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Document 62020CC0705

Schlussanträge der Generalanwältin J. Kokott vom 10. März 2022.
Fossil (Gibraltar) Ltd gegen Commissioner of Income Tax.
Vorabentscheidungsersuchen des Income Tax Tribunal of Gibraltar.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Staatliche Beihilfen – Von der Regierung von Gibraltar angewandte Beihilferegelungen zur Körperschaftsteuer – Beschluss (EU) 2019/700 – Nichtbesteuerung passiven Einkommens aus Zinsen und Nutzungsentgelten – Beschluss der Europäischen Kommission, mit dem die Beihilferegelung für rechtswidrig und mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt wird – Rückforderungspflicht – Umfang – Nationale Vorschrift, die nicht Gegenstand der von der Kommission durchgeführten Untersuchung der streitigen staatlichen Beihilfen war – Anrechnung der im Ausland entrichteten Steuer zur Vermeidung der Doppelbesteuerung.
Rechtssache C-705/20.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:181

 SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 10. März 2022 ( 1 )

Rechtssache C‑705/20

Fossil (Gibraltar) Limited

gegen

Commissioner of Income Tax

(Vorabentscheidungsersuchen des Income Tax Tribunal of Gibraltar [United Kingdom] [Einkommensteuertribunal von Gibraltar, Vereinigtes Königreich])

„Vorabentscheidungsersuchen – Staatliche Beihilfe – Staatliche Beihilfe in Form der Nichtbesteuerung passiver Zinsen und Nutzungsentgelte – Beschluss (EU) 2019/700 – Nationale Bestimmung, die nicht Gegenstand der Untersuchung der Kommission zu staatlichen Beihilfen war – Umgehung des Beihilfebeschlusses der Kommission – Anrechnung ausländischer Steuern zur Vermeidung von Doppelbesteuerung als verbotene Beihilfe“

I. Einleitung

1.

Hintergrund des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ist ein Beschluss der Kommission, mit dem eine „Ausnahmeregelung für passives Einkommen aus Zinsen und Nutzungsentgelten“ im Steuerrecht von Gibraltar als Beihilfe eingestuft wurde. ( 2 ) Dieser Beschluss wird aufgrund einer Klage eines anderen Unternehmens derzeit noch vor dem Gericht überprüft. ( 3 ) Im Kern dreht sich das Vorabentscheidungsersuchen um die Reichweite dieses Beschlusses. Es zeigt aber zugleich die derzeitige Unsicherheit im Umgang mit dem nationalen Steuerrecht in Bezug auf das unionsrechtliche Beihilferecht.

2.

Die Unsicherheit, wann eine steuerrechtliche Vorschrift eine verbotene Beihilfe darstellt, war in Gibraltar offenbar so groß, dass die dortige Finanzverwaltung vor der Anwendung des nationalen Steuerrechts die Kommission gefragt hat, ob die betreffende steuerrechtliche Vorschrift angewendet werden kann. Dies erfolgte, obwohl diese Norm nicht der Gegenstand der erwähnten Beihilfeentscheidung war.

3.

Pikanterweise ist die betreffende Regelung eine Art Anrechnung von im Ausland gezahlten Steuern auf Einkünfte, die auch in Gibraltar besteuert werden. Das ist eine Technik, die zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung im internationalen Steuerrecht durchaus üblich ist. Da die Kommission auf die Anfrage der Finanzverwaltung jedoch geantwortet hat, dass ihr Beschluss einer Steueranrechnung entgegenstehe, weigerte sich Letztere, die Regelung zugunsten des Steuerpflichtigen anzuwenden. Dies wiederum führte zu einer Klage des Steuerpflichtigen, der von einer Geltung des nationalen Steuergesetzes ausging.

4.

Der Gerichtshof erhält hier erneut ( 4 ) Gelegenheit, zur beihilferechtlichen Überprüfung allgemein geltender nationaler Steuergesetze durch die Kommission und deren Auswirkungen auf den Steuerpflichtigen Stellung zu beziehen.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht

5.

Der rechtliche Rahmen ergibt sich aus Art. 108 AEUV sowie aus der Verordnung (EU) 2015/1589 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. ( 5 )

6.

Der 25. Erwägungsgrund der Verordnung 2015/1589 lautet:

„Bei rechtswidrigen Beihilfen, die mit dem Binnenmarkt nicht vereinbar sind, sollte wirksamer Wettbewerb wiederhergestellt werden. Dazu ist es notwendig, die betreffende Beihilfe einschließlich Zinsen unverzüglich zurückzufordern. Die Rückforderung hat nach den Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts zu erfolgen. Die Anwendung dieser Verfahren sollte jedoch die Wiederherstellung eines wirksamen Wettbewerbs durch Verhinderung der sofortigen und tatsächlichen Vollstreckung des Beschlusses der Kommission nicht erschweren. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, sollten die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Beschlusses der Kommission treffen.“

7.

Art. 16 Abs. 1 derselben Verordnung mit dem Titel „Rückforderung von Beihilfen“ schreibt fest:

„In Negativbeschlüssen hinsichtlich rechtswidriger Beihilfen entscheidet die Kommission, dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Beihilfe vom Empfänger zurückzufordern (im Folgenden ‚Rückforderungsbeschluss‘). Die Kommission verlangt nicht die Rückforderung der Beihilfe, wenn dies gegen einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verstoßen würde.“

B.   Status und Recht von Gibraltar

8.

Der König von Spanien trat Gibraltar durch den zwischen ihm und der Königin von Großbritannien am 13. Juli 1713 im Rahmen der Verträge zur Beendigung des Spanischen Erbfolgekriegs geschlossenen Vertrag von Utrecht an die britische Krone ab. Gibraltar ist eine Kolonie der britischen Krone. Es gehört nicht zum Vereinigten Königreich.

9.

Völkerrechtlich steht Gibraltar auf der Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung im Sinne des Art. 73 der Charta der Vereinten Nationen. Unionsrechtlich ist Gibraltar ein europäisches Hoheitsgebiet, auf das die Bestimmungen der Verträge grundsätzlich Anwendung finden und dessen auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat wahrnimmt (Art. 355 Abs. 3 AEUV).

