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Dokument 62015CJ0387

Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 21. Juli 2016.
Hilde Orleans u. a. gegen Vlaams Gewest.
Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Richtlinie 92/43/EWG – Erhaltung der natürlichen Lebensräume – Besondere Schutzgebiete – Natura-2000-Gebiet ‚Ästuar von Schelde und Durme von der niederländischen Grenze bis Gent‘ – Entwicklung eines Hafengebiets – Prüfung der Verträglichkeit eines Plans oder Projekts mit einem geschützten Gebiet – Verwirklichung schädlicher Auswirkungen – Vorhergehende aber noch nicht abgeschlossene Entwicklung eines dem zerstörten Teil entsprechenden Areals dieser Art – Abschluss nach der Prüfung – Art. 6 Abs. 3 und 4.
Verbundene Rechtssachen C-387/15 und C-388/15.

Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2016:583

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

21. Juli 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Umwelt — Richtlinie 92/43/EWG — Erhaltung der natürlichen Lebensräume — Besondere Schutzgebiete — Natura-2000-Gebiet ‚Ästuar von Schelde und Durme von der niederländischen Grenze bis Gent‘ — Entwicklung eines Hafengebiets — Prüfung der Verträglichkeit eines Plans oder Projekts mit einem geschützten Gebiet — Verwirklichung schädlicher Auswirkungen — Vorhergehende aber noch nicht abgeschlossene Entwicklung eines dem zerstörten Teil entsprechenden Areals dieser Art — Abschluss nach der Prüfung — Art. 6 Abs. 3 und 4“

In den verbundenen Rechtssachen C‑387/15 und C‑388/15

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Belgien), mit Entscheidungen vom 13. Juli 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Juli 2015, in den Verfahren

Hilde Orleans,

Rudi Van Buel,

Marina Apers (C‑387/15)

und

Denis Malcorps,

Myriam Rijssens,

Guido Van De Walle (C‑388/15)

gegen

Vlaams Gewest,

Beteiligter:

Gemeentelijk Havenbedrijf Antwerpen,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin C. Toader (Berichterstatterin), der Richterin A. Prechal und des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Frau Orleans, Herrn Van Buel, Frau Apers, Herrn Malcorps, Frau Rijssens und Herrn Van De Walle, vertreten durch I. Rogiers, advocaat,

des Gemeentelijk Havenbedrijf Antwerpen, vertreten durch S. Vernaillen und J. Geens, advocaten,

der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck und S. Vanrie als Bevollmächtigte im Beistand von V. Tollenaere, advocaat,

der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Manhaeve und C. Hermes als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssachen zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 6 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7, im Folgenden: Habitatrichtlinie).

2

Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen zum einen Frau Hilde Orleans, Herrn Rudi Van Buel und Frau Marina Apers sowie zum anderen Herrn Denis Malcorps, Frau Myriam Rijssens und Herrn Guido Van De Walle auf der einen und der Vlaams Gewest (Flämische Region, Belgien) auf der anderen Seite wegen der bestrittenen Gültigkeit der Erlasse zur Feststellung des regionalen Bauleitplans „Abgrenzung des Seehafengebiets Antwerpen und Hafenentwicklung am linken Ufer“ (im Folgenden: GRUP).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 1 und 3 der Habitatrichtlinie sehen vor:

„Wie in Artikel [191 AEUV] festgestellt wird, sind Erhaltung, Schutz und Verbesserung der Qualität der Umwelt wesentliches Ziel der Gemeinschaft und von allgemeinem Interesse; hierzu zählt auch der Schutz der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen.

Hauptziel dieser Richtlinie ist es, die Erhaltung der biologischen Vielfalt zu fördern, wobei jedoch die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und regionalen Anforderungen berücksichtigt werden sollen. Diese Richtlinie leistet somit einen Beitrag zu dem allgemeinen Ziel einer nachhaltigen Entwicklung. Die Erhaltung der biologischen Vielfalt kann in bestimmten Fällen die Fortführung oder auch die Förderung bestimmter Tätigkeiten des Menschen erfordern.“

4

Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet:

e)

Erhaltungszustand eines natürlichen Lebensraums‘: die Gesamtheit der Einwirkungen, die den betreffenden Lebensraum und die darin vorkommenden charakteristischen Arten beeinflussen und die sich langfristig auf seine natürliche Verbreitung, seine Struktur und seine Funktionen sowie das Überleben seiner charakteristischen Arten in dem in Artikel 2 genannten Gebiet auswirken können.

Der ‚Erhaltungszustand‘ eines natürlichen Lebensraums wird als ‚günstig‘ erachtet, wenn

sein natürliches Verbreitungsgebiet sowie die Flächen, die er in diesem Gebiet einnimmt, beständig sind oder sich ausdehnen und

die für seinen langfristigen Fortbestand notwendige Struktur und spezifischen Funktionen bestehen und in absehbarer Zukunft wahrscheinlich weiterbestehen werden

k)

Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung‘: Gebiet, das in der oder den biogeografischen Region(en), zu welchen es gehört, in signifikantem Maße dazu beiträgt, einen natürlichen Lebensraumtyp des Anhangs I oder eine Art des Anhangs II in einem günstigen Erhaltungszustand zu bewahren oder einen solchen wiederherzustellen und auch in signifikantem Maße zur Kohärenz des in Artikel 3 genannten Netzes ‚Natura 2000‘ und/oder in signifikantem Maße zur biologischen Vielfalt in der biogeografischen Region beitragen kann.

l)

Besonderes Schutzgebiet‘: ein von den Mitgliedstaaten durch eine Rechts‑ oder Verwaltungsvorschrift und/oder eine vertragliche Vereinbarung als ein von gemeinschaftlicher Bedeutung ausgewiesenes Gebiet, in dem die Maßnahmen, die zur Wahrung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes der natürlichen Lebensräume und / oder Populationen der Arten, für die das Gebiet bestimmt ist, erforderlich sind, durchgeführt werden.

