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Document 52019DC0162

BERICHT DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DEN RAT über die Umsetzung der Richtlinie 2003/86/EG betreffend das Recht auf Familienzusammenführung

COM/2019/162 final

Brüssel, den 29.3.2019

COM(2019) 162 final

BERICHT DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DEN RAT

über die Umsetzung der Richtlinie 2003/86/EG betreffend das Recht auf Familienzusammenführung


I. EINLEITUNG

Am 22. September 2003 nahm der Rat die Richtlinie 2003/86/EG an, in der gemeinsame Modalitäten für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig in Mitgliedstaaten aufhalten, festgelegt sind (nachstehend die „Richtlinie“). Sie gilt für alle Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks, Irlands und des Vereinigten Königreichs 1 . Gemäß Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie regelt sie nicht die Situation von Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige von Unionsbürgern sind.

In den vergangenen 30 Jahren war die Familienzusammenführung einer der Hauptgründe für die Einwanderung in die EU. 2017 wurde 472 994 Menschen der Zuzug in die EU-25 aus Gründen der Familienzusammenführung gestattet, was 28 % aller Erstgenehmigungen entspricht, die Drittstaatsangehörigen in der EU-25 ausgestellt wurden 2 .

In vielen Mitgliedstaaten macht die Familienzusammenführung einen erheblichen Anteil an der legalen Einwanderung aus. 2008 veröffentlichte die Kommission ihren ersten Bericht über die Anwendung der Richtlinie 3 , in dem sie die verschiedenen von den Mitgliedstaaten gewählten Politikansätze für eine effektive Steuerung des großen Zuzugs von Migranten aufgrund der Familienzusammenführung herausstrich. In den letzten Jahren haben viele Mitgliedstaaten insbesondere die Modalitäten für die Familienzusammenführung von Flüchtlingen (und auch von Personen mit subsidiärem Schutzstatus, auf die die Richtlinie keine Anwendung findet) neu eingeführt oder revidiert. Trotz der jüngsten Herausforderungen durch die Migration und der hohen Zahl von Antragstellern auf einen internationalen Schutzstatus, kamen Personen, denen internationaler Schutz gewährt wird, weiterhin in den Genuss günstigerer Regelungen für die Familienzusammenführung als andere Kategorien von Drittstaatsangehörigen, und Personen mit subsidiärem Schutzstatus profitieren insgesamt von einem vergleichbaren Niveau gesetzlich gesicherten Schutzes wie Flüchtlinge 4 .

Die Kommission hat diese politischen und legislativen Entscheidungen beobachtet, die innerhalb des durch die Richtlinie gewährten Ermessensspielraums bleiben und das darin festgelegte Recht auf Familienzusammenführung respektieren müssen. 2014 gab die Kommission eine Mitteilung 5 heraus, die den Mitgliedstaaten Leitlinien zur Umsetzung der Richtlinie an die Hand gab. Der Leitfaden bietet eine einheitliche Interpretation der wichtigsten Bestimmungen der Richtlinie, die zu sinnvollen Änderungen in den Gesetzen und Praktiken einiger Mitgliedstaaten führte 6 .

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat bei der Umsetzung der Richtlinie ebenfalls eine entscheidende Rolle gespielt, indem er eine umfassende Rechtsprechung zur Auslegung der sensibelsten Bestimmungen der Richtlinie lieferte, vor allem aber durch die Beantwortung von Vorlagefragen nationaler Gerichte der Mitgliedstaaten.

Der vorliegende Bericht bietet einen Überblick über die gegenwärtige Situation der Umsetzung der Richtlinie durch die Mitgliedstaaten, wobei das Hauptaugenmerk auf die Kernfragen gerichtet wird, die sich aus der Analyse der Kommission über die Befolgung der Richtlinie, eingegangene Beschwerden und diesbezügliche Urteile des EuGH ergeben haben. In dieser Hinsicht sollte betont werden, dass bei der Kommission zahlreiche Beschwerden bezüglich der Familienzusammenführung von Drittstaatsangehörigen eingegangen sind. 7 Die wichtigsten aufgekommenen Fragen betreffen die Weigerung, Visa oder Aufenthaltstitel auszustellen, Nachweise der Identität oder der familiären Bindung als Ablehnungsgrund, lange Bearbeitungszeiten durch Verwaltungen, unverhältnismäßige Gebühren für die Ausstellung von Genehmigungen, den Begriff der festen und regelmäßigen Einkünfte, den Zugang von Familienangehörigen zum Arbeitsmarkt, nicht ordnungsgemäß umgesetzte Wartefristen und die Verhältnismäßigkeit der Bedingungen für die Vorintegration.

Eine jüngst durch das Europäische Migrationsnetzwerk (EMN) durchgeführte Studie 8 , in der die rechtlichen und praktischen Herausforderungen bei der Anwendung der Richtlinie bewertet wurden, ist ebenfalls in diesen Bericht eingeflossen. In der Studie werden drei Hauptprobleme in den Vordergrund gestellt, denen sich die Antragsteller gegenübersehen. Das erste betrifft die Verpflichtung, persönlich in einer diplomatischen Vertretung zu erscheinen, um den Antrag einzureichen 9 ; diese Verpflichtung führt vor allem dann zu praktischen Problemen, wenn der Antrag in einem kleinen Mitgliedstaat gestellt wird, der nicht unbedingt in allen Ländern eine diplomatische Vertretung hat. Das zweite große Problem hat mit den oftmals sehr langen Bearbeitungszeiten für die Anträge zu tun. 10 Das dritte Hauptproblem ist das Fehlen von Unterlagen, die für die Bearbeitung des Antrags gebraucht werden 11 , vor allem des Identitätsnachweises und des Nachweises familiärer Bindungen. Aus Sicht der nationalen Behörden verzeichnete die Studie als eine wesentliche Herausforderung den Nachweis von Zwangs- oder Scheinehen bzw. Scheinlebenspartnerschaften sowie falschen Angaben zur Elternschaft 12 , was gründliche Ermittlungen erfordert und seinerseits die Bearbeitungszeit der Anträge beeinflussen kann.

II. KONFORMITÄT DER UMSETZUNGSMASSNAHMEN

Recht auf Familienzusammenführung – Artikel 1

Die Richtlinie erkennt ein bestehendes Recht auf Familienzusammenführung an. Sie erlegt den Mitgliedstaaten eine genaue positive Verpflichtung auf und verlangt von ihnen in den durch die Richtlinie bestimmten Fällen eine Familienzusammenführung für bestimmte Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne ihnen diesbezüglich einen Spielraum zuzugestehen. Der Gegenstand der Richtlinie hat sich korrekt in den nationalen Rechtsvorschriften aller Mitgliedstaaten niedergeschlagen, auch wenn die meisten 13 keine spezifische Bestimmung haben, die Artikel 1 entspricht, welcher den Zweck der Richtlinie beschreibt und daher nicht eigens umgesetzt werden muss.

Bestimmungen von Schlüsselbegriffen – Artikel 2

Insgesamt wurden die in der Richtlinie festgesetzten Begriffsbestimmungen von der Mehrheit der Mitgliedstaaten korrekt umgesetzt. In den Fällen, in denen Mitgliedstaaten die Begriffsbestimmungen nicht ausdrücklich umgesetzt haben, und insbesondere die Definition des „Zusammenführenden“, können diese gleichwohl aus den Bestimmungen abgeleitet werden, welche die Voraussetzungen für die Familienzusammenführung festlegen.

Anwendungsbereich – Artikel 3

Zusammenführender

Damit Drittstaatsangehörige als Zusammenführende infrage kommen, müssen sie sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, einen Aufenthaltstitel von mindestens einjähriger Gültigkeit (ungeachtet der Art des Titels) und begründete Aussicht darauf haben, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erlangen.

Artikel 3 wurde von allen Mitgliedstaaten korrekt umgesetzt. An dieser Stelle muss betont werden, dass der nationale Rechtsrahmen in einigen Mitgliedstaaten Bestimmungen enthält, die günstiger sind als Artikel 3 (beispielsweise haben Bulgarien, Ungarn, die Niederlande und die Slowakei das Kriterium der begründeten Aussicht auf ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht nicht umgesetzt), was nach der Richtlinie zulässig ist.

