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Document 62003CJ0213

Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 15. Juli 2004.
Syndicat professionnel coordination des pêcheurs de l'étang de Berre et de la région gegen Électricité de France (EDF).
Ersuchen um Vorabentscheidung: Cour de cassation - Frankreich.
Übereinkommen zum Schutz desMittelmeers vor Verschmutzung (Übereinkommen von Barcelona) - Protokoll über den Schutz des Mittelmeers gegen Verschmutzung vom Lande aus - Artikel 6 Absatz 3 - Einleitungsgenehmigung - Unmittelbare Wirkung.
Rechtssache C-213/03.

Sammlung der Rechtsprechung 2004 I-07357

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2004:464

Arrêt de la Cour

Rechtssache C-213/03


Syndicat professionnel coordination des pêcheurs de l'étang de Berre et de la région
gegen
Électricité de France (EDF)



(Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation [Frankreich])

«Übereinkommen zum Schutz des Mittelmeers vor Verschmutzung (Übereinkommen von Barcelona) – Protokoll über den Schutz des Mittelmeers gegen Verschmutzung vom Lande aus – Artikel 6 Absatz 3 – Einleitungsgenehmigung – Unmittelbare Wirkung»

Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 15. Juli 2004
    

Leitsätze des Urteils

1.
Völkerrechtliche Verträge – Verträge der Gemeinschaft – Unmittelbare Wirkung – Voraussetzungen – Artikel 6 Absatz 3 des Protokolls über den Schutz des Mittelmeers gegen Verschmutzung vom Lande aus und Artikel 6 Absatz 1 des revidierten Protokolls – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Einleitung bestimmter Stoffe einer Genehmigungsregelung zu unterwerfen

(Protokoll über den Schutz des Mittelmeers gegen Verschmutzung vom Lande aus, Artikel 6 Absatz 3, und revidiertes Protokoll, Artikel 6 Absatz 1)

2.
Völkerrechtliche Verträge – Verträge der Gemeinschaft – Artikel 6 Absatz 3 des Protokolls über den Schutz des Mittelmeers gegen Verschmutzung vom Lande aus und Artikel 6 Absatz 1 des revidierten Protokolls – Einleitung nicht toxischer Stoffe – Verbot ohne vorherige Genehmigung

(Protokoll über den Schutz des Mittelmeers gegen Verschmutzung vom Lande aus, Artikel 6 Absatz 3, und revidiertes Protokoll, Artikel 6 Absatz 1)

1.
Eine Bestimmung eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommens ist unmittelbar anwendbar, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Zweck und die Natur des Abkommens eine klare und präzise Verpflichtung enthält, deren Erfüllung und deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängen.
Dies ist der Fall bei Artikel 6 Absatz 3 des Protokolls über den Schutz des Mittelmeers gegen Verschmutzung vom Lande aus sowie bei Artikel 6 Absatz 1 desselben, revidierten Protokolls, die die Mitgliedstaaten klar, präzise und unbedingt verpflichten, die Einleitung von in Anhang II des Protokolls aufgeführten Stoffen von einer Genehmigung durch die zuständigen nationalen Behörden abhängig zu machen, bei der die Bestimmungen in Anhang III des Protokolls ordnungsgemäß zu berücksichtigen sind. Da diese Bestimmungen unmittelbare Wirkung entfalten, hat folglich jeder Betroffene das Recht, sich vor den nationalen Gerichten darauf zu berufen.

(vgl. Randnrn. 39, 41, 47, Tenor 1)

2.
Artikel 6 Absatz 3 des Protokolls über den Schutz des Mittelmeers gegen Verschmutzung vom Lande aus sowie Artikel 6 Absatz 1 desselben, revidierten Protokolls sind dahin auszulegen, dass sie die Einleitung von Stoffen, die zwar nicht toxisch sind, aber den Sauerstoffgehalt des Meeresmilieus beeinträchtigen, ohne Genehmigung der zuständigen nationalen Behörden verbieten, da sie das Erfordernis der vorherigen Genehmigung nicht ausdrücklich an die Toxizität der Stoffe knüpfen.

