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Document 62019TJ0316
Judgment of the General Court (Fourth Chamber) of 16 June 2021 (Extracts).#Arnaldo Lucaccioni v European Commission.#Civil service – Officials – Social security – Article 73 of the Staff Regulations – Common rules on insurance of officials against the risk of accident and of occupational disease – Occupational disease – Article 9 – Claim for medical expenses – Article 23 – Consulting another doctor – Refusal to refer the case to the medical committee pursuant to Article 22 – Failure to apply, by analogy, the second subparagraph of Article 22(1) – Rule of correspondence between the application and the complaint – Application of the law ratione temporis.#Case T-316/19.
Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 16. Juni 2021 (Auszüge).
Arnaldo Lucaccioni gegen Europäische Kommission.
Öffentlicher Dienst – Beamte – Soziale Sicherheit – Art. 73 des Statuts – Gemeinsame Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten – Berufskrankheit – Art. 9 – Antrag auf Erstattung von Krankheitskosten – Art. 23 – Gutachten eines anderen Arztes – Ablehnung der Befassung des Ärzteausschusses nach Art. 22 – Keine analoge Anwendung von Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 – Grundsatz der Übereinstimmung zwischen Klage und Beschwerde – Zeitliche Anwendung der Rechtsvorschrift.
Rechtssache T-316/19.
Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 16. Juni 2021 (Auszüge).
Arnaldo Lucaccioni gegen Europäische Kommission.
Öffentlicher Dienst – Beamte – Soziale Sicherheit – Art. 73 des Statuts – Gemeinsame Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten – Berufskrankheit – Art. 9 – Antrag auf Erstattung von Krankheitskosten – Art. 23 – Gutachten eines anderen Arztes – Ablehnung der Befassung des Ärzteausschusses nach Art. 22 – Keine analoge Anwendung von Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 – Grundsatz der Übereinstimmung zwischen Klage und Beschwerde – Zeitliche Anwendung der Rechtsvorschrift.
Rechtssache T-316/19.
ECLI identifier: ECLI:EU:T:2021:367
URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)
16. Juni 2021 ( *1 )
„Öffentlicher Dienst – Beamte – Soziale Sicherheit – Art. 73 des Statuts – Gemeinsame Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten – Berufskrankheit – Art. 9 – Antrag auf Erstattung von Krankheitskosten – Art. 23 – Gutachten eines anderen Arztes – Ablehnung der Befassung des Ärzteausschusses nach Art. 22 – Keine analoge Anwendung von Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 – Grundsatz der Übereinstimmung zwischen Klage und Beschwerde – Zeitliche Anwendung der Rechtsvorschrift“
In der Rechtssache T‑316/19,
Arnaldo Lucaccioni, wohnhaft in San Benedetto del Tronto (Italien), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt E. Bonanni,
Kläger,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch T. Bohr und L. Vernier als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt A. Dal Ferro,
Beklagte,
betreffend eine Klage nach Art. 270 AEUV zum einen auf Aufhebung der Entscheidung der Kommission vom 2. August 2018, mit der die Anträge des Klägers vom 23. März und vom 8. Juni 2018 auf Befassung des Ärzteausschusses nach Art. 22 der Gemeinsamen Regelung zur Sicherung der Beamten der Europäischen Gemeinschaften bei Unfällen und Berufskrankheiten abgelehnt wurden, und zum anderen auf Ersatz der Schäden, die dem Kläger durch diese Entscheidung entstanden sein sollen,
erlässt
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Gervasoni, der Richterin R. Frendo und des Richters J. Martín y Pérez de Nanclares (Berichterstatter),
Kanzler: E. Coulon,
folgendes
Urteil ( 1 )
Rechtlicher Rahmen und Vorgeschichte des Rechtsstreits
Rechtlicher Rahmen
[nicht übersetzt]
3 |