Familienangehörige von Unionsbürgern

Sowohl der Zusammenführende als auch der Familienangehörige muss Drittstaatsangehöriger sein, um in den Anwendungsbereich der Richtlinie zu fallen. Daraus folgt, dass Familienangehörige von Unionsbürgern aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen sind. Sie können indes unter die Richtlinie 2004/38/EG 14 fallen, falls es sich um Familienangehörige von Unionsbürgern handelt, die sich in einen anderen Mitgliedstaat als den, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, begeben oder sich dort aufhalten. Gleichwohl unterliegt die Familienzusammenführung von Unionsbürgern, die in dem Mitgliedstaat leben, dessen Staatsbürger sie sind, nicht dem Unionsrecht, sondern verbleibt in der Zuständigkeit des Einzelstaats. In einem jüngst ergangenen Urteil 15 hat der EuGH befunden, dass er nach Artikel 267 AEUV zuständig ist, Vorschriften der Richtlinie zur Familienzusammenführung auszulegen, wenn die fragliche Vorschrift durch das nationale Recht für unmittelbar und unbedingt auf Familienangehörige eines Unionsbürgers anwendbar erklärt worden ist, der von seinem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat.

In der Praxis gleichen sich diese Regelungen in Spanien, Litauen, den Niederlanden und Schweden weitgehend. Wo Unterschiede bestehen, sind die Bestimmungen für Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige nicht mobiler Unionsbürger sind, normalerweise vorteilhafter. Solche Bestimmungen können z. B. umfassen 16 : eine weiter gefasste Definition der Familie 17 ; eine Ausnahme von den spezifischen Voraussetzungen, die Familienangehörige erfüllen müssen 18 ; keine Einkommensschwelle 19 ; ein geringerer Referenzbetrag oder eine weniger beschwerliche Bewertung der wirtschaftlichen Umstände 20 ; keine bzw. eine verkürzte Wartezeit 21 ; keine Kontingentierung 22 ; freier Zugang zum Arbeitsmarkt 23 .

Asylbewerber und Personen mit vorübergehendem oder subsidiärem Schutzstatus

Personen, die vorübergehenden oder subsidiären Schutz genießen, sowie Asylbewerber sind ebenfalls von der Richtlinie ausgenommen 24 . Gleichwohl hat die Kommission in ihrem Leitfaden 25 betont, dass die Richtlinie nicht dahingehend ausgelegt werden sollte, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, Personen mit vorübergehendem oder subsidiärem Schutzstaus das Recht auf Familienzusammenführung zu verweigern. In dem Leitfaden wurden die Mitgliedstaaten außerdem ermutigt, Regelungen einzuführen, die diesen Kategorien von Personen Rechte auf Familienzusammenführung einräumen, die denen der Flüchtlinge vergleichbar sind. In einem jüngst ergangenen Urteil 26 hat der EuGH befunden, dass er zuständig ist, die Vorschriften der Richtlinie bezüglich des Rechts auf Familienzusammenführung eines subsidiär Schutzberechtigten auszulegen, wenn diese Vorschriften durch das nationale Recht für auf solche Fälle unmittelbar und unbedingt anwendbar erklärt worden sind.

In vielen Mitgliedstaaten können Personen mit subsidiärem Schutzstatus unter denselben Voraussetzungen die Familienzusammenführung beantragen wie Flüchtlinge. 27 In bestimmten Mitgliedstaaten sieht das Gesetz eine Familienzusammenführung mit Personen, die subsidiären Schutz genießen, frühestens drei Jahre (Österreich) oder zwei Jahre (Lettland) nach Erwerb des subsidiären Schutzstatus vor.

Eheschließungen oder eingetragene Lebenspartnerschaften mit Personen, die subsidiären Schutz genießen oder als Flüchtlinge anerkannt sind, müssen bereits im Herkunftsland oder vor der Ankunft bestanden haben. 28 Zypern gestattet Personen mit subsidiärem Schutzstatus keine Antragstellung auf Familienzusammenführung, während andere Mitgliedstaaten wie Tschechien ihnen dies im Rahmen einer einzelstaatlichen Regelung (parallel zur Richtlinie über die Familienzusammenführung) gestatten. Deutschland schließlich hat unlängst die Familienzusammenführung für Personen, die subsidiären Schutz genießen, eingeschränkt und die Familienzusammenführung für all jene ausgesetzt, denen nach Mitte März 2016 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde. Im August 2018 wurde die Aussetzung für ein Monatskontingent von 1 000 Familienangehörigen teilweise aufgehoben.

Berechtigte Familienangehörige – Artikel 4 Absatz 1

Familienangehörige, die berechtigt sind, sich dem Zusammenführenden anzuschließen, sind als Mitglieder der „Kernfamilie“: der Ehegatte des Zusammenführenden und minderjährige Kinder des Zusammenführenden oder des Ehegatten.

Ehegatte

Artikel 4 Absatz 1 gewährt dem Ehegatten des Zusammenführenden das Recht auf Familienzusammenführung. Die meisten Mitgliedstaaten haben diese Anforderung korrekt umgesetzt.

Im Falle einer Mehrehe 29 ist nur die Zusammenführung mit einem Ehegatten gestattet, und Kindern anderer Ehegatten kann die Einreise zur Vereinigung mit dem Zusammenführenden verweigert werden (Artikel 4 Absatz 4). Außerdem können Mitgliedstasten für den Zusammenführenden und den Ehegatten ein Mindestalter festlegen (Artikel 4 Absatz 5). Die meisten Mitgliedstaaten haben diese freiwillige Klausel umgesetzt, mit der Begründung, dass damit Zwangsehen unterbunden werden könnten. Fünf Mitgliedstaaten 30 haben als Mindestalter 21 Jahre festgesetzt, den von der Richtlinie vorgesehenen oberen Grenzwert.

Die meisten Mitgliedstaaten gestatten gleichgeschlechtlichen Partnern die Beantragung einer Familienzusammenführung. 31 Eine geringere Anzahl von Mitgliedstaaten lässt dies nicht zu. 32 In neun Mitgliedstaaten haben gleichgeschlechtliche Paare das gleiche Recht auf Familienzusammenführung wie Ehegatten unterschiedlichen Geschlechts. 33  

In seinem Urteil im Fall Marjan Noorzia 34 musste der EuGH klären, ob sich das nach Artikel 4 Absatz 5 der Richtlinie vorgesehene Mindestalter von 21 Jahren auf den Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung oder auf den Zeitpunkt der Bescheidung des Antrags bezieht. Der Gerichtshof kam zu dem Urteil, dass  Artikel 4 Absatz 5 dahingehend auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach Ehegatten und eingetragene Partner das 21. Lebensjahr bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung vollendet haben müssen.

In seinem Urteil analysierte der Gerichtshof den Zweck und die Verhältnismäßigkeit des Erfordernisses des Mindestalters und erklärte: „In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass das von den Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86 festgesetzte Mindestalter letztlich dem Alter entspricht, in dem eine Person nach Auffassung des betreffenden Mitgliedstaats nicht nur für die Verweigerung einer erzwungenen Eheschließung die nötige Reife besitzen dürfte, sondern auch für die Entscheidung, sich freiwillig mit dem Ehegatten in einem anderen Land niederzulassen, um dort mit ihm ein Familienleben zu führen und sich dort zu integrieren. (...) Eine solche Maßnahme stellt auch nicht das Ziel der Verhinderung von Zwangsehen in Frage, da sie die Annahme zulässt, dass es wegen der größeren Reife weniger leicht sein wird, die Betroffenen dahin zu beeinflussen, dass sie eine Zwangsehe schließen und die Familienzusammenführung akzeptieren, wenn sie bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung das Alter von 21 Jahren erreicht haben müssen, als wenn sie zu diesem Zeitpunkt jünger als 21 Jahre wären.“

Minderjährige Kinder

Als minderjährige Kinder gelten Personen, die das auf nationaler Ebene festgelegte Volljährigkeitsalter (gewöhnlich 18 Jahre) noch nicht erreicht haben und nicht verheiratet sind. Die Richtlinie lässt bei der Familienzusammenführung von minderjährigen Kindern zwei Beschränkungen unter der Voraussetzung zu, dass sie zum Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie bereits in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates vorgesehen sind (sogenannte „Stillstandsklausel“).