…“

5

Art. 2 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)   Diese Richtlinie hat zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der Vertrag Geltung hat, beizutragen.

(2)   Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederherzustellen.

(3)   Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen tragen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung.“

6

In Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:

„Es wird ein kohärentes europäisches ökologisches Netz besonderer Schutzgebiete mit der Bezeichnung ‚Natura 2000‘ errichtet. Dieses Netz besteht aus Gebieten, die die natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I sowie die Habitate der Arten des Anhang[s] II umfassen, und muss den Fortbestand oder gegebenenfalls die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes dieser natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet gewährleisten.

…“

7

Art. 6 der Habitatrichtlinie lautet:

„(1)   Für die besonderen Schutzgebiete legen die Mitgliedstaaten die nötigen Erhaltungsmaßnahmen fest, die gegebenenfalls geeignete, eigens für die Gebiete aufgestellte oder in andere Entwicklungspläne integrierte Bewirtschaftungspläne und geeignete Maßnahmen rechtlicher, administrativer oder vertraglicher Art umfassen, die den ökologischen Erfordernissen der natürlichen Lebensraumtypen nach Anhang I und der Arten nach Anhang II entsprechen, die in diesen Gebieten vorkommen.

(2)   Die Mitgliedstaaten treffen die geeigneten Maßnahmen, um in den besonderen Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind, zu vermeiden, sofern solche Störungen sich im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinie erheblich auswirken könnten.

(3)   Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebietes in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheblich beeinträchtigen könnten, erfordern eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung und vorbehaltlich des Absatzes 4 stimmen die zuständigen einzelstaatlichen Behörden dem Plan bzw. Projekt nur zu, wenn sie festgestellt haben, dass das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und nachdem sie gegebenenfalls die Öffentlichkeit angehört haben.

(4)   Ist trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art ein Plan oder Projekt durchzuführen und ist eine Alternativlösung nicht vorhanden, so ergreift der Mitgliedstaat alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die globale Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist. Der Mitgliedstaat unterrichtet die Kommission über die von ihm ergriffenen Ausgleichsmaßnahmen.

Ist das betreffende Gebiet ein Gebiet, das einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp und/oder eine prioritäre Art einschließt, so können nur Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und der öffentlichen Sicherheit oder im Zusammenhang mit maßgeblichen günstigen Auswirkungen für die Umwelt oder, nach Stellungnahme der Kommission, andere zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses geltend gemacht werden.“

Belgisches Recht

8

Art. 2 30° des Decreet betreffende het natuurbehoud en het natuurlijk milieu (Dekret betreffend den Naturschutz und die natürliche Umwelt) vom 21. Oktober 1997 (Belgisch Staatsblad, 10. Januar 1998, S. 599) definiert den Begriff „erhebliche Beeinträchtigung eines besonderen Schutzgebiets als solchen“ als

„eine Beeinträchtigung, die spür- und nachweisbare Folgen für ein besonderes Schutzgebiet als solches in einem Ausmaß hat, dass es spür‑ und nachweisbare Folgen gibt für den Stand der Erhaltung der Art(en) oder des Lebensraums oder der Lebensräume, für die das betreffende besondere Schutzgebiet ausgewiesen worden ist, oder für den Erhaltungszustand der Art(en), die in Anhang III dieses Dekrets aufgeführt sind, sofern sie in dem betreffenden besonderen Schutzgebiet vorkommen“.

9

Art. 2 38° dieses Dekrets umschreibt das „besondere Schutzgebiet als solches“ als

„Gesamtheit der biotischen und abiotischen Elemente in Verbindung mit deren räumlichen und ökologischen Eigenschaften und Prozessen, die erforderlich sind für die Erhaltung

a)

der natürlichen Lebensräume der Arten, für die das betreffende besondere Schutzgebiet ausgewiesen worden ist, und

b)

der in Anhang III aufgeführten Arten“.

10

Art. 36ter dieses Dekrets bestimmt:

„§ 1.   Die Behörde ergreift im Rahmen ihrer Zuständigkeiten im besonderen Schutzgebiet ungeachtet der Bestimmung des betreffenden Gebietes die notwendigen Erhaltungsmaßnahmen, die stets den ökologischen Erfordernissen der Lebensraumtypen in Anhang I dieses Dekrets und der in den Anhängen II, III und IV dieses Dekrets aufgeführten Arten sowie der nicht in Anhang IV dieses Dekrets aufgeführten und im Gebiet des Vlaamse Gewest gewöhnlich vorkommenden Zugvogelarten entsprechen müssen. Die flämische Regierung kann die Einzelheiten betreffend die notwendigen Erhaltungsmaßnahmen und die ökologischen Erfordernisse sowie das Verfahren zur Festsetzung der Erhaltungsziele festlegen.

