18, EU:C:2019:462, Rn. 43).


31      Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 86 und 87).

Top