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Document 52022DC0782

Empfehlung für eine EMPFEHLUNG DES RATES zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets

COM/2022/782 final

Straßburg, den 22.11.2022

COM(2022) 782 final

Empfehlung für eine

EMPFEHLUNG DES RATES

zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets

{SWD(2022) 382 final}


Empfehlung für eine

EMPFEHLUNG DES RATES

zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets

DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 136 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 121 Absatz 2,

gestützt auf die Verordnung (EG) Nr. 1466/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken 1 , insbesondere auf Artikel 5 Absatz 2,

gestützt auf die Verordnung (EU) Nr. 1176/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte 2 , insbesondere auf Artikel 6 Absatz 1,

auf Empfehlung der Europäischen Kommission,

unter Berücksichtigung der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates,

nach Anhörung des Wirtschafts- und Finanzausschusses,

nach Anhörung des Ausschusses für Wirtschaftspolitik,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)Die wirtschaftliche Erholung von der COVID-19-Pandemie wurde im Euro-Währungsgebiet durch eine Reihe externer Schocks unterbrochen. Insbesondere dank der entschlossenen wirtschaftspolitischen Reaktion sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene und der Aufhebung der zur Eindämmung der Pandemie ergriffenen Maßnahmen lag das BIP-Wachstum im Euro-Währungsgebiet 2021 und 2022 bei soliden 5,3 % bzw. 3,2 %. Mit einer Arbeitslosenquote, die 2022 voraussichtlich den Rekordtiefststand von 6,8 % erreichen wird, hat sich auch der Arbeitsmarkt als widerstandsfähig erwiesen. Der Anstieg der weltweiten Energiepreise, die erhöhte Unsicherheit und die Unterbrechungen der Lieferketten – allesamt Ergebnis des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine – haben die Konjunktur im zweiten Halbjahr 2022 jedoch klar verlangsamt, und aufgrund der Energiekrise wurden die Prognosen für 2023 nach unten korrigiert. 2023 wird sich das BIP-Wachstum im Euro-Währungsgebiet voraussichtlich auf nurmehr 0,3 % abschwächen, bevor 2024 wieder ein Wachstum von 1,5 % verzeichnet werden könnte. Der Energiemarkt und andere Rohstoffmärkte befeuern die Inflation, die zwischenzeitlich auf andere Produkte übergegriffen hat und 2022 einen Wert von 8,5 % erreicht. Die Inflation dürfte in den kommenden Monaten auf hohem Stand verharren und 2023 noch 6,1 % betragen, bevor sie sich 2024 wieder abschwächen dürfte. Aufgrund der nach wie vor hohen Arbeitskräftenachfrage wird erwartet, dass die Lage an den Arbeitsmärkten robust bleibt. Da ein großer Teil der Unternehmen noch immer über Arbeitskräftemangel klagt, dürfte die Arbeitslosigkeit im kommenden Jahr nur moderat ansteigen, bevor sie 2024 wieder zurückgeht. Zwischenzeitlich dürfte sich das nominale Lohnwachstum 2023 erhöhen, allerdings hinter der Inflation zurückbleiben, wodurch die Kaufkraft der privaten Haushalte abnimmt. Vor diesem Hintergrund hat sich der Leistungsbilanzüberschuss des Euro-Währungsgebiets der stark verschlechterten Energiebilanz entsprechend verringert, und die nominale Abwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar und einigen anderen Währungen seit dem zweiten Halbjahr 2021 dürfte angesichts der hohen Energiekosten die Wettbewerbsfähigkeit in der nächsten Zeit nur geringfügig steigern.