§ 3.   Eine genehmigungspflichtige Tätigkeit, ein Plan oder ein Programm, die einzeln oder zusammen mit einem oder mehreren bestehenden oder beabsichtigten Tätigkeiten, Plänen oder Programmen eine erhebliche Beeinträchtigung eines besonderen Schutzgebiets als solchem verursachen können, sind einer Verträglichkeitsprüfung in Bezug auf die erheblichen Auswirkungen auf das besondere Schutzgebiet zu unterziehen.

Der Betreiber ist dafür verantwortlich, dass die Verträglichkeitsprüfung erfolgt.

§ 4.   Die Behörde, die über einen Genehmigungsantrag, einen Plan oder ein Programm zu entscheiden hat, darf die Genehmigung nur erteilen oder den Plan bzw. das Programm nur dann billigen, wenn der Plan oder das Programm bzw. die Durchführung der Tätigkeit keine erhebliche Beeinträchtigung des betreffenden besonderen Schutzgebiets als solchem verursachen kann. Die zuständige Behörde sorgt stets dafür, dass durch die Erteilung von Auflagen keine erhebliche Beeinträchtigung eines besonderen Schutzgebiets als solchem entstehen kann.

§ 5.   Abweichend von § 4 können eine genehmigungspflichtige Tätigkeit, ein Plan oder ein Programm, die einzeln oder zusammen mit einer oder mehreren bestehenden oder beabsichtigten Tätigkeiten, Plänen oder Programmen eine erhebliche Beeinträchtigung eines besonderen Schutzgebiets als solchem verursachen können, nur erlaubt oder genehmigt werden,

a)

wenn feststeht, dass für das besondere Schutzgebiet als solches keine weniger schädlichen Alternativlösungen vorhanden sind, und

b)

aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich Gründen sozialer oder wirtschaftlicher Art. Ist das betreffende besondere Schutzgebiet oder ein Teil dieses Gebietes ein Gebiet, das einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp oder eine prioritäre Art einschließt, kommen nur Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und der öffentlichen Sicherheit oder im Zusammenhang mit maßgeblichen günstigen Auswirkungen auf die Umwelt oder, nach Stellungnahme der Kommission, andere zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses in Betracht.

Die Abweichung im Sinne des vorstehenden Absatzes kann außerdem nur dann zugelassen werden, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

Die erforderlichen Ausgleichsmaßnahmen sind ergriffen worden, und die erforderlichen aktiven Erhaltungsmaßnahmen sind ergriffen worden oder werden ergriffen, die gewährleisten, dass der Gesamtzusammenhang des besonderen Schutzgebiets und der besonderen Schutzgebiete gewahrt bleibt;

Die Ausgleichsmaßnahmen sind so geartet, dass ein gleichwertiger Lebensraum oder seine natürliche Umwelt von mindestens vergleichbarer Fläche grundsätzlich aktiv entwickelt wird.

Die flämische Regierung kann zur Prüfung weniger schädlicher Alternativen im Bereich der Ausgleichsmaßnahmen die Einzelheiten festlegen, nach denen eine Verträglichkeitsprüfung der Tätigkeit in den Lebensräumen, den Habitaten der Arten und der Art(en) zu erfolgen hat, für die das besondere Schutzgebiet ausgewiesen worden ist.

Die flämische Regierung entscheidet, ob ein zwingender Grund des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich Gründen sozialer oder wirtschaftlicher Art vorliegt.

Jede Entscheidung in Durchführung des Abweichungsverfahrens im Sinne dieses Absatzes ist mit Gründen zu versehen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

11

Die Ausgangsrechtsstreitigkeiten betreffen den GRUP, der die Entwicklung eines Großteils des Hafens von Antwerpen (Belgien) auf dem linken Ufer der Schelde vorsieht.

12

Dieses Projekt beeinträchtigt das Natura-2000-Gebiet „Ästuar von Schelde und Durme von der niederländischen Grenze bis Gent“ (im Folgenden: betroffenes Natura-2000-Gebiet), das als besonderes Schutzgebiet für u. a. den Lebensraumtyp „Ästuar“ ausgewiesen wurde.

13

Mit Erlass vom 27. April 2012 stellte die flämische Regierung den Entwurf des GRUP vorläufig fest, der mit Erlass vom 30. April 2013 endgültig festgestellt wurde. Letzterer war Gegenstand einer Klage auf Aussetzung und auf Nichtigerklärung vor dem Raad van State (Staatsrat, Belgien). Mit Urteil vom 3. Dezember 2013 ordnete dieser die teilweise Aussetzung des Vollzugs dieses Erlasses an, insbesondere soweit er die Gemeinde Beveren (Belgien) betrifft.

14

Infolge dieser teilweisen Aussetzung erließ die flämische Regierung am 24. Oktober 2014 einen Berichtigungserlass zur Änderung des Inhalts des Erlasses vom 30. April 2013, mit dem sie dessen ausgesetzte Bestimmungen aufhob und ersetzte. Der Erlass vom 24. Oktober 2014 wurde am 28. November 2014 im Belgisch Staatsblad veröffentlicht.

15

Aus den Vorlageentscheidungen geht hervor, dass der GRUP, der Gegenstand der Erlasse vom 27. April 2012 und vom 24. Oktober 2014 war, das betroffene Natura‑2000‑Gebiet erheblich beeinträchtigen kann, da die vorgesehenen Arbeiten zum Verlust von Bereichen mit bestimmten dort vorkommenden Lebensraumtypen führen werden.