(vgl. Randnrn. 49, 52, Tenor 2)




URTEIL DES GERICHTSHOFES (Zweite Kammer)
15. Juli 2004(1)

„Übereinkommen zum Schutz desMittelmeers vor Verschmutzung (Übereinkommen von Barcelona) – Protokoll über den Schutz des Mittelmeers gegen Verschmutzung vom Lande aus – Artikel 6 Absatz 3 – Einleitungsgenehmigung – Unmittelbare Wirkung“

In der Rechtssache C-213/03

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG von der französischen Cour de cassation in dem bei dieser anhängigen Rechtsstreit

Syndicat professionnel coordination des pêcheurs de l'étang de Berre et de la région

gegen

Électricité de France (EDF)

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 6 Absatz 3 des am 17. Mai 1980 in Athen unterzeichneten und mit dem Beschluss 83/101/EWG des Rates vom 28. Februar 1983 (ABl. L 67, S. 1) genehmigten Protokolls über den Schutz des Mittelmeers gegen Verschmutzung vom Lande aus und von Artikel 6 Absatz 1 dieses Protokolls in seiner auf der Bevollmächtigtenkonferenz vom 7. und 8. März 1996 in Syrakus geänderten Fassung nach Genehmigung der Änderungen durch den Beschluss 1999/801/EG des Rates vom 22. Oktober 1999 (ABl. L 322, S. 18)erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer),



unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans sowie der Richter C. Gulmann, J.-P. Puissochet, J. N. Cunha Rodrigues und R. Schintgen (Berichterstatter),

Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,
Kanzler: M. Múgica Arzamendi, Hauptverwaltungsrätin,

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

des Syndicat professionnel coordination des pêcheurs de l'étang de Berre et de la région, vertreten durch W. Viscardini, avocat,

der Électricité de France (EDF), vertreten durch O. Coutard und M. Mayer, avocats,

der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und E. Puisais als Bevollmächtigte,

der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch G. Valero Jordana und B. Stromsky als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen des Syndicat professionnel coordination des pêcheurs de l'étang de Berre et de la région, der Électricité de France, der französischen Regierung und der Kommission in der Sitzung vom 10. März 2004,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes



Urteil



1
Die französische Cour de cassation hat mit Urteil vom 6. Mai 2003, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Mai 2003, gemäß Artikel 234 EG zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 6 Absatz 3 des am 17. Mai 1980 in Athen unterzeichneten und mit dem Beschluss 83/101/EWG des Rates vom 28. Februar 1983 (ABl. L 67, S. 1) genehmigten Protokolls über den Schutz des Mittelmeers gegen Verschmutzung vom Lande aus (nachfolgend: Protokoll) und von Artikel 6 Absatz 1 dieses Protokolls in seiner auf der Bevollmächtigtenkonferenz vom 7. und 8. März 1996 in Syrakus geänderten Fassung nach Genehmigung der Änderungen durch den Beschluss 1999/801/EG des Rates vom 22. Oktober 1999 (ABl. L 322, S. 18) (nachfolgend: revidiertes Protokoll) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2
Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Syndicat professionnel coordination des pêcheurs de l’étang de Berre et de la région (nachfolgend: Kläger) und der Électricité de France (nachfolgend: Beklagte) über Einleitungen in den Étang de Berre durch das Wasserkraftwerk Saint‑Chamas (Frankreich).


Rechtlicher Rahmen

3
Das am 16. Februar 1976 in Barcelona unterzeichnete Übereinkommen zum Schutz des Mittelmeers vor Verschmutzung (ABl. 1977, L 240, S. 3, nachfolgend: Übereinkommen) wurde von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit dem Beschluss 77/585/EWG des Rates vom 25. Juli 1977 (ABl. L 240, S. 1) abgeschlossen.

4
Artikel 2 Buchstabe a des Übereinkommens definiert den Begriff „Verschmutzung“ als

„die unmittelbare oder mittelbare Zuführung von Stoffen oder Energie durch den Menschen in die Meeresumwelt, aus der sich abträgliche Wirkungen wie eine Schädigung der lebenden Schätze, eine Gefährdung der menschlichen Gesundheit, eine Behinderung von Tätigkeiten auf See einschließlich der Fischerei, eine Beeinträchtigung des Gebrauchswerts des Meerwassers und eine Verringerung der Annehmlichkeiten der Umwelt ergeben“.