10.

Das Regierungs- und Verwaltungssystem von Gibraltar ist in der am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Verordnung über die Verfassung von Gibraltar von 2006 (Gibraltar Constitution Order 2006) geregelt. Danach übt die Exekutivgewalt ein von der Königin ernannter Gouverneur sowie für bestimmte innere Angelegenheiten Her Majesty’s Government of Gibraltar, die Legislativgewalt die Königin und das Parlament von Gibraltar aus. In Gibraltar wurden eigene Gerichte geschaffen. Gegen die Urteile des obersten Gerichts von Gibraltar kann vor dem Judicial Committee of the Privy Council (Rechtsausschuss des Kronrats) Rechtsmittel eingelegt werden.

11.

Gibraltar erließ in Ausübung der vom Vereinigten Königreich eingeräumten Autonomie im Jahr 2010 ein neues Einkommensteuergesetz (Income Tax Act 2010, im Folgenden: ITA 2010). Dieses trat am 1. Januar 2011 in Kraft.

12.

Das ITA 2010 beruht auf einem System der territorialen Besteuerung von Gewinnen und Erträgen, die in Gibraltar erzielt oder bezogen werden. In Tabelle C in Schedule 1 des ITA 2010 sind unterschiedliche Einkunftsarten aufgezählt, die besteuert werden. In der ursprünglichen Fassung des ITA 2010 waren passive Zinserträge und Nutzungsentgelte dort nicht aufgeführt und stellten somit kein steuerbares Einkommen dar. 2019 wurde jedoch eine rückwirkende Besteuerung von Nutzungsentgelten, die vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Dezember 2013 eingenommen wurden, in das Gesetz aufgenommen.

13.

Darüber hinaus sieht Section 37 dieses Gesetzes mit dem Titel „Relief in respect of foreign tax paid“ eine Form der Steueranrechnung für solche Steuerpflichtigen vor, die sowohl in Gibraltar als auch in anderen Staaten eine Einkommensteuer auf dieselben Gewinne aus Quellen in Gibraltar oder anderen Staaten gezahlt haben. Danach hat der Steuerpflichtige einen Anspruch auf eine Steuerbefreiung in Höhe der im Ausland gezahlten Steuer bis zur Höhe der in Gibraltar dafür zu zahlenden Steuer.

III. Sachverhalt

14.

Ausgangspunkt des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ist ein Rechtsstreit zwischen Fossil (Gibraltar) Limited (im Folgenden: Klägerin) und der Finanzverwaltung in Gibraltar über die Pflicht zur Entrichtung von Steuern in Gibraltar nach dem ITA 2010 in Anbetracht bereits in den Vereinigten Staaten gezahlter Steuern auf Einkünfte aus Nutzungsentgelten.

15.

Die Klägerin ist eine 100%ige Tochtergesellschaft der Fossil Group Inc, eines Unternehmens mit Sitz in den Vereinigten Staaten. Sie selbst ist ein Unternehmen mit Sitz in Gibraltar, das Nutzungsentgelte für die weltweite Verwendung bestimmter Marken und immaterieller Aspekte von Designs im Zusammenhang mit den in ihrem Eigentum stehenden Marken erhält.

16.

Hintergrund dieses Rechtsstreites wiederum ist die Tatsache, dass die Kommission am 16. Oktober 2013 ein förmliches Prüfverfahren eingeleitet hat, um u. a. zu untersuchen, ob die im ITA 2010 nicht vorgesehene Besteuerung von passiven Zinsen und Nutzungsentgelten bestimmte Unternehmen begünstigte.

17.

Art. 1 des am 19. Dezember 2019 daraufhin verabschiedeten Beihilfebeschlusses ( 6 )(im Folgenden: Beschluss 2019/700) lautet:

„(1)   Die staatliche Beihilferegelung in Form der Ausnahmeregelung für passive Zinsen, die nach dem Einkommen-/Körperschaftsteuergesetz 2010 (ITA 2010) im Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 30. Juni 2013 in Gibraltar Anwendung fand und von Gibraltar rechtswidrig unter Verstoß gegen Artikel 108 Absatz 3 AEUV eingeführt wurde, ist im Sinne von Artikel 107 Absatz 1 AEUV mit dem Binnenmarkt unvereinbar.

(2)   Die staatliche Beihilferegelung in Form der Ausnahmeregelung für Nutzungsentgelte, die nach dem Einkommen-/Körperschaftsteuergesetz 2010 im Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Dezember 2013 in Gibraltar Anwendung fand und von Gibraltar rechtswidrig unter Verstoß gegen Artikel 108 Absatz 3 AEUV eingeführt wurde, ist im Sinne von Artikel 107 Absatz 1 AEUV mit dem Binnenmarkt unvereinbar.“

18.

Art. 5 Abs. 1 des Beschlusses 2019/700 lautet:

„(1) Das Vereinigte Königreich fordert alle mit dem Binnenmarkt unvereinbaren Beihilfen, die auf der Grundlage der in Artikel 1 genannten Beihilferegelungen oder der in Artikel 2 genannten Steuervorbescheide gewährt wurden, von den Empfängern dieser Beihilfen zurück.“

19.

Die folgenden Erwägungsgründe des Beschlusses 2019/700 umschreiben die geprüfte Maßnahme:

„(30)

Das ITA 2010 beruht auf einem System der territorialen Besteuerung, d. h. Gewinne oder Erträge werden nur dann besteuert, wenn das Einkommen ‚in Gibraltar erzielt oder bezogen‘ wird. …

(33)

Gemäß dem ITA 2010 in seiner ursprünglich erlassenen Fassung waren passive Zinserträge und Nutzungsentgelte – unabhängig von der Einkommensquelle oder der Anwendung des Territorialitätsprinzips – nicht steuerpflichtig (Fn. 17: In Tabelle C in Schedule 1 des ITA 2010 in seiner ursprünglich erlassenen Fassung war diese Einkommenskategorie nicht enthalten.) …“

20.

