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Document 62018CJ0265

Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 2. Mai 2019.
Valstybinė mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos gegen Akvilė Jarmuškienė.
Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Sonderregelung für Kleinunternehmen – Art. 282 bis 292 – Mehrwertsteuerbefreiung zugunsten von Kleinunternehmen, deren Jahresumsatz unter der festgelegten Schwelle liegt – Gleichzeitige Lieferung von zwei unbeweglichen Gegenständen mit einem einzigen Umsatz – Übersteigen der Jahresumsatzgrenze bei Zugrundelegung des Verkaufspreises eines der beiden Gegenstände – Pflicht zur Entrichtung der Steuer auf den Gesamtwert des Umsatzes.
Rechtssache C-265/18.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2019:348

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

2. Mai 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Sonderregelung für Kleinunternehmen – Art. 282 bis 292 – Mehrwertsteuerbefreiung zugunsten von Kleinunternehmen, deren Jahresumsatz unter der festgelegten Schwelle liegt – Gleichzeitige Lieferung von zwei unbeweglichen Gegenständen mit einem einzigen Umsatz – Übersteigen der Jahresumsatzgrenze bei Zugrundelegung des Verkaufspreises eines der beiden Gegenstände – Pflicht zur Entrichtung der Steuer auf den Gesamtwert des Umsatzes“

In der Rechtssache C‑265/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) mit Entscheidung vom 11. April 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 17. April 2018, in dem Verfahren

Valstybinė mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos

gegen

Akvilė Jarmuškienė,

Beteiligte:

Vilniaus apskrities valstybinė mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richter E. Juhász (Berichterstatter) und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der litauischen Regierung, vertreten durch R. Krasuckaitė und V. Vasiliauskienė als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 282 bis 292 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Valstybinė mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos (Staatliche Steuerinspektion beim Finanzministerium der Republik Litauen, im Folgenden: staatliche Steuerinspektion) und Frau Akvilė Jarmuškienė wegen der Weigerung, ihr im Rahmen eines die Lieferung eines Hauses und des Grundstücks, auf dem es errichtet ist, betreffenden wirtschaftlichen Umsatzes eine Mehrwertsteuerbefreiung zu gewähren.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Nach dem 49. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie sollte den Mitgliedstaaten „[i]n Bezug auf Kleinunternehmen … gestattet werden, ihre Sonderregelungen gemäß gemeinsamen Bestimmungen im Hinblick auf eine weiter gehende Harmonisierung beizubehalten“.

4

Kapitel 1 („Lieferung von Gegenständen“) von Titel IV („Steuerbarer Umsatz“) der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält Art. 14. Dieser Artikel sieht in Abs. 1 vor, dass als „Lieferung von Gegenständen“ die Übertragung der Befähigung gilt, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.

5

In Abschnitt 2 („Steuerbefreiungen und degressive Steuerermäßigungen“) von Kapitel 1 („Sonderregelung für Kleinunternehmen“) von Titel XII („Sonderregelungen“) der Mehrwertsteuerrichtlinie sind die Art. 282 bis 292 enthalten.

6

Gemäß Art. 282 der Mehrwertsteuerrichtlinie gelten die Steuerbefreiungen und ‑ermäßigungen nach diesem Abschnitt für Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen, die von Kleinunternehmen bewirkt werden (im Folgenden: Sonderregelung für Kleinunternehmen).

7

In Art. 287 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„Mitgliedstaaten, die nach dem 1. Januar 1978 beigetreten sind, können Steuerpflichtigen eine Steuerbefreiung gewähren, wenn ihr Jahresumsatz den in Landeswährung ausgedrückten Gegenwert der folgenden Beträge nicht übersteigt, wobei der Umrechnungskurs am Tag des Beitritts zugrunde zu legen ist:

11.

Litauen: 29000 [Euro];

…“

8

Art. 288 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Der Umsatz, der bei der Anwendung der Regelung dieses Abschnitts zugrunde zu legen ist, setzt sich aus folgenden Beträgen ohne Mehrwertsteuer zusammen:

1.

Betrag der Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, soweit diese besteuert werden;

2.

Betrag der gemäß Artikel 110, Artikel 111 und Artikel 125 Absatz 1 sowie Artikel 127 und Artikel 128 Absatz 1 mit Recht auf Vorsteuerabzug von der Steuer befreiten Umsätze;

3.

Betrag der gemäß den Artikeln 146 bis 149 sowie den Artikeln 151, 152 und 153 von der Steuer befreiten Umsätze;

4.

