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Document 52016IE6805

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Übergang zu einer nachhaltigeren Zukunft Europas — Eine Strategie für 2050“ (Initiativstellungnahme)

    ABl. C 81 vom 2.3.2018, p. 44–56 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    2.3.2018   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 81/44


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Übergang zu einer nachhaltigeren Zukunft Europas — Eine Strategie für 2050“

    (Initiativstellungnahme)

    (2018/C 081/07)

    Berichterstatterin:

    Brenda KING

    Mitberichterstatter:

    Lutz RIBBE

    Beschluss des Plenums

    14.7.2016

    Rechtsgrundlage

    Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

     

    Initiativstellungnahme

     

     

    Zuständiger Unterausschuss

    Übergang zu einer nachhaltigeren Zukunft Europas — Eine Strategie für 2050

    Annahme im Unterausschuss

    21.9.2017

    Verabschiedung auf der Plenartagung

    18.10.2017

    Plenartagung Nr.

    529

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    185/8/6

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Wie der Rest der Welt steht auch Europa vor drei großen Problemstellungen: (1) dem Raubbau an den natürlichen Ressourcen der Erde, einschließlich Klimawandel und Verlust der biologischen Vielfalt; (2) sozialer Ungleichheit, von der u. a. arbeitslose Jugendliche betroffen sind sowie Menschen, die in Regionen mit rückläufigen Industrien leben und den Anschluss verlieren; und (3) dem schwindenden Vertrauen der Öffentlichkeit in die Regierungen, das politische Establishment, die EU und ihre Governancestrukturen sowie andere Institutionen.

    1.2.

    Diese drei großen Problemstellungen müssen vor dem Hintergrund der Digitalisierung (einem bedeutenden Megatrend) und der Globalisierung betrachtet werden, die sich bereits einschneidend auf die Arbeitsmärkte in Europa ausgewirkt haben und künftig sogar noch gravierendere Folgen haben werden. Vor allem die Digitalisierung kann den Umgang mit den drei Problemstellungen vereinfachen — oder aber erschweren. Ob sich die Digitalisierung positiv oder negativ auswirkt, hängt davon ab, wie sie politisch gesteuert wird.

    1.3.

    Auf der Grundlage einer eingehenden Analyse des Spannungsfelds zwischen diesen drei großen Problemstellungen und der Digitalisierung fordert der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die Europäische Kommission auf, eine langfristige Strategie für die nachhaltige Entwicklung Europas auszuarbeiten, um über Maßnahmen zur Stärkung der Wirtschaft sozialen und ökologischen Nutzen zu bewirken. In dieser Stellungnahme werden Anliegen und Belange dargelegt, die bei der Aufstellung der langfristigen Strategie berücksichtigt werden müssen.

    Es gibt Menschen, die sich dem Wandel verweigern. Ungeachtet fortwährender bahnbrechender technologischer Entwicklungen macht sich manch einer für einen Kontinuitätsansatz stark. Manch anderer mag vor der Anpassung an eine sich ständig weiter verändernde Gesellschaft zurückschrecken. Und für wieder andere geht der Wandel nicht schnell genug vonstatten (bspw. für die Befürworter von grüner Energie). Die politischen Entscheidungsträger sollten auf diese Ängste Rücksicht nehmen und das Problem direkt angehen, anstatt einfach so weiterzumachen wie bisher. Zuallererst sollte eine offene Debatte über die Problemstellungen angestoßen und die partizipative Demokratie, einschließlich der Europäischen Bürgerinitiative, gestärkt werden.

    1.4.

    „Keine Maßnahmen“ ist keine Option. Politischer Wille ist vonnöten, um den Wandel in die gewünschte Richtung zu lenken. Wirtschaftliche Entwicklung, Umweltschutz und Sozialpolitik müssen enger miteinander verzahnt werden. Der EWSA ist der Auffassung, dass die großen Probleme, mit denen sich Europa konfrontiert sieht, durch die Umsetzung und Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG) in Verbindung mit der Durchführung des Übereinkommens von Paris und durch eine erfolgreich gestaltete Umstellung auf eine Niedrigemissions- und digitale Wirtschaft gelöst werden können, sodass Europa aus dieser neuen industriellen Revolution als Gewinner hervorgeht. Er empfiehlt, dass die Europäische Kommission dringend die in ihrem Arbeitsdokument zu der Mitteilung „Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft“ (1) skizzierten Maßnahmen weiterentwickelt und die SDG und das Übereinkommen von Paris gezielter in den europäischen Politikrahmen und in die aktuellen Kommissionsprioritäten integriert, um eine Vision für ein faires und wettbewerbsfähiges Europa mit dem Zeithorizont 2050 zu entwerfen.

    1.5.

    Die Notwendigkeit starker politischer Impulse darf nicht falsch ausgelegt werden. Ein geeigneter Rechtsrahmen ist für die Gestaltung des Wandels unverzichtbar; indes benötigt Europa eine die gesamte Gesellschaft angehende Agenda, die auf Folgendes abhebt: eine gerechte Globalisierung; Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Förderung einer technologischen Spitzenposition Europas; niemanden zurücklassen; Beseitigung der Armut und Schaffung von Rahmenbedingungen, die das Vertrauen der Menschen in politische Systeme wiederherstellen, sowie von multilateralen Governanceverfahren (2). Durch Politikansätze sollten nicht nur in verschiedenen politischen Bereichen die Weichen gestellt, sondern auch das enorme Potenzial der Zivilgesellschaft aktiviert werden. Sozialunternehmertum, von Bürgern ausgehende und Gemeinschaftsinitiativen sind nur einige Beispiele für Bottom-up-Ansätze zur Verwirklichung einer nachhaltigen Entwicklung, gerade im Kontext der notwendigen Umstellung auf eine Niedrigemissions- oder Kreislaufwirtschaft. Als Musterbeispiel kann in diesem Zusammenhang Bürgerenergie dienen.

    1.6.

    In naher Zukunft sollten sich die Europäische Kommission und der EWSA gemeinsam ausführlicher mit den in dieser Stellungnahme erörterten, wichtigen strategischen Politikfeldern befassen, bspw.:

    Wettbewerbsfähigkeit der EU in einer im Wandel begriffenen Welt;

    Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt (auch auf menschenwürdige Arbeit) und die Umwelt;

    nachhaltige Finanzierung und Besteuerung;

    Herausforderungen der Entwicklung neuer Wirtschaftsmodelle;

    Hindernisse für die Dezentralisierung der Energieerzeugung;

    lebensbegleitendes Lernen in einem neuen digitalen Zeitalter und im Kontext der Umstellung auf eine Niedrigemissionswirtschaft;

    Förderung von Multi-Stakeholder-Bündnissen;

    Demokratiedefizit im EU-Rechtsetzungsprozess und Einbindung der Zivilgesellschaft als erneute Herausforderung;

    Vereinbarung der Einbeziehung von unabhängigem Fachwissen in die Politikgestaltung mit der notwendigen Stärkung der zivilgesellschaftlichen Partizipation;

    neuer europäischer Mechanismus für eine Nachhaltigkeitsstrategie.

    1.7.

    Diesem Policy Mix muss eine umfassende und kohärente Strategie zugrunde liegen. Der EWSA empfiehlt, dass solch eine Strategie langfristig ausgerichtet, explizit, horizontal und vertikal integriert, überschaubar und partizipativ angelegt ist. Deshalb erachtet der EWSA es als geboten, dass der Übergang bis 2050 unter umfassender Einbindung der Vertreter der Zivilgesellschaft geplant und ausgestaltet wird. Im Interesse der Stärkung der partizipativen Demokratie sollte die Europäische Kommission ihr alleiniges Legislativinitiativrecht überdenken.

    2.   Einleitung

    2016 veröffentlichte die Europäische Kommission ihre Mitteilung „Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft“. Der EWSA unterbreitet in seiner Stellungnahme Empfehlungen für eine auf die Herausforderungen für Europa ausgerichtete Strategie. Er plädiert für einen Ansatz, bei dem die Menschen im Mittelpunkt stehen und die wirtschaftliche, soziale und ökologische Dimension der Entwicklung aus einer langfristigen Perspektive betrachtet wird. Mit diesem Ansatz sollten Kurzfristigkeit und Silodenken, die derzeit in den Strategien der EU vorherrschen, überwunden werden.

