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Document 62020CJ0396

Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 21. Oktober 2021.
CHEP Equipment Pooling NV gegen Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága.
Vorabentscheidungsersuchen der Kúria.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerwesen – Mehrwertsteuer – Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässige Steuerpflichtige – Richtlinie 2008/9/EG – Art. 20 Abs. 1 – Anforderung zusätzlicher Informationen durch den Mitgliedstaat der Erstattung – Angaben, die Gegenstand eines Ersuchens um zusätzliche Informationen sein können – Unstimmigkeit zwischen dem im Erstattungsantrag genannten und dem in den vorgelegten Rechnungen ausgewiesenen Betrag – Grundsatz der guten Verwaltung – Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer – Ausschlussfrist – Auswirkungen auf die Berichtigung des Fehlers des Steuerpflichtigen.
Rechtssache C-396/20.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:867

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

21. Oktober 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerwesen – Mehrwertsteuer – Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässige Steuerpflichtige – Richtlinie 2008/9/EG – Art. 20 Abs. 1 – Anforderung zusätzlicher Informationen durch den Mitgliedstaat der Erstattung – Angaben, die Gegenstand eines Ersuchens um zusätzliche Informationen sein können – Unstimmigkeit zwischen dem im Erstattungsantrag genannten und dem in den vorgelegten Rechnungen ausgewiesenen Betrag – Grundsatz der guten Verwaltung – Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer – Ausschlussfrist – Auswirkungen auf die Berichtigung des Fehlers des Steuerpflichtigen“

In der Rechtssache C‑396/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) mit Entscheidung vom 2. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juli 2020, in dem Verfahren

CHEP Equipment Pooling NV

gegen

Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi und des Richters N. Wahl (Berichterstatter),

Generalanwalt: G. Hogan,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen:

der CHEP Equipment Pooling NV, vertreten durch Sz. Vámosi-Nagy, ügyvéd,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und Zs. Teleki als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9/EG des Rates vom 12. Februar 2008 zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige (ABl. 2008, L 44, S. 23).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der CHEP Equipment Pooling NV und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn), dessen Gegenstand die Entscheidung der Rechtsbehelfsdirektion ist, einem Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer nur teilweise stattzugeben.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2008/9

3

Die Erwägungsgründe 1 und 2 der Richtlinie 2008/9 lauten:

„(1)

Sowohl die Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten als auch Unternehmen haben erhebliche Probleme mit den Durchführungsbestimmungen, die in der Richtlinie 79/1072/EWG des Rates vom 6. Dezember 1979 [(ABl. 1979, L 331, S. 11)] zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Inland ansässige Steuerpflichtige festgelegt sind.

(2)

Die Regelungen jener Richtlinie sollten hinsichtlich der Frist, innerhalb deren die Entscheidungen über die Erstattungsanträge den Unternehmen mitzuteilen sind, geändert werden. Gleichzeitig sollte vorgesehen werden, dass auch die Unternehmen innerhalb bestimmter Fristen antworten müssen. Außerdem sollte das Verfahren vereinfacht und durch den Einsatz fortschrittlicher Technologien modernisiert werden.“

4

Art. 2 der Richtlinie 2008/9 lautet:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.

„nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässiger Steuerpflichtiger“ jeden Steuerpflichtigen im Sinne von Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 2006/112/EG [des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1)], der nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates ansässig ist;

2.

„Mitgliedstaat der Erstattung“ den Mitgliedstaat, mit dessen Mehrwertsteuer die dem nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässigen Steuerpflichtigen von anderen Steuerpflichtigen in diesem Mitgliedstaat gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen oder die Einfuhr von Gegenständen in diesen Mitgliedstaat belastet wurden;

4.

„Erstattungsantrag“ den Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer, mit der der Mitgliedstaat der Erstattung die dem nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässigen Steuerpflichtigen von anderen Steuerpflichtigen in diesem Mitgliedstaat gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen oder die Einfuhr von Gegenständen in diesen Mitgliedstaat belastet hat;

…“

5

Art. 5 der Richtlinie 2008/9 lautet:

„Jeder Mitgliedstaat erstattet einem nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässigen Steuerpflichtigen die Mehrwertsteuer, mit der die ihm von anderen Steuerpflichtigen in diesem Mitgliedstaat gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen oder die Einfuhr von Gegenständen in diesen Mitgliedstaat belastet wurden, sofern die betreffenden Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke der folgenden Umsätze verwendet werden:

a)

in Artikel 169 Buchstaben a und b der Richtlinie 2006/112/EG genannte Umsätze;

b)

Umsätze, deren Empfänger nach den Artikeln 194 bis 197 und Artikel 199 der Richtlinie 2006/112/EG, wie sie im Mitgliedstaat der Erstattung angewendet werden, Schuldner der Mehrwertsteuer ist.

