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Document 62020CJ0285

Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 30. September 2021.
K gegen Raad van bestuur van het Uitvoeringsinstituut werknemersverzekeringen (Uwv).
Vorabentscheidungsersuchen des Centrale Raad van Beroep.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 65 Abs. 2 und 5 – Geltungsbereich – Vollarbeitslose Arbeitnehmer – Leistungen bei Arbeitslosigkeit – Arbeitnehmer, der im zuständigen Mitgliedstaat wohnt und eine Beschäftigung ausübt – Verlegung seines Wohnorts in einen anderen Mitgliedstaat – Person, die vor der Vollarbeitslosigkeit im zuständigen Mitgliedstaat keine Beschäftigung tatsächlich ausübt – Person, die wegen Krankheit nicht arbeitet und deshalb vom zuständigen Mitgliedstaat Leistungen bei Krankheit bezieht – Ausübung einer Beschäftigung – Vergleichbare rechtliche Lage.
Rechtssache C-285/20.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:785

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

30. September 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 65 Abs. 2 und 5 – Geltungsbereich – Vollarbeitslose Arbeitnehmer – Leistungen bei Arbeitslosigkeit – Arbeitnehmer, der im zuständigen Mitgliedstaat wohnt und eine Beschäftigung ausübt – Verlegung seines Wohnorts in einen anderen Mitgliedstaat – Person, die vor der Vollarbeitslosigkeit im zuständigen Mitgliedstaat keine Beschäftigung tatsächlich ausübt – Person, die wegen Krankheit nicht arbeitet und deshalb vom zuständigen Mitgliedstaat Leistungen bei Krankheit bezieht – Ausübung einer Beschäftigung – Vergleichbare rechtliche Lage“

In der Rechtssache C‑285/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes, Niederlande) mit Entscheidung vom 25. Juni 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Juni 2020, in dem Verfahren

K

gegen

Raad van bestuur van het Uitvoeringsinstituut werknemersverzekeringen (Uwv)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Wahl, des Richters F. Biltgen (Berichterstatter) und der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

des Raad van bestuur van het Uitvoeringsinstituut werknemersverzekeringen (Uwv), vertreten durch M. Mollee als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und J. Pavliš als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und F. van Schaik als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt im ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. 2012, L 149, S. 4) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen K und dem Raad van bestuur van het Uitvoeringsinstituut werknemersverzekeringen (Uwv) (Verwaltungsrat des Instituts zur Durchführung der Arbeitnehmerversicherungen, Niederlande) (im Folgenden: Durchführungsinstitut) wegen dessen Weigerung, ihm nach einer in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich der Niederlande verbrachten Zeit, in der er nicht gearbeitet hat und in der er von diesem anderen Mitgliedstaat Leistungen bei Krankheit bezog, Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu gewähren.

Rechtlicher Rahmen

3

Die Erwägungsgründe 4 und 45 der Verordnung Nr. 883/2004 lauten:

„(4)

Es ist notwendig, die Eigenheiten der nationalen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zu berücksichtigen und nur eine Koordinierungsregelung vorzusehen.

(45)

Da das Ziel der beabsichtigten Maßnahme, nämlich Koordinierungsmaßnahmen zur Sicherstellung, dass das Recht auf Freizügigkeit wirksam ausgeübt werden kann, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen des Umfangs und der Wirkungen der Maßnahme besser auf Gemeinschaftsebene zu erreichen ist, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Verhältnismäßigkeitsprinzip geht diese Verordnung nicht über das für die Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus.“

4

Art. 1 („Definitionen“) der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:

a)

‚Beschäftigung‘ jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt;

f)

‚Grenzgänger‘ eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt;

j)

‚Wohnort‘ den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person;

q)

‚zuständiger Träger‘

i)

den Träger, bei dem die betreffende Person zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Leistungen versichert ist,

oder

ii)

den Träger, gegenüber dem die betreffende Person einen Anspruch auf Leistungen hat oder hätte, wenn sie selbst oder ihr Familienangehöriger bzw. ihre Familienangehörigen in dem Mitgliedstaat wohnen würden, in dem dieser Träger seinen Sitz hat,

oder

iii)

der von der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats bezeichnete Träger,

s)

‚zuständiger Mitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in dem der zuständige Träger seinen Sitz hat;

…“

5

Art. 2 („Persönlicher Geltungsbereich“) Abs. 1 dieser Verordnung lautet:

„Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.“

6

Titel II („Bestimmung des anwendbaren Rechts“) dieser Verordnung enthält die Art. 11 bis 16.