Erstens kann ein Mitgliedstaat bei einem Kind über 12 Jahren, das unabhängig von seiner Familie ankommt, prüfen, ob es ein in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenes Integrationskriterium erfüllt. Gleichwohl urteilte der EuGH 35 , dass diese Bestimmung das Kindeswohl zu berücksichtigen hat. Nur Deutschland macht von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch. 

Zweitens können Mitgliedstaaten verlangen, dass Anträge betreffend die Familienzusammenführung von Kindern vor der Vollendung des 15. Lebensjahres gestellt werden müssen (Artikel 4 Absatz 6). Kein Mitgliedstaat hat von dieser Einschränkung Gebrauch gemacht. Insofern es sich bei dieser Bestimmung um eine Stillstandsklausel handelt, sind solche Einschränkungen im Rahmen der nationalen Rechtsvorschriften mittlerweile untersagt.

Was minderjährige Kinder anbelangt, sind zwei Urteile des EuGH von besonderem Interesse. In den verbundenen Rechtssachen O. und S. und Maahanmuuttovirasto 36 bestätigte der Gerichtshof die allgemeine Regel, dass die wesentlichen Bestimmungen der Richtlinie 37   im Lichte der Artikel 7 und 24 Absätze 2 und 3 der EU-Grundrechtecharta sowie des Artikels 5 Absatz 5 jener Richtlinie ausgelegt und angewandt werden müssen. Diese Bestimmungen verlangen von den Mitgliedstaaten, die fraglichen Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohls der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, das Familienleben zu fördern, zu prüfen müssen.

In einem anderen, jüngeren Fall 38 , A und S, urteilte der EuGH, dass im Rahmen der Familienzusammenführung von Flüchtlingen der Zeitpunkt der Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats und nicht der Zeitpunkt der Antragstellung zu berücksichtigen ist, um zu bestimmen, ob eine Person als „unbegleiteter Minderjähriger“ anzusehen ist. Nach dem in diesem Fall ergangenen Urteil muss der Begriff „unbegleiteter Minderjähriger“ so verstanden werden, dass er auch für Personen gilt, die zum Zeitpunkt ihrer Einreise unter 18 Jahre alt waren, aber während des Asylverfahrens volljährig werden und nach Vollendung des 18. Lebensjahres den Antrag auf Familienzusammenführung stellen.

Sonstige Familienangehörige – Artikel 4 Absätze 2 und 3

Zusätzlich zur Kernfamilie können Mitgliedstaaten abhängige Eltern und unverheiratete erwachsene Kinder des Zusammenführenden oder seines Ehegatten sowie nicht eheliche Partner des Zusammenführenden (die nachweislich in einer auf Dauer angelegten Beziehung oder einer eingetragenen Partnerschaft mit ihm leben) als Familienangehörige anerkennen.

Mehrere Mitgliedstaaten haben beschlossen, die Zahl der antragsberechtigten Familienangehörigen zu erweitern. Viele von ihnen 39 entschieden sich gleichwohl, Verwandte in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden oder seines Ehegatten, wenn letztere für ihren Unterhalt aufkommen und erstere in ihrem Herkunftsland keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben, nicht einzubeziehen. Italien hat diese Möglichkeit nur teilweise umgesetzt, indem sie nur für die Verwandten ersten Grades des Zusammenführenden gilt.

Abgesehen von Verwandten ersten Grades des Zusammenführenden und seines Ehegatten gewährt Artikel 4 Absatz 2 außerdem den unverheirateten erwachsenen Kindern des Zusammenführenden und seines Ehegatten die Möglichkeit der Familienzusammenführung, wenn sie aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können. Diese Möglichkeit wird in fünfzehn Mitgliedstaaten umgesetzt. 40

Artikel 4 Absatz 3 gestattet die Einreise und Niederlassung des eingetragenen Partners des Zusammenführenden sowie des nicht ehelichen Lebenspartners, der nachweislich mit dem Zusammenführenden in einer auf Dauer angelegten Beziehung lebt. Nur Spanien und Schweden wenden diese Möglichkeit voll an.

Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung

Artikel 7 erlaubt den Mitgliedstaaten, zwei separate Arten von Erfordernissen festzulegen. Erstens dürfen sie den Nachweis verlangen, dass der Zusammenführende über Wohnraum, eine Krankenversicherung und feste und regelmäßige Einkünfte verfügt. Zweitens dürfen sie von Drittstaatsangehörigen verlangen, dass sie Integrationsmaßnahmen nachkommen.

Wohnraum – Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a

Die Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit, einen Nachweis darüber zu verlangen, dass der Zusammenführende über Wohnraum verfügt, der für eine vergleichbar große Familie in derselben Region als üblich angesehen wird. Die meisten Mitgliedstaaten haben diese Option umgesetzt, mit Ausnahme von Finnland, Kroatien, den Niederlanden und Slowenien. Die Größe des als geeignet angesehen Wohnraums schwankt zwischen den Mitgliedstaaten, auch wenn einige (Lettland, Schweden) anscheinend keine spezifischen Kriterien zur Bewertung dieser Eignung eingeführt haben 41 . 

Krankenversicherung – Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b

Die Möglichkeit, eine Krankenversicherung zu verlangen, wurde ausgiebig genutzt, mit Ausnahme von Bulgarien, Finnland, Frankreich, Portugal und Schweden.

Feste und regelmäßige Einkünfte – Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe c

Alle Mitgliedstaaten haben feste und regelmäßige Einkünfte zur Voraussetzung gemacht. Gleichwohl muss dieses Erfordernis der Interpretation des EuGH folgen, wonach die entsprechenden nationalen Bestimmungen die Zielsetzung und Wirksamkeit der Richtlinie nicht untergraben dürfen.

Im Fall Chakroun 42 begrenzte der Gerichtshof den Bewegungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Einkommenserfordernisses. Namentlich urteilte der Gerichtshof, dass es den Mitgliedstaaten nicht erlaubt ist, einem Zusammenführenden die Familienzusammenführung zu verweigern, der über ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, um den Lebensunterhalt für sich und seine Familienangehörigen zu bestreiten, jedoch wegen der Höhe seiner Einkünfte die besondere Sozialhilfe zur Bestreitung besonderer, individuell bestimmter notwendiger Kosten des Lebensunterhalts, einkommensabhängige Befreiungen von Abgaben nachgeordneter Gebietskörperschaften oder einkommensunterstützende Maßnahmen im Rahmen der gemeindlichen Politik für Einkommensschwache in Anspruch nehmen kann. Weiterhin befand der Gerichtshof, dass die Richtlinie dahingehend auszulegen ist, dass nationale Rechtsvorschriften ausgeschlossen werden, in denen bei der Anwendung des Einkommenserfordernisses von Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie danach unterschieden wird, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden in den Aufnahmemitgliedstaat entstanden sind.

In den verbundenen RechtssachenO. und S. und Maahanmuuttovirasto 43 urteilte der Gerichtshof, dass das Einkommenserfordernis im Lichte der Artikel 7 (Recht auf Familienleben) und 24 (Kindeswohl) der Grundrechtecharta der Europäischen Union anzuwenden ist. Der EuGH unterstrich, dass die durch Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie verliehene Befugnis eng auszulegen ist, da die Genehmigung der Familienzusammenführung die Grundregel und Zielsetzung der Richtlinie darstellt. Die Mitgliedstaaten dürfen daher ihre Ermessensbefugnis nicht so anwenden, dass dadurch die Zielsetzung und die Wirksamkeit dieser Richtlinie untergraben würden.

In der Rechtssache Khachab 44 bestätigte der Gerichtshof, dass nationale Bestimmungen, die eine Prognose über die finanziellen Mittel auf Grundlage einer früheren Einkommensentwicklung vorsehen, mit dem Unionsrecht in Einklang stehen. Der Gerichtshof befand, dass Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie dahingehend auszulegen ist, dass die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats die Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung auf eine Prognose darüber stützen dürfen, ob es wahrscheinlich ist, dass die festen, regelmäßigen und ausreichenden Einkünfte, über die der Zusammenführende verfügen muss, während des Jahres nach dem Zeitpunkt der Einreichung des Antrags weiterhin vorhanden sein werden. Der Gerichtshof fügte hinzu, dass dieser Prognose die Entwicklung der Einkünfte des Zusammenführenden während der sechs Monate vor der Antragstellung zugrunde liegen sollte.