Unbeschadet des Artikels 6 wird für die Anwendung dieser Richtlinie der Anspruch auf Vorsteuererstattung nach der Richtlinie 2006/112/EG, wie diese Richtlinie im Mitgliedstaat der Erstattung angewendet wird, bestimmt.“

6

Art. 7 der Richtlinie 2008/9 sieht vor:

„Um eine Erstattung von Mehrwertsteuer im Mitgliedstaat der Erstattung zu erhalten, muss der nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässige Steuerpflichtige einen elektronischen Erstattungsantrag an diesen Mitgliedstaat richten und diesen in dem Mitgliedstaat, in dem er ansässig ist, über das von letzterem Mitgliedstaat eingerichtete elektronische Portal einreichen.“

7

Art. 8 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie lautet:

„… in dem Erstattungsantrag [sind] für jeden Mitgliedstaat der Erstattung und für jede Rechnung oder jedes Einfuhrdokument folgende Angaben zu machen:

e)

Steuerbemessungsgrundlage und Mehrwertsteuerbetrag in der Währung des Mitgliedstaats der Erstattung;

…“

8

In Art. 15 der Richtlinie 2008/9 heißt es:

„(1)   Der Erstattungsantrag muss dem Mitgliedstaat, in dem der Steuerpflichtige ansässig ist, spätestens am 30. September des auf den Erstattungszeitraum folgenden Kalenderjahres vorliegen. Der Erstattungsantrag gilt nur dann als vorgelegt, wenn der Antragsteller alle in den Artikeln 8, 9 und 11 geforderten Angaben gemacht hat.

(2)   Der Mitgliedstaat, in dem der Antragsteller ansässig ist, hat diesem unverzüglich eine elektronische Empfangsbestätigung zu übermitteln.“

9

Art. 18 der Richtlinie 2008/9 bestimmt:

„(1)   Der Mitgliedstaat, in dem der Antragsteller ansässig ist, übermittelt dem Mitgliedstaat der Erstattung den Erstattungsantrag nicht, wenn der Antragsteller im Mitgliedstaat, in dem er ansässig ist, im Erstattungszeitraum

a)

für Zwecke der Mehrwertsteuer kein Steuerpflichtiger ist;

b)

nur Gegenstände liefert oder Dienstleistungen erbringt, die gemäß den Artikeln 132, 135, 136 und 371, den Artikeln 374 bis 377, Artikel 378 Absatz 2 Buchstabe a, Artikel 379 Absatz 2 oder den Artikeln 380 bis 390 der Richtlinie 2006/112/EG oder den inhaltsgleichen Befreiungsvorschriften gemäß der Beitrittsakte von 2005 ohne Recht auf Vorsteuerabzug von der Steuer befreit sind;

c)

die Steuerbefreiung für Kleinunternehmen nach den Artikeln 284, 285, 286 und 287 der Richtlinie 2006/112/EG in Anspruch nimmt;

d)

die gemeinsame Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger nach den Artikeln 296 bis 305 der Richtlinie 2006/112/EG in Anspruch nimmt.

(2)   Der Mitgliedstaat, in dem der Antragsteller ansässig ist, teilt dem Antragsteller seine Entscheidung gemäß Absatz 1 auf elektronischem Wege mit.“

10

Art. 19 der Richtlinie 2008/9 sieht vor:

„(1)   Der Mitgliedstaat der Erstattung setzt den Antragsteller auf elektronischem Wege unverzüglich vom Datum des Eingangs des Antrags beim Mitgliedstaat der Erstattung in Kenntnis.

(2)   Der Mitgliedstaat der Erstattung teilt dem Antragsteller innerhalb von vier Monaten ab Eingang des Erstattungsantrags in diesem Mitgliedstaat mit, ob er die Erstattung gewährt oder den Erstattungsantrag abweist.“

11

Art. 20 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Ist der Mitgliedstaat der Erstattung der Auffassung, dass er nicht über alle relevanten Informationen für die Entscheidung über eine vollständige oder teilweise Erstattung verfügt, kann er insbesondere beim Antragsteller oder bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem der Antragsteller ansässig ist, innerhalb des in Artikel 19 Absatz 2 genannten Viermonatszeitraums elektronisch zusätzliche Informationen anfordern. Werden die zusätzlichen Informationen bei einer anderen Person als dem Antragsteller oder der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats angefordert, soll das Ersuchen nur auf elektronischem Wege ergehen, wenn der Empfänger des Ersuchens über solche Mittel verfügt.

Gegebenenfalls kann der Mitgliedstaat der Erstattung weitere zusätzliche Informationen anfordern.

Die gemäß diesem Absatz angeforderten Informationen können die Einreichung des Originals oder eine Durchschrift der einschlägigen Rechnung oder des einschlägigen Einfuhrdokuments umfassen, wenn der Mitgliedstaat der Erstattung begründete Zweifel am Bestehen einer bestimmten Forderung hat. In diesem Fall gelten die in Artikel 10 genannten Schwellenwerte nicht.“

Richtlinie 2006/112

12

Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 lautet:

„Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist.

Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat.

Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem wird bis zur Einzelhandelsstufe, diese eingeschlossen, angewandt.“

13

Art. 171 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Erstattung der Mehrwertsteuer an Steuerpflichtige, die nicht in dem Mitgliedstaat, in dem sie die Gegenstände und Dienstleistungen erwerben oder mit der Mehrwertsteuer belastete Gegenstände einführen, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, erfolgt nach dem in der Richtlinie [2008/9] vorgesehenen Verfahren.“

Ungarisches Recht

14

§ 249 des Általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII. törvény (Gesetz Nr. CXXVII von 2007 über die allgemeine Umsatzsteuer) (Magyar Közlöny 2007/155. [XI. 16.], im Folgenden: Umsatzsteuergesetz) sieht vor, dass die Erstattung der Umsatzsteuer an einen nicht in Ungarn ansässigen Steuerpflichtigen auf schriftlichen Antrag erfolgt. Nach § 251/E dieses Gesetzes entscheidet die Steuerbehörde innerhalb von vier Monaten.