Den selektiven Vorteil dieser Maßnahme begründet die Kommission so:

„(82) Im vorliegenden Fall verstößt die Maßnahme gegen den allgemeinen Grundsatz, dass die Körperschaftsteuer von allen Steuerpflichtigen erhoben wird, die Einkommen in Gibraltar erzielen oder beziehen. In Übereinstimmung mit diesem Grundsatz sollten passive Zinsen und Nutzungsentgelte – vorbehaltlich der Anwendung des Territorialitätsprinzips – in der Regel in den Anwendungsbereich der Besteuerung fallen. …

(83) Im Ergebnis führt die Ausnahmeregelung zu einer Verringerung der Steuerbelastung, die Unternehmen, die in den Genuss der Ausnahmeregelung kommen, andernfalls zu tragen hätten. Dies stellt einen Vorteil dar, da die Unternehmen von mit ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit verbundenen Kosten befreit und daher finanziell bessergestellt werden als andere Abgabepflichtige (die ein aktives Einkommen beziehen).“

21.

Die vorgetragenen Rechtfertigungsgründe werden u. a. wie folgt abgelehnt:

„(107) Darüber hinaus hält das Argument, dass die Anwendung des Territorialitätsprinzips von der Notwendigkeit der Vermeidung der Doppelbesteuerung abhängt, nicht stand, da die (ausländische) zahlende Einheit im Allgemeinen berechtigt ist, die Zinsen oder Nutzungsentgelte für Steuerzwecke abzuziehen. … Angesichts des begrenzten Risikos der Doppelbesteuerung ist eine vollständige und automatische Freistellung daher unverhältnismäßig, und die Vermeidung der Doppelbesteuerung kann nicht als akzeptable Rechtfertigung angesehen werden.“

22.

Darüber hinaus werden auch konkrete Vorgaben zur Rückforderung des Vorteils gemacht:

„(223) In Bezug auf rechtswidrige staatliche Beihilfen steuerlicher Art sollte der zurückzuzahlende Betrag auf der Grundlage eines Vergleichs zwischen der tatsächlich gezahlten Steuer und dem Betrag berechnet werden, der ohne die steuerliche Vorzugsbehandlung hätte gezahlt werden müssen.

(224) Um zu einem Steuerbetrag zu gelangen, der ohne die steuerliche Vorzugsbehandlung hätte entrichtet werden müssen, sollten die Behörden des Vereinigten Königreichs in diesem Fall die Steuerschuld der Unternehmen, die von den betreffenden Maßnahmen profitierten, für jedes Steuerjahr, in dem sie von diesen Maßnahmen profitieren, neu bewerten.

(225) …

(226) Der Betrag der entgangenen Steuer für ein bestimmtes Steuerjahr ist wie folgt zu berechnen:

Anfangs sollten die Behörden des Vereinigten Königreichs den Gesamtgewinn des betreffenden Unternehmens für das entsprechende Steuerjahr ermitteln (einschließlich der Einkünfte aus Nutzungsentgelten und/oder passiven Zinserträgen);

auf der Grundlage dieses Gewinns sollten die Behörden des Vereinigten Königreichs die Steuerbemessungsgrundlage des betreffenden Unternehmens für das jeweilige Steuerjahr berechnen;

die Steuerbemessungsgrundlage ist mit dem für das jeweilige Steuerjahr geltenden Körperschaftsteuersatz zu multiplizieren;

schließlich sollten die Behörden des Vereinigten Königreichs die Körperschaftsteuer, die das Unternehmen für das jeweilige Steuerjahr gegebenenfalls bereits gezahlt hat, abziehen.“

23.

Die Klägerin gehörte nicht zu den 165 Unternehmen, die von der Kommission geprüft und am Ende des Beschlusses aufgeführt wurden. Sie hatte jedoch Einkommen aus Nutzungsentgelten, das gemäß dem ITA 2010 bislang nicht besteuert wurde. Alle von der Klägerin eingenommenen Nutzungsentgelte wurden von der Fossil Group Inc. hingegen gegenüber den Steuerbehörden der Vereinigten Staaten angegeben. In den Vereinigten Staaten wurde die Steuer von 35 % auf dieses Einkommen entrichtet.

24.

Mit der Veröffentlichung der Income Tax (Amendment) Regulations 2019 (Rechtsvorschriften zur Änderung des Einkommen-/Körperschaftsteuergesetzes) wurde in Umsetzung des Beschlusses 2019/700 eine rückwirkende Besteuerung von Nutzungsentgelten, die vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Dezember 2013 eingenommen wurden, in das Gesetz implementiert.

25.

Daraus ergab sich rückwirkend eine Steuerschuld der Klägerin. Die Klägerin begehrt nun in Anwendung der Section 37 des ITA 2010, ihr eine Steuerermäßigung für jegliche Steuer zu gewähren, die in den Vereinigten Staaten durch die Fossil Group Inc. auf das Einkommen der Klägerin aus Nutzungsentgelten entrichtet wurde (Steueranrechnung). Damit würde die rückwirkend angeordnete Besteuerung der Nutzungsentgelte bei ihr teilweise ins Leere laufen.

26.

Wohl aus diesem Grund nahm die Finanzverwaltung vor einer Steueranrechnung zugunsten der Klägerin nach Section 37 des ITA 2010 Kontakt mit der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission auf und ersuchte um nähere Anweisungen. Am 26. März 2020 teilte die Generaldirektion Wettbewerb der Finanzverwaltung schriftlich mit, dass die Finanzverwaltung die in den Vereinigten Staaten entrichteten Steuern auf das Einkommen der Klägerin aus Nutzungsentgelten bei der Steuerfestsetzung nicht berücksichtigen könne. Daraufhin versagte die Finanzverwaltung der Klägerin die Steueranrechnung unter Anwendung von Section 37 des ITA 2010.

27.

Dagegen reichte die Klägerin Klage ein. Ihrer Ansicht nach steht der Beihilfebeschluss 2019/700 einer Steueranrechnung nach Section 37 des ITA 2010 nicht entgegen.

IV. Vorabentscheidungsersuchen und Verfahren vor dem Gerichtshof

28.