Betrag der Umsätze mit Immobilien, der in Artikel 135 Absatz 1 Buchstaben b bis g genannten Finanzgeschäfte sowie der Versicherungsdienstleistungen, sofern diese Umsätze nicht den Charakter von Nebenumsätzen haben.

Veräußerungen von körperlichen oder nicht körperlichen Investitionsgütern des Unternehmens bleiben bei der Ermittlung dieses Umsatzes jedoch außer Ansatz.“

9

In Art. 1 des Durchführungsbeschlusses 2011/335/EU des Rates vom 30. Mai 2011 zur Ermächtigung der Republik Litauen, eine von Artikel 287 der Richtlinie 2006/112 abweichende Regelung anzuwenden (ABl. 2011, L 150, S. 6), heißt es, dass „[a]bweichend von Artikel 287 Nummer 11 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] … die Republik Litauen ermächtigt [wird], Steuerpflichtigen, deren Jahresumsatz den in Landeswährung ausgedrückten Gegenwert von 45000 [Euro] zu dem am Tag ihres Beitritts zur Europäischen Union geltenden Umrechnungskurs nicht übersteigt, eine Mehrwertsteuerbefreiung zu gewähren“.

Litauisches Recht

10

In Art. 4 Abs. 1 Nr. 1 des Lietuvos Respublikos pridėtinės vertės mokesčio įstatymas (Gesetz der Republik Litauen über die Mehrwertsteuer) in der durch das Gesetz Nr. XI-1817 vom 20. Dezember 2011 geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) heißt es:

„Als Lieferung von Gegenständen gilt:

1)

die Lieferung von Gegenständen an eine andere Person, wenn diese Person oder ein Dritter gemäß den Bedingungen dieses Rechtsgeschäfts die Befähigung erwirbt, wie ihr Eigentümer über diese Gegenstände zu verfügen …“

11

In Art. 71 Abs. 1, 2 und 4 dieses Gesetzes heißt es:

„1.   Steuerpflichtige, die im Inland Gegenstände liefern, sind zur mehrwertsteuerlichen Registrierung … verpflichtet. Ein Steuerpflichtiger muss die mehrwertsteuerliche Registrierung beantragen.

2.   Ungeachtet des Abs. 1 ist ein Steuerpflichtiger der Republik Litauen nicht verpflichtet, gemäß den Vorgaben dieses Gesetzes für gelieferte Gegenstände … und/oder erbrachte Dienstleistungen eine mehrwertsteuerliche Registrierung zu beantragen, Mehrwertsteuer zu berechnen und diese an den Staat abzuführen, wenn der jährliche Gesamtbetrag der Gegenleistungen in den letzten zwölf Monaten für im Inland gelieferte Gegenstände und/oder erbrachte Dienstleistungen im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit 155000 LTL nicht übersteigt. Mehrwertsteuer ist ab dem Monat zu berechnen, in dem diese Grenze überstiegen wird. Übersteigt die Gegenleistung für gelieferte Gegenstände und erbrachte Dienstleistungen den Betrag von 155000 LTL nicht, wird keine Mehrwertsteuer berechnet. …

4.   Wird keine mehrwertsteuerliche Registrierung beantragt, befreit dies den Steuerpflichtigen nicht von der Verpflichtung, Mehrwertsteuer in Bezug auf die von ihm gelieferten Gegenstände und/oder erbrachten Dienstleistungen zu berechnen.“

12

Art. 92 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes sieht vor:

„Ein Steuerpflichtiger, der verpflichtet war, gemäß Art. 71 dieses Gesetzes … die mehrwertsteuerliche Registrierung zu beantragen, dieses jedoch versäumt hat, hat gemäß dem in dieser Vorschrift festgelegten Verfahren Mehrwertsteuer auf Gegenstände und Dienstleistungen zu berechnen und an den Staat abzuführen, für die er gemäß den Bestimmungen [des Mehrwertsteuergesetzes] als Steuerpflichtiger verpflichtet wäre, Mehrwertsteuer zu berechnen und zu zahlen. Der auf die gelieferten Gegenstände und/oder erbrachten Dienstleistungen zu zahlende Mehrwertsteuerbetrag ist gemäß der folgenden Formel zu ermitteln (… auf gelieferte Gegenstände und erbrachte Dienstleistungen, für die die Gegenleistung den in diesem Gesetz festgelegten Betrag von 155000 LTL nicht übersteigt, wird keine Mehrwertsteuer berechnet; wird die festgelegte Grenze jedoch überschritten, ist auf alle diejenigen gelieferten Gegenstände und/oder erbrachten Dienstleistungen Mehrwertsteuer zu berechnen, die die Grenze übersteigen):

zu zahlender Mehrwertsteuerbetrag = Gegenleistung*S/(100 %+S),

wobei S den in diesem Gesetz für diese Gegenstände und/oder Dienstleistungen festgelegten Mehrwertsteuersatz (%) bezeichnet; * ist ein Multiplikationszeichen.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