5
Artikel 4 Absatz 1 des Übereinkommens lautet:

„Die Vertragsparteien treffen einzeln oder gemeinsam alle geeigneten Maßnahmen entsprechend diesem Übereinkommen und den in Kraft befindlichen Protokollen, deren Vertragsparteien sie sind, um die Verschmutzung des Mittelmeergebiets zu verhüten, zu verringern und zu bekämpfen und die Meeresumwelt in diesem Gebiet zu schützen und zu pflegen.“

6
Artikel 8 des Übereinkommens bestimmt:

„Die Vertragsparteien treffen alle geeigneten Maßnahmen, um eine Verschmutzung des Mittelmeergebiets durch das Einleiten über Flüsse, küstennahe Betriebe oder Ausflüsse oder durch jede andere an Land befindliche Verschmutzungsquelle innerhalb ihrer Hoheitsgebiete zu verhüten, zu verringern und zu bekämpfen.“

7
Im gleichen Sinn bestimmt Artikel 1 des Protokolls:

„Die Vertragsparteien … ergreifen alle geeigneten Maßnahmen, um die durch Ableitung aus Flüssen, Einrichtungen an der Küste oder durch Flussmündungen oder durch sonstige Quellen auf ihrem Gebiet verursachte Verschmutzung des Mittelmeers zu verhüten, zu verringern, zu bekämpfen und zu überwachen.“

8
In Artikel 3 Buchstabe c des Protokolls heißt es:

„Das von diesem Protokoll erfasste Gebiet – nachstehend als ‚Protokollgebiet‘ bezeichnet – ist:

c)       Salzwassermoore, die mit dem Meer in Verbindung stehen.“

9
Nach Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a gilt das Protokoll für „alle verunreinigenden Ableitungen, die das Protokollgebiet von auf dem Lande gelegenen Quellen auf den Gebieten der Parteien erreichen, insbesondere

unmittelbar durch Mündungs‑Rohrleitungen, die Einleitungen in das Meer einbringen, oder durch Einbringen an der Küste oder von der Küste aus;

mittelbar durch Flüsse, Kanäle oder sonstige Wasserläufe, einschließlich unterirdischer Wasserläufe oder Abflüsse“.

10
In Artikel 6 Absätze 1 und 3 des Protokolls heißt es:

„(1)   Die Parteien führen im Protokollgebiet eine strenge Beschränkung der vom Lande ausgehenden Verschmutzung durch die im Anhang II dieses Protokolls aufgeführten Stoffe oder Quellen ein.

(3)     Für Einleitungen ist zwingend eine Genehmigung der zuständigen nationalen Behörden erforderlich, bei der die Bestimmungen im Anhang III … zu berücksichtigen sind.“

11
Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe e des Protokolls bestimmt:

„(1)   Die Parteien erarbeiten und erlassen schrittweise in Zusammenarbeit mit den zuständigen internationalen Organisationen gemeinsame Leitlinien und gegebenenfalls Normen oder Kriterien, insbesondere betreffend:

e)       besondere Erfordernisse betreffend die Mengen an den in Anhang I und II genannten abgeleiteten Stoffen, ihre Konzentration in den Ableitungen und die Einbringungsverfahren.“

12
Aus den Nummern 11 und 13 des Abschnitts A des Anhangs II des Protokolls ergibt sich, dass „Stoffe, die direkt oder indirekt den Sauerstoffgehalt des Meeresmilieus beeinträchtigen, insbesondere solche, die die Eutrophisierung zur Folge haben können“, und „Stoffe, die – auch wenn sie nicht toxisch sind – wegen der Menge, in der sie eingeleitet werden, für das Meeresmilieu gefährlich werden oder [die rechtmäßige Nutzung des Meeres beeinträchtigen] können“, unter die Regelung des Artikels 6 des Protokolls fallen.