15

Nach § 251/F dieses Gesetzes kann die Steuerbehörde schriftlich zusätzliche Informationen von dem nicht in Ungarn ansässigen Steuerpflichtigen anfordern, insbesondere die Vorlage des Originals oder einer beglaubigten Kopie der Rechnung verlangen, wenn begründete Zweifel hinsichtlich der Rechtsgrundlage der Erstattung oder der Höhe des Erstattungsbetrags bestehen.

16

Gemäß § 127 Abs. 1 Buchst. a dieses Gesetzes muss der Steuerpflichtige im Besitz einer auf seinen Namen ausgestellten Rechnung sein, die bestätigt, dass der Umsatz bewirkt wurde.

17

§ 120 des Umsatzsteuergesetzes bestimmt:

„In dem Umfang, in dem der Steuerpflichtige – in dieser Eigenschaft – die Gegenstände oder Dienstleistungen für steuerpflichtige Lieferungen von Gegenständen oder Erbringungen von Dienstleistungen verwendet bzw. auf andere Art und Weise verwertet, ist er berechtigt, von der von ihm zu entrichtenden Steuer abzuziehen:

a)

die Steuer, die ein anderer Steuerpflichtiger – einschließlich der Personen oder Organisationen, die der vereinfachten Unternehmensteuer unterliegen – im Zusammenhang mit dem Erwerb von Gegenständen oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen auf ihn übergewälzt hat.

…“

18

Nach § 4 Abs. 2 Buchst. e der Belföldön nem letelepedett adóalanyokat a Magyar Köztársaságban megillető általánosforgalmiadó-visszatéríttetési jognak, valamint a belföldön letelepedett adóalanyokat az Európai Közösség más tagállamában megillető hozzáadottértékadó-visszatéríttetési jognak érvényesítésével kapcsolatos egyes rendelkezésekről szóló 32/2009. (XII. 21.) PM rendelet (Ministerialverordnung 32/2009 [XII. 21.] über bestimmte Vorschriften im Zusammenhang mit der Geltendmachung des Rechts auf Rückerstattung der allgemeinen Umsatzsteuer, das nicht im Inland ansässigen Steuerpflichtigen in der Republik Ungarn zusteht, sowie mit der Geltendmachung des Rechts auf Mehrwertsteuerrückerstattung, das im Inland ansässigen Steuerpflichtigen in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft zusteht) (Magyar Közlöny 2009/188.), müssen in einem Erstattungsantrag eines Steuerpflichtigen, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, für jede eingereichte Rechnung die Bemessungsgrundlage und der Betrag der Mehrwertsteuer angegeben sein.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

19

CHEP Equipment Pooling, eine Gesellschaft belgischen Rechts, die der Mehrwertsteuer unterliegt, ist in der Logistikbranche tätig und auf den Vertrieb von Paletten spezialisiert. Nachdem sie in Ungarn Paletten erworben hatte, die sie anschließend an ihre Tochtergesellschaften in verschiedenen Mitgliedstaaten vermietete, reichte sie am28. September 2017 als in Belgien Mehrwertsteuerpflichtige bei den ungarischen Behörden einen Antrag auf Erstattung der Vorsteuer ein, die auf zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 2016 erworbene Waren und Dienstleistungen angefallen war.

20

Die Klägerin fügte dem Antrag eine Mehrwertsteueraufstellung bei, deren acht Spalten mit „Rechnungsnummer“, „Rechnungsdatum“, „Rechnungssteller“, „Steuerbemessungsgrundlage“, „Steuer“, „abziehbare Steuer“, „Bezeichnung“ und „Codes“ bezeichnet waren, sowie die in der Aufstellung aufgeführten Rechnungen.

21

Nachdem die Steuerbehörde erster Instanz festgestellt hatte, dass die Aufstellung in einigen Fällen auf Rechnungen verwies, für die die Mehrwertsteuer bereits erstattet worden war, und ihr außerdem Unstimmigkeiten zwischen den in dieser Aufstellung aufgeführten und den in den dieser Aufstellung beigefügten Rechnungen ausgewiesenen Mehrwertsteuerbeträgen aufgefallen waren, wobei der Rechnungsbetrag in einigen Fällen niedriger und in anderen Fällen höher war als der in der fraglichen Aufstellung angegebene, forderte sie die Klägerin des Ausgangsverfahrens am 2. November 2017 auf, ihr zusätzliche Informationen, nämlich Dokumente und Erklärungen zu den Umständen der Wirtschaftsvorgänge bezüglich 143 Rechnungen vorzulegen.

22

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens übermittelte der Steuerbehörde erster Instanz die von ihr an das Transportunternehmen ausgestellten Bestellscheine für die Paletten, den mit dem Transportunternehmen geschlossenen Kaufvertrag, den zwischen ihr und CHEP Magyarország geschlossenen Vertrag über die Vermietung der Paletten, die an diese Gesellschaft im Zusammenhang mit der Vermietung der Paletten ausgestellten Rechnungen, die von CHEP Magyarország an die Kunden ausgestellten Rechnungen und eine Liste der Orte, an denen sich die Paletten tatsächlich befanden.