13

Mit Kaufvertrag vom 10. Februar 2011 erwarb Frau Jarmuškienė gemeinsam mit einer anderen natürlichen Person (Miteigentümer) ein Grundstück zur landwirtschaftlichen Nutzung. Am 4. Juli 2011 erhielt sie für dieses Grundstück eine Baugenehmigung. In der Folge wurden auf dem erworbenen Grundstück ein Wohnhaus und zwei Gebäude für ländlichen Tourismus errichtet.

14

Am 28. Dezember 2012 verkauften Frau Jarmuškienė und der Miteigentümer das Wohnhaus mit einem Teil des Grundstücks für einen Betrag von 450000 LTL (etwa 130329 Euro) (im Folgenden: in Rede stehender Umsatz). Von diesem Verkaufspreis erhielt Frau Jarmuškienė 112500 LTL (etwa 32437 Euro) für einen Teil des Grundstücks und 150000 LTL (etwa 43443 Euro) für einen Teil des auf diesem Grundstück errichteten Wohnhauses.

15

Im Zuge einer Mehrwertsteuerprüfung für den Zeitraum 2012–2013 befand die örtliche Steuerverwaltung in ihrer Entscheidung vom 23. Oktober 2015, dass der in Rede stehende Umsatz nicht einmalig oder unzusammenhängend verwirklicht worden sei, sondern dass Frau Jarmuškienė einer wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne des Mehrwertsteuergesetzes nachgehe. Frau Jarmuškienė hätte folglich einen Betrag von 45558 LTL (etwa 13195 Euro) an vereinnahmter Mehrwertsteuer – berechnet auf den Gesamtbetrag, den sie aus dem in Rede stehenden Umsatz erhalten habe, nämlich 262500 LTL (etwa 76025 Euro) – erklären müssen. Da sich der Vorsteuerbetrag für die das Wohngebäude betreffenden Bauarbeiten auf 21000 LTL (etwa 6082 Euro) belaufen habe, hätte Frau Jarmuškienė jedoch diesen Betrag von dem oben genannten Betrag von 45558 LTL (etwa 13195 Euro) abziehen müssen, so dass sie im Rahmen des in Rede stehenden Umsatzes noch einen Betrag von 24558 LTL (7112 Euro) an vereinnahmter Mehrwertsteuer zu entrichten habe. Es habe allerdings noch eine spätere – davon verschiedene – Lieferung stattgefunden, weshalb Frau Jarmuškienė für den Zeitraum 2012–2013 letztlich Mehrwertsteuer in Höhe von 21915,55 Euro, zuzüglich Verzugszinsen in Höhe von 5034 Euro, sowie ein Bußgeld in Höhe von 2192 Euro zu entrichten habe.

16

Frau Jarmuškienė legte gegen diese Entscheidung einen Einspruch bei der staatlichen Steuerinspektion ein, die mit Entscheidung vom 2. Februar 2016 die von der örtlichen Steuerverwaltung festgesetzten Mehrwertsteuerbeträge bestätigte.

17

Frau Jarmuškienė rief sodann die Mokestinių ginčų komisija (Kommission für Steuerstreitigkeiten, Litauen) (im Folgenden: KS) an, die mit Entscheidung vom 9. Mai 2016 die Entscheidung der staatlichen Steuerinspektion vom 2. Februar 2016 aufhob und die Sache zur neuerlichen Prüfung an diese zurückverwies. Zur Stützung ihrer Entscheidung vertrat die KS die Auffassung, dass Frau Jarmuškienė mit dem in Rede stehenden Umsatz zwei voneinander verschiedene Gegenstände, nämlich einen Teil des Grundstücks und einen Teil des Wohnhauses, verkauft habe und dass die örtliche Steuerverwaltung somit zu Unrecht angenommen habe, dass der Verkauf der unbeweglichen Gegenstände anlässlich dieses Umsatzes eine einzige und einheitliche Lieferung von Gegenständen darstelle. Zur maßgeblichen Zeit hätten der Mehrwertsteuer nur die Lieferungen von Gegenständen unterlegen, deren Preis zu einem Übersteigen der im Mehrwertsteuergesetz vorgesehenen Obergrenze geführt habe. Im vorliegenden Fall habe jedoch nur einer der Verkäufe von Gegenständen, um die es in dem in Rede stehenden Umsatz gegangen sei, dazu führen können, dass diese Grenze überschritten werde.