13
Abschnitt B des Anhangs II bestimmt:

„Die Überwachung und strenge Begrenzung von Einleitungen der in Abschnitt A genannten Stoffe ist gemäß Anhang III durchzuführen.“

14
Anhang III des Protokolls führt die Faktoren an, denen „bei der Erteilung einer Genehmigung für die Einleitung von Abfällen, die in Anhang II … genannte Stoffe enthalten,“ Rechnung zu tragen ist. Die Mitgliedstaaten müssen so den „Eigenschaften und [der] Zusammensetzung der Abfälle“, den „Eigenschaften der Abfallkomponenten in Bezug auf ihre Schädlichkeit“, den „Eigenschaften der Orte der Einleitung und des Meeres‑Empfangsmilieus“, den „[v]erfügbare[n] Abfalltechnologien“ und schließlich der „[p]otenzielle[n] Beeinträchtigung der Meeresökosysteme und der Verwendung des Meerwassers“ Rechnung tragen.

15
Nach Artikel 3 Buchstabe d des revidierten Protokolls, der Artikel 3 Buchstabe c des Protokolls entspricht, umfasst das Protokollgebiet:

„…

d)       Brackwässer, Küstensalzwasserläufe einschließlich Küstenweihern und Küstenlagunen sowie unterirdische Wasserläufe, die mit dem Mittelmeer in Verbindung stehen“.

16
Artikel 6 Absatz 1 des revidierten Protokolls bestimmt:

„Für Einleitungen aus Punktquellen im Protokollgebiet sowie die Einleitungen in das Wasser oder die Emission in die Atmosphäre, die das in Artikel 3 Buchstaben a, c und d dieses Protokolls definierte Mittelmeergebiet erreichen und beeinträchtigen können, ist zwingend eine Genehmigung oder Regelung durch die zuständigen Behörden der Vertragsparteien erforderlich, die die Bestimmungen dieses Protokolls und seines Anhangs II sowie die einschlägigen Entscheidungen oder Empfehlungen der Treffen der Vertragsparteien berücksichtigen.“

17
Anhang I C des revidierten Protokolls zählt die „Gruppen von Verschmutzungsstoffen und ‑quellen“ auf, „an denen die Ausarbeitung der Aktionspläne, Programme und Maßnahmen auszurichten ist“. Insbesondere nennt Nummer 17 die „nicht toxischen Stoffe, die sich nachteilig auf den Sauerstoffgehalt des Meeresmilieus auswirken“.

18
Das revidierte Protokoll hebt den früheren Anhang II auf und nummeriert den früheren Anhang III bei gleichzeitiger Änderung in „Anhang II“ um.


Der Ausgangsrechtsstreit und die Vorlagefragen

19
Der in Frankreich belegene Étang de Berre mit einer Fläche von 15 000 Hektar ist ein unmittelbar mit dem Mittelmeer verbundener Salzwasserweiher.

20
Der Kläger beschwerte sich bei der Beklagten mehrfach über die Verschlechterung des Wassers im Étang de Berre, die hauptsächlich durch die Zuführung von Süßwasser aus der Durance, das bei jeder Inbetriebnahme der Turbinen des Wasserkraftwerks Saint‑Chamas auf unnatürliche Weise in diesen Weiher eingeleitet werde, verursacht werde.

21
Am 1. September 1999 beantragte der Kläger im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vor dem Tribunal de grande instance Marseille (Frankreich) gegen die Beklagte wegen offensichtlichen Rechtsverstoßes die einstweilige Stilllegung des Wasserkraftwerks Saint‑Chamas unter Androhung einer Geldbuße für den Fall der Zuwiderhandlung. Der Kläger machte u. a. geltend, dass die Beklagte die Einleitungen aus diesem Kraftwerk ablasse, ohne die nach Artikel 6 Absatz 3 des Protokolls erforderliche vorherige Genehmigung erhalten zu haben.

22
Das Gericht wies den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz mit Beschluss vom 25. Oktober 1999 zurück. Zwar ging es von einer Störung durch die Inbetriebnahme der Turbinen des Wasserkraftwerks aus, war aber folgender Ansicht:

„Was die Anwendung des Gemeinschaftsrechts, insbesondere der Übereinkommen von Barcelona und des Protokolls von Athen anbelangt, …, so wirft die Frage nach ihrer unmittelbaren Wirkung für die Rechtsunterworfenen ebenfalls Streitpunkte auf, die nicht in die Zuständigkeit des Richters in der Hauptsache fallen.