Die meisten Mitgliedstaaten 45 haben einen Einkommensrichtwert, um die für die Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung erforderlichen finanziellen Mittel zu bestimmen. In vielen Mitgliedstaaten entspricht 46 dieser Betrag dem monatlichen Grundeinkommen oder monatlichen Existenzminimum des betreffenden Landes, oder er liegt darüber 47 .

In anderen Mitgliedstaaten ist dieser Mindestwert auf einen bestimmten Betrag festgesetzt, obgleich dieser je nach Größe der Familie schwanken kann. 48 Die meisten Mitgliedstaaten 49 wenden auf diese Einkommensschwelle Freistellungen an, insbesondere für Flüchtlinge und/oder Personen mit subsidiärem Schutzstatus 50 . Einige Mitgliedstaaten haben überhaupt keine Einkommensschwelle und bewerten das Einkommenserfordernis je nach Einzelfall. 51  

Integrationsmaßnahmen  - Artikel 7 Absatz 2

Diese optionale Klausel ermöglicht es Mitgliedstaaten, von Drittstaatsangehörigen zu verlangen, dass sie Integrationsmaßnahmen nachkommen, was im Fall von Familienangehörigen von Flüchtlingen erst dann Anwendung finden kann, wenn eine Familienzusammenführung gewährt wurde. 52 Die Kommission hat die Umsetzung dieser Klausel genau verfolgt und einige Mitgliedstaaten um Klarstellung gebeten, insofern die einzelstaatlichen Bestimmungen die Wirkung der Richtlinie nicht einschränken dürfen und der betreffenden Rechtsprechung des EuGH folgen müssen. 53  

Die meisten Mitgliedstaaten haben von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht, obwohl in einigen Fällen solche Maßnahmen geprüft werden oder vorgeschlagen wurden 54 . Wo vor der Zulassung zur Familienzusammenführung Integrationsmaßnahmen bestehen, verlangen die Mitgliedstaaten von den Familienangehörigen gewöhnlich den Nachweis elementarer Sprachkenntnisse; Familienangehörige von Flüchtlingen oder (in einigen Fällen) von Personen mit subsidiärem Schutzstatus sind davon befreit.

Gewöhnlich wird auf Eigeninitiative von Familienangehörigen Sprachunterricht genommen oder es werden Online-Sprachkurse belegt, und die durch diesen Unterricht entstehenden Kosten müssen von jenen getragen werden. 55 Die Gebühren richten sich nach dem Herkunftsland, dem Anbieter des Unterrichts und dem Kursformat. 56 Einige Mitgliedstaaten können von Familienangehörigen zusätzlich verlangen, ihre Sprachkenntnisse nach der Zulassung weiter auszubauen (gewöhnlich A2 oder B1) 57 oder nach der Zulassung einen Integrationstest abzulegen 58  – sei es als Bestandteil ihres allgemeinen Programms zur Integration oder als Teil der Anforderungen für eine ständige Niederlassung im Lande 59 . In einigen Fällen können kostenlose Sprachkurse angeboten werden. 60  

Abgesehen von Sprachkenntnissen können die Integrationsprogramme von Mitgliedstaaten auch Unterricht über die Geschichte und die Werte des Landes, soziale Orientierung oder Berufsberatung umfassen. 61 Weitere Integrationsmaßnahmen können die Form der Unterstellung unter ein Integrationszentrum 62 oder der Unterzeichnung einer Integrationserklärung 63 bzw. eines Integrationsvertrages 64 haben, die Staatsbürgerkunde und Sprachunterricht vorschreiben. Die Nichtbefolgung dieser Integrationsmaßnahmen kann bisweilen zu Widerruf/Nichtverlängerung eines Aufenthaltstitels oder zur Verweigerung einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung führen. 65  

Ziel solcher Maßnahmen ist es, die Integration von Familienangehörigen zu erleichtern. Ihre Zulässigkeit hängt nach der Richtlinie davon ab, ob sie diesbezüglich zweckdienlich sind und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit achten. Ihre Zulässigkeit kann aufgrund der Zugänglichkeit zu solchen Kursen oder Tests, der Art ihrer Gestaltung und/oder Organisation (z. B. Prüfungsmaterialien, Gebühren, Ort) und inwiefern sie anderen Zwecken als der Integration dienen (z. B. hohe Gebühren, die einkommensschwache Familien ausschließen) infrage gestellt werden. Die Verfahrensgarantie, das Recht auf Einreichung eines Rechtsbehelfs zu gewährleisten, sollte ebenfalls beachtet werden.

In der Rechtssache Minister van Buitenlandse Zaken gegen K. und A. 66 erkannte der EuGH in den Randnummern 53 und 54 seines Urteils an, dass: „... nicht bestritten werden (kann), dass der Erwerb von Kenntnissen sowohl der Sprache als auch der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats die Verständigung zwischen den Drittstaatsangehörigen und den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats deutlich erleichtert und darüber hinaus die Interaktion und die Entwicklung sozialer Beziehungen zwischen ihnen begünstigt. Auch kann nicht bestritten werden, dass der Erwerb von Kenntnissen der Sprache des Aufnahmemitgliedstaats den Zugang der Drittstaatsangehörigen zu Arbeitsmarkt und Berufsausbildung erleichtert. (...) Vor diesem Hintergrund kann durch das Erfordernis der erfolgreichen Ablegung einer Basis-Integrationsprüfung gewährleistet werden, dass die betroffenen Drittstaatsangehörigen Kenntnisse erwerben, die für die Schaffung von Bindungen zum Aufnahmemitgliedstaat unstreitig von Nutzen sind.“

Gleichwohl zeigte der Gerichtshof im selben Urteil (Randnummern 56-58) auch die Grenzen des Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten bei der Auferlegung von Integrationskriterien auf: „Jedenfalls verlangt jedoch das Kriterium der Verhältnismäßigkeit, dass die Anwendungsvoraussetzungen für ein solches Erfordernis nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung des genannten Ziels erforderlich ist. (...) Mit den in Art. 7 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/86 genannten Integrationsmaßnahmen darf nämlich nicht der Zweck verfolgt werden, die Personen zu ermitteln, die das Recht auf Familienzusammenführung ausüben können, sondern sie haben dem Zweck zu dienen, die Integration dieser Personen in den Mitgliedstaaten zu erleichtern.  Außerdem sind die besonderen individuellen Umstände, wie Alter, Bildungsniveau, finanzielle Lage oder Gesundheitszustand der Familienangehörigen des Zusammenführenden zu berücksichtigen (...)“

In Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Angemessenheit müssen die nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung von Artikel 7 Absatz 2 Unterabsatz 1 geeignet sein, die darin gesetzten Ziele zu erreichen, und dürfen nicht über das zu ihrer Erreichung Nötige hinausgehen.

In zwei kürzlich ergangenen Urteilen 67 hat der EuGH sein Fallrecht zu den Integrationskonditionen im Kontext von Artikel 15 (Gewährung eigener Aufenthaltstitel) weiter ausgeführt.

Wartezeit und Aufnahmefähigkeit – Artikel 8

Artikel 8 räumt Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, zu verlangen, dass sich der Zusammenführende über einen bestimmten Zeitraum rechtmäßig auf ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten hat, bevor seine Familienangehörigen ihm nachreisen (Unterabsatz 1), und eine Wartefrist von bis zu drei Jahren für die Ausstellung eines Aufenthaltstitels in Fällen vorzusehen, in denen das zuvor geltende nationale Recht im Bereich der Familienzusammenführung die Aufnahmefähigkeit des Landes berücksichtigt hatte (Unterabsatz 2).

Die meisten Länder haben die in Unterabsatz 1 enthaltene Option umgesetzt. Gleichwohl hat die Kommission hinsichtlich der Umsetzung etliche Inkonsistenzen festgestellt, die nach einem Austausch mit den betroffenen Mitgliedstaaten Klarstellungen und Änderungen in den nationalen Rechtsvorschriften erforderten. Die in Unterabsatz 2 enthaltene Möglichkeit wurde nur von Österreich und Kroatien umgesetzt.

Viele Mitgliedstaaten schreiben keine Wartezeit vor, ehe die Familie eines Zusammenführenden einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen kann. 68 Dort, wo die Bestimmung Anwendung findet, kann die Wartezeit ein 69 , anderthalb 70 , zwei 71 oder drei Jahre 72 vom Zeitpunkt der Niederlassung des Zusammenführenden im Lande oder der Anerkennung seines internationalen Schutzstatus an betragen, wobei einzelne Mitgliedstaaten Freistellungen gewähren 73 .