Vor diesem Hintergrund hat das Income Tax Tribunal of Gibraltar (Einkommensteuertribunal von Gibraltar, Vereinigtes Königreich) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof – mit Beschluss vom 16. Dezember 2020, eingegangen am 21. Dezember 2020, nach eigenen Worten „zum ersten Mal (und aufgrund des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union auch zum letzten Mal)“ – im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV die folgende Frage vorgelegt:

Würde die Gewährung einer Steuerermäßigung nach dem ITA 2010 für in den Vereinigten Staaten auf Einkommen der Klägerin aus Nutzungsentgelten entrichtete Steuern durch den Commissioner of Income Tax (Kommissar für Einkommen-/Körperschaftsteuer) gegen den Beschluss verstoßen, oder steht der Beschluss ihr in anderer Weise entgegen?

29.

Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben die Klägerin, die Finanzverwaltung von Gibraltar und die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof gemäß Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung abgesehen.

V. Rechtliche Würdigung

A.   Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

30.

Das Vorabentscheidungsersuchen ist zulässig. Die Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und die Anpassungen der Verträge ( 7 ) sieht zwar vor, dass bestimmte Teile des Vertrags auf Gibraltar nicht anwendbar sind. Die Beihilfenkontrolle nach den Art. 107 ff. AEUV fällt jedoch nicht darunter.

31.

Auch wenn das Vereinigte Königreich zum Zeitpunkt des Eingangs des Vorabentscheidungsersuchens aus der Union ausgetreten war, ist der Gerichtshof nach Art. 86 Abs. 2 des Austrittsabkommens ( 8 ) für Vorabentscheidungsersuchen, die bis zum Ende des Übergangszeitraums (d. h. bis zum 31. Dezember 2020) eingereicht werden, weiterhin zuständig. Dies war hier der Fall.

B.   Zur Vorlagefrage

32.

Im Kern geht es dem vorlegenden Gericht bei seiner Frage um die Klärung der Reichweite des Beihilfebeschlusses 2019/700 der Kommission. Dieser Beschluss beanstandet das Fehlen einer Besteuerung passiver Zinsen und Nutzungsentgelte im gibraltarischen Recht. Die Kommission bezeichnet dies in dem Beschluss 2019/700 als Ausnahmeregelung ( 9 ) bzw. als implizite Befreiung. ( 10 ) Genau genommen handelt es sich um eine Nichtbesteuerung bestimmter Einkünfte.

33.

Ob in der Nichtbesteuerung einzelner Einkunftsarten tatsächlich eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe im Sinne des Art. 107 AEUV zu sehen ist, braucht hier nicht entschieden zu werden. ( 11 ) Auch die Frage, ob das Unionsrecht tatsächlich eine rückwirkende Besteuerung bislang gesetzlich nicht steuerbarer Einkünfte verlangen kann, muss hier nicht geklärt werden. ( 12 )

34.

Beides kann offenbleiben, denn die Klägerin begehrt nicht die Nichtbesteuerung dieser Einkünfte, sondern die Anrechnung der in den Vereinigten Staaten auf diese Nutzungsentgelte bezahlten Steuer. Eine solche Anrechnung ist grundsätzlich in Section 37 des ITA 2010 vorgesehen. Damit hat sich Gibraltar für die Anrechnungsmethode (im Unterschied zur Freistellungsmethode) entschieden. Beide Methoden sind im internationalen Steuerrecht üblich ( 13 ) und dienen der Vermeidung einer unerwünschten Doppelbesteuerung. Laut dem vorlegenden Gericht liegen die Voraussetzungen dieser Anrechnung auch vor.

35.

Zwar bestreiten dies die Kommission und die Finanzverwaltung in ihren Schriftsätzen. Doch sieht Art. 267 AEUV nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Verfahren des unmittelbaren Zusammenwirkens des Gerichtshofs und der Gerichte der Mitgliedstaaten vor. Im Rahmen dieses Verfahrens fällt jede Beurteilung des Sachverhalts in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts, das im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat. Der Gerichtshof hingegen ist nur befugt, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Unionsvorschrift zu äußern. ( 14 ) Somit ist die Vorlagefrage auf der Grundlage der Prämisse, dass die Voraussetzungen für eine Steueranrechnung nach Section 37 des ITA 2010 erfüllt sind, zu beantworten.

36.

Die Regelung in Section 37 wurde von der Kommission in dem Beschluss 2019/700 nicht beanstandet. Allerdings führt die Anrechnung der im Ausland gezahlten Steuer auf die nach der Änderung des ITA 2010 rückwirkend erfolgte Besteuerung der Nutzungsentgelte zu einem vergleichbaren Ergebnis. Die Klägerin muss diese Einkünfte in Gibraltar nicht versteuern.

37.

Wohl aus diesem Grund hat die Kommission auf Nachfragen der Finanzverwaltung in einem Schreiben die Ansicht vertreten, der Beihilfebeschluss erfasse auch diese Anrechnung nach Section 37 des ITA 2010. Deswegen sieht sich die Finanzverwaltung nun gehindert, das geltende parlamentarische Steuergesetz anzuwenden.

38.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind aber Schreiben, die die Kommission nach Erlass ihrer Entscheidung an den Mitgliedstaat zur Sicherstellung der Durchführung der Entscheidung richtet, nicht bindend. ( 15 ) Insbesondere gehören derartige Stellungnahmen der Kommission nicht zu den Handlungen, die auf der Grundlage der Verordnung 2015/1589 erlassen werden können. ( 16 ) Bindend ist der (angefochtene) Beschluss 2019/700, solange er nicht von den Unionsgerichten aufgehoben wird.

39.

Folglich ist zunächst die Reichweite des Beschlusses 2019/700 zu klären (dazu unter C.). Sollte dieser die Steueranrechnung nach Section 37 des ITA 2010 nicht erfassen, ist zu klären, ob darin eventuell eine Umgehung dieses Beschlusses (dazu unter D.) bzw. eine anderweitige verbotene Beihilfe im Sinne des Art. 107 AEUV zu sehen ist (dazu unter E.).