Die Frage, ob der Betrieb des Wasserkraftwerks Saint‑Chamas durch die Beklagte eine offenkundig rechtswidrige Störung darstellt, also einen offensichtlichen Rechtsverstoß, wie er allgemein von der Rechtsprechung verstanden wird, wirft so ernsthafte Streitpunkte auf, dass das Gericht nicht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eingreifen und drei Jahrzehnten des Betriebes ein Ende setzen kann, was im Übrigen eine überaus schwerwiegende Entscheidung wäre, die schwerste Folgen insbesondere auf der Ebene der Stromerzeugung und der Sicherheit des Stromsystems der Region zur Folge hätte …“

23
Der Kläger legte bei der Cour d'appel Aix‑en‑Provence (Frankreich) Berufung gegen dieses Urteil ein, die mit Urteil vom 21. September 2000 zurückgewiesen wurde. Die Cour d'appel nahm u. a. an, dass „die verschiedenen Artikel [des Protokolls] zusammenhängen“ und dass Artikel 6 Absatz 3 „nicht isoliert werden kann, so dass die Beklagte auf der Grundlage dieses Protokolls keinen wirksamen und zweckdienlichen Antrag auf Erteilung einer Einleitungsgenehmigung stellen kann, solange der französische Staat nicht die anwendbaren technischen Kriterien festgelegt hat, weil keine Antwort möglich wäre“.

24
Dagegen legte der Kläger Kassationsbeschwerde ein und machte u. a. einen Verstoß der Beklagten gegen Artikel 6 Absatz 3 des Protokolls geltend, dessen Anwendung von der Cour d'appel zu Unrecht abgelehnt worden sei.

25
Das vorlegende Gericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.
Hat Artikel 6 Absatz 3 des Protokolls, in der revidierten Fassung nunmehr Artikel 6 Absatz 1, unmittelbare Wirkung, so dass sich jeder Betroffene vor den nationalen Gerichten auf ihn zur Begründung einer Klage berufen kann, mit der die Unterlassung der Einleitung von Wasser begehrt wird, die nicht nach dem Verfahren und den Kriterien genehmigt worden ist, die in diesem Artikel vorgesehen sind?

2.
Ist diese Bestimmung dahin auszulegen, dass sie es jedermann verbietet, ohne eine von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten erteilte Genehmigung, die die Bestimmungen des genannten Protokolls und seines Anhangs III C (jetzt Anhang II) berücksichtigt, in einen mit dem Mittelmeer verbundenen Salzwasserweiher Stoffe einzuleiten, die zwar nicht toxisch sind, aber den Sauerstoffgehalt des Meeresmilieus beeinträchtigen?


Zur Erheblichkeit des revidierten Protokolls für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits

26
Nach Ansicht der Beklagten und der französischen Regierung ist nur das Protokoll auszulegen, da das revidierte Protokoll noch nicht in Kraft getreten sei.

27
Nach ständiger Rechtsprechung dient das in Artikel 234 EG vorgesehene Verfahren der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten (siehe u. a. Urteile vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-343/90, Lourenço Dias, Slg. 1992, I-4673, Randnr. 14, und vom 18. März 2004 in der Rechtssache C‑314/01, Siemens und ARGE Telekom, Slg. 2004, I–0000, Randnr. 33 und die dort zitierte Rechtsprechung).

28
Im Rahmen dieser Zusammenarbeit ist das mit dem Rechtsstreit befasste nationale Gericht, das allein über eine unmittelbare Kenntnis des Sachverhalts verfügt und über ihn zu entscheiden hat, am besten in der Lage, im Hinblick auf den Einzelfall sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen, die es dem Gerichtshof vorlegt, zu beurteilen (vgl. insbesondere Urteile Lourenço Dias, Randnr. 15, vom 22. Januar 2002 in der Rechtssache C‑390/99, Canal Satélite Digital, Slg. 2002, I-607, Randnr. 18, und Siemens und ARGE Telekom, Randnr. 34).