    3.   Ein Megatrend und drei globale Problemstellungen

    Im Kontext der Digitalisierung (Megatrend) muss eine Nachhaltigkeitsstrategie Lösungsansätze für die in Kapitel 1 genannten drei großen gesellschaftlichen Problemstellungen bieten, die weltweit relevant sind, in Europa ebenso wie auf allen anderen Kontinenten:

    (1)

    Wie ist mit den Grenzen des Planeten und der allgemeinen Umweltproblematik wie Klimawandel und Biodiversitätsverlust umzugehen?

    (2)

    Wie können die zunehmenden sozialen Ungleichheiten in einer globalisierten Welt beseitigt werden?

    (3)

    Wie kann der nachlassenden öffentlichen Unterstützung für die Regierungen und Institutionen entgegengewirkt werden?

    Diese Probleme können nur in Zusammenarbeit zwischen politischen Entscheidungsträgern, Politikern und der Zivilgesellschaft gelöst werden. Besondere Aufmerksamkeit muss außerdem den Risiken und Chancen der Digitalisierung gewidmet werden. In diesem Kapitel werden Aspekte erörtert, die für die Entwicklung von Lösungsansätzen für die drei großen Problemstellungen relevant sind (3).

    3.1.   Ein Megatrend: Die weltweiten Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft durch die Digitalisierung

    3.1.1.

    Die Plattformwirtschaft, künstliche Intelligenz, Robotik und das Internet der Dinge — die globalen Entwicklungen in diesen Bereichen sind breit gefächert, nehmen weiter Fahrt auf und werden sich früher oder später auf alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft auswirken. Großen Teilen der Gesellschaft stehen digitale Technologien zur Verfügung, doch gibt es auch Gruppen, deren Zugang zu diesen leistungsstarken digitalen Werkzeugen eingeschränkt ist.

    3.1.2.

    Die Konvergenz von digitalen Technologien und Nanotechnologie, Biotechnologie, Werkstoffwissenschaft, Erzeugung wie auch Speicherung erneuerbarer Energie sowie Quanteninformatik kann eine neue industrielle Revolution auslösen (4). Um Europa in dem neu entbrannten, weltweiten technologischen und wirtschaftlichen Wettbewerb eine Führungsposition zu sichern, sind massive Investitionen und neue Initiativen erforderlich.

    3.1.3.

    Digitalisierung hat viele Vorteile. Sie führt zur Entstehung neuer Produkte und Dienste zum Vorteil der Verbraucher. Sie kann, wie schon die vorhergehenden industriellen Revolutionen, dazu führen, dass die globalen Einkommensniveaus steigen, die Lebensqualität verbessert wird, Gelegenheiten für inklusivere demokratische Modelle entstehen, die Zahl hochwertiger Arbeitsplätze zunimmt und die allgemeine Wettbewerbsfähigkeit der EU steigt, und dadurch zur Verwirklichung einiger Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG) beitragen. Es gibt auch bedrohliche Szenarien — einigen Studien zufolge könnten durch die Digitalisierung erheblich mehr Arbeitsplätze vernichtet als neu geschaffen werden.

    3.1.4.

    Durch digitale Technologien werden Produktion und Verbrauch enger aufeinander abgestimmt und Überproduktion vermieden. Dadurch kann der ökologische Fußabdruck der EU verringert werden. Der Direkthandel mit Wirtschaftsgütern über Peer-to-Peer-Transaktionen oder im Rahmen eines kollaborativen Geschäftsmodells kann eine Verringerung des Ressourcenverbrauchs bewirken. Beispielsweise ist Digitaltechnik ein Treiber der geteilten und der autonomen Mobilität und kann somit die ökologische Nachhaltigkeit unserer Mobilitätssysteme steigern.

    3.1.5.

    Digitalisierung führt jedoch nicht automatisch zu mehr Nachhaltigkeit. Durch Markteintritts- und Skalierungshemmnisse können Bürger von ihren Vorteilen ausgeschlossen werden. Die Digitalisierung könnte Ungleichheiten weiter verstärken, zumal sie die Arbeitsmärkte massiv verändern und polarisieren kann, wenn viele Tätigkeiten, die niedrige und mittlere Qualifikationen erfordern, automatisiert werden. Die Robotisierung und die Plattformwirtschaft können zu einer ernsten Bedrohung für viele europäische Arbeitsplätze werden. Sie bringen neue Risiken mit sich, da sich die meisten einschlägigen Technologien auf Daten stützen, vor allem personenbezogene Daten.

    3.1.6.

    Die neuen Chancen für eine Mehrung des Wohlstands können sich häufig nur diejenigen zu Nutze machen, die über gute Bildungsvoraussetzungen, gute soziale Kompetenzen und hohe Risikotoleranz verfügen. Hauptnutznießer digitaler Innovationen sind im Allgemeinen die Anbieter intellektuellen, finanziellen und physischen Kapitals: Innovatoren, Aktionäre, Investoren und hochqualifizierte Arbeitskräfte. Es steht zu befürchten, dass Digitaltechnik zu einer wesentlichen Ursache für Einkommensstillstand oder gar Einkommensrückgang wird.

    3.1.7.

    Um die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, ist ein aktiver und übergreifender Ansatz erforderlich, der auch den o. g. drei großen Problemstellungen Rechnung trägt. Auch müssen die sich aus der Digitalisierung ergebenden Risiken überwacht und gesteuert werden. Der EWSA sollte sich weiter aktiv mit diesen Fragen auseinandersetzen.

    3.2.   Die Grenzen des Planeten und die allgemeine Umweltproblematik

    3.2.1.

    In Anbetracht seines Engagements im weltweiten Kampf gegen den Klimawandel (über das Übereinkommen von Paris) und für den Schutz der natürlichen Ressourcen muss Europa den ökologischen Fußabdruck seiner Wirtschaft dringend und entscheidend verkleinern. Die Umweltkrise hat uns bereits erfasst. Das Bevölkerungswachstum, das auf fossilen Energieträgern basierende langfristige Wirtschaftswachstum und die nicht nachhaltige Nutzung von Ressourcen und Land belasten weltweit zunehmend die Umwelt. Eine der größten Herausforderungen, die auch in den Nachhaltigkeitszielen verankert ist, besteht darin, sicherzustellen, dass die wirtschaftliche Entwicklung und das Wirtschaftswachstum innerhalb der Belastungsgrenzen unseres Planeten verlaufen, und zwar in Bezug auf Klimafolgen, Ressourcenbewirtschaftung und -verbrauch, Luft- und Wasserqualität sowie Auswirkungen auf die terrestrische und marine biologische Vielfalt.

    3.2.2.

    Eine umfangreiche Dekarbonisierung der Wirtschaft erfordert die dringende Umgestaltung zahlreicher Wirtschaftszweige. Für die Umstellung von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energieträger ist mehr Energieflexibilität und Energiewissen nötig. Bürgerenergie bzw. Prosum (5) sollte generell als wesentlicher Beitrag zur Nachhaltigkeit der EU-Energiepolitik (6) ausgebaut werden. In den Verkehrssystemen werden strukturelle Veränderungen durch Elektrifizierung und Car-Sharing notwendig. Auch der Wohnungssektor und die Infrastrukturen müssen überholt werden. Eine moderne Bioökonomie kann eine grüne Wirtschaftsweise entscheidend voranbringen.

    3.2.3.

    Europa muss eine Abkehr vom derzeitigen linearen Wirtschaftsmodell, das den Maßgaben „Nehmen, Herstellen, Verbrauchen, Entsorgen“ folgt, hin zu einer Kreislaufwirtschaft vollziehen, die gezielt regenerativ aufgebaut ist, so weit wie möglich auf erneuerbare natürliche Ressourcen setzt und den Wert von Produkten, Materialien und Ressourcen so lange wie möglich in der Wirtschaft erhält. Die Digitalisierung kann in diesem Zusammenhang wichtig sein (siehe Ziffer 3.1.4).

    3.2.4.

    Der Wandel hin zu einer umweltfreundlichen Niedrigemissions- und Kreislaufwirtschaft bietet der EU die Chance, ihre Wettbewerbs- und Widerstandsfähigkeit zu steigern und die Lebensqualität wie auch das Wohlergehen der Bürger Europas zu verbessern. Die Abhängigkeit von der Einfuhr fossiler Brennstoffe und kritischer Rohstoffe wird reduziert, und eine stabile Grundlage für wirtschaftlichen Wohlstand entsteht.

    3.2.5.