18

Die staatliche Steuerinspektion erhob gegen die Entscheidung der KS vom 9. Mai 2016 eine Klage, mit der sie geltend machte, Frau Jarmuškienė habe mit dem in Rede stehenden Umsatz eine einzige Lieferung von Gegenständen bewirkt, weil die fraglichen Gegenstände nicht voneinander getrennt geliefert werden könnten, untrennbar miteinander verbunden seien und aus wirtschaftlicher Sicht ein Ganzes darstellten.

19

Nachdem das erstinstanzliche Gericht diese Klage abgewiesen hatte, legte die staatliche Steuerinspektion bei dem vorlegenden Gericht, dem Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens), ein Rechtsmittel ein.

20

Das vorlegende Gericht legt dar, dass zur Entscheidung des ihm vorliegenden Rechtsstreits geklärt werden müsse, wie die in den Art. 282 bis 292 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Sonderregelung für Kleinunternehmen unter Umständen wie den in diesem Rechtsstreit in Rede stehenden auszulegen sei, wenn zwei Gegenstände zu einer Lieferung anlässlich desselben Umsatzes gehörten, aber die in Art. 287 der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegte Jahresumsatzgrenze nur aufgrund der Lieferung eines dieser Gegenstände überschritten werde.

21

Auf der einen Seite, so das vorlegende Gericht, wäre es logisch, anzunehmen, dass Steuerpflichtige, für die diese Sonderregelung für Kleinunternehmen gelte, erst ab dem Zeitpunkt Mehrwertsteuer zu entrichten hätten, zu dem die in Art. 287 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Beträge überschritten würden. Nach litauischem Recht sei die Lieferung eines Gebäudes möglich, ohne dass das Eigentumsrecht an dem Grundstück, auf dem das Gebäude errichtet worden sei, übertragen werden müsse, und im vorliegenden Fall seien diese unbeweglichen Gegenstände – mit ihren jeweiligen Verkaufspreisen – im Vertrag getrennt voneinander aufgeführt. Würde es Frau Jarmuškienė versagt, für den einen der Gegenstände, um die es in dem in Rede stehenden Umsatz gegangen sei, in den Genuss der Steuerbefreiung zu gelangen, so läge darin zudem eine Ungleichbehandlung gegenüber einem anderen Steuerpflichtigen, der – wenngleich mit zwei voneinander getrennten Transaktionen – zu demselben Ergebnis gelangt sei und der die Jahresumsatzgrenze nur aufgrund weiterer Umsätze überschreite. Ferner ließen sich die Erkenntnisse aus dem Urteil vom 8. Juni 2000, Breitsohl (C‑400/98, EU:C:2000:304), nicht auf die vorliegende Rechtssache übertragen.

22

Auf der anderen Seite müssten die Bestimmungen der Sonderregelung für Kleinunternehmen – als Ausnahme von der in der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen allgemeinen Regelung – eng ausgelegt werden. Des Weiteren ergebe sich aus dem Wortlaut von Art. 288 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass der „Betrag der Lieferungen von Gegenständen“, der den in Art. 287 der Mehrwertsteuerrichtlinie bezeichneten Umsatz ausmache, konkret den Gesamtbetrag der relevanten Lieferung bezeichne, unabhängig davon, wie viele Gegenstände diese Lieferung umfasse. Unter Bezugnahme auf Rn. 70 des Urteils vom 26. Oktober 2010, Schmelz (C‑97/09, EU:C:2010:632), ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass dieser Ansatz mit dem Ziel dieser Sonderregelung, ausschließlich Kleinunternehmen zu fördern, im Einklang stehe. Im Übrigen müsse ein Steuerpflichtiger bereits vor der Durchführung eines mehrere Gegenstände betreffenden Umsatzes wissen, ob auf diesen zusammengesetzten Umsatz die für Kleinunternehmen geltende Steuerbefreiung zur Anwendung komme.