16

Insbesondere müssen die zur Gemeinde Beveren zählende Ortschaft Doel, in der die Kläger des Ausgangsverfahrens wohnen, und die umliegenden Polder der „Saefthinge‑Zone“ weichen, die das Saefthinge‑Becken sowie ein Tidebecken umfasst.

17

Klagen auf Aussetzung und Nichtigerklärung wurden beim Raad van State (Staatsrat) eingereicht, der in den Vorlageentscheidungen den Aussetzungsantrag zurückgewiesen und nunmehr über die Gültigkeit der Erlasse vom 30. April 2013 und vom 24. Oktober 2014 zu befinden hat.

18

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Gesetzgebungsabteilung des Raad van State (Staatsrat) in ihrer Stellungnahme zum Entwurf des Erlasses vom 24. Oktober 2014 Zweifel geäußert habe, dass der GRUP mit den nationalen Maßnahmen zur Umsetzung von Art. 6 der Habitatrichtlinie in der Auslegung durch den Gerichtshof, insbesondere im Urteil vom 15. Mai 2014, Briels u. a. (C‑521/12, EU:C:2014:330), vereinbar sei.

19

Die flämische Regierung sah diese Zweifel jedoch als unbegründet an. Unter den Umständen, die zum Urteil vom 15. Mai 2014, Briels u. a. (C‑521/12, EU:C:2014:330), geführt hätten, habe das neue Areal des natürlichen Lebensraums nämlich erst nach der Beeinträchtigung des vorhandenen Gebiets geschaffen werden sollen. Daher sei zu dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung über den Entwurf erlassen worden sei, nicht sicher gewesen, dass dieser Entwurf das besondere Schutzgebiet als solches nicht beeinträchtige.

20

Im vorliegenden Fall werde nach dem in Rede stehenden GRUP die Entwicklung der betroffenen Gebiete erst nach der dauerhaften Errichtung von Habitaten und Lebensräumen von Arten in den Naturkerngebieten möglich. Außerdem müsse nach vorhergehender Einholung einer Stellungnahme der Agentur für Natur und Forstwesen in einer Entscheidung der flämischen Regierung die dauerhafte und effektive Einrichtung von Lebensräumen in den Naturkerngebieten festgestellt werden, und der Antrag auf Erteilung einer städtebaulichen Genehmigung zur Verwirklichung der Bestimmung des betreffenden Gebiets müsse auch diese Entscheidung einschließen.

21

Daher wären die Naturkerngebiete zu dem Zeitpunkt, zu dem es möglich werde, ein vorhandenes Gebiet zu beeinträchtigen, bereits Teil des betroffenen Natura‑2000‑Gebiets als solchem. Die Bestimmung der Naturkerngebiete in dem GRUP stelle daher keine Ausgleichsmaßnahme dar, sondern eine Erhaltungsmaßnahme im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Habitatrichtlinie.

22

Die Kläger des Ausgangsverfahrens tragen zur Stützung ihrer Nichtigkeitsklage vor, dass ein Plan oder ein Projekt nur dann genehmigt werden könne, wenn sich aus der Verträglichkeitsprüfung ergebe, dass das fragliche Gebiet als solches durch diesen Plan oder dieses Projekt nicht beeinträchtigt werde. Insoweit wäre die Prüfung nicht anhand der bestehenden Situation der Natur durchzuführen gewesen, sondern anhand der, die sich aus den ersten Maßnahmen ergeben werde. Insbesondere aus dem Urteil vom 15. Mai 2014, Briels u. a. (C‑521/12, EU:C:2014:330), ergebe sich aber, dass die Schaffung eines sogenannten „resistenten“ Naturkerngebiets zumindest teilweise als Ausgleichsmaßnahme zu sehen sei, die im Rahmen der Verträglichkeitsprüfung nicht berücksichtigt werden könne.

23

Hilfsweise, für den Fall, dass die Entwicklung eines „resistenten“ Naturkerngebiets keine Ausgleichsmaßnahme darstellen sollte, sondern eine sogenannte autonome Entwicklung der Natur, sind sie, weiter gestützt auf die Ausführungen im Urteil vom 15. Mai 2014, Briels u. a. (C‑521/12, EU:C:2014:330), der Ansicht, dass auch dieses Gebiet nicht berücksichtigt werden dürfe.

24

Zudem laufe die verwendete Technik, die darin bestehe, nach der Genehmigung des GRUP neue Naturgebiete zu schaffen, die den Merkmalen des betroffenen Natura‑2000‑Gebiets entsprechen müssten, der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie zuwider, der den Vorsorgegrundsatz einschließe. Die zuständigen nationalen Behörden müssten daher die Genehmigung des in Aussicht genommenen Plans oder Projekts verweigern, wenn sie sich noch nicht davon überzeugt hätten, dass dieser bzw. dieses das fragliche Gebiet als solches nicht beeinträchtige.

25

Der Vlaamse Gewest erwidert auf das Vorbringen der Kläger des Ausgangsverfahrens und meint, diese gingen zu Unrecht davon aus, dass der GRUP dieses Gebiet als solches beeinträchtige. Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie erfasse nämlich nur erhebliche Beeinträchtigungen.