23

Nach Prüfung der von der Klägerin des Ausgangsverfahrens übermittelten zusätzlichen Dokumente gab die Steuerbehörde erster Instanz dem Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer mit Entscheidung vom 29. November 2017 in Höhe von 254636343 Forint (HUF) (damals etwa 826715 Euro) statt. Hingegen lehnte sie die Erstattung in Höhe von 92803004 HUF (damals etwa 301300 Euro) ab. Sie ermittelte drei Gruppen von Anträgen. Erstens lehnte sie die Anträge ab, auf die bereits eine Erstattung erfolgt war. Zweitens bewilligte sie für die Anträge, in denen ein höherer Mehrwertsteuerbetrag als in der entsprechenden Rechnung angegeben war, eine Erstattung lediglich in Höhe des in der Rechnung ausgewiesenen Betrags. Drittens bewilligte sie für die Anträge, in denen ein niedrigerer Mehrwertsteuerbetrag als in der entsprechenden Rechnung angegeben war, eine Erstattung lediglich in Höhe des im Erstattungsantrag angegebenen Betrags.

24

Mit einer Beschwerde gegen diese Entscheidung machte die Klägerin des Ausgangsverfahrens hinsichtlich der dritten Gruppe von Anträgen geltend, dass der auf den Rechnungen ausgewiesene Mehrwertsteuerbetrag ihr theoretisch einen Anspruch auf eine höhere Mehrwertsteuererstattung eröffne als sie selbst in der Aufstellung beantragt habe.

25

Die Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung bestätigte die Entscheidung der Steuerbehörde erster Instanz. Sie führte aus, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens einen Fehler bezüglich des in ihrem ursprünglichen Erstattungsantrag angegebenen Betrags nicht berichtigen könne, ohne dass diese Berichtigung einen neuen Antrag darstelle. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens sei aber mit einem solchen Antrag ausgeschlossen, da die Ausschlussfrist am 30. September 2017, d. h. im vorliegenden Fall zwei Tage nach Eingang ihres ursprünglichen Antrags, abgelaufen sei. Die Steuerbehörde erster Instanz sei zudem nicht verpflichtet gewesen, von der Klägerin des Ausgangsverfahrens weitere zusätzliche Informationen anzufordern, da der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens leicht feststellbar sei.

26

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erhob Klage beim Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest) (erstinstanzliches Gericht).

27

Das erstinstanzliche Gericht wies die Klage ab. Es führte aus, dass der Anspruch auf Erstattung, die Einleitung des Verfahrens und die Festsetzung des von der Erstattung betroffenen Mehrwertsteuerbetrags vom Steuerpflichtigen selbst abhängig seien. Würde einer Klage wie der von der Klägerin des Ausgangsverfahrens erhobenen stattgegeben, würde der Mechanismus des Erstattungsantrags seines Sinns entleert, da es ausreichen würde, die Rechnungen beizufügen, auf die der Erstattungsanspruch gestützt werde, und die Steuerbehörde – außer in Fällen der Anwendung des Prorata-Satzes – verpflichtet wäre, in jedem Fall die Erstattung des aufgrund der Rechnungen zustehenden Höchstbetrags der Steuer zu bewilligen. Die Steuerbehörde dürfe nur dann von der Möglichkeit Gebrauch machen, zusätzliche Informationen anzufordern, wenn diese für eine begründete Entscheidung erforderlich seien oder relevante Informationen fehlten; dies sei hier jedoch nicht der Fall gewesen.

28

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens legte ein Rechtsmittel bei der Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) ein und machte u. a. geltend, das erstinstanzliche Gericht habe gegen den in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 verankerten Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer verstoßen.

29

Das vorlegende Gericht stellt zum einen fest, dass die Zahl der Erstattungsanträge, die innerhalb der Ausschlussfrist gestellt werden könnten, nicht begrenzt sei, und die Steuerpflichtigen etwaige frühere Fehler durch die Einreichung neuer Anträge korrigieren könnten, und zum anderen, dass insoweit ein kurz vor Ablauf der Ausschlussfrist gestellter Antrag von Bedeutung sei, ist der Auffassung, dass es wesentlich auf die Feststellung ankomme, ob die Steuerverwaltung eine begründete Entscheidung über den Antrag eines Steuerpflichtigen treffen könne, wenn Erläuterungen zu den Abweichungen zwischen den im Antrag und den in den beigefügten Rechnungen aufgeführten Mehrwertsteuerbeträgen fehlten.

30

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die anwendbaren Vorschriften des Unionsrechts und des nationalen Rechts ähnlich seien, da sowohl Art. 8 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2008/9 als auch § 4 Abs. 2 Buchst. e der in Rn. 18 des vorliegenden Urteils genannten Ministerialverordnung 32/2009 vorschrieben, dass in Anträgen der Mehrwertsteuerbetrag angegeben sein müsse. Außerdem könne ein Bescheid über die Erstattung sowohl nach Art. 20 Abs. 1 dieser Richtlinie als auch nach § 251/F Abs. 3 des Umsatzsteuergesetzes nur dann ergehen, wenn der Steuerverwaltung alle relevanten Informationen für eine begründete Entscheidung zur Verfügung stünden, wozu die genaue Angabe des Mehrwertsteuerbetrags gehöre, dessen Erstattung beantragt werde. Ebenso wie der genannte Art. 20 Abs. 1 in der ungarischen Sprachfassung es der Steuerverwaltung erlaube, von dem Steuerpflichtigen zusätzliche Angaben in Bezug auf die „relevanten Informationen“ anzufordern, wenn begründete Zweifel an der Genauigkeit bestimmter Forderungen bestünden, gewähre ihr schließlich das Umsatzsteuergesetz ebenfalls die Möglichkeit, den Steuerpflichtigen bei ernsthaften Zweifeln über den Betrag der entrichteten Vorsteuer, deren Erstattung beantragt werde, zu kontaktieren.