    Dekarbonisierung und ökologischer Wandel gehen indes mit sozialen Herausforderungen (7) einher, da Arbeitsplätze in Branchen mit einem großen ökologischen Fußabdruck schwinden werden. Die umfassende Nutzung des Potenzials der Dekarbonisierung und des ökologischen Wandels für die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Verbesserung der sozialen Sicherheit im Hinblick auf einen möglichst positiven Saldo muss als strategische politische Aufgabe begriffen werden.

    3.2.6.

    Impulsgeber für die Umstellung auf eine Niedrigemissions- und Kreislaufwirtschaft sind Bottom-up-Initiativen von Bürgern, Kommunen, Verbrauchern und innovativen Unternehmen in den Bereichen Energie- und Ernährungswirtschaft. Aber anstatt dass einschlägige Initiativen gefördert und eine europaweit kritische Masse geschaffen werden, die sich positiv auf den Arbeitsmarkt und die soziale Sicherheit auswirken, werden Fortschritte häufig durch Verwaltungs- und Regulierungssysteme erschwert. Die Erkenntnis, dass Bottom-up-Initiativen wirksam zur Bewältigung der sozialen Probleme der Dekarbonisierung und des ökologischen Wandels beitragen können, hat sich vielfach noch nicht durchgesetzt. Um dieses Potenzial zum Tragen zu bringen, ist es jedoch nötig, die strukturellen Hindernisse zu beseitigen, die ressourcenschwachen Menschen den Zugang zu notwendigen Ressourcen (insbesondere zu Kapital und relevanten Informationen) verwehren.

    3.3.   Zunehmende soziale Ungleichheit

    3.3.1.

    Die Globalisierung und der technologische Fortschritt haben zu einer massiven Ausweitung des globalen Handels und einem starken Anstieg des globalen Wohlstands geführt, wobei ihr Zusammenspiel allerdings auch eine zunehmende soziale (und ökologische) Ungleichheit bewirkt hat. Laut einer Oxfam-Studie besitzen die acht reichsten Menschen der Welt — allesamt Männer — gemeinsam ein ähnlich großes Vermögen wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.

    3.3.2.

    In Europa weitet sich die Ungleichheit aus. Einer neuen OECD-Studie zufolge bleibt die Einkommensungleichheit in Europa unverändert auf einem Allzeithoch. In den 1980er-Jahren betrug das Durchschnittseinkommen der reichsten zehn Prozent das Siebenfache des Durchschnittseinkommens der ärmsten zehn Prozent. Heute beträgt es das 9,5-Fache. Die Vermögensungleichheit ist noch höher: 10 % der reichsten Haushalte besitzen 50 % des gesamten Vermögens, während auf die ärmsten 40 % etwas mehr als 3 % entfallen (8).

    3.3.3.

    Ein Grund für die wachsende Ungleichheit in Europa ist die Abkopplung des Wachstums vom Nettoeinkommen. Zwischen 2008 und 2015 wuchs das BIP im Euroraum um mehr als 16 % (über 17 % in der EU-28), doch das verfügbare Nettoeinkommen der Privathaushalte stagnierte und stieg in der EU-28 um lediglich 2 %.

    3.3.4.

    Die 24 OECD-Mitgliedstaaten haben seit 1995 einen Produktivitätszuwachs von 27 % verzeichnet, während die Arbeitnehmerentgelte mit einem Anstieg von lediglich 22 % dahinter zurückgeblieben sind. Noch schlimmer, das Arbeitseinkommen der Geringverdiener ist erheblich weniger gestiegen. Diese Lohnungleichheit hat sich in den letzten 20 Jahren in allen europäischen Ländern, Spanien ausgenommen, verstärkt. Am deutlichsten ist diese Entwicklung in Ungarn, Polen, der Tschechischen Republik und dem Vereinigten Königreich zu erkennen (9).

    3.3.5.

    Es besteht die Gefahr, dass diese Kluft sich mit dem sich verändernden Wesen der Arbeit noch verbreitert. So könnte im Zuge der Automatisierung bzw. Robotisierung komplexer industrieller Verfahren der Bedarf an Angestellten mit mittleren oder sogar höheren Qualifikationen, die derzeit diese komplexen Aufgaben ausführen, sinken. Dadurch dürfte der Arbeitsmarkt weiter polarisiert werden, denn die neu geschaffenen Arbeitsplätze werden entweder (noch) höhere Qualifikationen erfordern (Entwicklung und Wartung dieser Produkte/Dienste) oder in die Kategorie der gering qualifizierten Dienstleistungsberufe fallen. Laut OECD könnten 9 % aller Arbeitsplätze der Automatisierung zum Opfer fallen, während sich bei 25 % die Arbeitsaufträge erheblich verändern werden.

    3.3.6.

    Die Regierungen setzen sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung eher reaktiv als proaktiv auseinander und tendieren überwiegend dazu, die Nebenwirkungen der Digitalisierung einzudämmen, anstatt aus den potenziellen Vorteilen Nutzen zu ziehen. Im Rahmen ihrer Maßnahmen müssen die Regierungen die Vertretung und Partizipation der Arbeitnehmer als wichtigen Bestandteil der Investitionen in Humankapital auf einem sich wandelnden Arbeitsmarkt begreifen und besser berücksichtigen. Der EWSA könnte weiterhin eingehend die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Wesen der Arbeit analysieren.

    3.4.   Regierungen und Institutionen verlieren den öffentlichen Rückhalt

    3.4.1.

    Die zunehmende Ungleichheit, die nur teilweise Globalisierung und technologischem Fortschritt geschuldet ist, hat zu einem Vertrauensverlust in die Regierungen, das politische Establishment, internationale Organisationen, Institutionen und globale Governance geführt. Damit gehen ein Aufschwung populistischer Bewegungen und eine rückläufige Entwicklung der traditionellen politischen Parteien einher. Besonders besorgniserregend ist die Wahlenthaltung bei jungen Menschen (ganz zu schweigen vom Protestwahlverhalten): Nur 63 % der Europäer zwischen 15 und 30 Jahren haben im Jahr 2015 an einer Wahl teilgenommen (10).

    3.4.2.

    Viele europäische Bürger haben das Gefühl, auf nationaler und auf EU-Ebene beim politischen Entscheidungsfindungsprozess außen vor zu bleiben. Sie haben den Eindruck, dass sie mit den traditionellen demokratischen Prozessen keinen Einfluss auf die grundlegenden Entscheidungen nehmen können. Der Multi-Stakeholder-Ansatz (bspw. im Rahmen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung) bietet als inklusives demokratisches Modell eine Möglichkeit, dieses Misstrauen auszuräumen.

    3.4.3.

    Die Nachhaltigkeitswende kann und darf nicht „von oben“ verordnet werden; sie wird nur erfolgreich sein, wenn sie auf breiter Zustimmung und aktiver Mitwirkung einer Mehrheit der Unternehmen, Gebietskörperschaften, Arbeitnehmer und Bürger fußt. Die Zusammenarbeit muss auf Bottom-up- und Top-down-Ansätze gestützt sein. Multi-Stakeholder-Bündnisse wurden gebildet, um die Agenda 2030 zu formulieren, und werden jetzt auch im Bereich Klimaschutz geformt (11). Solche Bündnisse können auch als Muster für ein Modell der inklusiven demokratischen Governance dienen, das bereichsübergreifend angewendet werden und transformative Veränderungsprozesse und Innovation voranbringen könnte.

    3.4.4.

    Insbesondere die jüngere Generation sucht eigene, von den herkömmlichen politischen Parteien und Gremien losgelöste Formen des politischen Engagements. Energiegemeinschaften, Partnerschaften zwischen Bürgern und Kommunen zur Förderung der Energieeffizienz (bspw. über Contracting-Modelle) oder der Abfallbewirtschaftung, Transition-Town-Initiativen, gemeinschaftsunterstützte Landwirtschaft, politische Blogs sowie andere Online-Formate und sogar Lokalwährungen bieten alternative Formen politischen Engagements. Diese Art des Engagements wird sicherlich nicht die traditionelle politische Arbeit ersetzen, kann aber einen wichtigen Beitrag zur politischen Sozialisation und gesellschaftlichen Integration leisten.

    3.4.5.

    Um den Weg aus politischen Sackgassen zu finden, bietet sich die Nutzung des Potenzials des Internet als aussichtsreicher Ansatz an. Noch nie zuvor waren Informationen so frei zugänglich wie in einem dezentralisierten Netzwerk ohne klassischen Gatekeeper. Daraus ergeben sich neue gesellschaftliche Herausforderungen, wie das Phänomen des Postfaktischen und der Fake News veranschaulicht hat. Gleichzeitig erleben wir gegenwärtig einen Boom von alternativen, nicht-hierarchischen Formen von Aktivismus sowie hohe Nutzerzahlen in sozialen Netzwerken, in denen vor allem junge Menschen aktiv sind.