26

Im Übrigen sei der Zustand der betroffenen Gebiete so ungünstig, dass ihre Erhaltung keine Option sei und dass die Wiederherstellung notwendig sei. Im vorliegenden Fall werde zunächst ein „resistentes“ Naturkerngebiet verwirklicht, bevor die Entwicklung des Hafens verfolgt werden könne. Daher sei die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation nicht mit der zu vergleichen, die zum Urteil vom 15. Mai 2014, Briels u. a. (C‑521/12, EU:C:2014:330), geführt habe, da sich in jener Rechtssache die Beeinträchtigung des vorhandenen Areals eines geschützten Lebensraums verwirklicht habe, ohne dass zuvor ein Areal desselben Typs geschaffen worden sei.

27

Auch der Gemeentelijk Havenbedrijf Antwerpen (Kommunaler Hafenbetrieb Antwerpen, Belgien), Streithelfer des Ausgangsverfahrens, stellt darauf ab, dass der GRUP keine Milderungs- oder Ausgleichstechnik anwende, sondern Erhaltungsmaßnahmen enthalte. Dieser sehe die Entwicklung von Naturgebieten vor, die zwingend vor jeder etwaigen Beeinträchtigung des bestehenden Lebensraums anzulegen seien. Es stehe nämlich – wie angegeben – fest, dass die neuen Lebensräume bereits vollständig geschaffen zu sein hätten, bevor irgendeine Beeinträchtigung außerhalb dieser Gebiete eintreten dürfe. Durch die in die Vorschriften des GRUP aufgenommene zeitliche Staffelung sowie die Zeitpunkte der Überwachung und der Anpassung sei es möglich, jederzeit die tatsächlichen Auswirkungen dieses Plans zu bestimmen, und könne sichergestellt werden, dass in der Zwischenzeit kein ökologischer Rückschritt eintrete.

28

Da der Raad van State (Staatsrat) der Auffassung ist, dass die Entscheidung der beiden bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten von der Auslegung der Vorschriften der Habitatrichtlinie abhänge, hat er beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende in beiden Rechtssachen gleichlautende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Der GRUP enthält städtebauliche Vorschriften, in denen verbindlich geregelt wird, dass die Entwicklung von Gebieten (im Einzelnen für seehafen‑ und wassergebundene Betriebe, Logistikparks, Wasserweginfrastrukturen sowie für Verkehrs‑ und Transportinfrastrukturen), in denen sich Naturwerte (Gebiet eines natürlichen Lebensraumtyps oder Lebensraum einer Art, für die das betreffende besondere Schutzgebiet ausgewiesen worden ist) befinden, die einen Beitrag zu den Erhaltungszielen für die betreffenden besonderen Schutzgebiete leisten, erst möglich ist nach der Einrichtung eines dauerhaften Lebensraums in Naturkerngebieten (ausgewiesen in einem Natura-2000-Gebiet) und nach einer Entscheidung der flämischen Regierung nach vorhergehender Stellungnahme der für den Naturschutz zuständigen flämischen Verwaltung – die Teil eines Antrags auf Erteilung einer städtebaulichen Genehmigung für die Durchführung der erwähnten Bestimmungen sein muss –, dass die dauerhafte Einrichtung der Naturkerngebiete gelungen ist.

Können diese städtebaulichen Vorschriften mit den darin vorausgesetzten positiven Entwicklungen des Naturkerngebiets bei der Bestimmung der möglichen erheblichen Beeinträchtigungen und/oder der Vornahme einer Prüfung auf Verträglichkeit im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie berücksichtigt werden, oder können diese städtebaulichen Vorschriften nur als „Ausgleichsmaßnahmen“ im Sinne von Art. 6 Abs. 4 der Habitatrichtlinie angesehen werden, sofern die Voraussetzungen dieser Bestimmung erfüllt sind?

29

Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 18. September 2015 sind die Rechtssachen C‑387/15 und C‑388/15 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

Zur Vorlagefrage

30

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass Maßnahmen, die in einem Plan oder Projekt enthalten sind, der oder das nicht unmittelbar mit der Verwaltung eines Gebiets von gemeinschaftlicher Bedeutung in Verbindung steht oder hierfür nicht notwendig ist, und die vorsehen, dass vor der Verwirklichung schädlicher Auswirkungen auf einen in dem Gebiet vorhandenen natürlichen Lebensraumtyp ein künftiges Areal dieser Art entwickelt wird, diese Entwicklung aber erst nach der Prüfung der Erheblichkeit der etwaigen Beeinträchtigung dieses Gebiets als solchem abgeschlossen sein wird, bei dieser Prüfung gemäß Abs. 3 dieses Artikels berücksichtigt werden können oder ob diese Maßnahmen als „Ausgleichsmaßnahmen“ im Sinne von Abs. 4 dieses Artikels einzustufen sind.

31

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 6 der Habitatrichtlinie den Mitgliedstaaten eine Reihe von Verpflichtungen und besonderen Verfahren vorschreibt, die, wie sich aus Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie ergibt, darauf abzielen, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume, insbesondere der besonderen Schutzgebiete, zu bewahren oder gegebenenfalls wiederherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. April 2013, Sweetman u. a., C‑258/11, EU:C:2013:220, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Die Bestimmungen von Art. 6 der Habitatrichtlinie sind am Maßstab der mit der Richtlinie verfolgten Erhaltungsziele als ein zusammenhängender Normenkomplex auszulegen. Die Abs. 2 und 3 dieses Artikels sollen nämlich das gleiche Schutzniveau für natürliche Lebensräume und Habitate von Arten gewährleisten, während Abs. 4 dieses Artikels nur eine Ausnahme von Abs. 3 Satz 2 darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Januar 2016, Grüne Liga Sachsen u. a., C‑399/14, EU:C:2016:10, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Somit unterteilt Art. 6 dieser Richtlinie die Maßnahmen in drei Kategorien, und zwar in Erhaltungsmaßnahmen, Vorbeugungsmaßnahmen und Ausgleichsmaßnahmen gemäß den Abs. 1, 2 bzw. 4 dieses Artikels.