Art. 18 („Entscheidungsverfahren“) der Sicherungsregelung sieht vor: „Die Entscheidung über das Vorliegen eines Unfalls – unabhängig davon, ob dieser dienstlichen oder außerdienstlichen Risiken zuzuordnen ist – und die damit verbundene Entscheidung über die Anerkennung einer Krankheit als Berufskrankheit oder über den Grad einer dauernden Invalidität trifft die Anstellungsbehörde nach dem Verfahren des Artikels 20
|
4 |
Zur Zusammensetzung und zu den Aufgaben des Ärzteausschusses bestimmt Art. 22 („Ärzteausschuss“) Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 der Sicherungsregelung Folgendes: „(1) Der Ärzteausschuss setzt sich aus drei Ärzten zusammen, von denen:
benannt wird. Lässt sich binnen zwei Monaten nach der Benennung des zweiten Arztes kein Einvernehmen über die Benennung des dritten Arztes herstellen, so wird der dritte Arzt auf Antrag eines der Beteiligten vom Präsidenten des Gerichtshofes [der Europäischen Union] bestellt.“ |
5 |
Art. 23 („Gutachten eines anderen Arztes“) Abs. 1 Unterabs. 1 der Sicherungsregelung lautet: „(1) Ist in den Fällen, die nicht in Artikel 18 vorgesehen sind, eine Entscheidung nach Stellungnahme des von der Anstellungsbehörde bestellten Arztes zu treffen, so stellt die Anstellungsbehörde dem Versicherten oder den sonstigen Anspruchsberechtigten vor Erlass der Entscheidung einen Entscheidungsentwurf zu, dem sie das Gutachten des Arztes beifügt. Der Versicherte oder die sonstigen Anspruchsberechtigten können binnen 30 Tagen beantragen, das Gutachten eines anderen Arztes einzuholen, den der von der Anstellungsbehörde bestellte Arzt im Einvernehmen mit dem vom Versicherten oder den sonstigen Anspruchsberechtigten benannten Arzt auswählt. Geht bis zum Ablauf dieser Frist kein Antrag auf Einholung eines weiteren Gutachtens ein, so trifft die Anstellungsbehörde ihre Entscheidung entsprechend dem von ihr zugestellten Entwurf.“ [nicht übersetzt] |
Verfahren und Anträge der Parteien
28 |
Der Kläger hat mit Klageschrift, die am 23. Mai 2019 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben. |
29 |
Die Kommission hat am 6. August 2019 ihre Klagebeantwortung eingereicht. |
30 |
Am 3. Oktober 2019 hat der Kläger eine Erwiderung eingereicht. |
31 |
Mit Beschluss vom 25. Oktober 2019 hat der Präsident des Gerichts die Rechtssache gemäß Art. 27 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts einem neuen, der Vierten Kammer zugeteilten Berichterstatter zugewiesen. |
32 |
Die Kommission hat am 18. November 2019 ihre Gegenerwiderung eingereicht. |
33 |
Mit Schreiben vom 19. November 2019 sind die Parteien über den Abschluss des schriftlichen Verfahrens und über ihre Möglichkeit informiert worden, unter den in Art. 106 der Verfahrensordnung des Gerichts vorgesehenen Bedingungen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu beantragen. Mit Schreiben vom 13. Dezember 2019 hat der Kläger fristgerecht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt. |
34 |
Im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 89 Abs. 3 Buchst. a und d der Verfahrensordnung hat das Gericht die Parteien am 15. Juni 2020 aufgefordert, eine Reihe von Fragen zu beantworten und eine lesbare Fassung bestimmter Dokumente vorzulegen. Die Parteien haben die Fragen beantwortet, und der Kläger ist der Aufforderung zur Vorlage von Dokumenten innerhalb der gesetzten Frist nachgekommen. |
35 |
Auf Vorschlag des Berichterstatters hat das Gericht (Vierte Kammer) beschlossen, das mündliche Verfahren zu eröffnen. Da der Kläger jedoch auf Nachfrage des Gerichts mit Schreiben vom 16. Juli 2020 im Wesentlichen mitgeteilt hat, dass er doch nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen werde, hat das Gericht (Vierte Kammer) gemäß Art. 108 Abs. 2 der Verfahrensordnung beschlossen, das mündliche Verfahren zu schließen. |
36 |