    3.4.6.

    Elektronische Behördendienste können zu Governance-Modellen mit einer beispiellosen Partizipation der Öffentlichkeit an der politischen Gestaltungsarbeit führen. Die EU sollte sich an Mitgliedstaaten wie Estland orientieren, wo bereits erhebliche Fortschritte erzielt worden sind. Durch die Digitalisierung werden Bürger in die Lage versetzt, zu vergleichsweise niedrigen Kosten an der Entscheidungsgestaltung mitzuwirken. Es gibt aber klare Anhaltspunkte dafür, dass auch bei der elektronischen Partizipation eine Verzerrung zugunsten der Mittelschicht (in Partizipationsformen ist die Mittelschicht stärker vertreten) stattfindet. Der EWSA ist gut aufgestellt, um mit der Zivilgesellschaft einen Dialog über dieses Thema aufzunehmen.

    4.   Das Europa, das wir wollen

    Angesichts der oben genannten drei globalen Problemstellungen und des Megatrends der Digitalisierung muss die EU

    die Vorteile der digitalen Revolution nutzen, um eine neue, wettbewerbsfähige und nachhaltige Wirtschaft aufzubauen;

    die Umstellung auf eine emissionsarme und umweltgerechte Kreislaufwirtschaft vollziehen und einen gerechten Übergang für alle sicherstellen;

    ein robustes europäisches Sozialmodell aufbauen;

    ein stärker bürgerbestimmtes und dezentralisiertes demokratisches System ermöglichen und gleichzeitig die Vorteile einer fairen globalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit nutzen.

    4.1.

    Nach Meinung des EWSA werden die Nachhaltigkeitsziele und das Übereinkommen von Paris (COP 21) die Vision des „Europas, das wir wollen“ neu beleben (12), (13). Die Europäische Kommission muss Impulse für die Umsetzung dieser Übereinkünfte geben und dazu die in ihrer Mitteilung „Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft“ skizzierten Maßnahmen weiterentwickeln und sie umfassend in den europäischen Politikrahmen und in die aktuellen Kommissionsprioritäten integrieren. Bei der Vision des „Europas, das wir wollen“ wie auch bei der Agenda 2030 (bzw. den Nachhaltigkeitszielen) steht der Einzelne im Mittelpunkt der Gesellschaft und der Wirtschaft und soll selbst über die Wahrnehmung seiner Bedürfnisse im Einklang mit dem sozialen und ökologischen Umfeld entscheiden können. Dies ist keine Utopie. In der Praxis verfügt Europa mittlerweile über die technologischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, diese Vision umzusetzen: das Internet der Dinge und Big Data, die Steuerung komplexer Prozesse durch mobile Anwendungen, Prosum durch dezentrale Produktion und sinkende Produktionskosten (bspw. erneuerbare Energie, 3-D-Druck), neue Transaktions- und Zahlungsverfahren (Blockchain, Bitcoin und Smart Contracts), Kooperatismus und kollaborative Wirtschaft als neue Geschäftsmodelle sowie weitere Innovationen.

    4.2.

    All diese Innovationen können dazu beitragen, dass die Vision Realität wird, doch erfordert dies eine Strategie, die Lösungen für drei innovationsbezogene Herausforderungen bietet. Diese Strategie beinhaltet einen neuen, „über das BIP hinausgehenden“ Ansatz des Wohlergehens, der auf integrierte Weise auf wirtschaftlichen Wohlstand, soziale Inklusion, ökologische Verantwortung und bürgerliche Handlungskompetenz ausgerichtet ist.

    4.3.

    „Keine Maßnahmen“ ist keine Option: Wenn die EU nicht willens oder in der Lage ist, eine umfassende Strategie aufzustellen und durchzuführen, wird Europa nicht nur bei der Umsetzung der Agenda 2030 und der Vision des „Europas, das wir wollen“ versagen. Ohne Maßnahmen besteht ein hohes Risiko, an jeder der großen Herausforderungen zu scheitern: Die Arbeitsmarktordnung Europas wird zerstört, Dekarbonisierung und Ressourcenschutz werden eingestellt, da die sozialen Kosten des ökologischen Wandels als zu hoch erachtet werden, und zunehmende soziale Ungleichheit und Entfremdung werden die Demokratie gefährden.

    4.4.

    Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Strategie präzise Empfehlungen für Maßnahmen beinhaltet, um Europa in die Lage zu versetzen, die drei großen Herausforderungen anzugehen und das „Europa, das wir wollen“ zu verwirklichen.

    5.   Sechs konzeptuelle Ansätze zur Verwirklichung des Europas, das wir wollen

    In diesem Kapitel werden grundlegende konzeptuelle Ansätze erörtert, die Lösungen für drei globale Problemstellungen (Grenzen des Planeten, soziale Ungleichheit, Verlust des öffentlichen Rückhalts) und den Megatrend der Digitalisierung bieten. Jeder dieser Ansätze umfasst einen Policy Mix, der sich aus bis zu sechs Komponenten zusammensetzt:

    Innovation

    Regulierung/Governance

    Sozialpolitik

    Open Access

    Allgemeine und berufliche Bildung

    Forschung.

    Dieser Policy Mix sollte auf mindestens vier Politikbereiche angewendet werden: eine faire, digitale und grüne Wirtschaftsweise (Ziffer 5.1), neue Governanceformen (Ziffer 5.2), Nachhaltigkeit und Finanzsektor (Ziffer 5.3) und Förderung der Nachhaltigkeit durch internationalen Handel (Ziffer 5.4). Es werden Anliegen und Überlegungen dargelegt, mit denen sich die EU-Institutionen und Interessenträger langfristig weiter auseinandersetzen sollten.

    5.1.   Eine faire, digitale und grüne Wirtschaftsweise, die Wohlstand und Wohlergehen förderlich ist

    5.1.1.

    Innovation: Die neue industrielle Revolution ist eine Chance für Europa, eine technologisch führende Rolle zu übernehmen und seine Wettbewerbsfähigkeit auf globalisierten Märkten zu verstärken. Wirtschaftliche Wertschöpfung ohne hohe externe Kosten muss standardmäßiges Geschäftsmodell werden. Innovative und rentable Unternehmen müssen in nachhaltige Produktion investieren, um hochwertige Arbeitsplätze und die wirtschaftliche Grundlage für Wohlergehen zu schaffen. Damit Innovationen zu einem nachhaltigeren Europa beitragen können, muss ein Konzept entwickelt werden, in dessen Rahmen wirtschaftliche Tätigkeiten, die keinen oder nur einen sehr geringen externen Fußabdruck verursachen oder nur begrenzt Ressourcen verbrauchen, belohnt werden. Dadurch werden nachhaltige Innovatoren (ob Bürger, Unternehmen, Städte oder Regionen) in die Lage versetzt, mit Geschäftsmodellen in Wettbewerb zu treten, die einen hohen Ressourcenverbrauch und/oder einen großen ökologischen Fußabdruck aufweisen. Eine proaktive Unterstützung — bspw. Zugang zu Mikrokrediten für KMU, Bürger, Privathaushalte, Gemeinschaftsinitiativen, Sozialunternehmen und Kleinstunternehmen — muss auch denjenigen Innovatoren zugutekommen, die neue Lösungen für ökologische und soziale Herausforderungen anbieten und als Erstanwender auftreten (14). Ein einheitliches europäisches Patent könnte hierbei hilfreich sein, vorausgesetzt, die entsprechenden Kosten sind erschwinglich (15). Mit Blick auf KMU sollten auf dem Grundsatz der zweiten Chance beruhende Maßnahmen geprüft werden, um die derzeit hohe Risikoscheu in der EU zu vermindern (16). Ferner sollte die Erprobung von Innovationen in ganz Europa gefördert werden, insbesondere in den Bereichen Mobilität, Abfallwirtschaft, Energie, Landwirtschaft, Bildungs- und Gesundheitswesen. Durch die Verlagerung der öffentlichen Beschaffung auf sozial inklusiv erbrachte, umweltfreundliche digitale Dienste, die im Einklang mit der Niedrigemissions- und Kreislaufwirtschaft stehen, können neue Märkte erschlossen werden.

    5.1.2.

