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Dokument 62012CJ0313

Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 7. November 2013.
Giuseppa Romeo gegen Regione Siciliana.
Vorabentscheidungsersuchen der Corte dei conti, sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana.
Nationales Verwaltungsverfahren – Rein innerstaatlicher Sachverhalt – Verwaltungsakte – Begründungspflicht – Möglichkeit, im Laufe eines gegen einen Verwaltungsakt gerichteten gerichtlichen Verfahrens eine fehlende Begründung nachzuholen – Auslegung der Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Unzuständigkeit des Gerichtshofs.
Rechtssache C‑313/12.

Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2013:718

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

7. November 2013 ( *1 )

„Nationales Verwaltungsverfahren — Rein innerstaatlicher Sachverhalt — Verwaltungsakte — Begründungspflicht — Möglichkeit, im Laufe eines gegen einen Verwaltungsakt gerichteten gerichtlichen Verfahrens eine fehlende Begründung nachzuholen — Auslegung der Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Unzuständigkeit des Gerichtshofs“

In der Rechtssache C‑313/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana (Italien), mit Entscheidung vom 19. Juni 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juni 2012, in dem Verfahren

Giuseppa Romeo

gegen

Regione Siciliana

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter) sowie der Richter E. Juhász, A. Rosas, D. Šváby und C. Vajda,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Frau Romeo, vertreten durch M. Viaggio, avvocatessa,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und H. Krämer als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes der Pflicht zur Begründung von Rechtsakten der öffentlichen Verwaltung nach den Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Romeo und der Regione Siciliana über eine Entscheidung, in der vorgesehen wurde, die Pension von Frau Cicala herabzusetzen und für abgelaufene Zeiträume gezahlte Beträge zurückzufordern.

Italienisches Recht

3

Art. 1 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 241 vom 7. August 1990 über neue Vorschriften betreffend das Verwaltungsverfahren und das Recht auf Zugang zu Verwaltungsunterlagen (GURI Nr. 192 vom 18. August 1990, S. 7) in der durch das Gesetz Nr. 15 vom 11. Februar 2005 (GURI Nr. 42 vom 21. Februar 2005, S. 4) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 241/1990) sieht vor:

„Das Verwaltungshandeln verfolgt gesetzlich vorgesehene Ziele und unterliegt den Kriterien der Wirtschaftlichkeit, der Effizienz, der Unparteilichkeit, der Öffentlichkeit und der Transparenz nach den im vorliegenden Gesetz und in anderen Vorschriften über einzelne Verfahren vorgesehenen Modalitäten sowie den Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung.“

4

Art. 3 Abs. 1 und 2 des Gesetzes Nr. 241/1990 bestimmt bezüglich der Begründungspflicht:

„1.   Außer in den in Abs. 2 vorgesehenen Fällen muss jede Entscheidung der Verwaltung … begründet sein. Die Begründung muss die tatsächlichen Umstände und rechtlichen Gründe angeben, die die Verwaltung in Anbetracht der Ergebnisse der vorherigen Prüfung der Sache dazu veranlasst haben, diese Entscheidung zu treffen.

2.   Rechtsetzungsakte und Rechtsakte mit allgemeiner Geltung bedürfen keiner Begründung.“

5

Art. 21 octies Abs. 2 Unterabs. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 lautet:

„Eine unter Verstoß gegen die Verfahrens- oder Formvorschriften erlassene Entscheidung kann nicht aufgehoben werden, wenn aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine gebundene Entscheidung handelt, offensichtlich ist, dass ihr Regelungsgehalt nicht anders hätte lauten können als konkret beschlossen.“

6

Art. 3 des sizilianischen Regionalgesetzes Nr. 10 vom 30. April 1991 mit Bestimmungen über Verwaltungsentscheidungen, den Zugang zu Verwaltungsunterlagen und die Verbesserung der Funktionsweise des Verwaltungshandelns (im Folgenden: sizilianisches Regionalgesetz Nr. 10/1991) hat Art. 3 des Gesetzes Nr. 241/1990 wörtlich übernommen.

7

Art. 37 des sizilianischen Regionalgesetzes Nr. 10/1991 bestimmt:

„Soweit in diesem Gesetz nichts anderes vorgesehen ist, gelten, sofern sie vereinbar sind, die Bestimmungen des Gesetzes [Nr. 241/1990], spätere Änderungen und Ergänzungen sowie die dazugehörenden Durchführungsmaßnahmen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8

Frau Romeo bezieht von der Region Sizilien, deren Beschäftigte sie war, ein Ruhegehalt. Mit Schreiben aus dem Jahr 2007 teilte die Region Sizilien Frau Romeo mit, dass der durch ein früheres regionales Dekret festgesetzte Betrag ihres Ruhegehalts höher sei als der ihr tatsächlich geschuldete und dass dieser Betrag herabgesetzt werde und die zu Unrecht gezahlten Summen zurückgefordert würden.