C.   Zur Reichweite des Beihilfebeschlusses der Kommission vom 19. Dezember 2018 (Beschluss 2019/700)

40.

Entscheidend ist daher, worauf sich der Beschluss 2019/700 bezieht. Erfasst er auch die Anrechnung ausländischer Steuern auf eine gibraltarische Steuerschuld für bestimmte Einkünfte – wie die Kommission meint – oder nur die Nichtsteuerbarkeit (Nichtbesteuerung) dieser Einkünfte – wie die Klägerin meint? Ersteres setzt eine entstandene Steuerschuld zwingend voraus, auf die eine andere Steuerschuld angerechnet werden könnte, Letzteres gerade nicht.

41.

Art. 1 Abs. 2 des Beschlusses 2019/700 stellt fest, dass die „staatliche Beihilferegelung in Form der Ausnahmeregelung für Nutzungsentgelte“ eine im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV verbotene Beihilfe ist. Auch wenn damit nicht präzise bezeichnet wird, welche Vorschrift im ITA 2010 den selektiven Vorteil gewährt, so ergibt sich aus den Erwägungsgründen – insbesondere aus dem 33. Erwägungsgrund –, dass mit der „Ausnahmeregelung für Nutzungsentgelte“ die fehlende Erfassung dieser Einkunftsart in Tabelle C in Schedule 1 des ITA 2010 gemeint ist.

42.

Aus dem 82. Erwägungsgrund wird deutlich, dass die Kommission den selektiven Vorteil darin sieht, dass diese Nichtbesteuerung „gegen den allgemeinen Grundsatz, dass die Körperschaftsteuer von allen Steuerpflichtigen erhoben wird, die Einkommen in Gibraltar erzielen oder beziehen“, verstoße. Laut der Kommission „sollten passive Zinsen und Nutzungsentgelte“ daher besteuert werden. Im 107. Erwägungsgrund führt die Kommission aus, dass für eine Nichtbesteuerung das Argument der Notwendigkeit der Vermeidung der Doppelbesteuerung nicht greife, „da die (ausländische) zahlende Einheit im Allgemeinen berechtigt ist, die Zinsen oder Nutzungsentgelte für Steuerzwecke abzuziehen“. Angesichts eines nur „begrenzten Risikos der Doppelbesteuerung“ sei „eine vollständige und automatische Freistellung daher unverhältnismäßig“ und könne nicht als Rechtfertigung angesehen werden.

43.

Daraus wird ersichtlich, dass die Kommission in dem Beschluss 2019/700 die Nichtbesteuerung bestimmter Einkunftsarten als den selektiven Vorteil ansieht, da diese Einkunftsarten in einem kohärenten Steuersystem eigentlich besteuert hätten werden müssen. Ob dies zutreffend ist, kann dahinstehen. Entscheidend ist, dass sich der Inhalt des Beschlusses nur auf die Nichtsteuerbarkeit bestimmter Einkünfte bezieht.

44.

Section 37 des ITA 2010 betrifft hingegen die Anrechnung von im Ausland gezahlten Steuern für Nutzungsentgelte auf die für diese Nutzungsentgelte in Gibraltar zu entrichtende Steuer. Diese Anrechnung setzt jedoch die Steuerbarkeit der Einkünfte in Gibraltar voraus, zumal die Anrechnung auf deren Höhe begrenzt ist. Insofern steht Section 37 des ITA 2010 in Einklang mit dem Beschluss 2019/700. Anders als die Finanzverwaltung von Gibraltar in ihrer Stellungnahme meint, wurde insbesondere der Rückforderungsbetrag im Einklang mit dessen 226. Erwägungsgrund berechnet. Der konkrete Betrag (d. h. die Steuer für diese Einkünfte) scheint also genauso berechnet worden zu sein, wie es die Kommission dort vorgeschlagen hat. Damit wurde dem Beschluss insoweit Folge geleistet.

45.

Die hier betrachtete Anrechnung ausländischer Steuern nach Section 37 kommt dagegen erst in einem zweiten Schritt zum Tragen. Gleiches würde z. B. für die Verrechnung mit einem Steuerguthaben aus anderem Anlass oder der Verrechnung mit noch nachträglich aufgefundenen Verlusten gelten.

46.

Auch wenn das Ergebnis das Gleiche ist (es sind keine Steuern in Gibraltar zu zahlen), so betrifft Section 37 des ITA 2010 doch einen ganz anderen Fall als den, der die Kommission im Beschluss 2019/700 zur Feststellung einer verbotenen Beihilfe veranlasst hatte. Aus dem 107. Erwägungsgrund des Beschlusses 2019/700 ergibt sich nämlich, dass die Kommission ihren Beschluss mit der Tatsache begründet, dass allein das begrenzte Risiko einer Doppelbesteuerung eine vollständige und automatische „Freistellung“ nicht rechtfertige. Dies betrifft aber die alte Rechtslage. Danach wurden bestimmte Einkünfte generell nicht besteuert. Section 37 des ITA 2010 setzt hingegen eine Besteuerung voraus und greift daher nur bei einer konkreten Doppelbesteuerung ein. Die Anrechnung erfolgt dabei auch nicht automatisch, sondern deren Voraussetzungen – die anderweitige Besteuerung im konkreten Fall – ist durch den Steuerpflichtigen nachzuweisen.

47.

Im Ergebnis werden trotz Section 37 des ITA 2010 die Nutzungsentgelte in Gibraltar besteuert (d. h., sie sind steuerbar). Lediglich eine bereits anderweitig erfolgte Besteuerung (hier aus den Vereinigten Staaten) wird auf diese Steuerschuld angerechnet. Folglich ist die Anrechnung von im Ausland gezahlten Steuern für Nutzungsentgelte auf die entsprechende Steuer in Gibraltar nicht von dem Beschluss 2019/700 erfasst. Der Beschluss 2019/700 steht damit der Anwendung von Section 37 des ITA 2010 nicht entgegen.

D.   Zum Vorliegen einer Umgehung des Beschlusses der Kommission vom 19. Dezember 2018 durch die Anrechnung nach Section 37 des ITA 2010

48.