    Regulierung: Ein Regulierungsrahmen muss drei Ziele erfüllen. Erstens müssen externe Effekte so genau wie möglich bepreist werden, damit nachhaltigkeitswirksame Geschäftsmodelle entwickelt werden können (17). Zweitens müssen die Vorschriften den Ausbau fortgeschrittener digitaler Infrastrukturen überall in Europa, auch in ländlichen Gebieten, sowie einen universalen Zugang dazu (einschl. intelligente Wärmesysteme, intelligente Stromnetze und Elektromobilitätsnetze) sicherstellen. Diese sollten als öffentliche Versorgungsleistungen im rechtlichen Sinn gelten. Da die Digitalisierung Plattformen vergleichsweise begünstigt, besteht die Gefahr der Monopolbildung auf großen digitalen Märkten. Deshalb ist drittens eine aktive Kartellpolitik erforderlich (18). Der EWSA hat der Europäischen Kommission ferner vorgeschlagen, Möglichkeiten zu prüfen, wie europäische Plattformen gefördert werden können, sodass der durch sie geschaffene Mehrwert in der örtlichen Wirtschaft verbleibt (19). Eine unabhängige europäische Ratingagentur für digitale Plattformen, die in allen Mitgliedstaaten den Auftrag hat, die Governance dieser Plattformen in Bezug auf Wettbewerb, Beschäftigung und Steuern zu bewerten (20), könnte wesentlich zum Ausgleich ihrer Marktmacht beitragen.

    5.1.3.

    Sozialpolitik: Die durch Dekarbonisierung und Digitalisierung bewirkten Veränderungen (siehe Kapitel 3) werden aufgrund der Bewältigung des Problems von Arbeitsplatzverlusten und der sinkenden Steuereinnahmen zur Herausforderung für die Sozialversicherungssysteme. Deshalb sollten neue Ansätze und Modelle geprüft und entwickelt werden, um die Tragfähigkeit der Sozialversicherungssysteme in den Mitgliedstaaten sicherzustellen, die den unterschiedlichen Bedingungen der künftigen Arbeitswelt gerecht werden und die Arbeitnehmer und Gemeinschaften in vom Wandel betroffenen Sektoren und Regionen unterstützen müssen. Der EWSA hat sich mit den Herausforderungen der Zukunft der Arbeit in seiner Stellungnahme zur Europäischen Säule sozialer Rechte befasst und fordert eine kohärente europäische Beschäftigungsstrategie, in der Folgendes angegangen wird: Investitionen und Innovation, Beschäftigung und Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze, faire Arbeitsbedingungen für alle, faire und reibungslose Übergänge, gefördert durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik, und Einbeziehung aller Interessenträger, insbesondere der Sozialpartner. Durch öffentliche Investitionen sollten die Gemeinschaften, Regionen und Arbeitnehmer in Branchen unterstützt werden, die von diesem Übergang bereits betroffen sind, und vorausschauend die künftige Umstrukturierung und der Übergang zu einer umweltfreundlicheren und nachhaltigeren Wirtschaft erleichtert werden (21).

    5.1.4.

    Open Access: Die Nutzung des Potenzials der Digitalisierung für eine grüne und faire Wirtschaftsweise erfordert vor allem eine allgemeine Offenheit in der Wirtschaft, die es den Menschen ermöglicht, aktiv am technologischen Fortschritt teilzuhaben und sich seine Vorteile zunutze zu machen (beispielsweise durch die Kombination digitaler Energiedaten mit dezentraler Energieerzeugung). Entscheidend ist dafür die Beseitigung der Hindernisse für wirtschaftliche Teilhabe durch offene Märkte, offene Daten, offene Quellcodes und offene Standards. Jedes dieser Elemente ist bei politischen Programmen in strategischen Bereichen wie Energie, Verkehr, Logistik und Produktionsprozessen als Leitprinzip anzulegen. Das Konzept der Datenhoheit muss entwickelt und durch europäische Rechtsvorschriften umgesetzt werden: Europäische Bürger müssen das Recht haben, ihre eigenen Daten für eigene Zwecke zu nutzen, zu bestimmen, welche personenbezogenen Daten von Dritten genutzt werden und wie sie genutzt werden, Kenntnis von der Nutzung und umfassende Kontrolle darüber sowie Anspruch auf die Löschung der Daten zu haben.

    5.1.5.

    Allgemeine und berufliche Bildung: Sowohl eine grüne Wirtschaftsweise als auch die digitale Wirtschaft erfordern fachliche Kompetenzen, zumal digitale Technologien künftig eine wichtige Rolle bei der Dekarbonisierung der europäischen Wirtschaft spielen werden (siehe Ziffer 3.1.4 und Ziffer 3.2.3). Der Erwerb der notwendigen formalen und informellen Kompetenzen, u. a. in Bereichen wie kollaborativem oder gemeinschaftlichem Arbeiten sowie Unternehmertum (22) sollte in die allgemeine Bildung und das lebenslange Lernen integriert werden. Dieses Thema erfordert einen ausführlicheren Dialog und eine eingehendere Analyse. Es wird empfohlen, die Strukturfonds gezielt zu nutzen, um den derzeitigen Mangel an umweltspezifischen und digitalen Kompetenzen wirksam zu beheben, vor allem in Regionen, die sich bereits im Wandel befinden oder künftig vom Wandel betroffen sein werden. Die Ressourcen in den europäischen Bildungssystemen müssen auf Bildung und Entwicklung von Kompetenzen in Bereichen ausgerichtet werden, in denen menschliche Fähigkeiten nicht durch KI-Systeme ersetzt werden können oder wo Menschen diese Systeme ergänzen müssen (z. B. Tätigkeiten, bei denen die menschliche Interaktion im Vordergrund steht oder bei denen Mensch und Maschine zusammenarbeiten, und Aufgaben, die weiterhin von Menschen ausgeführt werden sollen) (23).

    5.1.6.

    Forschung: Eine digitale, grüne und faire Wirtschaftsweise wird die Messlatte für zukunftssichere Geschäftsmodelle sein. Durch eine zielorientierte Forschungspolitik, die sich auf eine Analyse der ökologischen und sozialen Auswirkungen von Innovationen, insbesondere digitalen Innovationen stützt, können die entsprechenden Weichenstellungen vorgenommen werden. In diesem Zusammenhang muss FuE-Finanzierung für Innovatoren bereitgestellt werden, die neue digitale Technologien und Dienste zur Bewältigung ökologischer und/oder sozialer Herausforderungen entwickeln. Zu ihrer Unterstützung muss ein Netz von Gründerzentren aufgebaut werden.

    5.2.   Neue Formen der Governance

    5.2.1.

    Innovation: Partizipation ist ein grundlegender Bestandteil der Demokratie. Wahlen und Repräsentation sind eine Form der organisierten Partizipation, doch werden neue innovative organisatorische Ansätze wie bspw. elektronische Partizipation benötigt. Es ist wichtig, die traditionelle politische Gestaltungsarbeit für kollaborative, sozial durchlässige und weniger formale Arten und Weisen der politischen Tätigkeit zu öffnen und von der Zivilgesellschaft ausgehende sowie Bottom-up-Initiativen zu fördern.

    5.2.2.

    Governance: Die Veränderungen erfordern transparente und frei zugängliche Multi-Stakeholder-Dialoge für alle EU-Rechtsetzungsverfahren auf EU- und lokaler Ebene. Die „Zivilgesellschaft“ sollte sich nicht auf die organisierte Zivilgesellschaft beschränken, sondern alle Bürger mit einschließen. Neue Bündnisse sind besonders wichtig im Bereich Klima- und Ressourcenschutz (24). Zur Stärkung der partizipativen Demokratie sollte das quasi alleinige Legislativinitiativrecht der Europäischen Kommission zugunsten von mehr Initiativen seitens des Europäischen Parlaments sowie von der Basis ausgehende legislative Initiativen aufgehoben und beispielsweise die technischen, rechtlichen und bürokratischen Hemmnisse für die Europäische Bürgerinitiative beseitigt werden (25).

    5.2.3.

    Open Access: Crowdsourcing bei der Erarbeitung sämtlicher EU-Rechtsvorschriften ist ein geeigneter Ansatz zur Überwindung struktureller Hindernisse, die die Einbindung der Bürger in die EU-Entscheidungsfindung erschweren. Bei der Gestaltung dieses Ansatzes ist insbesondere auf Barrierefreiheit, Inklusion und Rechenschaftspflicht zu achten. Die Offenheit von Maßnahmen und Politik kann durch eine nutzerfreundliche Online-Veröffentlichung aller EU-Tätigkeiten und -Daten weiter verbessert werden.