9

Gegen dieses Schreiben erhob Frau Romeo bei der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, eine Aufhebungsklage, mit der sie das völlige Fehlen einer Begründung rügte, das es insbesondere unmöglich mache, die tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte festzustellen, die die Herabsetzung ihres Ruhegehalts und die Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Summen rechtfertigten. Im gerichtlichen Verfahren machte die Regione Siciliana geltend, dass das angefochtene Schreiben rechtmäßig sei, wobei sie sich auf Art. 21 octies Abs. 2 Unterabs. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 stützte, und ergänzte die Begründung der angefochtenen Maßnahme.

10

Die Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, warf von Amts wegen die Frage auf, ob Art. 21 octies Abs. 2 Unterabs. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 mit dem Unionsrecht und dem in Art. 3 dieses Gesetzes und in Art. 3 des sizilianischen Regionalgesetzes Nr. 10/1991 vorgesehenen Grundsatz der Begründung von Verwaltungsentscheidungen vereinbar sei.

11

In der Vorlageentscheidung macht die Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, Ausführungen zur Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der vorgelegten Fragen. Zunächst stellt sie fest, dass sie im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits gerichtliche Aufgaben wahrnehme. Im Bereich der Pensionen verfüge sie nämlich über die ausschließliche Gerichtsbarkeit in der Sache und sei zur Aufhebung von Verwaltungsakten befugt. Daher müsse sie im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits entgegen den Entscheidungen in den Rechtssachen, in denen die Beschlüsse vom 26. November 1999, ANAS (C-192/98, Slg. 1999, I-8583) und RAI (C-440/98, Slg. 1999, I-8597), ergangen seien und in denen sich der Gerichtshof für die Beantwortung der von ihr vorgelegten Fragen für unzuständig erklärt habe, nicht als Verwaltungsbehörde, sondern als ein Gericht im Sinne des Art. 267 AEUV angesehen werden.

12

Außerdem sei das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen angesichts des in Art. 1 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 enthaltenen Verweises auf das Unionsrecht durch die Notwendigkeit einer einheitlichen Anwendung des Grundsatzes der Pflicht zur Begründung aller Handlungen der Verwaltung als Grundsatz des europäischen Verwaltungsrechts gerechtfertigt. Zwar habe der Gerichtshof, als er in einer vergleichbaren Rechtssache von der Corte die conti mit Fragen befasst gewesen sei, die mit der zweiten und der dritten Vorlagefrage in der vorliegenden Rechtssache identisch seien, im Urteil vom 21. Dezember 2011, Cicala (C-482/10, Slg. 2011, I-14139), entschieden, dass Art. 1 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 keinen unmittelbaren und unbedingten Verweis auf Art. 296 Abs. 2 AEUV und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta enthalte, und deshalb seine Zuständigkeit zur Beantwortung der vorgelegten Fragen verneint.

13

Jedoch sei der Gerichtshof angesichts einer Entscheidung des Consiglio di Stato vom 10. Mai 2011 (Entscheidung Nr. 2755/2011) zu den Rechtsfolgen der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts im Bereich der die Jagd und Tierwelt betreffenden Raumplanung erneut mit denselben Fragen und mit einer Zusatzfrage zu befassen. Der Consiglio di Stato habe auf der Grundlage von Art. 1 der Verwaltungsprozessordnung im Anhang des Decreto leislativo Nr. 104 vom 2. Juli 2010, die vorsehe, dass „die Verwaltungsgerichtsbarkeit … einen umfassenden und wirksamen Schutz gemäß den Grundsätzen der Verfassung und des europäischen Rechts sicherstellt“, Art. 264 AEUV unmittelbar und unbedingt auf einen rein innerstaatlichen Sachverhalt angewandt und nationale Verfahrensregeln unangewandt gelassen.

14

Die Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, zieht daraus den Schluss, dass der Consiglio di Stato sich über das Urteil Cicala hinweggesetzt habe, als er entschieden habe, dass Art. 264 AEUV anwendbar sei, und fragt sich zudem, ob der Consiglio di Stato die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesem Artikel richtig angewandt habe.

15

In Anbetracht der oben genannten Entscheidung des Consiglio di Stato stellt sich nach Ansicht der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, die Frage, ob ein nationales Gericht auf der Grundlage einer nationalen Regelung, die unmittelbar und unbedingt auf das Unionsrecht verweist, befugt sei, dieses Recht falsch auszulegen und anzuwenden.