Mit gesondertem Schriftsatz, der am 16. Juli 2020 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Kläger die Klageschrift gemäß Art. 86 der Verfahrensordnung angepasst, so dass sich die Klage, nachdem der Kläger selbst davon Kenntnis erlangt hat, im Wesentlichen auf die Berücksichtigung einer „Handlung“ richtet, „die einen neuen Umstand darstellt und automatisch zu einer Einschränkung des ursprünglichen Klagebegehrens führt, um ‚diesem neuen Umstand‘ hinsichtlich der Aufhebung der Entscheidung der Kommission vom 2. August 2018‚Rechnung zu tragen‘“. Mit Schriftsatz, der am 18. September 2020 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Kommission beantragt, den Anpassungsschriftsatz des Klägers als unzulässig zurückzuweisen. |
37 |
Am 14. September 2020 hat der Kläger einen Schriftsatz mit einem neuen Klagegrund eingereicht. Die Kommission hat am 30. September 2020 zu diesem Schriftsatz Stellung genommen. |
38 |
In der Klageschrift beantragt der Kläger im Wesentlichen,
|
39 |
In der Klagebeantwortung beantragt die Kommission,
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40 |
In der Erwiderung beantragt der Kläger außerdem, „auf der Grundlage der bei zwei Gelegenheiten vorgelegten Dokumente, die sich im Besitz der Kommission befinden, vorläufig, auch durch gesonderten Beschluss, seinen Anspruch auf einen Betrag von 7754 Euro, der der von der [Abrechnungsstelle] vorgesehenen Erstattung entspricht und seinerzeit bewilligt wurde, festzustellen“. |
41 |
In der Gegenerwiderung beantragt die Kommission, auch den vom Kläger in der Erwiderung gestellten Antrag abzuweisen. |
Rechtliche Würdigung
[nicht übersetzt]
Zur Begründetheit
98 |
Mit dem ersten Antrag begehrt der Kläger die Aufhebung der streitigen Entscheidung, mit der sich die Anstellungsbehörde zu Unrecht an der in Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 der Sicherungsregelung ausdrücklich festgelegten Regel für Fälle, in denen sich „zwischen dem Arzt, der den Versicherten vertritt, und dem Arzt, der das Organ vertritt, kein Einvernehmen über die Benennung des dritten Arztes herstellen lässt“, orientiert und sie analog zur Benennung eines „anderen Arztes“ angewandt habe. |
99 |
Der vierte, äußerst hilfsweise gestellte Antrag zielt im Wesentlichen darauf ab, der Kommission aufzugeben, sich im speziellen Fall des Klägers an der in Art. 22 der Sicherungsregelung ausdrücklich vorgesehenen Regel zu orientieren, wie sie in der streitigen Entscheidung angeführt ist, sie analog anzuwenden und vom Ärzteausschuss gemäß Art. 20 der Sicherungsregelung ein Gutachten einzuholen. |
100 |
Mit dem ersten und dem vierten Antrag möchte der Kläger somit zum einen den Standpunkt der Kommission beanstanden, die eine selektive Anwendung bevorzugt und im vorliegenden Fall nur auf Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 der Sicherungsregelung zurückgreift, und zum anderen die Entscheidung der Kommission angreifen, nicht das gesamte in diesem Artikel vorgesehene Verfahren anzuwenden. Diese beiden Anträge sind daher gemeinsam zu prüfen. [nicht übersetzt] |
106 |
Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass entgegen dem Vorbringen des Klägers im Rahmen des vierten Antrags, mit dem im Wesentlichen begehrt wird, sich an der Verfahrensvorschrift zu orientieren, nach der der Ärzteausschuss befasst werden soll, um den Antrag des Klägers auf Kostenerstattung erneut zu prüfen, die Sicherungsregelung eindeutig zwei Fälle der Überprüfung eines Entscheidungsentwurfs unterscheidet. |
107 |
Im ersten Fall erfolgt die Entscheidung auf Antrag des Versicherten nach Einholung des Gutachtens des Ärzteausschusses gemäß Art. 18 zweiter Gedankenstrich der Sicherungsregelung. Im zweiten Fall kann der Versicherte in anderen als den in Art. 18 der Regelung vorgesehenen Fällen beantragen, das Gutachten eines anderen Arztes einzuholen. Nach der Bekanntgabe dieser Entscheidungsentwürfe ist in den beiden Verfahren eine Frist von 60 bzw. 30 Tagen vorgesehen, innerhalb derer der Versicherte die Überprüfung dieser Entwürfe beantragen kann. Geht bis zum Ablauf dieser Frist kein Antrag auf Einholung eines Gutachtens ein, so trifft die Anstellungsbehörde ihre Entscheidung entsprechend dem übermittelten Entwurf. |
108 |
Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass – wie die Kommission zu Recht hervorhebt – Entscheidungen, die wie im vorliegenden Fall im Rahmen eines Antrags auf Kostenerstattung gemäß Art. 9 Abs. 1 der Sicherungsregelung erlassen werden, nicht in den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 18 der Sicherungsregelung fallen. Dieser Artikel betrifft nämlich „die Entscheidung über das Vorliegen eines Unfalls – unabhängig davon, ob dieser dienstlichen oder außerdienstlichen Risiken zuzuordnen ist – und die damit verbundene Entscheidung über die Anerkennung einer Krankheit als Berufskrankheit oder über den Grad einer dauernden Invalidität“. Dieser Wortlaut ist klar und kann nicht dahin ausgelegt werden, dass auch Entscheidungen über Anträge auf Kostenerstattung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Sicherungsregelung umfasst sind. |
109 |
Außerdem geht es entgegen dem Vorbringen des Klägers nicht darum, ein Recht auf Anwendung des gesamten für einen Erstattungsantrag vorgesehenen Verfahrens festzustellen, sondern darum, das Verfahren für die Benennung des „anderen Arztes“ zu bestimmen, das bei fehlendem Einvernehmen zwischen den Parteien hinsichtlich dieser Benennung zur Anwendung kommt. Zu diesem Punkt enthält Art. 23 der Sicherungsregelung nämlich keine Lücke, auf die die Anwendung des gesamten Verfahrens nach Art. 22 der Regelung gestützt werden könnte. |
110 |
Daher betreffen die nach Art. 9 Abs. 1 der Sicherungsregelung erlassenen Entscheidungen andere Fallgestaltungen als von Art. 18 umfasste Fälle und unterliegen dem Verfahren nach Art. 23. |
111 |
Aus der oben in Rn. 110 getroffenen Feststellung geht hervor, dass sich der Kläger nicht darauf berufen kann, dass die Anstellungsbehörde im vorliegenden Fall entschieden habe, für die Benennung des „anderen Arztes“ im Sinne von Art. 23 der Sicherungsregelung teilweise und analog auf das in Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 der Sicherungsregelung vorgesehene Verfahren zurückzugreifen, um dann daraus abzuleiten, dass auf seinen Erstattungsantrag vielmehr das gesamte in Art. 22 vorgesehene Verfahren anzuwenden sei. Auch aus der Feststellung des von der Anstellungsbehörde benannten Arztes, es seien keine Kosten zu erstatten, kann kein Anspruch auf Befassung des Ärzteausschusses abgeleitet werden. Der erste in der streitigen Entscheidung genannte Grund ist demnach insoweit stichhaltig, als Art. 22 der Sicherungsregelung auf Entscheidungen über die Erstattung von Krankheitskosten nicht anwendbar ist. |
112 |
Als Zweites ist unter Berücksichtigung der oben in Rn. 110 getroffenen Feststellung zu prüfen, ob der Rückgriff auf das in Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 der Sicherungsregelung vorgesehene Verfahren zur Benennung des „anderen Arztes“ im Sinne von Art. 23 der Regelung im Wege der Analogie, wie vom Kläger beanstandet und von der Kommission vertreten, rechtmäßig ist. |
113 |
Aus dem Wortlaut von Art. 9 („Kostenerstattungen“) Abs. 1 der Sicherungsregelung geht hervor, dass dieser Artikel einen Anspruch auf Erstattung „der … durch die Verletzung und deren Folgen notwendig gewordenen Behandlungs- und Pflegekosten sowie gegebenenfalls der zur funktionalen Rehabilitation und zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit notwendigen Kosten“ begründet. Dagegen enthält er keine näheren Angaben zum Verfahren für Anträge auf Erstattung von Krankheitskosten. |
114 |
Insoweit ist auf Art. 23 Abs. 1 der Sicherungsregelung zu verweisen, der mit seinem übrigen sachlichen Anwendungsbereich das Verfahren festlegt, das für Entscheidungen in Fällen gilt, die nicht unter Art. 18 der Sicherungsregelung fallen, wie etwa die streitige Entscheidung. |
115 |
Zwar legt Art. 23 Abs. 1 („Gutachten eines anderen Arztes“) der Sicherungsregelung entsprechend dem Vorbringen der Parteien nicht ausdrücklich fest, welches Verfahren zur Benennung des „anderen Arztes“ zur Anwendung kommt, um gegebenenfalls eine Lösung für fehlendes Einvernehmen zwischen dem von der Anstellungsbehörde benannten Arzt und dem vom Versicherten benannten Arzt zu finden. |