31

Das vorlegende Gericht fragt sich, ob für die Steuerverwaltung die Möglichkeit besteht, von dem Steuerpflichtigen zusätzliche Informationen anzufordern, wenn, wie im vorliegenden Fall, der im Erstattungsantrag angegebene Betrag von demjenigen abweicht, der in den zur Stützung dieses Antrags beigefügten Rechnungen ausgewiesen ist. Zwar könnte man annehmen, dass diese Abweichung keine relevante Information im Sinne von Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 sei, sodass die Steuerverwaltung nicht verpflichtet sei, den Steuerpflichtigen auf seine(n) Fehler hinzuweisen. Das vorlegende Gericht neigt jedoch zu der Auffassung, dass die Steuerverwaltung in einem solchen Fall zusätzliche Informationen anfordern muss, da das Bestehen einer solchen Abweichung die Genauigkeit des Antrags selbst in Frage stelle.

32

Unter diesen Umständen hat die Kúria (Oberste Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 dahin auszulegen, dass auch in dem Fall, in dem der Antrag auf Erstattung und die Rechnung offenkundige buchhalterische Unterschiede zulasten des Steuerpflichtigen aufweisen, ohne dass sich die Frage des Prorata-Satzes stellen würde, der Mitgliedstaat der Erstattung die Auffassung vertreten kann, dass die Anforderung zusätzlicher Informationen nicht erforderlich ist, und dass alle relevanten Informationen für eine Entscheidung über die Erstattung zur Verfügung stehen?

Zur Vorlagefrage

33

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass die Steuerverwaltung des Mitgliedstaats, in dem ein Antrag auf Mehrwertsteuererstattung von einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen gestellt wird, annimmt, über genügend Informationen zu verfügen, um über diesen Antrag entscheiden zu können, ohne den Steuerpflichtigen zur Vorlage zusätzlicher Informationen aufzufordern.

34

Diese Frage wird in einem Kontext gestellt, in dem erstens eine Abweichung zwischen dem im Antrag angegebenen und dem in den zur Stützung dieses Antrags vorgelegten Rechnungen ausgewiesenen Mehrwertsteuerbetrag besteht, zweitens der Antrag kurz vor Ablauf der Ausschlussfrist gestellt wird, was die Frage aufwirft, ob der Steuerpflichtige berechtigt ist, entweder einen Berichtigungsantrag oder einen neuen Antrag einzureichen, in dem die Fehler berücksichtigt werden, auf die die Steuerverwaltung hingewiesen hat, und drittens die Steuerverwaltung bei einer solchen Abweichung an Stelle des im betreffenden Antrag genannten Mehrwertsteuerbetrags auf den in der Rechnung ausgewiesenen abstellt, wenn dieser niedriger ist, während sie umgekehrt den im Antrag genannten heranzieht, wenn dieser geringer ist als der in der Rechnung ausgewiesene, also davon ausgeht, an den im Erstattungsantrag genannten Betrag als Höchstbetrag gebunden zu sein, sodass der Steuerpflichtige den Mehrwertsteuerbetrag, auf den er Anspruch hätte, nicht vollständig erhalten kann.

35

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2008/9 nach ihrem Art. 1 die Einzelheiten der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß Art. 170 der Richtlinie 2006/112 an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässige Steuerpflichtige, die die Voraussetzungen von Art. 3 der Richtlinie 2008/9 erfüllen, regeln und weder die Voraussetzungen für die Ausübung noch den Umfang des Rechts auf Erstattung bestimmen soll. Nach Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie wird nämlich unbeschadet ihres Art. 6 der Anspruch auf Vorsteuererstattung nach der Richtlinie 2006/112 bestimmt, wie diese Richtlinie im Mitgliedstaat der Erstattung angewendet wird. Daher entspricht der Anspruch eines in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Steuerpflichtigen auf die in der Richtlinie 2008/9 geregelte Erstattung der in einem anderen Mitgliedstaat entrichteten Mehrwertsteuer dem Anspruch auf Abzug der in seinem eigenen Mitgliedstaat entrichteten Vorsteuer, den die Richtlinie 2006/112 zu seinen Gunsten eingeführt hat (Urteil vom 21. März 2018, Volkswagen, C‑533/16, EU:C:2018:204, Rn. 34 bis 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Ebenso wie das Recht auf Vorsteuerabzug stellt der Erstattungsanspruch ein Grundprinzip des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems dar (Urteil vom 11. Juni 2020, CHEP Equipment Pooling, C‑242/19, EU:C:2020:466, Rn. 53) und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Dieses Recht kann für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (Urteil vom 18. November 2020, Kommission/Deutschland [Erstattung der Mehrwertsteuer – Rechnungen], C‑371/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:936, Rn. 79). Durch die Regelung des Vorsteuerabzugs – und damit auch der Erstattung – soll der Unternehmer nämlich vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet auf diese Weise die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck oder ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten selbst grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteil vom 21. März 2018, Volkswagen, C‑533/16, EU:C:2018:204, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Dieses Grundprinzip der Neutralität der Mehrwertsteuer erfordert, dass der Vorsteuerabzug oder die Mehrwertsteuererstattung gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formalen Anforderungen nicht genügt hat (Urteil vom 18. November 2020, Kommission/Deutschland [Erstattung der Mehrwertsteuer – Rechnungen], C‑371/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:936, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 enthält jedoch selbst eine Beschränkung des Rechts auf Mehrwertsteuererstattung, indem er vorsieht, dass der Erstattungsantrag dem Mitgliedstaat, in dem der Steuerpflichtige ansässig ist, spätestens am 30. September des auf den Erstattungszeitraum folgenden Kalenderjahres vorliegen muss, woraufhin dieser Mitgliedstaat den Antrag dem Mitgliedstaat der Erstattung übermittelt, es sei denn, der Übermittlung steht einer der in Art. 18 dieser Richtlinie aufgezählten Gründe entgegen.