34

In den Ausgangsverfahren sind der Kommunale Hafenbetrieb Antwerpen und die belgische Regierung der Auffassung, dass die im GRUP enthaltenen städtebaulichen Vorschriften Erhaltungsmaßnahmen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Habitatrichtlinie darstellen. Die belgische Regierung hält es auch für möglich, dass derartige Maßnahmen unter Abs. 2 dieses Artikels fallen.

35

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 1 Buchst. e der Habitatrichtlinie der Erhaltungszustand eines natürlichen Lebensraums u. a. dann als „günstig“ erachtet wird, wenn sein natürliches Verbreitungsgebiet sowie die Flächen, die er in diesem Gebiet einnimmt, beständig sind oder sich ausdehnen und die für seinen langfristigen Fortbestand notwendige Struktur und spezifischen Funktionen bestehen und in absehbarer Zukunft wahrscheinlich weiter bestehen werden.

36

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Bestimmungen dieser Richtlinie darauf abzielen, dass die Mitgliedstaaten geeignete Schutzmaßnahmen treffen, um die ökologischen Merkmale der Gebiete, in denen natürliche Lebensraumtypen vorkommen, zu erhalten (Urteil vom 11. April 2013, Sweetman u. a., C‑258/11, EU:C:2013:220, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht festgestellt, dass der GRUP u. a. insgesamt 20 Hektar an Schlickbänken und Marschland des betroffenen Natura‑2000‑Gebiets entfallen lasse.

38

Es ist daher festzustellen, dass zum einen die von diesem Gericht getroffenen Tatsachenfeststellungen zeigen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen u. a. das Verschwinden eines Teils dieses Gebiets vorsehen. Folglich können diese Maßnahmen keine Maßnahmen zur Erhaltung dieses Gebiets sein.

39

Zum anderen hat der Gerichtshof in Bezug auf Erhaltungsmaßnahmen bereits festgestellt, dass die Regelung des Art. 6 Abs. 2 der Habitatrichtlinie es erlaubt, dem wesentlichen Ziel der Erhaltung und des Schutzes der Qualität der Umwelt einschließlich des Schutzes der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen zu entsprechen, und eine allgemeine Schutzpflicht festlegt, die darin besteht, Verschlechterungen und Störungen zu vermeiden, die sich im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinie erheblich auswirken könnten (Urteil vom 14. Januar 2010, Stadt Papenburg, C‑226/08, EU:C:2010:10, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Daher steht eine Erhaltungsmaßnahme nur dann im Einklang mit Art. 6 Abs. 2 der Habitatrichtlinie, wenn gewährleistet ist, dass sie keine Störung verursacht, die die Ziele dieser Richtlinie, insbesondere die mit ihr verfolgten Erhaltungsziele, erheblich beeinträchtigen kann (Urteil vom 14. Januar 2016, Grüne Liga Sachsen u. a., C‑399/14, EU:C:2016:10, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Daraus ergibt sich, dass Art. 6 Abs. 1 und 2 der Habitatrichtlinie in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar ist.

42

Somit sind die rechtlichen Gesichtspunkte in Art. 6 Abs. 3 und 4 dieser Richtlinie zu umreißen, die eine Beantwortung der Vorlagefrage erlauben.

43

Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie sieht ein Prüfverfahren vor, das durch eine vorherige Prüfung gewährleisten soll, dass Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des betreffenden Gebiets in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die dieses jedoch erheblich beeinträchtigen könnten, nur genehmigt werden, soweit sie dieses Gebiet als solches nicht beeinträchtigen (Urteil vom 11. April 2013, Sweetman u. a., C‑258/11, EU:C:2013:220, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Diese Bestimmung sieht demgemäß zwei Phasen vor. Die erste, in Satz 1 dieser Bestimmung umschriebene Phase verlangt von den Mitgliedstaaten eine Prüfung der Verträglichkeit von Plänen oder Projekten mit einem geschützten Gebiet, wenn die Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Pläne oder Projekte dieses Gebiet erheblich beeinträchtigen (Urteil vom 11. April 2013, Sweetman u. a., C‑258/11, EU:C:2013:220, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45

Insbesondere könnten Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung eines Gebiets in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, dieses Gebiet erheblich beeinträchtigen, wenn sie die dafür festgelegten Erhaltungsziele zu gefährden drohen. Die Beurteilung einer solchen Gefahr ist namentlich im Licht der besonderen Merkmale und Umweltbedingungen des von diesen Plänen oder Projekten betroffenen Gebiets vorzunehmen (Urteil vom 15. Mai 2014, Briels u. a., C‑521/12, EU:C:2014:330, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46

In der in Art. 6 Abs. 3 Satz 2 der Habitatrichtlinie umschriebenen zweiten Phase, die sich an die genannte Verträglichkeitsprüfung anschließt, wird die Zustimmung zu einem solchen Plan oder Projekt vorbehaltlich Art. 6 Abs. 4 nur erteilt, wenn das betreffende Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird.