Mögliche Einschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Gesundheit – Artikel 6

Insgesamt haben die meisten Mitgliedstaaten Artikel 6 richtig umgesetzt, es wurde aber eine Reihe von Unterschieden in der Terminologie festgestellt, insbesondere beim Begriff der „nationalen Sicherheit“. Die Mitgliedstaaten haben bei der Anwendung dieser Bestimmung verschiedene Methoden angewandt, wobei einige sich auf den Besitzstand des Schengener Abkommens und andere auf eine mit einer Freiheitsstrafe bewehrte Straftat beziehen.

Erwägungsgrund 14 der Richtlinie liefert einen Hinweis darauf, was eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und öffentliche Sicherheit darstellen könnte. Davon abgesehen steht es den Mitgliedstaaten frei, ihre Standards in Übereinstimmung mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit und Artikel 17 der Richtlinie festzusetzen, worin sie aufgefordert werden, die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat zu berücksichtigen und gegen die Schwere und Art des Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit abzuwägen. Das Kriterium der öffentlichen Gesundheit kann so lange angewandt werden, wie Krankheiten oder Gebrechen nicht der einzige Grund für den Entzug oder die Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels sind. Die Begriffe „öffentliche Ordnung“, „öffentliche Sicherheit“ und „öffentliche Gesundheit“ in Artikel 6 müssen im Lichte der Rechtsprechung des EuGH und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgelegt werden.

Momentan gibt es keine allgemeine Regel oder etablierte Rechtsprechung, nach der die Klauseln zur öffentlichen Ordnung, die in der Richtlinie zur Familienzusammenführung und anderen Richtlinien zur Migration festgelegt sind, stets in gleicher Weise auszulegen sind wie die Klausel zur öffentlichen Ordnung in der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG (zu der es eine bedeutende Rechtsprechung gibt).

Dies wurde bereits in den Leitlinien der Kommission zur Anwendung der Richtlinie 74 bestätigt, worin betont wird, dass die Rechtsprechung des EuGH zur Freizügigkeitsrichtlinie, obwohl sie nicht unmittelbar Drittstaatsangehörige betrifft, mutatis mutandis bei der Festlegung der in Frage stehenden Begriffe zugrunde gelegt werden kann. Weitere Interpretationshilfe durch den EuGH kann durch zwei Vorlagefragen erwartet werden, die in den Rechtssachen C-381/18 und C-382-18 (beide anhängig) vorgelegt wurden und in denen der Gerichtshof erstmals gebeten wurde, die Klauseln zur öffentlichen Ordnung in Artikel 6 Absatz 1 wie auch Absatz 2 der Richtlinie auszulegen.

Verfahren der Antragsprüfung – Artikel 5

Antragsteller – Artikel 5 Absatz 1

Nach Artikel 5 Absatz 1 muss der Mitgliedstaat darüber entscheiden, ob der Familienangehörige oder der Zusammenführende den Antrag stellt. Die Mitgliedstaaten sind bezüglich der Anwendung dieses Artikels geteilt: In einigen 75 ist der Antragsteller der Zusammenführende, in anderen 76 der Familienangehörige, oder es sind beide dazu berechtigt 77 .

Antragsort – Artikel 5 Absatz 3

Die Richtlinie verlangt, dass sich der Familienangehörige zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrages außerhalb des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaates aufhalten muss, und gestattet Abweichungen nur unter geeigneten Bedingungen. Alle Mitgliedstaaten haben diese Bestimmung korrekt umgesetzt und alle (außer Rumänien und Bulgarien) haben die Abweichung genutzt, welche es Familienangehörigen gestattet, den Antrag auch auf dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates zu stellen, wenn sie sich bereits rechtmäßig dort aufhalten 78 oder dies durch außerordentliche Umstände gerechtfertigt ist 79 , z. B., wenn es im Heimatsaat Hindernisse für eine Antragstellung gibt.

Unterlagen und Nachweise – Artikel 5 Absatz 2 Unterabsatz 1

Es gibt in den Mitgliedstaaten verschiedene Listen erforderlicher Unterlagen: Einige haben ausführliche Listen, während sich andere lediglich auf allgemeine Anforderungen beziehen und den Behörden einen großen Ermessensspielraum lassen. Die Richtlinie enthält besondere Bestimmungen für Flüchtlinge: Die Mitgliedstaaten müssen andere Nachweise berücksichtigen, falls ein Flüchtling seine familiären Bindungen nicht mit amtlichen Unterlagen belegen kann (Artikel 11 Absatz 2). Allgemein wählen die Mitgliedstaaten beim Fehlen (zuverlässiger) Unterlagen einen flexiblen Ansatz 80 , vor allem bei Personen mit internationalem Schutzstatus und deren Familienangehörigen. Sie akzeptieren oft eine Reihe anderer Nachweise, solange sie die Identität der Antragsteller und das Bestehen familiärer Bindungen überprüfen können. 81 Dazu gehören Unterlagen aus Befragungen von Asylbewerbern, Belege aus Beschwerdeverfahren, notariell beglaubigte Erklärungen oder schriftliche Stellungnahmen, Fotos von Ereignissen und Quittungen.

Mitgliedstaaten können, gewöhnlich als letztes Mittel, einen DNS-Test fordern oder vorschlagen, auch in Fällen, wo weiterhin Zweifel bestehen und eine zuverlässige Bestätigung gebraucht wird. Trotz dieser flexiblen Herangehensweise hat die EMN-Studie von 2017 gezeigt, dass der Mangel an Unterlagen für eine Bearbeitung von Anträgen eine der am häufigsten erwähnten Herausforderungen darstellt 82 . Dies zeigte sich auch an einigen Beschwerden, die die Kommission erreicht haben und in einem Fall zum Informationsaustausch mit dem Mitgliedstaat führten.

Befragungen und Nachforschungen – Artikel 5 Absatz 2 Unterabsatz 2

Die meisten Mitgliedstaaten nutzen die Möglichkeit von Befragungen und anderen als notwendig erachteten Nachforschungen zum Nachweis des Bestehens familiärer Bindungen. Nur wenige Mitgliedstaaten 83 wenden diese Möglichkeit nicht an.

Um nach der Unionsgesetzgebung zulässig zu sein, müssen die Befragungen und/oder anderen Nachforschungen verhältnismäßig sein – damit das Recht auf Familienzusammenführung nicht entwertet wird – und die Grundrechte respektieren, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Die Kommission konnte bislang keine Probleme mit der Anwendung dieser Bestimmung feststellen.

Täuschung, Scheinehe, Scheinpartnerschaft oder Scheinadoption  – Artikel 16 Absatz 4

Diese Bestimmung erlaubt den Mitgliedstaaten, bei Vorliegen eines begründeten Verdachts auf Täuschung oder Scheinehe, Scheinpartnerschaft oder Scheinadoption punktuelle Kontrollen durchzuführen. Jedes nationale System enthält Regelungen zur Verhinderung einer Familienzusammenführung einzig in der Absicht, einen Aufenthaltstitel zu erlangen. Diese Möglichkeit wird in den nationalen Rechtsvorschriften der meisten Mitgliedstaaten 84 umgesetzt. Andere 85 wenden die Bestimmung teilweise an, wogegen die Kommission keine Bedenken hat.

In einem kürzlichen Vorlagenverfahren 86 wurde der EuGH gebeten zu befinden, ob Artikel 16 Absatz 2 Buchstabe a dahingehend auszulegen ist, dass er den Entzug eines Aufenthaltstitels ausschließt, wenn der Erwerb dieses Aufenthaltstitels auf betrügerischen Angaben beruhte, der Familienangehörige aber keine Kenntnis von dem Betrug hatte.

Gebühren

In fast allen Mitgliedstaaten müssen Antragsteller Gebühren entrichten. Der Gesamtbetrag ist je nach Mitgliedstaat unterschiedlich: Im Schnitt beträgt die Gebühr zwischen 50 und 150 EUR. In der Richtlinie ist die Frage der im Rahmen des Verfahrens zu entrichtenden Verwaltungsgebühren nicht geregelt. Wie im Bericht der Kommission aus dem Jahr 2008 erklärt wird, sollten die Mitgliedstaaten jedoch die Gebühren nicht in einer Weise festsetzen, die die Wirkung der Richtlinie bei der Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung unterminieren könnte.