    5.2.4.

    Allgemeine und berufliche Bildung: Es sind Programme zur Stärkung der Handlungskompetenz der Bürger notwendig, um der Verzerrung zugunsten der Mittelschicht entgegenzuwirken (siehe Ziffer 3.4.6). Diese Programme sollten auf die Einbindung derjenigen Bevölkerungsgruppen abheben, die eher nicht aktiv an der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft teilnehmen. Die Aufklärung über Partizipation als ein demokratischer Grundsatz und die Sensibilisierung für die Möglichkeiten zu ihrer Wahrnehmung müssen gezielt in die allgemeine Bildung integriert werden. Es sollte hervorgehoben werden, dass eine aktive Partizipation an der politischen Willensbildung dem Wohl der Gesellschaft wie auch der einzelnen Bürger dient, deren Anliegen und Meinungen berücksichtigt werden. Die finanzielle Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Nachhaltigkeitsziele verfolgen und sich um die Einbeziehung dieser „abgekoppelten“ Gruppen bemühen, sollte verstärkt werden.

    5.2.5.

    Forschung: Die Sozialwissenschaften sollten verstärkt alternative demokratische Verfahren in den Fokus nehmen. Ein Beispiel wäre die mögliche Anwendung von Prototyping auf die Politik. Dabei würden politische Lösungen vergleichsweise rasch entworfen, dann erprobt und bald darauf anhand von Rückmeldungen der Bürger oder anderer relevanter Interessenträger ihre Wirkung bewertet. Die Wirkungsanalyse würde als Grundlage für maßgebliche Anpassungen von politischen Lösungen vor ihrer allgemeinen Einführung dienen.

    5.2.6.

    Allgemein müsste eingehender untersucht werden, wie die Verknüpfung von (wissenschaftlichem) Fachwissen und politischer Gestaltungsarbeit zu bewerten ist und wie die Einbeziehung von vollständig transparentem, unabhängigem Fachwissen in die Politikgestaltung mit der notwendigen Stärkung der bürgerlichen Partizipation vereinbart werden kann.

    5.3.   Nachhaltigkeit und der Finanzsektor

    5.3.1.

    Innovation: Eine digitale, grüne und faire Wirtschaftsweise erfordert umfangreiche Investitionen sowohl in privatwirtschaftliche Anlagen (bspw. in Erneuerbare-Energien-Anlagen oder Ladestationen für Elektrofahrzeuge) als auch in öffentliche Infrastrukturen (bspw. Digitalisierung der Elektrizitäts- und Mobilitätssysteme). Dem Finanzsektor wird deshalb eine entscheidende Rolle zukommen, um dies zu ermöglichen. Die finanziellen Ressourcen einschl. der öffentlichen Mittel müssen für Investitionen aufgewendet werden, die einen nachhaltigen Wandel unterstützen. Damit die Klima- und Energieziele erreicht werden können, muss für ein stabiles und vorhersehbares Investitionsumfeld gesorgt werden, und innovative Finanzinstrumente müssen durch privatwirtschaftliche Finanzmittel Investitionen katalysieren, die sonst gar nicht stattfinden würden (26), (27).

    5.3.2.

    Regulierung: Anzustreben ist der Aufbau eines nachhaltigeren privatwirtschaftlichen Finanzsystems durch die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsfaktoren bei der Abschätzung des Finanzrisikos, die Ausweitung der Verantwortlichkeit der Finanzinstitute auf nicht-finanzielle Auswirkungen von Investitionsentscheidungen und die Erhöhung der Transparenz hinsichtlich der ökologischen und sozialen Auswirkungen von Investitionsentscheidungen (28). Auch sollten die Investoren angehalten werden, sich freiwillig auf nachhaltige Investitionen zu verpflichten. Die Ökologisierung von Bankenstandards ist eine wesentliche Voraussetzung für die Verlagerung privater Finanzierung von klassischen Anlageformen auf Investitionen in kohlenstoffarme und klimaresiliente Vorhaben. Die Zentralbanken sollten die Bereitstellung von Kapital an geldpolitischen und mikro- und makroprudenziellen Maßnahmen und Nachhaltigkeitsstandards ausrichten.

    5.3.3.

    Sozialpolitik: Die Privathaushalte werden infolge der Digitalisierung und Dekarbonisierung unter finanziellen Druck geraten. Deshalb ist eine grundlegende Finanzreform notwendig, um das verfügbare Einkommen der Haushalte zu erhöhen und dieses Ziel mit den Erfordernissen der Dekarbonisierung zu vereinbaren. Der EWSA fordert ein Besteuerungssystem durch die Internalisierung der Umweltkosten und die Nutzung der zusätzlichen Einnahmen, um die Besteuerung des Faktors Arbeit zu senken. Die Verlagerung der Steuerlast vom Faktor Arbeit auf den Faktor Ressourcenverbrauch kann dazu beitragen, Marktversagen zu korrigieren, neue nachhaltige Arbeitsplätze vor Ort zu schaffen, das verfügbare Einkommen der Haushalte zu erhöhen und Investitionen in Öko-Innovationen zu fördern (29).

    5.3.4.

    Forschung: Bislang gibt es kaum Erkenntnisse über die Auswirkungen der Digitalisierung und des abnehmenden Verbrauchs fossiler Brennstoffe auf die öffentlichen Finanzen (Steuererosion). Neben diesem Aspekt sollte auch der mögliche allgemeine Beitrag einer strategischen Finanzpolitik zur nachhaltigen Entwicklung untersucht werden.

    5.4.   Förderung von Nachhaltigkeit durch internationalen Handel

    5.4.1.

    Innovation und Geschäftsmöglichkeiten: Aufgrund der globalen Dimension der drei großen Problemstellungen ist es nicht damit getan, Europa durch eine zielorientierte Innovationspolitik nachhaltiger zu machen. In Zusammenarbeit mit seinen Handelspartnern muss Europa Innovationskonzepte entwickeln, die auf andere Regionen in der Welt übertragen werden können. Handel kann zu einer Lösung beitragen, solange Nachhaltigkeitsaspekte ein entscheidendes Kriterium in der internationalen Handelspolitik sowie in multi- und bilateralen Handelsvereinbarungen ausmachen. Der Welthandelsorganisation (WTO) sollte eine wichtige Rolle zukommen, und sie sollte der internationalen Umweltpolitik, wie dem Übereinkommen von Paris oder den Biodiversitätszielen von Aichi, verstärkt Rechnung tragen. Sobald die einschlägigen Normen festgelegt sind, können europäische Unternehmen, Bürger, Gemeinschaftsinitiativen, Kommunen und Regionen wichtige Innovationen (Produkte und Dienste) entwickeln, die zur Bewältigung der Dekarbonisierungserfordernisse und unter Nutzung der durch den Megatrend der Digitalisierung eröffneten Chancen exportiert werden können. Sie können zu Exportschlagern werden. Vor allem sollte die Europäische Kommission bei der WTO und ihren wichtigsten Handelspartnern darauf hinwirken, dass die Bepreisung von CO2 und jedweder anderen externen Effekte, die eine nachhaltige Innovation schädigen, über Handelsabkommen gefördert wird.

    5.4.2.

    Regulierung: Eine Ursache für den großen ökologischen Fußabdruck unserer Volkswirtschaften liegt in der zunehmenden Entfernung zwischen den Orten der Produktion, der Verarbeitung, des Verbrauchs und teilweise der Entsorgung/Verwertung der Erzeugnisse. Um den internationalen Handel mit nachhaltiger Entwicklung vereinbar zu machen, muss die Liberalisierung durch intelligente regulatorische Rahmenbedingungen flankiert werden, die lokale, kleine Produktionssysteme berücksichtigen und stärken. Fördermaßnahmen für die Kreislaufwirtschaft sollten gewährleisten, dass die Systeme dauerhaft, klein, lokal und sauber sind. Bei bestimmten industriellen Tätigkeiten können die Kreisläufe groß angelegt sein (30). Die Regulierung muss diesem Problem über bilaterale und multilaterale Handelsabkommen gerecht werden.

    5.4.3.