16

In der vorliegenden Rechtssache ist die Corte dei Conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, der Ansicht, dass Art. 21 octies des Gesetzes Nr. 241/1990, wie er von der nationalen Rechtsprechung ausgelegt werde, zur Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich der Begründung von Verwaltungsakten in Widerspruch stehe. Müsste sie diesen so ausgelegten Art. 21 octies anwenden, würde sie von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Begründungspflicht abweichen, obwohl sie in Anbetracht des Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 verpflichtet sei, die Rechtsprechung des Gerichtshofs anzuwenden.

17

Außerdem sei, auch wenn es sich im vorliegenden Fall um eine rein innerstaatliche Problemstellung handele, unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen zu ermitteln, ob der Unionsrechtsgrundsatz zur Begründungspflicht auch auf nationale Verwaltungsakte in nationalen Pensionssachen anzuwenden sei.

18

Unter diesen Umständen hat die Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Kann ein nationales Gericht aufgrund einer nationalen Vorschrift, die für rein innerstaatliche Sachverhalte auf das europäische Recht verweist, die Vorschriften und Grundsätze dieses Rechts abweichend auslegen und anwenden oder sie gemessen an ihrer Auslegung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs falsch anwenden?

2.

Sind die Auslegung und die Anwendung von Art. 3 des Gesetzes Nr. 241/1990 und von Art. 3 des sizilianischen Regionalgesetzes Nr. 10/1991 in Verbindung mit Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 – der die italienische Verwaltung zur Anwendung der Grundsätze der Rechtsordnung der Europäischen Union verpflichtet –, wonach Rechtsakte in einem Gleichordnungsverhältnis, d. h. solche, die subjektive Rechte beinhalten, im Bereich der Pensionen der Begründungspflicht entgehen können, wenn es sich um gebundene Rechtsakte handelt, unter Berücksichtigung der Pflicht zur Begründung von Rechtsakten der öffentlichen Verwaltung nach Art. 296 Abs. 2 AEUV und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar, und stellt dies einen Verstoß gegen ein wesentliches Formerfordernis der Verwaltungsentscheidung dar?

3.

Ist Art. 21 octies Abs. 2 Unterabs. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 in der Auslegung durch die Verwaltungsgerichte in Bezug auf die nach Art. 3 desselben Gesetzes sowie nach dem sizilianischen Regionalgesetz Nr. 10/1991 bestehende Pflicht zur Begründung von Verwaltungshandlungen in Übereinstimmung mit der Pflicht zur Begründung von Rechtsakten der öffentlichen Verwaltung nach Art. 296 Abs. 2 AEUV und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta vereinbar mit Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990, der die Verwaltung zur Anwendung der Grundsätze der Rechtsordnung der Europäischen Union verpflichtet, und ist folglich eine Auslegung und Anwendung damit vereinbar und zulässig, nach der es der Verwaltung möglich ist, die Begründung der Verwaltungsmaßnahme im gerichtlichen Verfahren zu ergänzen?

Zu den Vorlagefragen

Zur zweiten und zur dritten Frage

19

Vorab ist festzustellen, dass die zweite und die dritte Frage die Auslegung von Bestimmungen des AEU-Vertrags und der Charta bei einem Sachverhalt betreffen, der, wie die Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, selbst anführt, ein rein innerstaatlicher ist.

20

Unter diesen Umständen hat der Gerichtshof von Amts wegen zu prüfen, ob er dafür zuständig ist, sich zur Auslegung dieser Bestimmungen zu äußern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010, Omalet, C-245/09, Slg. 2010, I-13771, Randnr. 10 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21

Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen zuständig, die Vorschriften des Unionsrechts in Fällen betreffen, in denen der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, in denen das nationale Recht eines Mitgliedstaats aber auf den Inhalt dieser Unionsrechtsvorschriften verweist, um die auf einen rein innerstaatlichen Sachverhalt anwendbaren Regelungen zu bestimmen (vgl. u. a. Urteile vom 16. März 2006, Poseidon Chartering, C-3/04, Slg. 2006, I-2505, Randnr. 15, vom 11. Dezember 2007, ETI u. a., C-280/06, Slg. 2007, I-10893, Randnrn. 22 und 26, vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a., C-175/08, C-176/08, C-178/08 und C-179/08, Slg. 2010, I-1493, Randnr. 48, Cicala, Randnr. 17, und vom 18. Oktober 2012, Nolan, C‑583/10, Randnr. 45).

22

Es besteht nämlich ein klares Interesse der Union daran, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern, wenn sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung von Sachverhalten, die nicht in den Geltungsbereich des betreffenden Unionsrechtsakts fallen, nach den in diesem Rechtsakt getroffenen Regelungen richten, um zu gewährleisten, dass innerstaatliche und durch das Unionsrecht geregelte Sachverhalte gleich behandelt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile Salahadin Abdulla u. a., Randnr. 48, vom 12. Juli 2012, SC Volksbank România, C‑602/10, Randnrn. 87 und 88, Nolan, Randnr. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 14. März 2013, Allianz Hungária Biztosító u. a., C‑32/11, Randnrn. 20 und 21).