7

Art. 11 („Allgemeine Regelung“) der Verordnung Nr. 883/2004 sieht in Abs. 2 vor:

„Für die Zwecke dieses Titels wird bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Dies gilt nicht für Invaliditäts‑, Alters- oder Hinterbliebenenrenten oder für Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten oder für Geldleistungen bei Krankheit, die eine Behandlung von unbegrenzter Dauer abdecken.“

8

Titel III („Besondere Bestimmungen über die verschiedenen Arten von Leistungen“) dieser Verordnung enthält in seinem Kapitel 6, das die Art. 61 bis 65a dieser Verordnung umfasst, die Vorschriften über Leistungen bei Arbeitslosigkeit.

9

Art. 65 („Arbeitslose, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt haben“) Abs. 2 und 5 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:

„(2)   Eine vollarbeitslose Person, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und weiterhin in diesem Mitgliedstaat wohnt oder in ihn zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats zur Verfügung stellen. Unbeschadet des Artikels 64 kann sich eine vollarbeitslose Person zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, in dem sie zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat.

Ein Arbeitsloser, der kein Grenzgänger ist und nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben.

(5)   

a)

Der in Absatz 2 Sätze 1 und 2 genannte Arbeitslose erhält Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. Diese Leistungen werden von dem Träger des Wohnorts gewährt.

b)

Jedoch erhält ein Arbeitnehmer, der kein Grenzgänger war und dem zulasten des zuständigen Trägers des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben, Leistungen gewährt wurden, bei seiner Rückkehr in den Wohnmitgliedstaat zunächst Leistungen nach Artikel 64; der Bezug von Leistungen nach Buchstabe a) ist während des Bezugs von Leistungen nach den Rechtsvorschriften, die zuletzt für ihn gegolten haben, ausgesetzt.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10

Der Kläger des Ausgangsverfahrens verließ die Türkei, um sich 1979 in den Niederlanden niederzulassen, und arbeitete dort bis 2015 für verschiedene Arbeitgeber.

11

Ab 2005 wohnte der Kläger des Ausgangsverfahrens mit seiner Familie in Deutschland.

12

Am 1. Mai 2015 trat er eine Arbeitsstelle in Deutschland an.

13

Am 24. August 2015 wurde der Kläger des Ausgangsverfahrens krankgeschrieben und übte seitdem seine Beschäftigung nicht mehr tatsächlich aus.

14

Er erhielt zunächst weiter sein Entgelt, bevor er ab dem 14. Oktober 2015 in Deutschland Leistungen bei Krankheit bezog.

15

Am 2. Februar 2016 zog der Kläger des Ausgangsverfahrens zu seinem Bruder in die Niederlande und meldete sich bei der Meldebehörde in Deutschland ab.

16

Am 15. Februar 2016 kündigte der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag.

17

Am 16. Februar 2016 unterzog sich der Kläger des Ausgangsverfahrens einer Operation in einem Krankenhaus in Deutschland, in dem er sich bis zum 19. Februar 2016 aufhielt.

18

Zum 4. März 2016 meldete sich der Kläger des Ausgangsverfahrens unter der Anschrift seines Bruders im Bevölkerungsregister in den Niederlanden an.

19

Am 15. März 2016 wurde die Beendigung des Arbeitsvertrags zwischen dem Kläger des Ausgangsverfahrens und seinem Arbeitgeber in Deutschland wirksam.

20

Am 4. April 2016 hielt die zuständige deutsche Einrichtung den Kläger des Ausgangsverfahrens wieder für in der Lage, seinem Gesundheitszustand entsprechende Tätigkeiten auszuführen, und stellte daher die Zahlung der Leistung bei Krankheit ein.

21

Am 22. April 2016 reichte der Kläger des Ausgangsverfahrens beim Durchführungsinstitut einen Antrag auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit ab dem 4. April 2016 ein.

22

Mit Bescheid vom 7. Juli 2016 erklärte sich das Durchführungsinstitut für unzuständig, über den Anspruch des Klägers des Ausgangsverfahrens auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu entscheiden.

23

Der Kläger des Ausgangsverfahrens legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein, der mit Bescheid des Durchführungsinstituts vom 14. September 2016 zurückgewiesen wurde. Es wiederholte seinen Standpunkt, dass es nicht befugt sei, über den Antrag des Betroffenen auf Leistung bei Arbeitslosigkeit zu entscheiden. Die Bundesrepublik Deutschland sei als letzter Beschäftigungsstaat der dafür zuständige Mitgliedstaat, da der Kläger des Ausgangsverfahrens bis zum 24. August 2015 eine Beschäftigung in Deutschland tatsächlich ausgeübt habe und kein Grenzgänger gewesen sei.