29
Im vorliegenden Fall ist durchaus nicht offensichtlich, dass die Auslegung von Artikel 6 Absatz 1 des revidierten Protokolls für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits ohne Nutzen ist. Wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass das revidierte Protokoll, falls das Urteil der Cour d'appel Aix-en-Provence vom vorlegenden Gericht aufgehoben würde, zu dem Zeitpunkt, in dem der Ausgangsrechtsstreit in der Sache neu zu entscheiden wäre, in Kraft getreten sein könnte.

30
Folglich ist bei der Beantwortung der Vorlagefragen auch das revidierte Protokoll zu berücksichtigen.


Zur unmittelbaren Wirkung des Artikels 6 Absatz 3 des Protokolls und des Artikels 6 Absatz 1 des revidierten Protokolls

Erklärungen der Beteiligten

31
Die Beklagte macht geltend, die verschiedenen Bestimmungen des Protokolls hingen zusammen, so dass dessen Artikel 6 Absatz 3 trotz seines klaren und genauen Wortlauts keine unmittelbare Wirkung zuerkannt werden könne.

32
So setze Artikel 6 Absatz 1 des Protokolls das Ziel einer „strenge[n] Beschränkung“ der Verschmutzung durch die in Anhang II aufgeführten Stoffe oder Quellen (einschließlich der Stoffe, die den Sauerstoffgehalt beeinträchtigten) fest. Dazu schreibe Absatz 2 den Vertragsparteien vor, je nach Fall „gemeinsam oder einzeln angemessene Programme und Maßnahmen“ durchzuführen. Schließlich sei nach Absatz 3 für Einleitungen eine „Genehmigung, die die verschiedenen in Anhang III aufgeführten Faktoren berücksichtigt“, erforderlich. Die Verpflichtung zur „Berücksichtigung“ sei aber sehr vage, was ohne weitere Klarstellungen dazu führen könnte, dass jede Einleitung allein deshalb einer Genehmigung unterworfen werde, weil sie sich auf einen der in Anhang II des Protokolls aufgeführten Stoffe beziehe. Gemessen an dem damit verfolgten Zweck sei eine solche Anforderung jedoch völlig unverhältnismäßig.

33
Die Beklagte beruft sich auch auf Artikel 7 Absatz 1 des Protokolls, der die „gemeinsamen Normen oder Kriterien“ betreffe, die erarbeitet werden müssten, bevor ein Genehmigungssystem errichtet werde. Diese Normen und Kriterien seien aber hinsichtlich der fraglichen Einleitungen bis heute noch nicht festgelegt worden.

34
Da außerdem die Gemeinschaft Vertragspartei des Übereinkommens und des Protokolls sei, dürften die zu ihrer Anwendung zu erlassenden Normen hauptsächlich solche des Gemeinschaftsrechts sein. Bis heute gebe es aber keine Richtlinie über die Einleitung von Süßwasser und Schlamm in einen Salzwasserweiher.

35
Der Kläger, die französische Regierung und die Kommission halten Artikel 6 Absatz 3 des Protokolls für unmittelbar anwendbar und stützen sich dabei auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes (siehe u. a. Urteil vom 30. September 1987 in der Rechtssache 12/86, Demirel, Slg. 1987, 3719, Randnr. 14).

36
So enthalte Artikel 6 Absatz 3 des Protokolls in Anbetracht seines Wortlauts sowie des Gegenstands und der Natur des Protokolls die klare, präzise und unbedingte Verpflichtung, die Einleitung von Stoffen, die in Anhang II des Protokolls genannt würden, an die vorherige Erteilung einer Genehmigung durch die zuständigen nationalen Behörden zu knüpfen. Das strikte Verbot der Einleitung ohne eine solche Genehmigung sei in seiner Durchführung oder in seiner Wirkung weder an einen Vorbehalt noch an den Erlass irgendeines weiteren Rechtsakts geknüpft. Außerdem nenne Anhang III des Protokolls, auf den Artikel 6 Absatz 3 verweise, im Einzelnen sämtliche Faktoren, die bei der Erteilung der Genehmigung zu berücksichtigen seien.