(2)Die Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Bedingungen und die großen Preisunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten erschweren die Einkommens- und Konjunkturkonvergenz im Euro-Währungsgebiet. Während die COVID-19-Pandemie bei der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu großen – wenngleich weitgehend nur vorübergehenden – Unterschieden geführt hat, sind bei der Synchronisierung der Konjunkturzyklen nur begrenzte und kurzfristige Auswirkungen zu verzeichnen. Die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Energiekrise sind im Euro-Währungsgebiet heterogen. Da die Länder einen unterschiedlichen Energiemix aufweisen und zur Abfederung der Folgen des Energieschocks unterschiedliche Maßnahmen getroffen haben, sind große Unterschiede bei den Gesamt- und Kerninflationsraten zu verzeichnen. Höhere Energiepreise und Lieferkettenengpässe haben sich in unterschiedlichem Maße auf das verarbeitende Gewerbe und den Dienstleistungssektor in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets ausgewirkt und könnten zu einer schleichenden Abnahme der relativen Wettbewerbsfähigkeit führen. Auch wenn die verfügbaren Indikatoren darauf hindeuten, dass sich Unterschiede bei der Wettbewerbsfähigkeit innerhalb des Euro-Währungsgebiets bislang in Grenzen gehalten haben, sind die Diskrepanzen, was die Leistungsbilanzsalden im Euro-Währungsgebiet angeht, in jüngster Zeit vor allem aufgrund der verschlechterten Energiebilanzen größer geworden.

(3)Um eine angemessene politische Antwort auf die verschlechterten wirtschaftlichen Aussichten und die hohe Inflation sicherzustellen, müssen Geld- und Finanzpolitik angemessen austariert werden und kohärent sein. Die Normalisierung der Geldpolitik muss auf die hohe und divergierende Inflation abzielen und gleichzeitig die etwaigen Risiken einer ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamik angehen, die die Transmission der Geldpolitik im Euro-Währungsgebiet ernsthaft bedrohen. Im derzeitigen Klima würde eine auf breiter Basis betriebene expansive Finanzpolitik zur Stützung der Nachfrage den Inflationsdruck weiter erhöhen – und dies zu einer Zeit, in der mehrere Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets ohnehin einen hohen Schuldenstand aufweisen. Benötigt wird eine Finanzpolitik, die entsprechend den Empfehlungen des Rates vom Juli 2022 3 der Wirtschafts- und Haushaltslage des jeweiligen Mitgliedstaats Rechnung trägt. Dies setzt auch voraus, dass die laufenden Ausgaben an neue Entwicklungen angepasst werden können. Zugleich sind gezielte und befristete Haushaltsmaßnahmen erforderlich, um finanzschwächere Menschen und Unternehmen zu unterstützen, Arbeitsplätze und Humankapital zu erhalten und dabei gleichzeitig Preissignale zu wahren und Anreize zur Verringerung des Energieverbrauchs zu setzen. Hierbei ist eine enge Koordinierung der politischen Maßnahmen zwischen den Mitgliedstaaten nach wie vor von zentraler Bedeutung. Bei der Abfederung der sozialen Auswirkungen der hohen Inflation spielen auch Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik eine entscheidende Rolle. Die Durchschnittslöhne halten 2022 nicht mit der Inflation Schritt. Die Lohnentwicklungen müssen in nächster Zeit sorgfältig austariert werden, um die Kaufkraft der Lohnempfänger, insbesondere der Bezieher niedriger Einkommen, zu schützen und gleichzeitig das Risiko, dass die Löhne die Inflation anheizen und die aufkommenden Divergenzen bei der Wettbewerbsfähigkeit innerhalb des Euro-Währungsgebiets und weltweit vertiefen, zu vermeiden. Eine aktive Einbeziehung der Sozialpartner trägt dazu bei, Herausforderungen – auch solche, die für die Währungsunion spezifisch sind – zu ermitteln und zu besseren politischen Lösungen zu gelangen und gewährleistet eine breitere Identifikation mit der wirtschafts- und sozialpolitischen Agenda. Angebotsseitige Maßnahmen können ebenfalls zum Rückgang der Inflation beitragen, indem sie die Erschließung alternativer Quellen für die Energieversorgung beschleunigen, den Wettbewerb verstärken, die Ressourcenallokation verbessern und das Produktivitätswachstum fördern. Auch die Risiken für die Finanzstabilität müssen kontinuierlich beobachtet werden.