    Die EU sollte die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds drängen, eine wichtige Rolle bei der Förderung von Reformen der Steuer- und Finanzsysteme zu übernehmen, um für die Entwicklungsländer geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, dass sie verstärkt ihre eigenen Ressourcen mobilisieren können. Dabei sollte neben innerstaatlichen Steuerreformen auch die internationale Gemeinschaft mobilisiert werden, gemeinsam gegen Steuerumgehung, Geldwäsche und illegale Finanzströme vorzugehen, die dazu führen, dass mehr Geld aus den Entwicklungsländern abfließt als durch öffentliche Entwicklungshilfe zufließt. Insbesondere sollte die Europäische Kommission die auf den 17 Nachhaltigkeitszielen beruhende Agenda 2030 als Rahmen für alle von der EU finanzierten auswärtigen Maßnahmen und Programme vorsehen (31).

    5.4.4.

    Sozialpolitik: Eine Möglichkeit zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele und zur Förderung einer modernen Handelspolitik zum Wohl aller ist die Anwendung von Multi-Stakeholder-Ansätzen für verantwortliches unternehmerisches Handeln. Dabei legen Unternehmen, NGO, Gewerkschaften und Regierungen gemeinsam fest, wie die Verantwortung zur Wahrung der Menschenrechte in der Praxis erfüllt werden kann. Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten geben zunehmend Anlass zu Besorgnis, insbesondere bei Konfliktmineralien wie bspw. Kobalt, das in Akkumulatoren für Mobiltelefone, Laptops, Elektrofahrzeuge, Elektroflugzeuge und Elektrowerkzeuge eingesetzt wird. In Anbetracht der Verpflichtung zur Umstellung auf eine emissionsarme Wirtschaftsweise, der fortschreitenden Digitalisierung und der Komplexität des verantwortlichen unternehmerischen Handelns in internationalen Lieferketten ist eine Multi-Stakeholder-Zusammenarbeit unverzichtbar. Der EWSA begrüßt daher die von ihm partnerschaftlich unterstützte Initiative der niederländischen Regierung, das Verständnis für den Beitrag von Multi-Stakeholder-Maßnahmen zur Förderung des Bewusstseins für ein sinnvolles verantwortliches unternehmerisches Handeln zu stärken, insbesondere in komplexen Lieferketten, in denen es Kinder- und Sklavenarbeit und gefährliche Arbeitsbedingungen gibt.

    5.4.5.

    Open Access: Neue Handelsabkommen müssen auf Akzeptanz beruhen, die über neue demokratische Verfahren und verstärkte Partizipation der Bürger an gemeinsamen Entscheidungsfindungsprozessen erreicht wird. Die Kapitel Handel und nachhaltige Entwicklung in bestehenden EU-Handelsabkommen funktionieren noch nicht so gut wie sie eigentlich sollten. Erstens sollten globale multilaterale Übereinkommen (die Agenda 2030 und das Übereinkommen von Paris) in diese Kapitel einbezogen werden. Zweitens sollten die zivilgesellschaftlichen Überwachungsmechanismen gestärkt und eine Analyse aus der Perspektive der Zivilgesellschaft aufgenommen werden. Und drittens müssen die Durchsetzungsmechanismen auch für die Kapitel Handel und nachhaltige Entwicklung selbst gelten (32).

    5.4.6.

    Forschung: Es werden mehr empirische Daten benötigt, um im Kontext des internationalen Handels die Auswirkungen der raschen Herausbildung neuer Konsum- und Produktionsmuster zu bewerten, die immer mehr auch länderübergreifende Dienstleistungen erfassen, vor allem auch mit Blick auf ihre Bedeutung für eine transnationale Besteuerung. Davon ausgehend sollte entschieden werden, ob sie nach dem Vorbild der Agenda für menschenwürdige Arbeit in den allgemeinen WTO-Vorschriften oder in bilateralen und regionalen Abkommen berücksichtigt werden sollen.

    5.4.7.

    Der EWSA erinnert die Europäische Kommission an seine frühere Empfehlung, eine vollständige Folgenabschätzung durchzuführen und zu untersuchen, wie sich die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele und die Umsetzung des Übereinkommens von Paris aller Voraussicht nach auf die EU-Handelspolitik auswirken werden.

    6.   Aufstellung einer Strategie für eine nachhaltige Zukunft Europas — vier Kriterien

    6.1.

    In Kapitel 5 wurden Bereiche ermittelt, in denen politische Maßnahmen erforderlich sind, um im Zuge eines tiefgreifenden sozioökonomischen Wandels ein nachhaltigeres Europa aufzubauen. Die Nachhaltigkeitsstrategie Europas sollte an vier Kriterien festmachen. Sie muss wie folgt sein:

    langfristig ausgerichtet;

    explizit;

    horizontal und vertikal integriert;

    übersichtlich.

    Diese vier Kriterien werden nachfolgend ausführlich erläutert.

    6.2.   Langfristige Ausrichtung

    6.2.1.

    Ein strategischer Ansatz bedeutet, die Entwicklung einer langfristigen Perspektive auf der Grundlage der in Kapitel 4 beschriebenen Vision des „Europas, das wir wollen“ und die Festlegung des Entwicklungspfads, den Europa beschreiten muss, damit diese Vision Wirklichkeit wird. Es wird bis zu drei Jahrzehnte dauern, bis sich der gesellschaftliche Wandel aufgrund der in Kapitel 3 beschriebenen globalen Problemstellungen und des Megatrends der Digitalisierung vollzogen hat. Viele maßgebliche Entscheidungen, auch Investitionsentscheidungen, benötigen eine gewisse Umsetzungszeit. Somit erscheint es sinnvoll, eine europäische Nachhaltigkeitsstrategie auf drei Jahrzehnte anzulegen. Die einschlägigen Ziele und dazugehörigen politischen Maßnahmen müssen auf der Grundlage dieses zeitlichen Rahmens geplant werden (33). Dieser Backcasting-Ansatz bedeutet, dass das günstigste Szenario für 2050 als Ausgangspunkt genommen wird, von dem alle erforderlichen Schritte zu seiner Verwirklichung abgeleitet werden. Wenn ein Best-Case-Szenario im Blickpunkt steht, kann ein positives Narrativ entwickelt werden. Die Abwendung von der kohlenstoff- und ressourcenintensiven Wirtschaft und der zentralisierten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts darf nicht als Strafe oder Ende des Fortschritts verstanden werden, sondern als Eintritt in ein neues, positives Zeitalter, das den Bürgern attraktive Möglichkeiten bietet.

    6.3.   Bestimmtheit

    6.3.1.

    Die langfristige Ausrichtung der Nachhaltigkeitsstrategie bedeutet, dass kurzfristig keine Maßnahmen zu ergreifen sind. Zentraler Bestandteil der Nachhaltigkeitsstrategie sollte sein, aufeinanderfolgende Maßnahmen zu konzipieren, die notwendig sind, um die für 2050 projizierten Ziele zu erreichen, angefangen mit politischen Programmen, die langfristig greifen, mittelfristig wirksamen Aktionsplänen und spezifischen kurzfristigen Maßnahmen. Zur Gewährleistung einer größtmöglichen Wirksamkeit muss die strukturelle Gewichtung zwischen politischen Programmen, Aktionsplänen und Maßnahmen geklärt werden. In früheren Nachhaltigkeitskonzepten, insbesondere im Rahmen der Lissabon-Strategie und der Strategie Europa 2020, mangelte es den spezifischen Maßnahmen an Bestimmtheit. Diesbezüglich sollte der europäischen Nachhaltigkeitsstrategie die vom Europäischen Rat in Göteborg angenommene Strategie der EU für die nachhaltige Entwicklung (34) zugrunde gelegt werden, in deren Mittelpunkt Maßnahmen stehen. Die Europäische Kommission griff diesen Ansatz in ihrer Mitteilung „Ein Aktionsprogramm“ erneut auf (35).

    6.4.   Horizontale und vertikale Integration

    6.4.1.

    Bei der Umsetzung der in Kapitel 5 beschriebenen konzeptuellen Ansätze und der Durchführung der in diesem Kapitel dargelegten diversen Maßnahmen ist vor allem einem Aspekt Rechnung zu tragen: der engen Verzahnung der drei globalen Problemstellungen mit dem Megatrend der Digitalisierung. Eine erfolgreiche Strategie muss daher unter Vermeidung von Silodenken horizontal integriert und alle sechs strategischen Teilbereiche übergreifend angelegt sein. Eine solche übergreifende langfristige Strategie könnte die derzeitige Strategie Europa 2020 ablösen und als Bekenntnis zum Klimaschutzübereinkommen von Paris die Umsetzung der 17 globalen Nachhaltigkeitsziele mit den Arbeitsprioritäten der Europäischen Kommission verknüpfen (36).