Zu den Kosten für die „Integrationsprüfung“ urteilte der EuGH, dass es den Mitgliedstaaten zwar freisteht, von Drittstaatsangehörigen zu verlangen, dass sie die Kosten für die Integrationsmaßnahmen nach Artikel 7 Absatz 2 der Richtlinie begleichen, und den Betrag dieser Kosten festzusetzen, dass gleichwohl die Höhe dieses Kostenbetrags gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz weder den Zweck noch die Wirkung haben darf, die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren.

Dies wäre der Fall, wenn die für das Ablegen der Integrationsprüfung anfallenden Kosten wegen ihrer erheblichen finanziellen Auswirkungen auf die Drittstaatsangehörigen überhöht wären. 87

Schriftliche Mitteilung und Verfahrensdauer – Artikel 5 Absatz 4

Die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats sind nach Artikel 5 Absatz 4 Unterabsatz 1 verpflichtet, dem Antragsteller ihre Entscheidung unverzüglich, spätestens aber neun Monate nach Einreichung des Antrags schriftlich mitzuteilen. Die meisten Mitgliedstaaten befolgen diese Bestimmung und wenden Fristen an, die unter den geforderten neun Monaten liegen. Nach dem Unterabsatz 2 kann die Frist in Ausnahmefällen aufgrund der Schwierigkeit der Prüfung verlängert werden. Die Kommission hat keine Bedenken bezüglich der Anwendung dieser Bestimmung.

Kindeswohl – Artikel 5 Absatz 5

Bei der Prüfung des Antrags müssen die Mitgliedstaaten nach Artikel 5 Absatz 5 dafür Sorge tragen, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird. Dies wurde vom EuGH in den Rechtssachen O. und S., Maahanmuuttovirasto 88 sowie Parlament/Rat 89 betont. Die meisten Mitgliedstaaten halten diese Verpflichtung ein, aber nicht alle haben sie ausdrücklich für die Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung umgesetzt. Gleichwohl findet sich die Verpflichtung, das Kindeswohl zu berücksichtigen, als allgemeiner Rechtsgrundsatz in den nationalen Rechtsvorschriften.

Horizontale Klausel zur maßgeblichen Rücksichtnahme – Artikel 17

Die Verpflichtung, die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland in gebührender Weise zu berücksichtigen, und folglich die Notwendigkeit einer Einzelfallprüfung wurde vom EuGH oft angeführt, vor allem in der Rechtssache Parlament/Rat aus dem Jahr 2006 90 . Gemäß diesem Urteil scheint die Bezugnahme auf Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention allein keine ausreichende Anwendung von Artikel 17 zu begründen.

Diese Bestimmung wurde von den meisten Mitgliedstaaten korrekt angewandt. Die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit (allgemeine Grundsätze des Unionsrechts) müssen bei allen Entscheidungen zur Ablehnung, zum Entzug oder zur Nichtverlängerung berücksichtigt werden. In zwei anhängigen Rechtssachen 91 wurde der EuGH gebeten, die Auswirkungen von Artikel 17 im Zusammenhang mit dem Entzug von Titeln aus Gründen der öffentlichen Ordnung zu prüfen.

Rechtsbehelf (Artikel 18)

Artikel 18 wurde von allen Mitgliedstaaten im Allgemeinen korrekt umgesetzt. Alle haben das Recht auf die Einlegung von Rechtsbehelfen gemäß dieser Bestimmung eingeführt (wenn auch in unterschiedlicher Weise). Es wurden keine nationalen Bestimmungen als beschwerlich oder als für die Wahrnehmung des Rechts auf Rechtsmittel hinderlich befunden.

Einreise und Aufenthalt – Artikel 13 und 15

Erleichterung von Visa –Artikel 13 Absatz 1

Sobald dem Antrag auf Familienzusammenführung stattgegeben wurde, muss der Mitgliedstaat die Einreise der Familienangehörigen genehmigen und ihnen jede Erleichterung zur Erlangung der vorgeschriebenen Visa gewähren. Artikel 13 Absatz 1 wurde von den meisten Mitgliedstaaten korrekt umgesetzt. An dieser Stelle muss betont werden, dass die Erleichterung der Erlangung der vorgeschriebenen Visa für die Mitgliedstaaten rechtsverbindlich ist.

Dauer des Aufenthalts – Artikel 13 Absätze 2 und 3

Artikel 13 Absatz 2 schreibt vor, dass Mitgliedstaaten Familienangehörigen einen ersten Aufenthaltstitel mit mindestens einjähriger Gültigkeitsdauer erteilen müssen, der verlängerbar ist. Diese Bestimmung wurde von den meisten Mitgliedstaaten korrekt umgesetzt; gleichwohl erklären einige ausdrücklich, dass die Mindestgültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels ein Jahr beträgt.

Artikel 13 Absatz 3 bestimmt, dass die Gültigkeitsdauer der dem (den) Familienangehörigen erteilten Aufenthaltstitel grundsätzlich nicht über die des Aufenthaltstitels des Zusammenführenden hinausgehen darf. Diese Bestimmung wurde von allen Mitgliedstaaten korrekt umgesetzt.

Eigener Aufenthaltstitel – Artikel 15

Nach Artikel 15 Absatz 1 Unterabsatz 1 haben der Ehegatte oder der nicht eheliche Lebenspartner und das volljährig gewordene Kind – falls erforderlich auf Antrag – spätestens nach fünfjährigem Aufenthalt und unter der Voraussetzung, dass dem Familienangehörigen kein Aufenthaltstitel aus anderen Gründen als denen der Familienzusammenführung erteilt wurde, das Recht auf einen eigenen Aufenthaltstitel, der unabhängig von jenem des Zusammenführenden ist. Diese Bestimmung wurde korrekt in die Rechtsvorschriften der Mehrheit der Mitgliedstaaten aufgenommen (ungeachtet einiger Unterschiede bezüglich der Dauer des Ehestandes oder der Berechnung des Fünfjahreszeitraums, die aber keine Bedenken bezüglich der Konformität hervorrufen).

Artikel 15 Absatz 3 enthält eine Option, die den Mitgliedstaaten das Recht einräumt, im Falle des Todes des Ehepartners, der Scheidung, der Trennung und des Todes von Verwandten ersten Grades in gerader aufsteigender oder absteigender Linie Personen, die zum Zweck der Familienzusammenführung eingereist sind — falls erforderlich auf Antrag — einen eigenen Aufenthaltstitel zu gewähren (diese Möglichkeit wird auch geboten, wenn besonders schwierige Umstände vorliegen). Die Option wurde von allen Mitgliedstaaten umgesetzt.

In zwei kürzlich mit Bezug auf Artikel 15 ergangenen Urteilen 92 hat der EuGH klargestellt, dass nach fünfjährigem Aufenthalt im Rahmen einer Familienzusammenführung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zwar grundsätzlich ein Recht auf die Erteilung eines eigenen Aufenthaltstitels besteht, der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten jedoch die Möglichkeit eingeräumt hat, die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels an bestimmte, von ihnen festzulegende Bedingungen zu knüpfen.

Insbesondere erwog der EuGH die Möglichkeit, die ein Mitgliedstaat hat, um nach Artikel 15 der Richtlinie zur Familienzusammenführung Bedingungen für die Erteilung eines eigenen Aufenthaltstitels festzulegen (C-257/17 und C-484/17) und stellte klar, dass solche Bedingungen vorbehaltlich ihrer Verhältnismäßigkeit mit der Richtlinie vereinbar sind. „Artikel 15 (...) steht einer nationalen Regelung, nach der der Antrag auf einen eigenen Aufenthaltstitel eines Drittstaatsangehörigen, der sich seit mehr als fünf Jahren im Rahmen einer Familienzusammenführung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, abgelehnt werden kann, weil der Drittstaatsangehörige nicht nachgewiesen hat, dass er die Integrationsprüfung betreffend Sprache und Gesellschaft dieses Mitgliedstaats erfolgreich abgelegt hat, nicht entgegen, soweit die konkreten Modalitäten der Pflicht, diese Prüfung erfolgreich abzulegen, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist, die Integration der Drittstaatsangehörigen zu erleichtern.“ 

In seinem Urteil in der Rechtssache C-257/17 klärte der Gerichtshof noch ein weiteres Verfahrensdetail im Zusammenhang mit dem Zeitpunkt der Erteilung eines eigenen Aufenthaltstitels und erklärte, dass die Richtlinie einer nationalen Regelung, nach der der eigene Aufenthaltstitel frühestens vom Zeitpunkt der Stellung des entsprechenden Antrags an erteilt werden kann, nicht entgegensteht.