(4)Die Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) und die Kohäsionsfonds sind zentrale Instrumente, um die Resilienz des Euro-Währungsgebiets zu stärken und die Konvergenz zu fördern. Mit mehr als 128 Mrd. EUR, die nach Erfüllung von Etappenzielen und Zielwerten als Vorfinanzierungen ausgezahlt wurden, kommt die Umsetzung der ARF in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets gut voran. Seit Ausbruch der Pandemie wurden im Rahmen der kohäsionspolitischen Programme mehr als 82 Mrd. EUR an die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets ausgezahlt. ARF und Kohäsionsfonds tragen in mehrerlei Hinsicht zu den politischen Prioritäten des Euro-Währungsgebiets bei: Beide fördern die Wirtschaftstätigkeit durch zusätzliche Investitionen; längerfristig sollen die geplanten Investitionen und Strukturreformen den ökologischen und digitalen Wandel vorantreiben und zugleich Produktivitätswachstum und Produktionspotenzial steigern. Ein großer Teil der im Rahmen der ARF durchgeführten Investitionen und Reformen ist für die Umsetzung der in früheren Empfehlungen für das Euro-Währungsgebiet genannten politischen Prioritäten für das Euro-Währungsgebiet von Bedeutung. Um die Reformdynamik aufrechtzuerhalten, ist es deshalb essenziell, die geplanten Reformen und Investitionen auch weiterhin dem Zeitplan entsprechend umzusetzen.

(5)Um eine kohärente wirtschaftspolitische Antwort auf EU-Ebene zu gewährleisten, werden in der Jährlichen Strategie für nachhaltiges Wachstum 4 die wichtigsten politischen Prioritäten und Leitlinien für das kommende Jahr dargelegt. Diese Strategie steht mit den Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung in Einklang und orientiert sich an den vier Komponenten wettbewerbsfähiger Nachhaltigkeit: ökologische Nachhaltigkeit, Fairness, Produktivität und makroökonomische Stabilität. Der Warnmechanismusbericht 5 enthält die Analyse der Kommission im Hinblick auf potenzielle makroökonomische Ungleichgewichte, die das ordnungsgemäße Funktionieren der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten, der Wirtschafts- und Währungsunion und der Union als Ganzes behindern können.

(6)Der rasche Anstieg der Inflation im vergangenen Jahr hat weltweit eine rasche Anpassung des geldpolitischen Kurses nach sich gezogen. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat mit der Normalisierung der Geldpolitik begonnen, um eine zeitnahe Rückkehr der Inflation zum mittelfristigen Ziel von 2 % zu gewährleisten. Sie hat ferner angekündigt, die Normalisierung der Zinssätze werde unter Berücksichtigung der Entwicklung der Wirtschaftsdaten fortgesetzt. Der jüngste Anstieg der Inflation ist zu einem wesentlichen Teil auf Lieferengpässe zurückzuführen, und die Geldpolitik wird durch unterschiedliche Inflationsraten erschwert. Eine gleichmäßige Transmission des geldpolitischen Kurses im gesamten Euro-Währungsgebiet ist eine Voraussetzung dafür, dass die Geldpolitik ihrem Auftrag gerecht werden kann.

(7)Der finanzpolitische Kurs im Euro-Währungsgebiet, gemessen als Veränderung der Nettoprimärausgaben im Verhältnis zum durchschnittlichen Potenzialwachstum, wird den Projektionen zufolge 2022 expansiv und 2023 weitgehend neutral sein, sofern die Maßnahmen im Energiebereich wie geplant zurückgenommen werden. 2023 sollte die Finanzpolitik es vermeiden, die Inflationseffekte der derzeitigen Angebotsschocks zu vergrößern, weswegen ein breit angelegter Konjunkturimpuls für die Wirtschaft weder auf nationaler Ebene noch im Euro-Währungsgebiet insgesamt gerechtfertigt ist. Besonders groß ist die Herausforderung für Mitgliedstaaten mit hoher Kerninflation, auch angesichts der ernsten wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die sich aus der Erosion der Kaufkraft der Arbeitnehmer, insbesondere der Geringverdienenden ergeben. Auch sollte an einer vorsichtigen Finanzpolitik festgehalten werden, bei der höhere Investitionen mit einer Eindämmung des Wachstums der laufenden Nettoprimärausgaben kombiniert werden. In diesem Zusammenhang stehen der für die Mitgliedstaaten erwartete weitere Anstieg bei der Inanspruchnahme der ARF und den auf nationaler Ebene finanzierten Investitionen mit der Notwendigkeit in Einklang, die öffentlichen Investitionen für den ökologischen und digitalen Wandel und für die Energieversorgungssicherheit auszuweiten. Gleichzeitig wäre eine rasch anpassungsfähige Finanzpolitik ein Teil der Antwort auf die hohe Unsicherheit und die hohen Abwärtsrisiken bei den Wirtschaftsaussichten, würde zugleich die Anreize für die Energiewende aber nicht untergraben. Die COVID-19-Pandemie hat im Euro-Währungsgebiet Rekordschuldenstände hinterlassen und es wird erwartet, dass die öffentlichen Schuldenstände in den meisten Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets deutlich über dem Stand vor der Pandemie bleiben werden. Während die kurzfristigen Tragfähigkeitsrisiken weitgehend abgenommen haben, weisen mehrere Mitgliedstaaten nach wie vor hohe mittel- und längerfristige Risiken auf und werden die steigenden Zinsen letztlich die Schuldenlast erhöhen.