39

Diese erste Prüfung durch den Mitgliedstaat, in dem der Antragsteller ansässig ist, wird durch die vom Mitgliedstaat der Erstattung vorgenommene Prüfung ergänzt, wobei der letztgenannte Mitgliedstaat hierzu gemäß Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 vom Antragsteller oder von dem Mitgliedstaat, in dem der Antragsteller ansässig ist, zusätzliche Informationen anfordern kann.

40

Es ist darauf hinzuweisen, dass die verschiedenen Sprachfassungen der letztgenannten Vorschrift zwar gewisse redaktionelle Unterschiede aufweisen, diese Unterschiede aber nicht den Wesensgehalt dieser Vorschrift ändern, nämlich dass es sich bei den Informationen, die vom Mitgliedstaat der Erstattung angefordert werden können, um solche handelt, die es diesem ermöglichen sollen, ganz oder teilweise über den Erstattungsantrag zu entscheiden, wie sich dies im Übrigen aus der Systematik der Richtlinie 2008/9 und dem Zweck ihres Art. 20 ergibt.

41

Insoweit hat der Unionsgesetzgeber, nachdem er, wie dem ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/9 zu entnehmen ist, festgestellt hat, dass „[s]owohl die Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten als auch Unternehmen … erhebliche Probleme [mit dem Mechanismus der Mehrwertsteuererstattung haben]“, wie sich aus dem zweiten Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, beschlossen, das Verfahren dieser Erstattung „hinsichtlich der Frist, innerhalb deren die Entscheidungen über die Erstattungsanträge den Unternehmen mitzuteilen sind“, zu beschleunigen, Fristen vorzuschreiben, innerhalb deren „auch die Unternehmen … antworten müssen“, und die Übermittlung der Entscheidungen und Antworten per E‑Mail zu erlauben, um „das Verfahren [zu vereinfachen] und durch den Einsatz fortschrittlicher Technologien [zu modernisieren]“.

42

Art. 20 der Richtlinie 2008/9 ist in dieser Logik der Beschleunigung in dem Sinne zu verstehen, dass der Unionsgesetzgeber verhindern wollte, dass der Mitgliedstaat der Erstattung durch Auskunftsverlangen, die der Verzögerung dienen, seine Erstattungspflicht hinausschiebt oder deren Effizienz verringert. Aus diesem Grund ist in dieser Vorschrift präzisiert, dass die Anforderung zusätzlicher Informationen das von der betreffenden Steuerverwaltung für eine Entscheidung Benötigte betreffen muss. Zur Gewährleistung der Neutralität des Mechanismus der Mehrwertsteuer durch deren vollständige Erstattung müssen Informationsersuchen daher sämtliche relevanten, also zu diesem Zweck notwendigen Informationen betreffen.

43

Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die ungarische Steuerverwaltung, nachdem sie Abweichungen zwischen den im Erstattungsantrag genannten und den in den zur Stützung dieses Antrags vorgelegten Rechnungen ausgewiesenen Mehrwertsteuerbeträgen festgestellt hatte, von der in Art. 20 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/9 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch machte, indem sie von der Klägerin des Ausgangsverfahrens zusätzliche Informationen anforderte. Hingegen nahm sie, nachdem sie diese Informationen geprüft hatte, nicht die in Art. 20 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie genannte Möglichkeit in Anspruch, weitere zusätzliche Informationen anzufordern, da sie sich als hinreichend unterrichtet ansah, um über den Erstattungsantrag zu entscheiden.

44

Wie in Rn. 23 des vorliegenden Urteils ausgeführt, konnte sie anhand dieser von dem Steuerpflichtigen vorgelegten Informationen drei Kategorien von Anträgen ausmachen, nämlich erstens diejenigen, bei denen eine Erstattung bereits erfolgt war und sie keine erneute Erstattung bewilligte, zweitens diejenigen, die sich auf Rechnungen bezogen, deren Mehrwertsteuerbetrag niedriger als der im Erstattungsantrag angegebene war, bei denen sie eine Erstattung in Höhe des in diesen Rechnungen ausgewiesenen Mehrwertsteuerbetrags bewilligte, und drittens diejenigen, bei denen der in den betreffenden Rechnungen ausgewiesene Mehrwertsteuerbetrag höher als der im Erstattungsantrag angegebene war und lediglich zu einer Teilerstattung in Höhe des in diesem Antrag angegebenen Betrags führte. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens wendet sich lediglich gegen die ablehnende Entscheidung der ungarischen Steuerverwaltung bezüglich dieser dritten Kategorie von Anträgen.