23

Unter diesen Umständen hat der Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind die Art. 282 bis 292 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass unter Umständen wie denen der vorliegenden Rechtssache, wenn zwei Gegenstände im Rahmen desselben Umsatzes geliefert werden, jedoch die in Art. 287 der Mehrwertsteuerrichtlinie (sowie der entsprechenden nationalen Rechtsvorschrift) festgelegte Jahresumsatzgrenze (Geschäftsvolumen) nur aufgrund der Lieferung eines dieser Gegenstände überschritten wird, der Steuerpflichtige (Lieferer) u. a. verpflichtet ist, Mehrwertsteuer auf den Wert des gesamten Umsatzes (auf den Wert der Lieferung beider Gegenstände) oder nur auf den Teil des Umsatzes, durch den die vorstehend genannte Grenze (Geschäftsvolumen) überschritten wird (auf den Wert der Lieferung eines dieser Gegenstände), zu berechnen und zu entrichten?

Zur Vorlagefrage

24

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 282 bis 292 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass dann, wenn eine Lieferung zugunsten eines einzigen Käufers zwei unbewegliche Gegenstände umfasst, die ihrer Natur nach miteinander verbunden sind und unter einen einzigen Verkaufsvertrag fallen, und die Jahresumsatzgrenze, die für die Anwendung der in dieser Richtlinie vorgesehenen Sonderregelung für Kleinunternehmen zugrunde zu legen ist, überschritten wird, der Steuerpflichtige die Steuer auf der Grundlage des Werts der gesamten in Rede stehenden Lieferung – d. h. unter Zugrundelegung des Werts der beiden von dieser Lieferung umfassten Gegenstände – zu entrichten hat, auch wenn die Jahresumsatzgrenze bei Zugrundelegung des Werts eines dieser Gegenstände nicht überschritten würde.

25

Nach den Art. 282 bis 292 der Mehrwertsteuerrichtlinie können die Mitgliedstaaten Kleinunternehmen eine Mehrwertsteuerbefreiung gewähren.

26

Gemäß Art. 287 der Mehrwertsteuerrichtlinie können Mitgliedstaaten, die nach dem 1. Januar 1978 beigetreten sind, Steuerpflichtigen eine Steuerbefreiung gewähren, wenn ihr Jahresumsatz den in der Landeswährung ausgedrückten Gegenwert der für die dort aufgezählten Mitgliedstaaten jeweils angeführten Beträge nicht übersteigt. Gemäß dem Durchführungsbeschluss 2011/335 wird die Republik Litauen, die im Übrigen in der Zeit nach seinem Inkrafttreten den Euro eingeführt hat, abweichend von Art. 287 Nr. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie ermächtigt, „Steuerpflichtigen, deren Jahresumsatz den in Landeswährung ausgedrückten Gegenwert von 45000 [Euro] zu dem am Tag ihres Beitritts zur Europäischen Union geltenden Umrechnungskurs nicht übersteigt, eine Mehrwertsteuerbefreiung zu gewähren“. Dieser Umsatz wird nach Art. 288 der Mehrwertsteuerrichtlinie berechnet.

27

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs darf die Sonderregelung für Kleinunternehmen als Ausnahme vom gemeinsamen System der Mehrwertsteuerrichtlinie nur angewandt werden, soweit dies zur Erreichung ihres Zieles erforderlich ist. Dabei ist sie eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. September 2006, Kommission/Österreich, C‑128/05, EU:C:2006:612, Rn. 22).

28

Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die Steuerpflichtige mit dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verkauf die Obergrenze überschritten hat, jenseits deren es nicht mehr möglich ist, die Steuerbefreiung für Kleinunternehmen zu erhalten. Das vorlegende Gericht fragt sich allerdings, ob nur der Wert eines der Bestandteile des Umsatzes, der zum Übersteigen dieser Obergrenze geführt hat, der Mehrwertsteuer zu unterwerfen ist.

29

Da bloß diese Frage Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits ist, hat sich der Gerichtshof im vorliegenden Fall nicht mit der Frage zu befassen, ob ein Steuerpflichtiger dann, wenn die in Art. 287 der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegte Obergrenze überschritten wird, sämtliche von ihm durchgeführten Umsätze – einschließlich aller Umsätze, die vor dem Umsatz stattgefunden haben, dessen Wert zum Übersteigen dieser Grenze geführt hat – der Mehrwertsteuer zu unterwerfen hat.