Etwas anderes wäre allenfalls denkbar, wenn die Anrechnung gemäß Section 37 des ITA 2010 eine Umgehung des Beschlusses 2019/700 darstellen würde. Wie sich aus dem 25. Erwägungsgrund der Verordnung 2015/1589 ergibt, soll der betroffene Mitgliedstaat alle erforderlichen Maßnahmen zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Beschlusses der Kommission treffen.

49.

Dies schließt Umgehungen durch kompensatorische Maßnahmen aus. Eine solche Umgehung wäre zeitlich allerdings nur vorstellbar, wenn Section 37 nach Erlass dieses Beschlusses erlassen worden wäre, um die dort angeordneten Rechtsfolgen (d. h. die rückwirkende Besteuerung) ins Leere laufen zu lassen. Dies scheint mir hier nicht der Fall zu sein. Eine bereits vorhandene Regelung, die von der Kommission in dem Beschluss nicht beanstandet wurde, kann kaum als Umgehung des Beschlusses bezeichnet werden. Sie könnte allenfalls selbst eine Beihilfe sein.

50.

Selbst wenn Section 37 nachträglich eingefügt worden wäre, könnte nur dann von einer Umgehung des Beschlusses 2019/700 gesprochen werden, wenn in dieser Anrechnungsvorschrift selbst eine Beihilfe zu sehen wäre. Denn wenn Section 37 des ITA 2010 isoliert betrachtet keine verbotene Beihilfe ist, dann kann damit auch nicht die Feststellung, dass eine andere Vorschrift eine Beihilfe ist und zurückgefordert werden muss, umgangen werden.

E.   Zum Vorliegen einer staatlichen Beihilfe nach Art. 107 AEUV durch die Anrechnung nach Section 37 des ITA 2010

51.

Mithin ist die noch zu klärende Frage allein, ob das Beihilfenrecht der Anwendung von Section 37 des ITA 2010 entgegensteht, mithin ob die in Section 37 des ITA 2010 gesetzlich vorgesehene Anrechnung einer im Ausland gezahlten Steuer für Nutzungsentgelte als eine verbotene Beihilfe im Sinne von Art. 107 AEUV zu betrachten ist. Davon scheint die Kommission in ihrer Stellungnahme auszugehen. Diese Frage ist nach den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen jedoch zu verneinen.

52.

Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Einstufung einer nationalen Maßnahme als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV verlangt, dass alle nachstehend genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens muss es sich um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handeln. Zweitens muss die Maßnahme geeignet sein, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Drittens muss dem Begünstigten durch sie ein selektiver Vorteil verschafft werden. Viertens muss sie den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen. ( 17 )

53.

Für die Beurteilung der Selektivität des Vorteils bedarf es der Feststellung, ob eine nationale Maßnahme im Rahmen einer konkreten rechtlichen Regelung geeignet ist, „bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige“ gegenüber anderen Unternehmen oder Produktionszweigen zu begünstigen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden und somit eine unterschiedliche Behandlung erfahren, die der Sache nach als diskriminierend eingestuft werden kann. ( 18 )

54.

Ist die in Rede stehende Maßnahme als Beihilferegelung – so wie hier die Section 37 des ITA 2010 – und nicht als Einzelbeihilfe konzipiert, muss die Kommission überdies dartun, dass die Maßnahme, obwohl sie einen allgemeinen Vorteil vorsieht, diesen allein bestimmten Unternehmen oder Branchen verschafft. ( 19 )

55.

Als staatliche Beihilfe gelten dabei insbesondere Maßnahmen, die die von einem Unternehmen regelmäßig zu tragenden Belastungen vermindern und somit, obwohl sie keine Subventionen im strengen Sinne des Wortes darstellen, diesen nach Art und Wirkungen gleichstehen. ( 20 ) Dagegen stellt ein Steuervorteil, der aus einer unterschiedslos für alle Wirtschaftsteilnehmer geltenden allgemeinen Maßnahme resultiert, keine staatliche Beihilfe im Sinne dieser Bestimmung dar. ( 21 )

56.

Im Bereich der Grundfreiheiten des Binnenmarkts hat der Gerichtshof entschieden, dass es den Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand der Harmonisierung des Steuerrechts der Union freisteht, das ihnen am geeignetsten erscheinende Steuersystem einzuführen. ( 22 ) Dies gilt auch für den Bereich staatlicher Beihilfen. ( 23 )

57.

Daraus folgt, dass außerhalb der Bereiche, in denen das Steuerrecht der Union harmonisiert wurde, die Bestimmung der grundlegenden Merkmale jeder Steuer aufgrund der Steuerautonomie der Mitgliedstaaten in deren Ermessen liegt. Dies gilt u. a. für die Wahl des Steuersatzes, aber auch für die Festlegung der steuerlichen Bemessungsgrundlage und des Steuertatbestands. ( 24 ) Diese grundlegenden Merkmale definieren somit grundsätzlich das Referenzsystem bzw. die „normale“ Steuerregelung, anhand derer die Voraussetzung der Selektivität zu prüfen ist. ( 25 )

58.

Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass auch diese grundlegenden Merkmale in bestimmten Fällen ein offensichtlich diskriminierendes Element aufweisen könnten; der Nachweis dafür obliegt jedoch der Kommission. ( 26 ) Allgemeine Differenzierungen, die unterschiedslos für alle gelten und sich innerhalb eines kohärenten Steuersystems befinden, können daher normalerweise keinen selektiven Vorteil darstellen. ( 27 )

59.

Die Entscheidung, welche ausländischen Steuern auf die inländische Steuerschuld angerechnet werden können und unter welchen Voraussetzungen dies möglich sein soll, ist aber eine solch allgemeine Entscheidung, die in das oben genannte Ermessen des Mitgliedstaates fällt. Sie bezweckt die Vermeidung einer Doppelbesteuerung. Diese ist ein anerkanntes Ziel, sowohl in der OECD ( 28 ) als auch in der Union. ( 29 ) Doppelbesteuerungen beeinträchtigen die Wettbewerbsneutralität und schaffen Hindernisse für grenzüberschreitende Investitionen und Dienstleistungen.