Zugang zu Bildung und Beschäftigung – Artikel 14

In Artikel 14 Absatz 1 sind die Bereiche festgelegt, in denen die Familienangehörigen des Zusammenführenden dieselben Rechte genießen müssen wie dieser selbst: Zugang zu allgemeiner Bildung, Erwerbstätigkeit, beruflicher Beratung, Ausbildung, Fortbildung und Umschulung. Die Richtlinie räumt den Mitgliedstaaten des Weiteren die Möglichkeit ein, gemäß dem nationalen Recht zu beschließen, unter welchen Bedingungen die Familienangehörigen eine unselbstständige oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben können (Artikel 14 Absatz 2), und gestattet den Mitgliedstaaten, den Zugang zu einer unselbstständigen oder selbstständigen Erwerbstätigkeit für Angehörige in gerader aufsteigender Linie ersten Grades und volljährige, unverheiratete Kinder im Sinne des Artikels 4 Absatz 2 einzuschränken (Artikel 14 Absatz 3).

Insgesamt haben die Mitgliedstaaten die Forderung nach Gleichbehandlung aus Artikel 14 Absatz 1 korrekt umgesetzt, die meisten von ihnen 93 haben aber die in Artikel 14 Absatz 2 vorgesehene Option nicht angewandt. Die Option nach Artikel 14 Absatz 3 wurde nur von der Slowakei übernommen. Diese Bestimmungen wurden im nationalen Recht oft gemeinsam mit dem allgemeinen Grundsatz der Nichtdiskriminierung angewandt.

Familienzusammenführung von Flüchtlingen – Artikel 9 bis 12

Kapitel V der Richtlinie bezieht sich auf eine Reihe von Ausnahmevorschriften, die für die Familienzusammenführung von Flüchtlingen günstigere Bestimmungen gewähren, um deren besonderer Situation Rechnung zu tragen. Die wichtigsten Aspekte werden nachfolgend herausgehoben.

Artikel 10 legt die Anwendung der Definition von Familienangehörigen für die Familienzusammenführung von Flüchtlingen fest. Er sieht bestimmte Ausnahmen und Sonderregelungen in Bezug auf Zusammenführende vor, die unbegleitete Minderjährige sind. Dieser Artikel wurde von den meisten Mitgliedstaaten korrekt umgesetzt. In einem kürzlichen Vorlagenverfahren 94 wurde der EuGH gebeten, zu klären, ob Mitgliedstaaten das Recht haben, die „Kann-Klausel“ aus Artikel 10 Absatz 2 strenger auszulegen als in der Richtlinie vorgesehen und die Familienzusammenführung anderer „abhängiger“ Familienangehöriger nur in solchen Fällen zuzulassen, in denen die Abhängigkeit mit dem Gesundheitszustand zusammenhängt.

Artikel 11 regelt die Stellung und Prüfung des Antrags durch Flüchtlinge. Wie in Artikel 11 Absatz 1 ausgeführt, kommt bei der Stellung und Prüfung des Antrags auf Familienzusammenführung mit einem Zusammenführenden, dem der Flüchtlingsstatus gewährt wurde, Artikel 5 vorbehaltlich Artikel 11 Absatz 2 zur Anwendung.

Nach Artikel 11 Absatz 2 müssen Mitgliedstaaten andere Nachweise für das Bestehen familiärer Bindungen prüfen, falls ein Flüchtling seine familiären Bindungen nicht mit amtlichen Unterlagen belegen kann. Die Ablehnung eines Antrags darf nicht ausschließlich mit dem Fehlen von Belegen begründet werden. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass die praktische Umsetzung dieser Bestimmung leicht zu Problemen mit ihrer Befolgung führen kann und dass die Mitgliedstaaten in der Frage der Belege von Flüchtlingen wachsam sein sollten. In der (anhängigen) Rechtssache E. 95 wurde dem EuGH eine Vorabfrage zur Verpflichtung von Flüchtlingen vorgelegt, zusammenzuarbeiten und die Nichtverfügbarkeit von Belegen zu begründen. Das anhängige Urteil wird wahrscheinlich diese wichtige Frage klären.

Artikel 12 bestimmt, dass bestimmte Flüchtlingen bei der Familienzusammenführung gewährte Erleichterungen nur dann gelten, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wurde. In einem kürzlich ergangenen Urteil 96 hat der EuGH den absoluten Charakter dieser Frist im Grundsatz bestätigt, jedoch herausgestrichen, dass diese strenge Regelung in Fällen unzulässig ist, in denen die verspätete Stellung des Antrags aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar ist.

III. SCHLUSSFOLGERUNGEN

Seit 2008 hat sich der Stand der Dinge bei der Anwendung der Richtlinie zur Familienzusammenführung verbessert, nicht zuletzt aufgrund der von der Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren und ihres 2014 herausgegebenen Leitfadens sowie der zahlreichen Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union. Die Mitgliedstaaten haben große Anstrengungen unternommen, um ihr nationales Recht zu verbessern und anzupassen, damit es den Erfordernissen der Richtlinie genügt.

In ihrem ersten Bericht über die Anwendung der Richtlinie stellte die Kommission im Jahr 2008 eine Reihe von Problemen bei der Umsetzung heraus, welche die Visa-Erleichterung, eigene Aufenthaltstitel, günstigere Bestimmungen für Flüchtlinge, das Kindeswohl und Rechtsbehelfe betrafen. Indes drehten sich diese Fragen im Wesentlichen um verschiedene Aspekte der Umsetzung, da die Mitgliedstaaten mit der praktischen Anwendung dieser Regelungen über einen längeren Zeitraum noch keine Erfahrungen hatten.

In der Mitteilung der Kommission aus dem Jahr 2014, die als Leitfaden für die Anwendung der Richtlinie diente, wurden weiter bestehende Probleme in den nationalen Rechtsvorschriften herausgestrichen, insbesondere einige problematische horizontale Fragen, die ganz klar aufgekommen waren, wie Integrationsmaßnahmen, feste und regelmäßige Einkünfte, die Notwendigkeit, das Kindeswohl wirksam zu berücksichtigen, und günstigere Bestimmungen für die Familienzusammenführung von Flüchtlingen.

Vier Jahre später stellen diese Kernfragen für einige Mitgliedstaaten nach wie vor eine Herausforderung dar. Die betreffenden Länder sollten sich weiterhin um eine wirksame Anwendung der Richtlinie bemühen, wobei sie besonderes Augenmerk auf die überragende Bedeutung des Grundrechts auf Achtung des Familienlebens, der Rechte der Kinder und des Rechts auf Einlegen eines wirksamen Rechtsbehelfs richten sollten.

Weiterhin sollte, wie sowohl im Bericht des Jahres 2008 als auch in der Mitteilung von 2014 angemerkt ist, der Wortlaut der Richtlinie, der den Mitgliedstaaten einen weiten Ermessensspielraum bei ihrer Anwendung einräumt, keine Absenkung der Standards zur Folge haben, wenn bei bestimmten Erfordernissen für die Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung „Kann“-Bestimmungen zu umfassend oder unverhältnismäßig angewandt werden. Die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, vor allem diejenigen der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit, müssen als der wichtigste Schlüssel bei der Prüfung der Vereinbarkeit nationaler Bestimmungen mit der Richtlinie gelten.

Als Hüterin der EU-Verträge hat die Kommission die rechtliche und praktische Umsetzung der Richtlinie durch die Mitgliedstaaten regelmäßig verfolgt, vor allem bezüglich der im vorliegenden Bericht hervorgehobenen Fragen. Da die Familienzusammenführung im Rahmen der Migrationspolitik für die EU eine wesentliche Herausforderung bleibt, wird die Kommission nationale Rechtsvorschriften und Verwaltungspraktiken aufmerksam beobachten und kann – entsprechend ihrer Befugnisse aus den EU-Verträgen – geeignete Maßnahmen ergreifen, erforderlichenfalls auch die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren.