(8)Als Reaktion auf den Energiepreisanstieg haben die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets Maßnahmen im Umfang von schätzungsweise 1¼ % des BIP im Jahr 2022 und bis zu 1 % im Jahr 2023 getroffen, wobei der erwartete Rückgang unter dem Vorbehalt der Energiepreisentwicklung und der planmäßigen Rücknahme der damit verbundenen Maßnahmen steht. Die bislang getroffenen Maßnahmen zielen hauptsächlich darauf ab, Preiserhöhungen abzufedern, und nur 20 % zielen direkt auf die Einkommen ab. Die Belastung solcher Unterstützungsmaßnahmen für die öffentlichen Haushalte muss in Grenzen gehalten werden, wobei deren Auswirkungen auf die Verteilung über die verschiedenen Einkommensklassen, die Auswirkungen auf die Energienachfrage, mögliche Verzerrungen des Binnenmarkts und negative Ausstrahlungseffekte auf andere Länder zu berücksichtigen sind. Zu diesem Zweck ist es wichtig, sich auf einen gemeinsamen Ansatz zu verständigen. Ein zweistufiges Energiepreismodell, bei dem finanzschwächere Verbraucher bis zu einer bestimmten Verbrauchsgrenze in den Genuss regulierter Preise kommen, kann hier hilfreich sein. Neben befristeten Maßnahmen im Energiebereich können öffentliche Investitionen dazu beitragen, die Energieversorgungssicherheit zu erhöhen und den ökologischen Wandel voranzutreiben. Seit der globalen Finanzkrise leidet das Euro-Währungsgebiet unter geringen privaten und öffentlichen Investitionen. Die in Reaktion auf die COVID-19-Krise getroffenen politischen Maßnahmen, unterstützt durch die außerordentlichen Hilfen im Rahmen von NextGenerationEU, haben dazu beigetragen, die öffentlichen Investitionen unverändert beizubehalten, was sich vor allem in den Mitgliedstaaten mit der höchsten öffentlichen Verschuldung positiv auf das Potenzialwachstum ausgewirkt hat. Weitere öffentliche Investitionen, insbesondere durch Umsetzung der Aufbau- und Resilienzpläne, der kohäsionspolitischen Programme und der nationalen Energie- und Klimapläne, die von den Mitgliedstaaten bis Juni 2023 aktualisiert werden müssen, sind für ein nachhaltiges und kohärentes Wachstum und für den Vollzug des ökologischen und digitalen Wandels von entscheidender Bedeutung.