24

Der Kläger des Ausgangsverfahrens erhob gegen diesen Bescheid Klage bei der Rechtbank Overijssel (Bezirksgericht Overijssel, Niederlande), die die Klage als unbegründet abwies. Dieses Gericht war der Ansicht, das Durchführungsinstitut habe den Kläger des Ausgangsverfahrens zu Recht nicht als Grenzgänger eingestuft und festgestellt, dass er keinen Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit in den Niederlanden auf der Grundlage von Art. 65 der Verordnung Nr. 883/2004 habe.

25

Das vorlegende Gericht, bei dem eine Berufung gegen das Urteil der Rechtbank Overijssel (Bezirksgericht Overijssel) anhängig ist, weist darauf hin, dass zwischen den Parteien streitig sei, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens nach Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung Nr. 883/2004 in den Niederlanden Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit habe.

26

Es weist insoweit darauf hin, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens in Deutschland gewohnt und gearbeitet habe, dass er seit dem 14. Oktober 2015 nicht gearbeitet habe und in Deutschland Leistungen bei Krankheit bezogen habe, und zwar bis zum 4. April 2016, dem Zeitpunkt, ab dem er vollarbeitslos gewesen sei. Da der Kläger des Ausgangsverfahrens aber am 2. Februar 2016 seinen Wohnsitz in die Niederlande verlegt habe, habe er ab diesem Zeitpunkt in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Mitgliedstaat im Sinne von Art. 1 Buchst. q und s der Verordnung Nr. 883/2004, nämlich Deutschland, gewohnt.

27

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts wirft der Ausgangsrechtsstreit die Frage auf, ob Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung Nr. 883/2004 auf einen Fall anwendbar ist, in dem der Betroffene vor der Vollarbeitslosigkeit im zuständigen Mitgliedstaat keine Beschäftigung tatsächlich ausgeübt hat, sondern wegen Krankheit nicht gearbeitet hat und daher von diesem Mitgliedstaat Leistungen bei Krankheit bezogen hat.

28

Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass eine solche Situation als eine mit der Ausübung einer Beschäftigung vergleichbare rechtliche Lage anzusehen sei und dass diese Frage daher zu bejahen sei. Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004, der zu Titel II dieser Verordnung gehöre, setzte den Bezug einer Leistung bei Krankheit der Ausübung einer Beschäftigung gleich, und diese Gleichsetzung müsse für die Zwecke von Art. 65 Abs. 2 und 5 dieser Verordnung angewendet werden. Es begründet seine Erwägungen damit, dass eine logische und kohärente Auslegung des Begriffs „Ausübung einer Beschäftigung“ es gebiete, diesen Begriff in den Bestimmungen der verschiedenen Titel dieser Verordnung in gleicher Weise auszulegen.

29

Außerdem sei die vom Gerichtshof im Rahmen von Art. 71 Abs. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71), der Art. 65 der Verordnung Nr. 883/2004 vorausgegangen sei, entwickelte Rechtsprechung (Urteile vom 27. Januar 1994, Maitland Toosey, C‑287/92, EU:C:1994:27, Rn. 13, und vom 29. Juni 1995, van Gestel, C‑454/93, EU:C:1995:205, Rn. 13, 20 und 24) im vorliegenden Fall maßgeblich.

30

Nach dieser Rechtsprechung sei für die Anwendung von Art. 71 Abs. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung Nr. 1408/71 nur entscheidend, ob der Betroffene in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen wohnt, dessen Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung gegolten haben. Im Übrigen habe der Gerichtshof anerkannt, dass diese Bestimmung auf eine Person anwendbar sei, deren Beschäftigungsverhältnis aufgrund eines Urlaubs weiter bestehe und die daher ihre Tätigkeit nicht tatsächlich ausübe (Urteil vom 22. September 1988, Bergemann, 236/87, EU:C:1988:443). Das vorlegende Gericht leitet daraus ab, dass Art. 65 der Verordnung Nr. 883/2004 nicht nur die tatsächliche Ausübung der letzten Beschäftigung betreffe, sondern auch eine Situation, in der der Betroffene keine Tätigkeit tatsächlich ausübe. Außerdem seien die Gründe, aus denen der Betroffene seinen Wohnort in einen anderen als den zuständigen Mitgliedstaat verlegt habe, unerheblich.