45

Hierzu geht aus den Erklärungen der ungarischen Regierung hervor, dass diese ablehnende Entscheidung darauf beruht, dass sich die Steuerverwaltung als an den im Erstattungsantrag genannten Mehrwertsteuerantrag gebunden ansah und nicht mehr erstatten wollte als darin angegeben war, selbst wenn sich aus dem in den Rechnungen ausgewiesenen Mehrwertsteuerbetrag potenziell ein Anspruch auf eine höhere Erstattung ergab.

46

In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens sind die Pflichten des Steuerpflichtigen und die der betreffenden innerstaatlichen Steuerverwaltung gegeneinander abzuwägen. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass der Steuerpflichtige am besten in der Lage ist, zu wissen, ob die Umsätze, für die er einen Erstattungsantrag einreicht, tatsächlich bewirkt wurden, und daher, zumindest in gewissem Umfang, die Konsequenzen seines eigenen Verhaltens gegenüber der Verwaltung tragen muss. Er ist u. a. an seine Angaben in den von ihm ausgestellten Rechnungen gebunden, insbesondere an die Angaben in Bezug auf den Mehrwertsteuerbetrag und den anzuwendenden Mehrwertsteuersatz gemäß den Bestimmungen von Art. 226 der Richtlinie 2006/112.

47

Außerdem hat der Gerichtshof im Rahmen seiner Rechtsprechung zur Möglichkeit der Mitgliedstaaten, im Bereich des Vorsteuerabzugs eine Ausschlussfrist einzuführen, bereits hervorgehoben, dass eine solche Frist, deren Ablauf den nicht hinreichend sorgfältigen Steuerpflichtigen sanktioniert, nicht als mit der von der Richtlinie 2006/112 errichteten Regelung unvereinbar angesehen werden kann, sofern diese Frist zum einen gleichermaßen für die entsprechenden auf dem innerstaatlichen Recht beruhenden steuerlichen Rechte wie für die auf dem Unionsrecht beruhenden Rechte gilt (Äquivalenzgrundsatz) und sie zum anderen die Ausübung des Abzugsrechts nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 21. März 2018, Volkswagen, C‑533/16, EU:C:2018:204, Rn. 47).

48

Als Konsequenz dieser Pflichten des Urhebers eines Erstattungsantrags ist darauf hinzuweisen, dass zwar die Richtlinie 2008/9 abgesehen von dem in ihrem Art. 13 vorgesehenen besonderen Fall der Anpassung des Prorata-Satzes, der hier nicht einschlägig ist, oder der Einreichung eines neuen Erstattungsantrags nach Rücknahme des ersten, keine Vorschriften zur Möglichkeit dieses Antragstellers enthält, seinen Erstattungsantrag zu berichtigen, dass jedoch sobald ein Mitgliedstaat das Unionsrecht durchführt, die aus dem Recht auf eine gute Verwaltung, das einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts widerspiegelt, folgenden Anforderungen, insbesondere das Recht jeder Person, dass ihre Angelegenheiten unparteiisch und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden, im Rahmen eines Steuerprüfungsverfahrens Anwendung finden. Dieser Grundsatz der guten Verwaltung verlangt von einer Verwaltungsbehörde wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Steuerbehörde, im Rahmen der ihr obliegenden Kontrollpflichten eine sorgfältige und unvoreingenommene Prüfung aller relevanten Gesichtspunkte vorzunehmen, sodass sie sicherstellt, dass sie bei Erlass ihrer Entscheidung insoweit über möglichst vollständige und verlässliche Informationen verfügt (Urteil vom 14. Mai 2020, Agrobet CZ, C‑446/18, EU:C:2020:369, Rn. 43 und 44).

49

Unterläuft bzw. unterlaufen dem Steuerpflichtigen in seinem Erstattungsantrag ein oder mehrere Fehler und klären weder er noch die betreffende Steuerverwaltung diese später auf, kann er folglich die Verantwortung hierfür nicht auf die Steuerverwaltung abwälzen, es sei denn, diese Fehler sind leicht erkennbar, sodass die Steuerverwaltung in der Lage sein muss, sie im Rahmen der ihr nach dem Grundsatz der guten Verwaltung obliegenden Kontrollpflichten festzustellen.

50

Im vorliegenden Fall stellte die ungarische Steuerverwaltung, wie in den Rn. 21 und 23 des vorliegenden Urteils ausgeführt, Unstimmigkeiten zwischen den im Erstattungsantrag angegebenen und den in einigen der vorgelegten Rechnungen ausgewiesenen Mehrwertsteuerbeträgen fest, woraufhin sie zusätzliche Informationen von der Klägerin des Ausgangsverfahrens anforderte und anschließend, da sie sich als hinreichend unterrichtet ansah, über den Antrag entschied, somit den Wortlaut von Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 befolgte. Falls diese Informationen tatsächlich ausreichend waren, was zu überprüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, war sie nicht verpflichtet, erneut um zusätzliche Informationen zu ersuchen, da sich ein solches Ersuchen als nicht zweckmäßig erwiesen hätte.

51

Da jedoch, wie in den Rn. 36 und 37 des vorliegenden Urteils ausgeführt, das Erstattungsrecht ein grundlegendes Prinzip des vom Unionsgesetzgeber eingeführten gemeinsamen Mehrwertsteuersystems darstellt und der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer verlangt, dass der Abzug oder die Erstattung der Vorsteuer gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, ist zu prüfen, ob die Steuerverwaltung des Mitgliedstaats der Erstattung, indem sie entscheidet wie es hier die Steuerbehörde erster Instanz nach Darstellung des vorlegenden Gerichts getan hat, nämlich der Klägerin des Ausgangsverfahrens die Erstattung eines Mehrwertsteuerbetrags nicht bewilligt hat, von dem sie wusste, dass er dieser theoretisch zustand, dessen Erstattung jedoch der Widerspruch zu dem im Erstattungsantrag angegebenen Betrag entgegenstand, gegen diesen Grundsatz der Neutralität oder gegebenenfalls der guten Verwaltung verstößt.