116 |
Der Grundsatz der Rechtssicherheit rechtfertigt jedoch eine sich an den Bestimmungen des Unionsrechts orientierende Auslegung, um ein hohes Maß an Vorhersehbarkeit zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 22. Mai 2008, Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline, C‑462/06, EU:C:2008:299, Rn. 32 und 33). Um eine solche Vorhersehbarkeit zu gewährleisten, ist es geboten, dem Wortlaut der ausgelegten Bestimmungen so weit wie möglich treu zu bleiben. |
117 |
Ließe man zu, dass bei fehlendem Einvernehmen zwischen dem von der Anstellungsbehörde benannten Arzt und dem vom Versicherten benannten Arzt über die Benennung des „anderen Arztes“ das Verfahren nach Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 der Sicherungsregelung zur Anwendung kommt, bestünde die Gefahr, dass der Anwendungsbereich des Gutachtenverfahrens, so wie dieses von seinen Urhebern ursprünglich gedacht war, verändert würde. Wie aus der Präambel der Sicherungsregelung ersichtlich, haben zudem die Organe, und nicht das Gericht, im gegenseitigen Einvernehmen die Sicherungsregelung zu treffen und folglich gegebenenfalls ein solches Verfahren vorzusehen oder ausdrücklich auf Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 der Sicherungsregelung zu verweisen. |
118 |
Außerdem ist nach gefestigter Rechtsprechung eine Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts „im Licht“ des rechtlichen Kontexts, in den sie sich einfügt, oder ihres Zwecks zur Auflösung einer widersprüchlichen Formulierung zwar grundsätzlich möglich, eine solche Auslegung darf aber nicht dazu führen, dass dem klaren und genauen Wortlaut dieser Bestimmung jede praktische Wirksamkeit genommen wird, da sie andernfalls nicht mit den Anforderungen des Grundsatzes der Rechtssicherheit vereinbar wäre (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Dezember 2005, EZB/Deutschland, C‑220/03, EU:C:2005:748, Rn. 31, vom 15. Juli 2010, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑582/08, EU:C:2010:429, Rn. 46, 49 und 51 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 22. September 2016, Parlament/Rat, C‑14/15 und C‑116/15, EU:C:2016:715, Rn. 70). |
119 |
Da die Organe weder ausdrücklich vorgesehen haben, dass der Präsident des Gerichtshofs den „anderen Arzt“ benennt, noch ihr Einverständnis zu dieser analogen Anwendung erklärt haben, kann das Gericht dies nicht im Rahmen der richterlichen Rechtsfortbildung vorgeben. Insoweit darf das Gericht den klaren und genauen Wortlaut einer Bestimmung nicht außer Acht lassen, die lediglich die Möglichkeit vorsieht, einen „anderen Arzt“ zu benennen, den der von der Anstellungsbehörde bestellte Arzt im Einvernehmen mit dem von dem Versicherten benannten Arzt auswählt. Folglich durfte die Kommission im vorliegenden Fall Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 der Sicherungsregelung nicht analog anwenden. |
120 |
Als Drittes vermag das Vorbringen der Kommission die in der vorstehenden Randnummer getroffene Feststellung nicht in Frage zu stellen. Die Kommission rechtfertigt die analoge Anwendung des in Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 der Sicherungsregelung vorgesehenen Grundsatzes der Benennung eines „dritten Arztes“ mit der Notwendigkeit, einen Ausweg aus der festgefahrenen Situation zu finden, die auf der Unmöglichkeit beruhe, einen „anderen Arzt“ im Sinne von Art. 23 der Sicherungsregelung zu benennen, sowie damit, dass der fragliche Artikel keine ausdrückliche Regelung für einen solchen Fall enthalte. Außerdem sei die gewählte Vorgehensweise ausgewogen und ermögliche einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des ehemaligen Beamten und jenen der Verwaltung. Diese Entscheidung beruhe auf der Fürsorgepflicht des Organs und dem von ihm zu beachtenden Grundsatz der guten Verwaltung. |