(9)Am 9. November 2022 hat die Kommission die Mitteilung über Leitlinien für eine Reform des EU-Rahmens für die wirtschaftspolitische Steuerung 6 vorgelegt, um die Wirksamkeit der wirtschaftspolitischen Überwachung und der Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der Union zu verbessern. Diese Mitteilung zielt darauf ab, eine vereinfachte und integrierte Architektur für die Makrofinanzüberwachung festzulegen, um die langfristige Tragfähigkeit der Schulden sicherzustellen und ein nachhaltiges und inklusives Wachstum zu fördern. Ihre zentralen Elemente bestehen darin, den Rahmen zu vereinfachen, die Identifikation mit dessen Zielen auf nationaler Ebene zu erhöhen und die Durchsetzung zu verstärken. In der Mitteilung wird vorgeschlagen, die haushaltspolitischen Zielpfade innerhalb eines transparenten gemeinsamen EU-Rahmens auf die von den Mitgliedstaaten vorgeschlagenen mittelfristigen Pläne mit finanzpolitischen Strukturreformen zu stützen. Diese Pläne würden Haushalts-, Reform- und Investitionszusagen zur Förderung der Schuldentragfähigkeit und eines nachhaltigen Wachstums enthalten und die Prioritäten der EU und der Mitgliedstaaten widerspiegeln. Solche vom Rat anzunehmenden Reform- und Investitionszusagen würden einen längeren Zeitraum für die Haushaltskonsolidierung ermöglichen. Während die im Vertrag festgelegten Referenzwerte (3 % des BIP für das Defizit und 60 % des BIP für den Schuldenstand) erhalten blieben, würde die Überwachung sich stärker am Risiko orientieren und ihren Fokus auf die langfristige Tragfähigkeit der Schulden richten. Für das Verfahren bei einem makroökonomischen Ungleichgewicht (MIP) wird in der Mitteilung eine stärkere Zukunftsorientierung vorgeschlagen, um sich abzeichnende Risiken so früh wie möglich erkennen zu können. Die Beurteilung, ob Ungleichgewichte bestehen, würde weiterhin anhand der drei Kriterien Schwere, Entwicklung und politische Reaktion vorgenommen. Allerdings würden bei der Beurteilung die Kriterien Entwicklung und politische Reaktion größeres Gewicht erhalten.

(10)Der Arbeitsmarkt im Euro-Währungsgebiet hat sich dank der politischen Fördermaßnahmen während der COVID-19-Krise als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen. Im ersten Quartal 2022 lag die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden über dem Vor-Pandemie-Stand und die Beschäftigung stieg im gesamten ersten Halbjahr 2022 kontinuierlich an, sodass sie im zweiten Quartal 2022 historische Höchststände erreichte und die Arbeitslosenquote auf 6,8 % zurückging und damit den niedrigsten Stand seit Einführung des Euro verzeichnete. Was die Integration von Frauen, jungen Menschen, Menschen mit Behinderungen und schutzbedürftigen Gruppen in den Arbeitsmarkt betrifft, besteht allerdings nach wie vor Raum für Verbesserungen. Die erwartete Konjunkturabschwächung dürfte die Beschäftigungsaussichten in nächster Zeit dämpfen, wobei die Arbeitslosenquote 2023 und 2024 leicht ansteigen dürfte. Es gibt kaum Hinweise darauf, dass die COVID-19-Krise beim Angebot passgenauer Arbeitsstellen eine strukturelle Verschlechterung bewirkt hat. Doch bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Arbeitsmärkten in den einzelnen Mitgliedstaaten und Wirtschaftszweigen. Seit 2019 wurden in den Bereichen Informationstechnologie und freiberufliche Dienstleistungen die meisten neuen Arbeitsplätze geschaffen, während bei Beförderung, Beherbergung und Gastronomie Arbeitsplätze verloren gingen. Auch der demografische Wandel dürfte bei der Zuspitzung der Lage an den Arbeitsmärkten im Euro-Währungsgebiet eine Rolle spielen. Um dem derzeitigen und dem künftigen Fachkräftemangel entgegenzuwirken, wird es angemessener und effektiver Investitionen in eine hochwertige allgemeine Bildung und berufliche Weiterbildung in allen Altersgruppen bedürfen. Das Lohnwachstum hat sich 2022 leicht erhöht, was zu einem Gesamtanstieg der Lohnstückkosten geführt hat. Insgesamt ist es allerdings moderat geblieben und wird den Projektionen zufolge deutlich hinter der Inflation zurückbleiben. Die Reallöhne dürften 2022 pro Arbeitnehmer um 2,8 % zurückgehen und 2023 um weitere 0,9 % sinken, bevor 2024 ein Teil dieses Verlusts wieder aufgeholt wird. Verankerte Inflationserwartungen spielen bei der Minderung des Risikos, dass ein rascher Anstieg der Lohnforderungen die Inflation weiter ankurbelt, eine zentrale Rolle.