60.

Inwieweit daher ein Mitgliedstaat versucht, durch unilaterale Maßnahmen (z. B. Anrechnungs- oder Freistellungsregelungen im nationalen Recht) oder bilaterale Maßnahmen (z. B. den Abschluss entsprechender Doppelbesteuerungsabkommen) eine Doppelbesteuerung durch sich und einen anderen Staat zu vermeiden, ist eine Entscheidung, die jeder Steuergesetzgeber bei der Ausgestaltung seines eigenen Steuerrechts treffen muss. Dass von dieser Grundentscheidung „lediglich“ Unternehmen erfasst werden, die grenzüberschreitend operieren – d. h., auch von zwei Steuerjurisdiktionen erfasst werden –, liegt in der Natur der Sache.

61.

Wie die Finanzverwaltung von Gibraltar in ihrer Stellungnahme zutreffend ausführt, sind unilaterale Maßnahmen wie Section 37 des ITA 2020 für Jurisdiktionen, die über kein ausgeprägtes Netz von Doppelbesteuerungsabkommen verfügen, der übliche Weg, um Doppelbesteuerungen vermeiden zu können.

62.

Aus der Tatsache, dass von der Anrechnung nur die Steuerpflichtigen erfasst werden, die die Voraussetzungen einer Doppelbesteuerung erfüllen, kann keine Selektivität abgeleitet werden. Der bloße Umstand, dass nur Steuerpflichtige, die die Voraussetzungen für die Anwendung einer Maßnahme erfüllen, diese in Anspruch nehmen können, verleiht ihr nämlich keinen selektiven Charakter. ( 30 ) Dass die Anrechnung im Ausland gezahlter Steuern auf Einkünfte, die ebenfalls im Inland besteuert werden, inkohärent ist, dürfte ausgeschlossen sein. Schon gar nicht ist hier erkennbar oder gar von der Kommission nachgewiesen, dass Section 37 offensichtlich diskriminierende Parameter aufweist, durch die das Verbot staatlicher Beihilfen umgangen werden sollte.

63.

Soweit die Kommission dagegen in ihrer Stellungnahme meint, dass ein selektiver Vorteil nicht entfällt, nur weil mit dem Vorteil bestimmte Belastungen kompensiert werden, überzeugt dies nicht. Zum einen befinden sich Unternehmen, die besonderen Belastungen unterliegen (hier etwa durch eine weitere Steuerschuld in den Vereinigten Staaten), im Hinblick auf das Ziel von Maßnahmen zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung durchaus in einer anderen Lage als Unternehmen, die nur einmal (in Gibraltar) besteuert werden. Zum anderen liegt die Grundentscheidung, inwieweit ein Mitgliedstaat die Steuerschulden in anderen Staaten berücksichtigt und damit Doppelbesteuerungen vermeidet, in seinem Ermessen. Darüber hinaus ist die Vermeidung der Doppelbesteuerung – wie oben ausgeführt – ein anerkanntes Ziel der Union. Warum Gibraltar daher hier die Grenzen seines Ermessens überschritten haben sollte, wird von der Kommission auch in ihrer Stellungnahme nicht dargelegt.

64.

Folglich kann die Anrechnung von in den Vereinigten Staaten gezahlter Steuer für Nutzungsentgelte nach Section 37 weder als Beihilfe noch als Umgehung des Beschlusses 2019/700 beurteilt werden.

VI. Ergebnis

65.

Somit schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt auf die Vorlagefrage des Income Tax Tribunal of Gibraltar (Einkommensteuertribunal von Gibraltar, Vereinigtes Königreich) zu antworten:

Weder der Beschluss 2019/700 der Kommission vom 19. Dezember 2018 noch Art. 107 AEUV stehen einer Steueranrechnung der in den Vereinigten Staaten gezahlten Steuern auf Einkommen der Klägerin aus Nutzungsentgelten nach Section 37 des Income Tax Act 2010 (Einkommensteuergesetz 2010) auf die in Gibraltar zu zahlende Steuer entgegen.


( 1 ) Originalsprache: Deutsch.

( 2 ) Beschluss (EU) 2019/700 der Kommission vom 19. Dezember 2018 über die staatliche Beihilfe SA.34914 (2013/C) des Vereinigten Königreichs betreffend das Körperschaftsteuersystem in Gibraltar, bekannt gegeben unter C(2018) 7848 (ABl. 2019, L 119, S. 151).

( 3 ) Das Verfahren ist unter dem Aktenzeichen T‑508/19 vor dem Gericht anhängig.

( 4 ) Zuletzt waren progressive umsatzbasierte Ertragsteuern aus Polen und Ungarn Gegenstand seiner Rechtsprechung – vgl. Urteile vom 16. März 2021, Kommission/Ungarn (C‑596/19 P, EU:C:2021:202) und Kommission/Polen (C‑562/19 P, EU:C:2021:201).

( 5 ) Verordnung des Rates vom 13. Juli 2015 (ABl. 2015, L 248, S. 9).

( 6 ) Beschluss (EU) 2019/700 der Kommission vom 19. Dezember 2018 über die staatliche Beihilfe SA.34914 (2013/C) des Vereinigten Königreichs betreffend das Körperschaftsteuersystem in Gibraltar; bekannt gegeben unter C(2018) 7848 (ABl. 2019, L 119, S. 151).

( 7 ) ABl. 1972, L 73, S. 14.

( 8 ) Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2019, C 384 I, S. 1).

( 9 ) Vgl. zweiter Erwägungsgrund des Beschlusses 2019/700 (ABl. 2019, L 119, S. 151).

( 10 ) Vgl. 93. Erwägungsgrund des Beschlusses 2019/700 (ABl. 2019, L 119, S. 166).

( 11 ) Dies ist spannend, da das Ertragsteuerrecht in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fällt und eine Besteuerungspflicht aller denkbaren Steuerquellen und damit aller denkbaren besteuerbaren Einkünfte etc. zumindest unionsrechtlich eigentlich nicht besteht.