121 |
Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Argument der Kommission, Art. 23 der Sicherungsregelung sei wegen der Notwendigkeit, eine Lösung für die festgefahrene Situation des vorliegenden Falles zu finden, bei fehlendem Einvernehmen über die Benennung eines „anderen Arztes“ so zu verstehen, dass er einen analogen Rückgriff auf das Verfahren nach Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 der Sicherungsregelung vorsehe, nicht mit dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung vereinbar ist und auch auf keine anderen Bestimmungen der Sicherungsregelung gestützt werden kann. |
122 |
Im Übrigen ist festzustellen, dass das Vorbringen der Kommission, wonach die Entscheidung, auf den in Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 der Sicherungsregelung vorgesehenen Grundsatz der Benennung eines dritten Arztes zurückzugreifen, ausgewogen sei und einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des ehemaligen Beamten und jenen der Verwaltung ermögliche, vom Kläger bestritten wird. Insbesondere sein Vorbringen zum unbekannten Inhalt des Auftrags des vom Präsidenten des Gerichtshofs benannten „anderen Arztes“, zu den Unterlagen, die diesem ohne Kontrollrecht des Klägers übermittelt würden, und zur Bestandskraft der Entscheidung in diesem Ad-hoc-Überprüfungsverfahren zeugt zumindest davon, dass der Kläger in Abrede stellt, dass diese Wahl ausgewogen sei und einen Ausgleich der Interessen der Beteiligten darstelle. Bei einem Ad-hoc-Verfahren wie dem in Rede stehenden kann das Vorbringen des Klägers nämlich dahin ausgelegt werden, dass damit die Nichtbeachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit aufgrund fehlender Vorhersehbarkeit des Verfahrens geltend gemacht wird. |
123 |
Überdies kann der Umstand, dass andere Bestimmungen der Sicherungsregelung ein ähnliches Verfahren vorsehen oder dass dieses durch die Fürsorgepflicht des Organs und den von ihm zu beachtenden Grundsatz der guten Verwaltung gerechtfertigt ist, nicht als Rechtfertigung dienen, der Auslegung von Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 1 der Sicherungsregelung in der streitigen Entscheidung zu folgen. |
124 |
Nach ständiger Rechtsprechung spiegelt die Fürsorgepflicht das Gleichgewicht zwischen den wechselseitigen Rechten und Pflichten wider, die die Beschäftigungsbedingungen und die Dienstvorschriften in den Beziehungen zwischen der Behörde und den öffentlichen Bediensteten geschaffen haben, was insbesondere bedeutet, dass die Behörde bei der Entscheidung über die Stellung eines Beamten alle Gesichtspunkte berücksichtigt, die geeignet sind, sie in ihrer Entscheidung zu leiten, und dass sie dabei nicht nur dem dienstlichen Interesse, sondern auch dem Interesse des betroffenen Beamten Rechnung trägt. Diese letztgenannte Verpflichtung wird der Verwaltung durch den in Art. 41 der Charta der Grundrechte verankerten Grundsatz der guten Verwaltung auferlegt (vgl. Urteile vom 5. Dezember 2006, Angelidis/Parlament, T‑416/03, EU:T:2006:375, Rn. 117 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 13. Dezember 2017, Arango Jaramillo u. a./EIB, T‑482/16 RENV, EU:T:2017:901, Rn. 131 [nicht veröffentlicht] und die dort angeführte Rechtsprechung). |
125 |
Außerdem sind die Verpflichtungen, die sich für die Verwaltung aus der Fürsorgepflicht ergeben, erheblich strenger, wenn es um die Situation eines Beamten geht, dessen physische oder psychische Gesundheit erwiesenermaßen beeinträchtigt ist (vgl. Urteil vom 18. November 2014, McCoy/Ausschuss der Regionen, F‑156/12, EU:F:2014:247, Rn. 106 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. in diesem Sinne entsprechend auch Urteil vom 7. November 2019, WN/Parlament, T‑431/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:781, Rn. 106). |
126 |