(11)Strukturreformen, einschließlich solcher, die im Rahmen des europäischen Grünen Deals durchgeführt oder durch die ARF und den REPowerEU-Plan gefördert werden, sind für die Stärkung des Binnenmarkts und der Widerstandsfähigkeit der Volkswirtschaften des Euro-Währungsgebiets von entscheidender Bedeutung. Produktivität und Wachstum können durch weitere Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen erhöht werden, unter anderem durch den Abbau von Investitionshindernissen und die Reallokation von Kapital, die Modernisierung der öffentlichen Verwaltungen, die Beseitigung restriktiver Regulierungsrahmen und die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren. Reformen im Verbund mit Investitionen sind für die Erreichung des ökologischen und digitalen Wandels von entscheidender Bedeutung, was insbesondere für die Erhöhung der Energieeffizienz, die Förderung der Dekarbonisierung, die Erhöhung des Angebots an erneuerbaren Energiequellen und die beschleunigte Einführung sauberer Energietechnologien sowie die Förderung von Weiterbildung und Umschulung gilt. Der rasche und anhaltende Anstieg der Energiepreise setzt die Geschäftsmodelle energieintensiver Industriezweige und kleiner und mittlerer Unternehmen unter Druck, was sich auf Arbeitsplätze und Humankapital auswirkt. Effiziente Insolvenzregelungen können den Übergang fördern und die Reallokation von Ressourcen erleichtern. Die Insolvenzregelungen im Euro-Währungsgebiet weisen nach wie vor große Unterschiede auf, und eine Steigerung ihrer Effizienz und eine größere Harmonisierung würden die wirtschaftliche Anpassung und den Binnenmarkt für Kapital fördern.

(12)Der Bankensektor hat sich 2022 bislang insgesamt als widerstandsfähig erwiesen. Auch wenn die Kapitalausstattung der Banken im Euro-Währungsgebiet insgesamt als gut anzusehen ist und sich die Rentabilität seit 2021 erhöht hat, könnte eine drastische Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Aussichten im Verbund mit steigenden Zinsen die Aktiva-Qualität verschlechtern. Vor dem Hintergrund verschärfter Kreditvergabebedingungen ist eine rechtzeitige Überwachung von Risiken, ein proaktiver Dialog mit Schuldnern und ein aktives Management notleidender Kredite wichtig, damit die Banken ihre Fähigkeit zur Finanzierung der Wirtschaft behalten. Die Resilienz der Kreditinstitute könnte durch strukturelle Faktoren wie Überkapazitäten und Wettbewerb seitens neuer Finanzdienstleister geschmälert werden. Auch könnten an den Finanzmärkten andere Risiken entstehen. So könnten insbesondere höhere Risikoprämien und verschärfte Liquiditätsbedingungen einen Rückgang der Aktivapreise nach sich ziehen. Aufgrund von Nachschussforderungen könnten sich einige Energieunternehmen, die ohnehin schon Liquiditätsengpässe verzeichnen, weiter unter Druck gesetzt sehen. Auch muss genau beobachtet werden, wie die Wohn- und Gewerbeimmobilienmärkte auf die Zinserhöhungen reagieren, da steigende Hypothekenzinsen und die abnehmende Fähigkeit zur Kreditbedienung die Wohnungspreise unter Druck setzen und konjunkturelle Risiken verursachen können. Darüber hinaus muss den zunehmenden Cyberrisiken größere Aufmerksamkeit geschenkt werden, und die jüngst vereinbarte Verordnung über die Betriebsstabilität digitaler Systeme wird die Fähigkeit der Finanzunternehmen zur Abwehr von Risiken im Zusammenhang mit Informations- und Kommunikationstechnologien stärken. Im September 2022 gab der Europäische Ausschuss für Systemrisiken eine Warnung heraus, in der Institute aus dem Privatsektor, Marktteilnehmer und einschlägige Behörden dazu aufgefordert wurden, sich auch weiterhin auf Szenarien mit dem Risiko von Extremverlusten vorzubereiten. 7