37
Nach Ansicht der Kommission hindert das Fehlen von gemeinsam erlassenen Maßnahmen, Programmen und Leitlinien weder die Durchführung des Protokolls noch die Erteilung von Einleitungsgenehmigungen, sondern erhöht den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei der Erteilung solcher Genehmigungen, dessen Ausübung gerichtlich nachprüfbar sei.

38
Der Kläger und die Kommission fügen hinzu, die aus dem revidierten Protokoll folgende Fassung von Artikel 6 und die sonstigen Änderungen, die an den Anhängen vorgenommen worden seien, änderten nichts an der vorstehenden Beurteilung.

Würdigung durch den Gerichtshof

39
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ist eine Bestimmung eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommens unmittelbar anwendbar, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Zweck und die Natur des Abkommens eine klare und präzise Verpflichtung enthält, deren Erfüllung und deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängen (siehe u. a. Urteile Demirel, Randnr. 14, und vom 8. Mai 2003 in der Rechtssache C‑171/01, Wählergruppe Gemeinsam, Slg. 2003, I‑4301, Randnr. 54).

40
Ob Artikel 6 Absatz 3 des Protokolls diesen Kriterien entspricht, ist zunächst anhand seines Wortlauts zu prüfen.

41
Die Bestimmung verpflichtet die Mitgliedstaaten klar, präzise und unbedingt, die Einleitung von in Anhang II des Protokolls aufgeführten Stoffen von einer Genehmigung durch die zuständigen nationalen Behörden abhängig zu machen, bei der die Bestimmungen in Anhang III des Protokolls ordnungsgemäß zu berücksichtigen sind.

42
Dass die nationalen Behörden im Hinblick auf die in Anhang III genannten Kriterien bei der Erteilung der Genehmigungen über einen Ermessensspielraum verfügen, nimmt dem Verbot von Einleitungen ohne vorherige Genehmigung nach Artikel 6 Absatz 3 des Protokolls, wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, nichts von seiner Klarheit, Präzision und Unbedingtheit.

43
Nichts anderes ergibt sich aus Zweck und Natur des Protokolls.

44
Nach seinen Artikeln 1 und 4 bezweckt das Protokoll nämlich, die durch Ableitung aus Flüssen, Einrichtungen an der Küste oder durch Flussmündungen oder durch sonstige Quellen auf dem Land verursachte Verschmutzung des Mittelmeergebiets zu verhüten, zu verringern, zu bekämpfen und zu überwachen. Zu diesem Zweck verpflichtet Artikel 1 des Protokolls unter Wiederholung der nach den Artikeln 4 und 8 des Übereinkommens eingegangenen Verpflichtungen die Vertragsparteien dazu, „alle geeigneten Maßnahmen“ zu ergreifen.

45
Artikel 6 Absatz 3 des Protokolls, der die Einleitung von in Anhang II genannten Stoffen genehmigungspflichtig macht, trägt damit dazu bei, dass die Mitgliedstaaten die Verschmutzung des Protokollgebiets vom Land aus überwachen. Die Anerkennung einer unmittelbaren Wirkung dieser Bestimmung dient dem Zweck des Protokolls, wie er oben festgestellt worden ist, und entspricht der Natur dieses Instruments, mit dem u. a. eine Verschmutzung aufgrund Untätigkeit der Behörden verhütet werden soll.

46
Dasselbe gilt für die Auslegung von Artikel 6 Absatz 1 des revidierten Protokolls. Die darin enthaltene Bezugnahme auf die von den zuständigen nationalen Behörden zu berücksichtigenden „einschlägigen Entscheidungen oder Empfehlungen der Treffen der Vertragsparteien“ nimmt dem Verbot der Einleitung ohne Genehmigung nichts von seiner Klarheit, Präzision und Unbedingtheit. Außerdem haben die mit dem Beschluss 1999/801 genehmigten Änderungen weder Zweck noch Natur des Protokolls geändert.

47
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass sowohl Artikel 6 Absatz 3 des Protokolls als auch Artikel 6 Absatz 1 des revidierten Protokolls nach dessen Inkrafttreten unmittelbare Wirkung entfalten, so dass jeder Betroffene das Recht hat, sich vor den nationalen Gerichten darauf zu berufen.