31

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kann diese Auslegung nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass der Gerichtshof entschieden habe, dass Art. 71 Abs. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung Nr. 1408/71 eng auszulegen sei, u. a. um Missbräuche zu verhindern (Urteil vom 17. Februar 1977, Di Paolo, 76/76, EU:C:1977:32, Rn. 13). Sie stehe im Übrigen im Einklang mit dem mit dieser Bestimmung verfolgten Ziel, dem Wanderarbeitnehmer Leistungen bei Arbeitslosigkeit unter den günstigsten Bedingungen zu gewährleisten (Urteile vom 22. September 1988, Bergemann, 236/87, EU:C:1988:443, Rn. 18 und 20, sowie vom 29. Juni 1995, van Gestel, C‑454/93, EU:C:1995:205, Rn. 20). Die Bindung zum Wohnmitgliedstaat eröffne der betreffenden Person nämlich grundsätzlich die besten Chancen für eine berufliche Wiedereingliederung.

32

Da der Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes, Niederlande) der Ansicht ist, dass die bei ihm anhängige Rechtssache Fragen aufwerfe, die ohne vernünftige Zweifel nicht entschieden werden könnten, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 dahin auszulegen, dass eine vollarbeitslose Person, die während des Bezugs von Leistungen im Sinne von Art. 11 Abs. 2 dieser Verordnung im zuständigen Mitgliedstaat und/oder vor der Beendigung ihres Beschäftigungsverhältnisses ihren Wohnort in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats hat, in dem sie wohnt?

2.

Ist dabei von Bedeutung, aus welchen Gründen, z. B. familiären Gründen, diese Person ihren Wohnort in einen anderen als den zuständigen Mitgliedstaat verlegt hat?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

33

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich nach Art. 65 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 eine vollarbeitslose Person, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und weiterhin in diesem Mitgliedstaat wohnt oder in diesen zurückkehrt, der Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats zur Verfügung stellen muss.

34

Nach Art. 65 Abs. 5 Buchst. a dieser Verordnung erhält der in Abs. 2 Sätze 1 und 2 genannte Arbeitslose Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. Diese Leistungen werden von dem Träger des Wohnorts gewährt.

35

Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass mit der ersten Frage im Wesentlichen geklärt werden soll, ob Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass er auf einen Fall anwendbar ist, in dem die betreffende Person vor ihrer Vollarbeitslosigkeit in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und keine Beschäftigung tatsächlich ausgeübt hat, sondern wegen Krankheit nicht gearbeitet hat und daher vom zuständigen Mitgliedstaat gezahlte Leistungen bei Krankheit bezogen hat.

36

Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist folglich zu klären, ob die Wendungen „während ihrer letzten Beschäftigung“ bzw. „während seiner letzten Beschäftigung“ in Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung Nr. 883/2004 ausschließlich die tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung durch die betreffende Person im zuständigen Mitgliedstaat betreffen oder sich auch auf eine Situation beziehen, in der diese Person keine Beschäftigung tatsächlich ausübt, sondern von diesem Mitgliedstaat Leistungen bei Krankheit bezieht.

37

Hierzu ist festzustellen, dass Art. 65 Abs. 2 und 5 in Titel III der Verordnung Nr. 883/2004 entgegen den Ausführungen des vorlegenden Gerichts sowie der tschechischen und der polnischen Regierung nicht im Licht von Art. 11 Abs. 2 dieser Verordnung ausgelegt werden kann, da aus dem Wortlaut der letztgenannten Bestimmung, die in Rn. 7 des vorliegenden Urteils angeführt wird, ausdrücklich hervorgeht, dass sie für die Zwecke von Titel II dieser Verordnung gilt.

38

Die Wendungen „während ihrer letzten Beschäftigung“ bzw. „während seiner letzten Beschäftigung“ in Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung Nr. 883/2004 sind vielmehr im Licht von Art. 1 Buchst. a dieser Verordnung auszulegen. Diese Bestimmung definiert nämlich für die Zwecke der Verordnung den Begriff „Beschäftigung“ als „Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt“.

39

Daraus folgt, dass eine Situation, in der die betreffende Person im zuständigen Mitgliedstaat keine Beschäftigung tatsächlich ausübt, sondern wegen Krankheit nicht arbeitet und daher von diesem Mitgliedstaat Leistungen bei Krankheit bezieht, als eine Situation angesehen werden kann, die mit der Situation einer Person, die eine Beschäftigung ausübt, vergleichbar ist, und demnach in den Anwendungsbereich von Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung Nr. 883/2004 fällt, wenn der Bezug solcher Leistungen nach dem nationalen Recht des zuständigen Mitgliedstaats der Ausübung einer Beschäftigung gleichgestellt ist.