(13)Im Juni 2022 kam die Eurogruppe überein, dass die Arbeiten zur Zukunft der Bankenunion in erster Linie auf die Stärkung des gemeinsamen Rahmens für das Bankenkrisenmanagement und das nationale Einlagensicherungssystem gerichtet sein sollten, um dadurch über einen Rahmen zu verfügen, der für Banken jeder Art geeignet ist. Die Eurogruppe verpflichtete sich, den Stand der Bankenunion zu überprüfen und einvernehmlich weitere Maßnahmen bezüglich der anderen, zur Stärkung und Vollendung der Bankenunion noch ausstehenden Elemente zu ermitteln. Die Kommission hat ihre Absicht angekündigt, Anfang 2023 einen Legislativvorschlag zum Krisenmanagement und zur Einlagenversicherung (CMDI) vorzulegen. Änderungen am CMDI-Rahmen können dazu beitragen, die Resilienz des Bankensektors im Euro-Währungsgebiet zu erhöhen. Die Kommission hat ferner angekündigt, dass sie in der ersten Jahreshälfte 2023 einen Legislativvorschlag vorlegen wird, mit dem der digitale Euro geschaffen, seine zentralen Aspekte geregelt und seine Einführung durch die EZB im Jahr 2026 ermöglicht würde. Ein digitaler Euro, der das Euro-Bargeld ergänzen würde, könnte für die Wirtschaft des Euro-Währungsgebiets mit mehreren Vorteilen verbunden sein. Er würde insbesondere die Digitalisierung der Wirtschaft und Innovationen im Massenzahlungsverkehr fördern. Während die internationale Rolle des Euro in den letzten Jahren weitgehend stabil geblieben ist, könnte sie noch weiter gestärkt werden. Die Entwicklung eines digitalen Euro könnte die wirtschaftliche und finanzielle Autonomie des Euro-Währungsgebiets und der Union auch vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Lage vergrößern und die globale Finanzstabilität verbessern —

EMPFIEHLT,

dass die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets in den Jahren 2023 und 2024 einzeln (unter anderem durch Umsetzung ihrer Aufbau- und Resilienzpläne) und gemeinsam im Rahmen der Euro-Gruppe

1.die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten auch weiterhin koordinieren, um eine zeitnahe Rückkehr der Inflation zum mittelfristigen EZB-Ziel von 2 % zu fördern; 2023 bei der Planung haushaltspolitischer Maßnahmen, mit denen die Auswirkungen der hohen Energiepreise auf finanzschwächere Haushalte und Unternehmen abgefedert werden sollen, von einer breit angelegten Stützung der Gesamtnachfrage absehen; sich auf einen gemeinsamen Ansatz einigen und insbesondere breit angelegte, preisseitige Maßnahmen durch eine kosteneffiziente zweistufige Energiebepreisung ersetzen, die Anreize für Energieeinsparungen sicherstellt; ausreichend differenzierte, mittelfristige finanzpolitische Strategien festlegen, um die langfristige Tragfähigkeit der Schulden zu gewährleisten, und das Wachstumspotenzial durch schrittweise Konsolidierung zur Erreichung einer dem Grundsatz der Vorsicht entsprechenden mittelfristigen Haushaltslage und durch Investitionen und Reformen auf nachhaltige Weise steigern.

2.öffentliche Investitionen, die zur Erhöhung der wirtschaftlichen und sozialen Resilienz und zur Förderung des ökologischen und digitalen Wandels, u. a. zur Erreichung höherer Energieeffizienz und zur Umstellung auf erneuerbare Energiequellen erforderlich sind, in großem Maßstab aufrechterhalten; die kohäsionspolitischen Programme und die Aufbau- und Resilienzpläne umsetzen und dadurch die rechtzeitige Durchführung von Reformen und Investitionen sicherstellen und gewährleisten, dass Aktualisierungen an den Plänen zielgerichtet vorgenommen werden und die Gesamtambition nicht schmälern; weitere Schritte unternehmen, auch im Rahmen des REPowerEU-Plans, um die Umstellung auf saubere Energieträger zu beschleunigen und die Unabhängigkeit der Union im Energiebereich zu erhöhen.