47

Damit ein Gebiet nicht im Sinne von Art. 6 Abs. 3 Satz 2 der Habitatrichtlinie als solches in seiner Eigenschaft als natürlicher Lebensraum beeinträchtigt wird, muss es daher in einem günstigen Erhaltungszustand verbleiben, was voraussetzt, dass seine grundlegenden Eigenschaften, die mit dem Vorkommen eines natürlichen Lebensraumtyps zusammenhängen, zu dessen Erhaltung das Gebiet in die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung im Sinne dieser Richtlinie aufgenommen wurde, dauerhaft erhalten werden (Urteil vom 15. Mai 2014, Briels u. a., C‑521/12, EU:C:2014:330, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48

Was konkret die Beantwortung der Vorlagefrage angeht, ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Rn. 29 des Urteils vom 15. Mai 2014, Briels u. a. (C‑521/12, EU:C:2014:330, Rn. 29), festgestellt hat, dass in einem Projekt vorgesehene Schutzmaßnahmen, mit denen dessen schädliche Auswirkungen auf ein Natura-2000-Gebiet ausgeglichen werden sollen, im Rahmen der Prüfung der Verträglichkeit des Projekts nach Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie nicht berücksichtigt werden dürfen.

49

Zwar stimmen die Umstände in den Ausgangsverfahren nicht mit denen überein, die in der Rechtssache in Rede standen, in der das Urteil vom 15. Mai 2014, Briels u. a. (C‑521/12, EU:C:2014:330), ergangen ist, da die in den Ausgangsverfahren geplanten Maßnahmen vor den Beeinträchtigungen durchzuführen sind, während in jener Rechtssache die Maßnahmen nach den Beeinträchtigungen durchzuführen waren.

50

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs darf die Prüfung nach Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie jedoch nicht lückenhaft sein und muss vollständige, präzise und endgültige Feststellungen enthalten, die geeignet sind, jeden vernünftigen wissenschaftlichen Zweifel hinsichtlich der Auswirkungen der in dem betreffenden Schutzgebiet geplanten Arbeiten auszuräumen (Urteil vom 14. Januar 2016, Grüne Liga Sachsen u. a., C‑399/14, EU:C:2016:10, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51

In diesem Zusammenhang bedeutet die nach Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie durchzuführende angemessene Prüfung eines Plans oder Projekts auf Verträglichkeit mit dem betreffenden Gebiet, dass unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sämtliche Gesichtspunkte des Plans oder Projekts zu ermitteln sind, die für sich oder in Verbindung mit anderen Plänen oder Projekten die für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungsziele beeinträchtigen können (Urteil vom 14. Januar 2016, Grüne Liga Sachsen u. a., C‑399/14, EU:C:2016:10, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52

Außerdem lassen sich die etwaigen positiven Auswirkungen der künftigen Schaffung eines neuen Lebensraums, der den Verlust an Fläche und Qualität desselben Lebensraumtyps in einem Schutzgebiet ausgleichen soll, im Allgemeinen nur schwer vorhersehen. Jedenfalls werden sie erst in einigen Jahren erkennbar sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Mai 2014, Briels u. a., C‑521/12, EU:C:2014:330, Rn. 32).

53

Zweitens schließt Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie auch den Vorsorgegrundsatz ein und erlaubt es, durch Pläne oder Projekte entstehende Beeinträchtigungen der Schutzgebiete als solche wirksam zu verhüten. Ein weniger strenges Genehmigungskriterium als das in dieser Bestimmung genannte könnte die Verwirklichung des mit dieser Bestimmung verfolgten Ziels des Schutzes der Gebiete nicht ebenso wirksam gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Januar 2016, Grüne Liga Sachsen u. a., C‑399/14, EU:C:2016:10, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54

Die zuständige nationale Behörde hat nach diesem Grundsatz im Rahmen der Durchführung von Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie die Verträglichkeit der Auswirkungen, die das Projekt auf das betreffende Gebiet hat, mit den Erhaltungszielen für dieses Gebiet zu prüfen. Dabei hat sie die in das Projekt aufgenommenen Schutzmaßnahmen zu berücksichtigen, mit denen die etwaigen unmittelbar verursachten schädlichen Auswirkungen auf das Gebiet verhindert oder verringert werden sollen, um dafür zu sorgen, dass das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird (Urteil vom 15. Mai 2014, Briels u. a., C‑521/12, EU:C:2014:330, Rn. 28).

55

Im vorliegenden Fall sind zum einen die Beeinträchtigungen des betroffenen Natura‑2000‑Gebiets gewiss, da das vorlegende Gericht sie beziffern konnte. Zum anderen wurden die sich aus der Entwicklung der Naturkerngebiete ergebenden Vorteile bereits bei der Prüfung und beim Nachweis des Fehlens einer erheblichen Beeinträchtigung dieses Gebiets berücksichtigt, während das Ergebnis der Entwicklung dieser Gebiete ungewiss ist, da sie nicht abgeschlossen ist.