(1)      In diesem Bericht sind unter „Mitgliedstaaten“ diejenigen Mitgliedstaaten zu verstehen, für die die Richtlinie bindend ist und die alternativ als EU-25 bezeichnet werden.
(2)      Quelle: Eurostat, [migr_resfam] vom 25.9.18.
(3)      COM(2008) 610 endgültig vom 8 Oktober 2008.
(4)      EMN-Studie zur Familienzusammenführung von Drittstaatsangehörigen in der EU, April 2017, S. 43.
(5)      Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Leitlinien zur Anwendung der Richtlinie 2003/86/EG des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, COM(2014) 210 final.
(6)      EMN-Studie (2017), S. 12.
(7)

     Gleichwohl gehen viele dieser Beschwerden über den Anwendungsbereich der geltenden EU-Gesetzgebung hinaus, insofern sie Fragen betreffen, die mit dem Zugang zur Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats, Familienangehörigen „nicht mobiler“ Unionsbürger und allgemeinen Beschwerden über angebliche Diskriminierung oder Verwaltungsmissstände zu tun haben.

(8)      EMN-Studie (2017), S. 37.
(9)      AT, EE, FI, HU, IT, LU, LV, NL, SE.
(10)      AT, BE, DE, FR, IE, IT, NL, SE.
(11)      AT, BE, CY, FI, IT, LT, LU, LV, MT, NL.
(12)      BE, EE, IT.
(13)      Mit Ausnahme von EE, ES und MT.
(14)      Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
(15)      Urteil vom 7. November 2018, C und A (C-257/17), ECLI:EU:C:2018:876.
(16)      Quelle: EMN-Studie (2017), S. 30.
(17)      AT, BE, HU, LV
(18)      Mindestalter in LT, SK.
(19)      FI, FR, PL, SE.
(20)      HR, IE, SI.
(21)      CY, DE, PL.
(22)      AT.
(23)      CY, HR, HU, LV.
(24)      Die Richtlinie 2001/55/EG des Rates berechtigt vorübergehend Schutzberechtigte ausdrücklich dazu, sich mit ihren Familienangehörigen zu vereinigen.
(25)      COM(2014) 210 final.
(26)      EuGH, Urteil vom 7. November 2018, K und B (C-380/17) ECLI:EU:C:2018:877.
(27)      BE, BG, EE, EL, ES, FR, HR, HU, IT, LT, LU, NL, SI, SK – Quelle: EMN-Studie (2017), S. 20.
(28)      AT, DE, EE, HR, NL, SI.
(29)      In dieser Frage gab es noch kein Urteil des Europäischen Gerichtshofes.
(30)      BE, CY, LT, MT, NL.
(31)      AT, BE, CY, CZ, DE, ES, FI, FR, HU, LU, NL, SE, SI.
(32)      EE, LT, LV, MT, PL, SK.
(33)      AT, BE, CY, CZ, FI, LU, NL, SI, SE. Quelle: EMN-Studie (2017), S. 21-22.
(34)      EuGH, M. Noorzia, C-338/13, ECLI:EU:C:2014:2092.
(35)      EuGH, Europäisches Parlament gegen Rat der Europäischen Union, C-540/03, ECLI:EU:C:2006:429, Randnummer 75.
(36)      EuGH, Maahanmuuttovirasto, C-356/11 und 357/11, ECLI:EU:C:2012:776.
(37)      In diesem Fall das Einkommenserfordernis nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe c – Näheres unter Abschnitt 4.3.3.
(38)      EuGH, A, S, C-550/16, ECLI:EU:C:2018:248.
(39)      AT, BE, BG, CY, CZ, EL, FI, FR, LV, MT, NL, PL.
(40)      BE, BG, CZ, DE, EE, ES, HR, HU, IT, LU, PT, RO, SE, SI, SK
(41)      EMN-Studie (2017), S. 21-22.
(42)      EuGH, Chakroun, C-578/08, ECLI:EU:C:2010:117.
(43)      EuGH, Maahanmuuttovirasto, C-356/11 und 357/11, ECLI:EU:C:2012:776.
(44)      EuGH, Khachab; C-558/14, ECLI:EU:C:2016:285.
(45)      AT, BE, BG, CY, CZ, DE, EE, EL, FI, FR, HR, HU, LT, LU, LV, NL, PL, SE, SI, SK.
(46)      AT, BG, DE, FR, LT, LU, LV, NL, SI, SK.
(47)      BE, MT, PL.
(48)      CZ, EE, ES, FI, HR, IE, IT. Quelle: EMN-Studie (2017), S. 25.
(49)      BE, BG, FI, DE, HR,IT, LT, LU, LV, NL, SE, SI, SK.
(50)      AT, BE, BG, DE, EE, ES, FI, FR, HR, LT, LU, LV, SE, SI, SK, NL.
(51)      CY, HU. Quelle: EMN-Studie (2017), S. 26.
(52)      Flüchtlinge müssen für die Familiengründung in den Niederlanden Integrationskriterien genügen.
(53)      Siehe die Urteile des EuGH in den Fällen C-153/14, K und A, ECLI:EU:C:2015:453; C-579/13, P und S, ECLI:EU:C:2015:369 und C-540/03, Parlament / Rat, ECLI:EU:C:2006:429.
(54)      FI, LU.
(55)      AT, DE, NL.
(56)      EMN-Studie (2017), S. 26.
(57)      AT, NL.
(58)      NL.
(59)      AT, DE, LV, NL.
(60)      EE, LV.
(61)      BE, DE, EE, NL, SE.
(62)      AT.
(63)      BE, NL.
(64)      FR.
(65)      EMN-Studie (2017), S. 26 f.
(66)      EuGH, C-153/14, K und A, ECLI:EU:C:2015:453.
(67)      EuGH, Urteil vom 7. November 2018, C und A (C-257/17), ECLI:EU:C:2018:876 und Urteil vom 7. November 2018, K (C-484/17), ECLI:EU:C:2018:878.
(68)      BG, EE, IE, FI, HR, HU, IT, SI, SE, SK.
(69)      ES, LU, NL.
(70)      FR.
(71)      CY, EL, HR, LT, LV, MT, PL.
(72)      AT.
(73)    EMN-Studie (2017), S. 27 f.
(74)      COM(2014) 210.
(75)      BG, CY, EL, ES, FR, PL, SI
(76)      AT, BE, CZ, DE, EE, FI, HR, HU, LU, LV, SE, SK.
(77)      IT, LT, LV, NL, PT, RO.
(78)      BE, CZ, DE, EE, HR, HU, LV.
(79)      AT, FI, LU. Quelle: EMN-Studie (2017), S. 32.
(80)      EMN-Studie (2017), S. 33 und S. 37.
(81)      In einem Gutachten vom 29. November 2018 in der EuGH-Rechtssache C-635/17 (anhängig), ECLI:EU:C:2018:973, schlug die AG Wahl vor, sowohl Antragsteller als auch Behörden in Fällen unzureichender Unterlagen und Nachweise zu aktiver Zusammenarbeit zu verpflichten.
(82)      AT, BE, CY, FI, IT, LT, LU, LV, MT, NL.
(83)      BG, EE, HR, NL, SI.
(84)      AT, BE, BG, CY, DE, EL, FI, HU, IT, LT, MT, PL, PT, RO, SE, SK.
(85)      EL, FI, LT, PL, SK.
(86)      EuGH, anhängige Rechtssache Y.Z. und andere (C-557/17).
(87)      EuGH, C-153/14, K und A, ECLI:EU:C:2015:453, Randnummern 64 und 65.
(88)      EuGH, Maahanmuuttovirasto, C-356/11 und 357/11, ECLI:EU:C:2012:776.
(89)      EuGH, C-540/03, Parlament / Rat, ECLI:EU:C:2006:429.
(90)      ebd.
(91)      EuGH, anhängige Rechtssachen C-381/18 und 382/18.
(92)      EuGH, Urteil vom 7. November 2018, C und A (C-257/17), ECLI:EU:C:2018:876 und Urteil vom 7. November 2018, K (C-484/17), ECLI:EU:C:2018:878.
(93)      Außer BE, BG, CY, EL, LU, MT.
(94)      EuGH, anhängige Rechtssache, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (C-519/18).
(95)      EuGH Rechtssache C-635/17 (anhängig).
(96)      EuGH, Urteil vom 7. November 2018, K und B (C-380/17) ECLI:EU:C:2018:877.
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