    6.4.2.

    Ein erfolgreicher Nachhaltigkeitsansatz muss auch vertikal integriert sein. Nachhaltige Entwicklung muss auf allen relevanten Ebenen (lokal, regional, national, europäisch und global) unterstützt werden. Deshalb muss klar festgelegt werden, auf welcher Ebene die in dem strategischen Rahmen vorgesehenen Phasen anzusiedeln sind. Der EWSA empfiehlt die Einführung eines die Strategie ergänzenden Governance- und Koordinationsrahmens, um für Kohärenz zwischen zentralen und dezentralen Maßnahmen sowie für die Einbindung der Zivilgesellschaft auf nationaler und regionaler Ebene zu sorgen. Das Europäische Semester sollte um einen Mechanismus für die vertikale Koordinierung der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele erweitert werden.

    6.5.   Politische Steuerung

    6.5.1.

    Für eine nachhaltige Entwicklung ist politische Steuerung notwendig. Auf der Grundlage der für 2050 vorgesehenen messbaren Ziele (siehe Ziffer 6.2) sind Etappenziele zu setzen. Durch eine kontinuierliche Evaluierung wird Aufschluss darüber erlangt, ob die aufeinanderfolgenden Maßnahmen ausreichend bestimmt sind, um die erwünschten Ergebnisse zu erreichen (siehe Ziffer 6.3). Falls die Ergebnisse hinter den Zielen und Zielvorgaben zurückbleiben, muss umgehend eine Neuausrichtung der Maßnahmen erfolgen.

    6.5.2.

    Zur Beurteilung der Fortschritte bei der Umsetzung des langfristigen strategischen Rahmens und der Verwirklichung des Best-Case-Szenarios für 2050 ist ein umfassender Berichtsbogen (Scorecard) notwendig, der dem in dieser Stellungnahme beschriebenen komplexen bereichsübergreifenden Ansatz gerecht wird. Der Berichtsbogen sollte Indikatoren aus allen sechs strategischen Teilbereichen enthalten, um der Verflechtung der in Kapitel 2 beschriebenen drei globalen Problemstellungen mit dem Megatrend der Digitalisierung zu entsprechen. Ein echter strategischer Nachhaltigkeitsansatz setzt voraus, dass die ausgesprochen analytische Aufgabenstellung gelöst wird, geeignete Indikatoren zu definieren und in einen ganzheitlichen Berichtsbogen zu integrieren. Die vertikale und horizontale Koordination der Nachhaltigkeitspolitik (siehe Ziffer 6.4) muss ebenfalls gesteuert werden. Zur Erfüllung dieser drei Aufgaben (Überwachung und Bewertung, Ausrichtung der Maßnahmen und Koordination der horizontalen und vertikalen Integration) werden rechenschaftspflichtige Verwaltungsstellen benötigt. Denkbar wären eine Generaldirektion auf EU-Ebene und vergleichbare Einrichtungen auf nationaler Ebene.

    6.5.3.

    Der EWSA ist sich auch darüber im Klaren, dass Gemeinschaften in einer sich rasch verändernden Welt an Indikatoren gemessen werden müssen, die über das Wirtschaftswachstum hinausgehen. Er hat deshalb als neuen Benchmark den „Fortschritt der Gesellschaft“ vorgeschlagen. In diesen Vergleichswert fließen über das Wirtschaftswachstum hinausgehende Faktoren ein, um den Fortschritt einer Gemeinschaft zu bewerten. Der Fortschritt der Gesellschaft sollte als ergänzender Referenzwert zum Wirtschaftswachstum begriffen werden, der ein umfassenderes Bild der Lage in einer Gemeinschaft vermittelt (37).

    Brüssel, den 19. Oktober 2017

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Georges DASSIS


    (1)  SWD(2016) 390 final.

    (2)  Bemerkungen des UN-Generalsekretärs auf dem hochrangigen politischen Forum für nachhaltige Entwicklung im Juli 2017.

    (3)  Frans Timmermans, erster Vizepräsident der Europäischen Kommission, auf der EWSA-Plenartagung am 15. Dezember 2016.

    (4)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Ein inklusiver digitaler Binnenmarkt“, ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 8.

    (5)  Als Prosumenten werden aktive Energieverbraucher bezeichnet, die selbst Strom erzeugen.

    (6)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Bürgerenergie und Energiegenossenschaften — Chancen und Herausforderungen in den EU-Mitgliedstaaten“, ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 44.

    (7)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Klimagerechtigkeit“, NAT/712 (siehe Seite 22 dieses Amtsblatts).

    (8)  OECD: „Understanding the Socio-Economic Divide in Europe“, Hintergrundbericht 2017.

    (9)  Schwellnus, C., Kappeler, A. and Pionnier, P.: OECD Working Papers. Decoupling of Wages from Productivity: Macro-Level Facts.

    (10)  Eurobarometer.

    (11)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Bündnis zur Erfüllung der Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens von Paris“, ABl. C 389 vom 21.10.2016, S. 20.

    (12)  „Building the Europe We Want“, von Stakeholder Forum für den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss 2015 erstellte Studie.

    (13)  „Common appeal to European leaders by European Civil Society Organisations and Trade Unions“, 21. März 2017.

    (14)  In Erarbeitung befindliche EWSA-Stellungnahme zum Thema „Neue nachhaltige Wirtschaftsmodelle“ (SC/048) (siehe Seite 57 dieses Amtsblatts).

    (15)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „EU-Aktionsplan für Immaterialgüterrechte“, ABl. C 230 vom 14.7.2015, S. 72.

    (16)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Europas Marktführer von morgen: die Start-up- und die Scale-up-Initiative“, ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 20.

    (17)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Nachhaltige Entwicklung: Bestandsaufnahme der internen und externen politischen Maßnahmen der EU“, ABl. C 487 vom 28.12.2016, S. 41.

    (18)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Strategie für einen digitalen Binnenmarkt“, ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 65.

    (19)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Der Wandel der Beschäftigungsverhältnisse und seine Auswirkungen auf ein existenzsicherndes Arbeitseinkommen“, ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 54.

    (20)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Kollaborative Wirtschaft“, ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 33.

    (21)  ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 10.

    (22)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Förderung von Kreativität, unternehmerischer Kompetenz und Mobilität in der allgemeinen und beruflichen Bildung“, ABl. C 332 vom 8.10.2015, S. 20.

    (23)  Stellungnahme des EWSA zur „Künstliche Intelligenz“, ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 1.

    (24)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Bündnis zur Erfüllung der Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens von Paris“, ABl. C 389 vom 21.10.2016, S. 20.

    (25)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Die Europäische Bürgerinitiative (Aktualisierung)“, ABl. C 389 vom 21.10.2016, S. 35.

    (26)  ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 57.

    (27)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Marktwirtschaftliche Instrumente zur Förderung einer ressourceneffizienten und kohlenstoffarmen Wirtschaft in der EU“, ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 1, Ziffer 3.9.4.

    (28)  UNEP-Bericht „Building a Sustainable Financial System in the EU“, Inquiry, The 2o Investing Initiative, März 2016; weitere Berichte über nachhaltige Finanzierung siehe auch http://web.unep.org/inquiry.

    (29)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Marktwirtschaftliche Instrumente zur Förderung einer ressourceneffizienten und kohlenstoffarmen Wirtschaft in der EU“, ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 1, Ziffer 1.3.

    (30)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Paket zur Kreislaufwirtschaft“, ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 98, Ziffer 1.3.

    (31)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Die Agenda 2030 — eine der globalen nachhaltigen Entwicklung verpflichtete Europäische Union“, ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 58.

    (32)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Handel für alle: Hin zu einer verantwortungsbewussteren Handels- und Investitionspolitik“, ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 123, Ziffer 1.9.

    (33)  Im Beschluss 1/CP 21 zum Übereinkommen von Paris ist die Rede von langfristigen, bis zur Jahrhundertmitte reichenden Emissionssenkungs-Strategien (Punkt 35).

    (34)  Mitteilung der Kommission: Nachhaltige Entwicklung in Europa für eine bessere Welt: Strategie der Europäischen Union für die nachhaltige Entwicklung, COM(2001) 264 final.

    (35)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Überprüfung der Strategie für nachhaltige Entwicklung — Ein Aktionsprogramm“, COM(2005) 658 final.

    (36)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft“, ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 91.

    (37)  EWSA-Stellungnahme „Das BIP und mehr — die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Auswahl zusätzlicher Indikatoren“, ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 14.


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