Im Rahmen der Fürsorgepflicht muss der Schutz der Rechte und Interessen der Beamten jedoch immer seine Grenzen in der Beachtung der geltenden Vorschriften finden (vgl. Urteil vom 5. Dezember 2006, Angelidis/Parlament, T‑416/03, EU:T:2006:375, Rn. 117 und die dort angeführte Rechtsprechung). Sie darf insbesondere nicht dazu führen, dass die Verwaltung einer unionsrechtlichen Vorschrift eine Wirkung verleiht, die deren klarem und eindeutigem Wortlaut zuwiderläuft (Urteile vom 27. Juni 2000, K/Kommission, T‑67/99, EU:T:2000:169, Rn. 68, und vom 26. März 2020, Teeäär/EZB, T‑547/18, EU:T:2020:119, Rn. 87 bis 89). |
127 |
Im vorliegenden Fall fällt die streitige Entscheidung zwar in den allgemeineren Rahmen eines Antrags auf Erstattung von Krankheitskosten, der mit der Berufskrankheit des Klägers zusammenhängen soll, doch dass die Verpflichtungen der Verwaltung, die sich aus der Fürsorgepflicht ergeben, erheblich strenger sind, bedeutet nicht, dass die Kommission gegen den klaren und genauen Wortlaut von Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 1 der Sicherungsregelung verstoßen darf. Zwar ist die Kommission aufgrund der Fürsorgepflicht tatsächlich verpflichtet, eine Lösung für die festgefahrene Situation zu finden, doch muss diese Lösung den bestehenden rechtlichen Rahmen achten. |
128 |
Folglich kann sich die Kommission nicht auf die Fürsorgepflicht berufen, um die analoge Anwendung des in Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 der Sicherungsregelung vorgesehenen Grundsatzes der Benennung eines dritten Arztes zu rechtfertigen, da Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Regelung einer solchen Anwendung entgegensteht und im Übrigen mit keinem allgemeinen Rechtsgrundsatz unvereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Februar 2011, Marcuccio/Kommission, F‑81/09, EU:F:2011:13, Rn. 55). |
129 |
Als Viertes kann die oben in Rn. 119 getroffene Feststellung auch nicht durch das Vorbringen des Klägers in Frage gestellt werden. Zunächst macht er im Wesentlichen geltend, dass er Anspruch auf Anwendung des Verfahrens nach Art. 22 der Sicherungsregelung zur Einholung des Gutachtens des Ärzteausschusses habe, da die Stellungnahme eines Kollegialorgans mehr Sicherheit biete als die eines einzigen Arztes zu einer Akte und im Rahmen eines Auftrags, die praktisch geheim seien. Insoweit scheint er sich insbesondere auf die Wahrung seiner Verteidigungsrechte im Rahmen von Art. 23 der Sicherungsregelung zu beziehen, und zwar sowohl während des Prüfungsverfahrens, das zur Annahme des Entscheidungsentwurfs vom 30. Juni 2017 geführt hat, als auch während des derzeit anhängigen Überprüfungsverfahrens. Insbesondere erwähnt er zum einen die Berücksichtigung seiner persönlichen medizinischen Akte und seiner Vorgeschichte im Zusammenhang mit der Berufskrankheit und zum anderen die Zurverfügungstellung angemessener Unterlagen zum vorliegenden Fall durch den Arzt des Versicherten an den „anderen Arzt“. |
130 |
Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die von der Anstellungsbehörde benannten Ärzte im Rahmen der konkreten und ausführlichen Prüfung des ihnen vorgelegten Falles auf der Grundlage der wissenschaftlichen Literatur zu entscheiden haben, sie aber den tatsächlichen und vollständigen Gesundheitszustand der betroffenen Person nicht unberücksichtigt lassen dürfen. Im Übrigen folgt diese Verpflichtung zur Berücksichtigung der persönlichen Situation des Versicherten zwingend aus der Fürsorgepflicht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Dezember 2009, Kommission/Birkhoff, T‑377/08 P, EU:T:2009:485, Rn. 88, und vom 25. Mai 2016, GW/Kommission, F‑111/15, EU:F:2016:122, Rn. 40). |
131 |
Daher muss auch der „andere Arzt“, der mit der Überprüfung betraut ist, ob die Erstattung der medizinischen Leistung im Hinblick auf die Berufskrankheit des Klägers angebracht ist, den Umfang und die Folgen dieser Krankheit kennen und Zugang zum Inhalt der Entscheidungen haben. |
132 |
Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass der Arzt, damit er ein ärztliches Gutachten ordnungsgemäß abgeben kann, von allen Unterlagen Kenntnis nehmen können muss, die möglicherweise für seine Beurteilung sachdienlich sind (vgl. entsprechend Urteile vom 15. Juli 1997, R/Kommission, T‑187/95, EU:T:1997:119, Rn. 49, und vom 29. Februar 2012, AM/Parlament, F‑100/10, EU:F:2012:24, Rn. 92). So hat der vom Versicherten benannte Arzt, wie von der Kommission zu Recht vorgebracht, die Möglichkeit, seinen Standpunkt darzulegen und ihn unter Vorlage ergänzender Unterlagen zu verteidigen. |
133 |
Das Vorbringen des Klägers, mit dem dargetan werden soll, dass die Ärzte der Kommission im Licht des Urteils vom 24. Oktober 1996, Kommission/Royale belge (C‑76/95, EU:C:1996:406), nicht unparteiisch seien, ist unbegründet und vermag die oben in Rn. 119 getroffene Feststellung nicht in Frage zu stellen. Mit diesem allgemein formulierten Vorbringen und dem knappen Rechtsprechungsverweis legt der Kläger nämlich nicht dar, inwiefern und gegenüber welcher konkreten Einrichtung es den vom Organ benannten Ärzten im vorliegenden Fall beim Erlass einer Entscheidung über die Erstattung der verlangten Kosten an Unparteilichkeit gefehlt haben solle. |
134 |
Folglich bieten das Prüfungs- und das Überprüfungsverfahren nach Art. 23 der Sicherungsregelung hinreichende Sicherheiten für die Wahrung der Verteidigungsrechte des Klägers bei der Prüfung seines Antrags auf Kostenerstattung, so dass er nicht die Einrichtung eines Ärzteausschusses beanspruchen kann, damit die Wahrung dieser Rechte gewährleistet ist. |
135 |
Daher ist der zweite Grund der streitigen Entscheidung, wonach die Verwaltung beschlossen hat, sich an der in Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 der Sicherungsregelung vorgesehenen Regel zu orientieren und den Präsidenten des Gerichtshofs zu ersuchen, einen „anderen Arzt“ zu benennen, rechtsfehlerhaft. |
136 |
Aus der Rechtsprechung ergibt sich allerdings, dass sich, soweit bestimmte Gründe einer Entscheidung diese für sich allein rechtlich hinreichend rechtfertigen können, etwaige Mängel der übrigen Begründung des Rechtsakts keinesfalls auf dessen verfügenden Teil auswirken. Zudem ist, sofern der verfügende Teil einer Entscheidung der Kommission auf mehreren Begründungspfeilern ruht, von denen jeder für sich allein ausreichen würde, um ihn zu tragen, dieser Rechtsakt grundsätzlich nur dann für nichtig zu erklären, wenn jeder dieser Pfeiler rechtswidrig ist. Ein Fehler oder sonstiger Rechtsverstoß, der nur einen Begründungspfeiler berührt, genügt in diesem Fall nicht, um die Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung zu rechtfertigen, da er den von dem Organ, das Urheber dieser Entscheidung ist, beschlossenen verfügenden Teil nicht entscheidend beeinflussen konnte (vgl. Urteil vom 10. November 2017, Icap u. a./Kommission, T‑180/15, EU:T:2017:795, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
137 |
Im vorliegenden Fall kann der Rechtsfehler, der dem zweiten Grund der streitigen Entscheidung anhaftet, nicht zu deren Aufhebung führen, da er keinen Einfluss auf ihr Ergebnis haben konnte. Entsprechend der Feststellung des Gerichts oben in den Rn. 110 und 111 ist nämlich der erste Grund der streitigen Entscheidung, wonach das Verfahren nach Art. 22 der Sicherungsregelung nicht für Entscheidungen über die Erstattung von Krankheitskosten gelte, zutreffend und reicht aus, um die in der streitigen Entscheidung ausgesprochene Weigerung, den Ärzteausschuss zu befassen, rechtlich hinreichend zu rechtfertigen. |
138 |
Folglich sind der erste und der vierte Klageantrag als unbegründet zurückzuweisen. [nicht übersetzt] |
Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden: |
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Gervasoni Frendo Martín y Pérez de Nanclares Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. Juni 2021. Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.
( 1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.