52

Auf den Umstand, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens ihren Erstattungsantrag am 28. September 2017 einreichte, während die Ausschlussfrist am 30. September 2017 ablief, kommt es nicht an, da der Mitgliedstaat der Erstattung nach Art. 19 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 für seine Entscheidung über eine Frist von vier Monaten ab Eingang des Erstattungsantrags verfügt. Daraus folgt, dass die Fristen für die Prüfung eines Erstattungsantrags in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens die Frage aufwerfen, ob die Steuerverwaltung verpflichtet ist, den Steuerpflichtigen aufzufordern, nicht einen neuen Antrag zu stellen, sondern seinen ursprünglichen Antrag entsprechend den Anmerkungen, die sie an ihn gerichtet hat, zu berichtigen, wobei nochmals darauf hingewiesen sei, dass es Sache des Steuerpflichtigen ist, besonderes Augenmerk auf den Inhalt seines Antrags zu legen.

53

Wird der Steuerpflichtige von der Steuerverwaltung in Anwendung des Grundsatzes der guten Verwaltung und gemäß dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer, wonach, wie in Rn. 37 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Erstattung der Vorsteuer zu bewilligen ist, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn bestimmte formale Anforderungen von den Steuerpflichtigen nicht erfüllt wurden, aufgefordert, seinen Antrag zu berichtigen, nachdem die Steuerverwaltung einen Fehler darin entdeckt hat, gilt ein Berichtigungsantrag, der an den ursprünglichen Antrag anknüpft, als zum Zeitpunkt der Einreichung des ursprünglichen Antrags eingereicht, d. h. unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens vor Ablauf der Ausschlussfrist. Da die Richtlinie 2008/9 abgesehen von dem in Art. 13 dieser Richtlinie genannten besonderen Fall, der hier nicht einschlägig ist, keine Vorschrift enthält, die die Möglichkeit der Berichtigung eines Erstattungsantrags regelt, ist es Aufgabe der Mitgliedstaaten, die Modalitäten einer solchen Berichtigung im Einklang mit den genannten Grundsätzen festzulegen.

54

Hat die betreffende Steuerverwaltung nach einem ordnungsgemäß erkannten Fehler des Steuerpflichtigen den Mehrwertsteuerbetrag, der diesem zu erstatten ist, mit Gewissheit feststellen können, gebietet ihr der Grundsatz der guten Verwaltung, den Steuerpflichtigen mit den ihr am besten geeignet erscheinenden Mitteln zügig davon in Kenntnis zu setzen, um ihn aufzufordern, seinen Erstattungsantrag zu berichtigen, damit sie diesen positiv bescheiden kann.

55

Darüber hinaus würde die Steuerverwaltung des betreffenden Mitgliedstaats den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer ohne eine solche Aufforderung unverhältnismäßig beeinträchtigen, indem sie den Steuerpflichtigen mit der Mehrwertsteuer belastete, auf deren Erstattung dieser einen Anspruch hat, obwohl das gemeinsame Mehrwertsteuersystem bezweckt, Unternehmer vollständig von der Mehrwertsteuer zu entlasten, die im Rahmen sämtlicher seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten angefallen oder entrichtet worden ist.

56

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 im Licht der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der guten Verwaltung dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass die Steuerverwaltung des Mitgliedstaats der Erstattung, wenn sie, gegebenenfalls anhand vom Steuerpflichtigen vorgelegter zusätzlicher Informationen, die Gewissheit erlangt hat, dass der Betrag der tatsächlich entrichteten Vorsteuer, wie er in der dem Erstattungsantrag beigefügten Rechnung ausgewiesen ist, höher ist als der in diesem Antrag genannte Betrag, die Mehrwertsteuererstattung lediglich in Höhe des letztgenannten Betrags bewilligt, ohne den Steuerpflichtigen vorher zügig und mit den ihr am besten geeignet erscheinenden Mitteln aufgefordert zu haben, seinen Erstattungsantrag durch einen Antrag zu berichtigen, der als zum Zeitpunkt des ursprünglichen Antrags eingereicht gilt.

Kosten

57

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9/EG des Rates vom 12. Februar 2008 zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige ist im Licht der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der guten Verwaltung dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass die Steuerverwaltung des Mitgliedstaats der Erstattung, wenn sie, gegebenenfalls anhand vom Steuerpflichtigen vorgelegter zusätzlicher Informationen, die Gewissheit erlangt hat, dass der Betrag der tatsächlich entrichteten Vorsteuer, wie er in der dem Erstattungsantrag beigefügten Rechnung ausgewiesen ist, höher ist als der in diesem Antrag genannte Betrag, die Mehrwertsteuererstattung lediglich in Höhe des letztgenannten Betrags bewilligt, ohne den Steuerpflichtigen vorher zügig und mit den ihr am besten geeignet erscheinenden Mitteln aufgefordert zu haben, seinen Erstattungsantrag durch einen Antrag zu berichtigen, der als zum Zeitpunkt des ursprünglichen Antrags eingereicht gilt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.

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