( 12 ) Art. 16 Abs. 1 der Verordnung 2015/1589 untersagt eine Rückforderung einer Beihilfe, wenn dies gegen einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verstoßen würde. Eine rückwirkende Besteuerung ohne gesetzliche Grundlage hinsichtlich schon verwirklichter Steuertatbestände könnte möglicherweise jedoch gegen allgemeine rechtsstaatliche Grundsätze (wie z. B. Rechtssicherheit, Bestimmtheit, Gesetzmäßigkeit) verstoßen.

( 13 ) Vgl. nur die sogenannten Methodenartikel (Art. 23A und 23B) im OECD-Musterabkommen.

( 14 ) Ständige Rechtsprechung – vgl. nur: Urteile vom 25. Oktober 2017, Polbud – Wykonawstwo (C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 27), vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a. (C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 15), und vom 11. September 2008, Eckelkamp u. a. (C‑11/07, EU:C:2008:489, Rn. 52).

( 15 ) So ausdrücklich Urteil vom 13. Februar 2014, Mediaset (C‑69/13, EU:C:2014:71, Rn. 24).

( 16 ) Vgl. Urteil vom 13. Februar 2014, Mediaset (C‑69/13, EU:C:2014:71, Rn. 26).

( 17 ) Urteile vom 16. März 2021, Kommission/Ungarn (C‑596/19 P, EU:C:2021:202, Rn. 33) und Kommission/Polen (C‑562/19 P, EU:C:2021:201, Rn. 27), sowie vom 21. Dezember 2016, Kommission/World Duty Free Group u. a. (C‑20/15 P und C‑21/15 P, EU:C:2016:981, Rn. 53).

( 18 ) Urteile vom 16. März 2021, Kommission/Ungarn (C‑596/19 P, EU:C:2021:202, Rn. 34) und Kommission/Polen (C‑562/19 P, EU:C:2021:201, Rn. 28), sowie vom 19. Dezember 2018, A-Brauerei (C‑374/17, EU:C:2018:1024, Rn. 35).

( 19 ) Urteile vom 16. März 2021, Kommission/Ungarn (C‑596/19 P, EU:C:2021:202, Rn. 35) und Kommission/Polen (C‑562/19 P, EU:C:2021:201, Rn. 29), sowie vom 30. Juni 2016, Belgien/Kommission (C‑270/15 P, EU:C:2016:489, Rn. 49).

( 20 ) Urteile vom 16. März 2021, Kommission/Ungarn (C‑596/19 P, EU:C:2021:202, Rn. 36) und Kommission/Polen (C‑562/19 P, EU:C:2021:201, Rn. 30), sowie vom 15. November 2011, Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich (C‑106/09 P und C‑107/09 P, EU:C:2011:732, Rn. 71).

( 21 ) Urteile vom 16. März 2021, Kommission/Ungarn (C‑596/19 P, EU:C:2021:202, Rn. 36) und Kommission/Polen (C‑562/19 P, EU:C:2021:201, Rn. 30), vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 19. Dezember 2018, A-Brauerei (C‑374/17, EU:C:2018:1024, Rn. 23).

( 22 ) Urteile vom 16. März 2021, Kommission/Ungarn (C‑596/19 P, EU:C:2021:202, Rn. 43) und Kommission/Polen (C‑562/19 P, EU:C:2021:201, Rn. 37), vom 3. März 2020, Vodafone Magyarország (C‑75/18, EU:C:2020:139, Rn. 49), und vom 3. März 2020, Tesco-Global Áruházak (C‑323/18, EU:C:2020:140, Rn. 69).

( 23 ) Urteile vom 16. März 2021, Kommission/Ungarn (C‑596/19 P, EU:C:2021:202, Rn. 43) und Kommission/Polen (C‑562/19 P, EU:C:2021:201, Rn. 37), vgl. auch Urteil vom 26. April 2018, ANGED (C‑233/16, EU:C:2018:280, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 24 ) Urteile vom 16. März 2021, Kommission/Ungarn (C‑596/19 P, EU:C:2021:202, Rn. 44) und Kommission/Polen (C‑562/19 P, EU:C:2021:201, Rn. 38).

( 25 ) Urteile vom 16. März 2021, Kommission/Ungarn (C‑596/19 P, EU:C:2021:202, Rn. 45) und Kommission/Polen (C‑562/19 P, EU:C:2021:201, Rn. 39).

( 26 ) Urteile vom 16. März 2021, Kommission/Ungarn (C‑596/19 P, EU:C:2021:202, Rn. 48) und Kommission/Polen (C‑562/19 P, EU:C:2021:201, Rn. 42).

( 27 ) Vgl. dazu bereits meine Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Ungarn (C‑596/19 P, EU:C:2020:835, Nrn. 53 ff.), in der Rechtssache Kommission/Polen (C‑562/19 P, EU:C:2020:834, Nrn. 46 ff.) und in der Rechtssache Tesco-Global Áruházak (C‑323/18, EU:C:2019:567, Nr. 150).

( 28 ) Siehe nur den Titel des OECD-Musterabkommen (Stand: Juli 2017): „OECD-Musterabkommen zur Beseitigung der Doppelbesteuerung sowie der Steuerverkürzung und ‑umgehung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen“.

( 29 ) Vgl. dritter Erwägungsgrund der Richtlinie des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 1990, L 225) für Doppelbesteuerungen bei Ausschüttungen im Konzern. Aus der Rechtsprechung: Urteile vom 16. Juli 2009, Damseaux (C‑128/08, EU:C:2009:471, Rn. 28), und vom 11. September 2008, Arens-Sikken (C‑43/07, EU:C:2008:490, Rn. 62).

( 30 ) Urteile vom 16. März 2021, Kommission/Ungarn (C‑596/19 P, EU:C:2021:202, Rn. 58), vom 21. Dezember 2016, Kommission/World Duty Free Group u. a. (C‑20/15 P und C‑21/15 P, EU:C:2016:981, Rn. 59), und vom 29. März 2012, 3M Italia (C‑417/10, EU:C:2012:184, Rn. 42).

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