3.den nationalen Gepflogenheiten entsprechend unter Achtung der Rolle der Sozialpartner Lohnentwicklungen fördern, die den Kaufkraftverlust der Arbeitnehmer, insbesondere der Geringverdienenden abschwächen, gleichzeitig aber den mittelfristigen Produktivitätsentwicklungen Rechnung tragen und Zweitrundeneffekte auf die Inflation begrenzen; erforderlichenfalls soziale Sicherungssysteme entwickeln und anpassen, um finanzschwächeren Haushalten bei der Bewältigung des Energiepreisschocks und des ökologischen und digitalen Wandels zu helfen und dabei dem erhöhten Armutsrisiko entgegenwirken; die aktive Arbeitsmarktpolitik weiter verbessern und Maßnahmen zur Abschwächung des Fachkräftemangels einleiten; die wirksame Beteiligung der Sozialpartner an der Politikgestaltung sicherstellen und den sozialen Dialog stärken.

4.sicherstellen, dass die Unterstützung von Unternehmen, insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen, die wegen der Energiekrise finanziell unter Druck geraten, kostenwirksam und befristet ist und sich auf überlebensfähige Unternehmen beschränkt. Die auch im Rahmen des Befristeten Krisenrahmens für staatliche Beihilfen gewährte Unterstützung sollte die Anreize für Energieeffizienz aufrechterhalten, die Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt nicht verzerren und die Integrität des Binnenmarkts wahren; die Effizienz der Insolvenzrahmen erhöhen und zu diesem Zweck sicherstellen, dass Insolvenzen und Unternehmensumstrukturierungen wirkungsvoll und zeitnah bearbeitet werden; zu Fortschritten bei der Kapitalmarktunion beitragen.

5.die Makrofinanzstabilität erhalten, die Kanäle für die Kreditvergabe an die Wirtschaft aufrechterhalten und die finanzielle Integration weiter fördern; die Risiken, die insbesondere mit Spannungen im Energiesektor, steigenden Zinsen, notleidenden Krediten und Entwicklungen an den Immobilienmärkten verbunden sind, beobachten; sich weiterhin aktiv an den Vorbereitungen für die Einführung eines digitalen Euro beteiligen.

Bei weiteren Schritten zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) sollten die Erkenntnisse berücksichtigt werden, die bei der Gestaltung und Umsetzung der umfassenden wirtschaftspolitischen Antwort der Union auf die COVID-19-Krise, einschließlich der ARF und der Überprüfung der wirtschaftspolitischen Steuerung gewonnen wurden. Weitere Fortschritte bei der Vertiefung der WWU sollten unter uneingeschränkter Achtung des Binnenmarkts der Union und offen und transparent gegenüber den nicht dem Euro-Währungsgebiet angehörenden Mitgliedstaaten erfolgen.

Geschehen zu Straßburg am […]

   Im Namen des Rates

   Der Präsident /// Die Präsidentin

(1)    ABl. L 209 vom 2.8.1997, S. 1.
(2)    ABl. L 306 vom 23.11.2011, S. 25.
(3)    Empfehlungen des Rates vom 12. Juli 2022 zu den Nationalen Reformprogrammen mit Stellungnahmen des Rates zu den Stabilitätsprogrammen 2022 (ABl. C 334 vom 1.9.2022).
(4)    Jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum 2023, COM (2022) 780.
(5)    Warnmechanismusbericht 2023, COM (2022) 781.
(6)    Mitteilung über Leitlinien für eine Reform des EU-Rahmens für die wirtschaftspolitische Steuerung (COM(2022) 583 final).
(7)    Warning of the European Systemic Risk Board of 22 September 2022 on vulnerabilities in the Union financial system (Warnung des Europäischen Ausschusses für Systemrisiken vom 22. September 2022 über Anfälligkeiten im Finanzsystem der Union) (ESRB/2022/7).
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