40

Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass er auf eine Situation anwendbar ist, in der die betreffende Person vor ihrer Vollarbeitslosigkeit in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und keine Beschäftigung tatsächlich ausgeübt hat, sondern wegen Krankheit nicht gearbeitet hat und daher vom zuständigen Mitgliedstaat gezahlte Leistungen bei Krankheit bezogen hat, allerdings unter dem Vorbehalt, dass der Bezug solcher Leistungen nach dem nationalen Recht des zuständigen Mitgliedstaats der Ausübung einer Beschäftigung gleichgestellt ist.

Zur zweiten Frage

41

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass die Gründe, z. B. familiäre Gründe, aus denen die betreffende Person ihren Wohnort in einen anderen als den zuständigen Mitgliedstaat verlegt hat, für die Anwendung dieser Bestimmung von Bedeutung sind.

42

Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, wie er in den Rn. 33 und 34 des vorliegenden Urteils wiedergegeben wird, geht nicht hervor, dass den Gründen für die Verlegung des Wohnorts der betreffenden Person insoweit irgendeine Bedeutung zukommt. Das Ziel der Verordnung Nr. 883/2004 besteht nach ihren Erwägungsgründen 4 und 45 nämlich darin, die Systeme der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten zu koordinieren, um sicherzustellen, dass das Recht auf Freizügigkeit wirksam ausgeübt werden kann. Mit dieser Verordnung wurden die Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 aktualisiert und vereinfacht, dabei jedoch das Ziel letztgenannter Verordnung beibehalten (Urteil vom 21. März 2018, Klein Schiphorst, C‑551/16, EU:C:2018:200, Rn. 31).

43

Aus einer ständigen Rechtsprechung im Rahmen von Art. 71 der Verordnung Nr. 1408/71, die angesichts der vorstehenden Erwägungen auf den Kontext von Art. 65 der Verordnung Nr. 883/2004 übertragbar ist, da dieser Art. 71 ersetzt hat, ergibt sich aber, dass er für Arbeitslose, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen, die Bedingungen schaffen soll, die für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz am günstigsten sind (Urteile vom 22. September 1988, Bergemann, 236/87, EU:C:1988:443, Rn. 18, vom 8. Juli 1992, Knoch, C‑102/91, EU:C:1992:303, Rn. 14, und vom 29. Juni 1995, van Gestel, C‑454/93, EU:C:1995:205, Rn. 20).

44

Wäre Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung Nr. 883/2004 somit dahin auszulegen, dass er nur auf Personen anwendbar ist, die ihren Wohnort aus bestimmten Gründen, wie z. B. familiären Gründen, verlegt haben, hätte dies zur Folge, dass der Anwendungsbereich dieser Bestimmung eingeschränkt würde und es damit den Betroffenen erschwert würde, im Wohnmitgliedstaat einen Arbeitsplatz zu suchen, wo sie vermutlich die günstigsten Bedingungen für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz vorfinden, zumal eine solche Verlegung des Wohnorts im Allgemeinen verschiedene Gründe hat. Eine solche Auslegung liefe daher dem mit dieser Bestimmung verfolgten Ziel zuwider.

45

Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass die Gründe, z. B. familiäre Gründe, aus denen die betreffende Person ihren Wohnort in einen anderen als den zuständigen Mitgliedstaat verlegt hat, für die Anwendung dieser Bestimmung nicht zu berücksichtigen sind.

Kosten

46

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er auf eine Situation anwendbar ist, in der die betreffende Person vor ihrer Vollarbeitslosigkeit in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und keine Beschäftigung tatsächlich ausgeübt hat, sondern wegen Krankheit nicht gearbeitet hat und daher vom zuständigen Mitgliedstaat gezahlte Leistungen bei Krankheit bezogen hat, allerdings unter dem Vorbehalt, dass der Bezug solcher Leistungen nach dem nationalen Recht des zuständigen Mitgliedstaats der Ausübung einer Beschäftigung gleichgestellt ist.

 

2.

Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 465/2012 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Gründe, z. B. familiäre Gründe, aus denen die betreffende Person ihren Wohnort in einen anderen als den zuständigen Mitgliedstaat verlegt hat, für die Anwendung dieser Bestimmung nicht zu berücksichtigen sind.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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