Zum Anwendungsbereich des Artikels 6 Absatz 3 des Protokolls und des Artikels 6 Absatz 1 des revidierten Protokolls

48
Wie der Kläger, die französische Regierung und die Kommission zu Recht ausgeführt haben, bezieht sich der in Artikel 6 Absatz 3 des Protokolls genannte Anhang III, der die Faktoren aufzählt, denen bei der Erteilung von Genehmigungen zur Einleitung von Abfällen Rechnung zu tragen ist, selbst auf Anhang II, der die Stoffe nennt, die in den fraglichen Abfällen enthalten sind. Dazu gehören gemäß Nummer 11 die „Stoffe, die direkt oder indirekt den Sauerstoffgehalt des Meeresmilieus beeinträchtigen, insbesondere solche, die die Eutrophisierung zur Folge haben können“, und gemäß Nummer 13 die „Stoffe, die – auch wenn sie nicht toxisch sind – wegen der Menge, in der sie eingeleitet werden, für das Meeresmilieu gefährlich werden oder [die rechtmäßige Nutzung des Meeres beeinträchtigen] können“.

49
Die Nummern 11 und 13 machen die Einleitung der von ihnen erfassten Stoffe nicht nur dann genehmigungspflichtig, wenn diese toxisch sind.

50
Das Gleiche gilt für den Anwendungsbereich von Artikel 6 Absatz 1 des revidierten Protokolls.

51
Denn nach dieser Bestimmung ist künftig für sämtliche „Einleitungen aus Punktquellen im Protokollgebiet[, das nach Artikel 3 Buchstabe d des revidierten Protokolls die Salzwasserweiher, die mit dem Mittelmeer in Verbindung stehen, umfasst,] sowie [für] die Einleitungen in das Wasser oder die Emission in die Atmosphäre, die das … Mittelmeergebiet erreichen und beeinträchtigen können“, und nicht mehr nur für die Einleitungen von in Anhang II des Protokolls genannten Stoffen „zwingend eine Genehmigung oder Regelung durch die zuständigen Behörden … erforderlich“, die u. a. die Bestimmungen des revidierten Protokolls und seines Anhangs II berücksichtigen.

52
Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass sowohl Artikel 6 Absatz 3 des Protokolls als auch Artikel 6 Absatz 1 des revidierten Protokolls dahin auszulegen sind, dass sie die Einleitung von Stoffen, die zwar nicht toxisch sind, aber den Sauerstoffgehalt des Meeresmilieus beeinträchtigen, in einen mit dem Mittelmeer verbundenen Salzwasserweiher ohne Genehmigung der zuständigen nationalen Behörden verbieten.


Kosten

53
Die Auslagen der französischen Regierung und der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

auf die ihm von der Cour de cassation mit Urteil vom 6. Mai 2003 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1.
Artikel 6 Absatz 3 des am 17. Mai 1980 in Athen unterzeichneten und mit dem Beschluss 83/101/EWG des Rates vom 28. Februar 1983 genehmigten Protokolls über den Schutz des Mittelmeers gegen Verschmutzung vom Lande aus und – nach seinem Inkrafttreten – Artikel 6 Absatz 1 dieses Protokolls in seiner auf der Bevollmächtigtenkonferenz vom 7. und 8. März 1996 in Syrakus geänderten Fassung nach Genehmigung der Änderungen durch den Beschluss 1999/801/EG des Rates vom 22. Oktober 1999 entfalten unmittelbare Wirkung, so dass jeder Betroffene das Recht hat, sich vor den nationalen Gerichten darauf zu berufen.

2.
Diese Bestimmungen sind dahin auszulegen, dass sie die Einleitung von Stoffen, die zwar nicht toxisch sind, aber den Sauerstoffgehalt des Meeresmilieus beeinträchtigen, in einen mit dem Mittelmeer verbundenen Salzwasserweiher ohne Genehmigung durch die zuständigen nationalen Behörden verbieten.

Timmermans

Gulmann

Puissochet

Cunha Rodrigues

Schintgen

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Juli 2004.

Der Kanzler

Der Präsident der Zweiten Kammer

R. Grass

C. W. A. Timmermans


1
Verfahrenssprache: Französisch.

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