56

Daher ähneln die Umstände in den Ausgangsverfahren denen, die zum Urteil vom 15. Mai 2014, Briels u. a. (C‑521/12, EU:C:2014:330), geführt haben, da zum Zeitpunkt der Prüfung der Verträglichkeit des Plans oder Projekts mit dem betreffenden Gebiet von derselben Annahme ausgegangen wird, dass die künftigen Vorteile die erheblichen Beeinträchtigungen dieses Gebiets abmildern werden, obwohl die betreffenden Entwicklungsmaßnahmen nicht durchgeführt worden sind.

57

Drittens ist – wie in Rn. 33 des vorliegenden Urteils ausgeführt – zu betonen, dass im Wortlaut von Art. 6 der Habitatrichtlinie von irgendeiner „abmildernden Maßnahme“ keine Rede ist.

58

Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, soll die praktische Wirksamkeit der in Art. 6 der Habitatrichtlinie vorgesehenen Schutzmaßnahmen insoweit verhindern, dass die zuständige nationale Behörde durch sogenannte „abmildernde“ Maßnahmen, die in Wirklichkeit Ausgleichsmaßnahmen entsprechen, die in dieser Vorschrift festgelegten spezifischen Verfahren umgeht, indem sie nach Art. 6 Abs. 3 Projekte genehmigt, die das betreffende Gebiet als solches beeinträchtigen (Urteil vom 15. Mai 2014, Briels u. a., C‑521/12, EU:C:2014:330, Rn. 33).

59

Daraus folgt, dass die schädlichen Auswirkungen von Plänen oder Projekten, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung eines besonderen Schutzgebiets in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind und die das Gebiet als solches beeinträchtigen, nicht unter Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie fallen.

60

Im Hinblick auf Art. 6 Abs. 4 der Habitatrichtlinie ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung als Ausnahme von dem in Art. 6 Abs. 3 Satz 2 der Habitatrichtlinie festgelegten Genehmigungskriterium eng auszulegen ist (Urteil vom 14. Januar 2016, Grüne Liga Sachsen u. a., C‑399/14, EU:C:2016:10, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung) und erst zur Anwendung kommt, nachdem die Auswirkungen eines Plans oder Projekts gemäß Art. 6 Abs. 3 analysiert wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Mai 2014, Briels u. a., C‑521/12, EU:C:2014:330, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61

Die Beeinträchtigungen des betreffenden Gebiets müssen genau identifiziert werden, um die Art etwaiger Ausgleichsmaßnahmen bestimmen zu können. Für die Anwendung von Art. 6 Abs. 4 dieser Richtlinie ist es unerlässlich, dass die Auswirkungen auf die für das fragliche Gebiet festgelegten Erhaltungsziele bekannt sind, da andernfalls die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Ausnahmeregelung nicht geprüft werden können. Die Prüfung etwaiger zwingender Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses und der Frage, ob weniger nachteilige Alternativen bestehen, erfordert nämlich eine Abwägung mit den Gebietsbeeinträchtigungen, die mit dem Plan oder Projekt verbunden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Januar 2016, Grüne Liga Sachsen u. a., C‑399/14, EU:C:2016:10, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62

Nach Art. 6 Abs. 4 der Habitatrichtlinie ergreift der Mitgliedstaat in dem Fall, dass ein Plan oder Projekt trotz negativer Ergebnisse der nach Art. 6 Abs. 3 Satz 1 dieser Richtlinie vorgenommenen Prüfung aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art durchzuführen ist und eine Alternativlösung nicht vorhanden ist, alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die globale Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist.

63

Daher können die zuständigen nationalen Behörden in diesem Kontext nach Art. 6 Abs. 4 der Habitatrichtlinie eine Genehmigung nur erteilen, sofern die dort festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Mai 2014, Briels u. a., C‑521/12, EU:C:2014:330, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass Maßnahmen, die in einem Plan oder Projekt enthalten sind, der oder das nicht unmittelbar mit der Verwaltung eines Gebiets von gemeinschaftlicher Bedeutung in Verbindung steht oder hierfür nicht notwendig ist, und die vorsehen, dass vor der Verwirklichung schädlicher Auswirkungen auf einen in dem Gebiet vorhandenen natürlichen Lebensraumtyp ein künftiges Areal dieser Art entwickelt wird, dessen Entwicklung aber erst nach der Prüfung der Erheblichkeit der etwaigen Beeinträchtigung dieses Gebiets als solchem abgeschlossen sein wird, bei dieser Prüfung nicht berücksichtigt werden können. Derartige Maßnahmen könnten gegebenenfalls nur dann als „Ausgleichsmaßnahmen“ im Sinne von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie eingestuft werden, wenn die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

Kosten

65

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen ist dahin auszulegen, dass Maßnahmen, die in einem Plan oder Projekt enthalten sind, der oder das nicht unmittelbar mit der Verwaltung eines Gebiets von gemeinschaftlicher Bedeutung in Verbindung steht oder hierfür nicht notwendig ist, und die vorsehen, dass vor der Verwirklichung schädlicher Auswirkungen auf einen in dem Gebiet vorhandenen natürlichen Lebensraumtyp ein künftiges Areal dieser Art entwickelt wird, dessen Entwicklung aber erst nach der Prüfung der Erheblichkeit der etwaigen Beeinträchtigung dieses Gebiets als solchem abgeschlossen sein wird, bei dieser Prüfung nicht berücksichtigt werden können. Derartige Maßnahmen könnten gegebenenfalls nur dann als „Ausgleichsmaßnahmen“ im Sinne von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie eingestuft werden, wenn die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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