30

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass der Verkauf des Teils des Hauses und des dazugehörenden Grundstücks, um den es im Ausgangsverfahren geht, zugunsten desselben Käufers gemäß einem einzigen Vertrag vorgenommen wurde. Ihr lässt sich ebenfalls entnehmen, dass es sich bei der für die Lieferung dieser unbeweglichen Gegenstände erhaltenen Gegenleistung um einen Gesamtbetrag handelte.

31

Im vorliegenden Fall wurde im Verkaufsvertrag zwar zwischen dem Preis für das Haus und dem für das Grundstück unterschieden. Gleichwohl sind diese Gegenstände sowohl ihrer Natur nach als auch aufgrund ihrer jeweiligen Preise, die gemeinsam bestimmt wurden, eng miteinander verbunden.

32

Nach Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie gilt als „Lieferung von Gegenständen“ die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.

33

Im Ausgangsverfahren wurde die Übertragung der Befähigung, über die unbeweglichen Gegenstände insgesamt zu verfügen, mit demselben Rechtsakt vorgenommen.

34

Im vorliegenden Fall liegt nur eine Lieferung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vor, auch wenn sich diese Lieferung auf zwei Gegenstände bezieht.

35

Die Bestandteile dieser einzigen Lieferung können nämlich nicht aufgespalten werden, weil dies im Hinblick auf das Mehrwertsteuersystem wirklichkeitsfremd wäre (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Januar 2018, Stadion Amsterdam, C‑463/16, EU:C:2018:22, Rn. 22).

36

Daraus folgt, dass die Mehrwertsteuer auf den gesamten Wert des in Rede stehenden Umsatzes zu entrichten ist.

37

Diese Schlussfolgerung wird durch das mit der Sonderregelung für Kleinunternehmen verfolgte Ziel bestätigt. Diese Sonderregelung sieht nämlich Verwaltungsvereinfachungen vor, die zu einer stärkeren Gründung und Tätigkeit von Kleinunternehmen führen und deren Wettbewerbsfähigkeit stärken sowie ein angemessenes Verhältnis zwischen dem mit der Steueraufsicht verbundenen Verwaltungsaufwand und dem zu erwartenden geringen Steueraufkommen wahren sollen. Diese Sonderregelung soll damit sowohl den Kleinunternehmen als auch den Steuerverwaltungen einen solchen Verwaltungsaufwand ersparen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Oktober 2010, Schmelz, C‑97/09, EU:C:2010:632, Rn. 63 und 68).

38

Der auf der betreffenden Steuerbehörde und auf dem Steuerpflichtigen lastende Verwaltungsaufwand würde indessen nicht geringer, wenn in Bezug auf die unterschiedlichen Gegenstände ein und derselben Lieferung, die unter ein und denselben Verkaufsvertrag fallen, getrennte Berechnungen stattfinden müssten.

39

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 282 bis 292 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass dann, wenn eine Lieferung zugunsten eines einzigen Käufers zwei unbewegliche Gegenstände umfasst, die ihrer Natur nach miteinander verbunden sind und unter einen einzigen Verkaufsvertrag fallen, und die Jahresumsatzgrenze, die für die Anwendung der in dieser Richtlinie vorgesehenen Sonderregelung für Kleinunternehmen zugrunde zu legen ist, überschritten wird, der Steuerpflichtige die Steuer auf der Grundlage des Werts der gesamten in Rede stehenden Lieferung – d. h. unter Zugrundelegung des Werts der beiden von dieser Lieferung umfassten Gegenstände – zu entrichten hat, auch wenn die Jahresumsatzgrenze bei Zugrundelegung des Werts eines dieser Gegenstände nicht überschritten würde.

Kosten

40

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Art. 282 bis 292 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass dann, wenn eine Lieferung zugunsten eines einzigen Käufers zwei unbewegliche Gegenstände umfasst, die ihrer Natur nach miteinander verbunden sind und unter einen einzigen Verkaufsvertrag fallen, und die Jahresumsatzgrenze, die für die Anwendung der in dieser Richtlinie vorgesehenen Sonderregelung für Kleinunternehmen zugrunde zu legen ist, überschritten wird, der Steuerpflichtige die Steuer auf der Grundlage des Werts der gesamten in Rede stehenden Lieferung – d. h. unter Zugrundelegung des Werts der beiden von dieser Lieferung umfassten Gegenstände – zu entrichten hat, auch wenn die Jahresumsatzgrenze bei Zugrundelegung des Werts eines dieser Gegenstände nicht überschritten würde.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Litauisch.

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