23

Ein solcher Fall liegt vor, wenn die in Rede stehenden Bestimmungen des Unionsrechts vom nationalen Recht unmittelbar und unbedingt für auf diese Sachverhalte anwendbar erklärt worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteile Cicala, Randnr. 19, und Nolan, Randnr. 47).

24

Zu den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften hatte der Gerichtshof, als er in einer vergleichbaren Rechtssache mit von der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, vorgelegten Fragen befasst war, die mit der zweiten und der dritten Frage in der vorliegenden Rechtssache identisch waren, bereits über die Frage zu entscheiden, ob Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 einen Verweis auf das Unionsrecht im Sinne der angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs enthält, der diesem erlaubt, Fragen zur Auslegung des Unionsrechts im Rahmen rein innerstaatlicher Rechtsstreitigkeiten zu beantworten (vgl. Urteil Cicala).

25

In dem in dieser letztgenannten Rechtssache ergangenen Urteil hat der Gerichtshof auf der Grundlage der Informationen in der Vorlageentscheidung sowie der von der Regione Siciliana, der italienischen Regierung und der Europäischen Kommission bei ihm eingereichten Erklärungen u. a. entschieden, dass das Gesetz Nr. 241/1990 keine hinreichend genauen Angaben enthält, aus denen abgeleitet werden könnte, dass der nationale Gesetzgeber dadurch, dass er in Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 auf die Grundsätze des Unionsrechts verwiesen hat, bezüglich der Begründungspflicht auf den Gehalt der Vorschriften der Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta oder auf andere Vorschriften des Unionsrechts über die Pflicht zur Begründung von Rechtsakten hätte verweisen wollen, damit innerstaatliche und dem Unionsrecht unterliegende Sachverhalte gleich behandelt werden. Daher hat sich der Gerichtshof für unzuständig erklärt, über die von der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, vorgelegten Fragen zu entscheiden.

26

Insbesondere hat der Gerichtshof in den Randnrn. 23 bis 25 des Urteils Cicala zum einen festgestellt, dass das Gesetz Nr. 241/1990 sowie das sizilianische Regionalgesetz Nr. 10/1991 spezifische Vorschriften über die Pflicht zur Begründung von Verwaltungsakten und die Verletzung dieser Pflicht enthalten, und zum anderen, dass Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 allgemein auf die „Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung“ verweist und nicht speziell auf die Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta, auf die sich die Vorlagefragen beziehen, oder auf andere Vorschriften des Unionsrechts über die Pflicht zur Begründung von Rechtsakten.

27

In den Randnrn. 26 und 27 jenes Urteils hat er daraus den Schluss gezogen, dass nicht festgestellt werden kann, dass die Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta vom italienischen Recht unmittelbar und unbedingt für anwendbar erklärt worden sind, damit innerstaatliche und dem Unionsrecht unterliegende Sachverhalte gleich behandelt werden.

28

In Randnr. 28 jenes Urteils hat der Gerichtshof weiter ausgeführt, dass die Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, nicht dargelegt hatte, dass der in Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 enthaltene Verweis auf die Grundsätze des Unionsrechts zur Folge habe, dass die nationalen Vorschriften über die Begründungspflicht zugunsten der Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta verdrängt würden.

29

In der vorliegenden Rechtssache hat das vorlegende Gericht, wie die Kommission in ihren beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen bemerkt hat, jedoch keine Gründe genannt, die die Schlussfolgerung, wonach der Gerichtshof für die Beantwortung der vorgelegten Fragen nicht zuständig ist, in Frage stellen könnten.

30

So ist der Verweis auf die in der Vorlageentscheidung angeführte Entscheidung des Consiglio di Stato unerheblich. Diese Entscheidung betrifft nämlich Problemstellungen und Vorschriften des italienischen Rechts, die sich von denen im Ausgangsverfahren unterscheiden, ohne dass diese Entscheidung die Frage behandelte, ob Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 einen Verweis auf die Art. 296 Abs. 2 und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs enthält.

31

Außerdem geht aus der von der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, gegebenen Begründung zur Stützung ihrer Entscheidung, den Gerichtshof mit denselben Fragen zu befassen, wie sie in der Rechtssache, in der das Urteil Cicala ergangen ist, vorgelegt worden waren, nicht hervor, dass der in Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 enthaltene Verweis auf die Grundsätze des Unionsrechts tatsächlich sicherstellen soll, dass innerstaatliche und dem Unionsrecht unterliegende Sachverhalte gleich behandelt werden.

32

Sind Bestimmungen einer nationalen Regelung ‐ wie die spezifischen im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorschriften des italienischen Rechts über die Begründungspflicht und die Folgen einer Verletzung dieser Pflicht ‐ zur Regelung des betreffenden innerstaatlichen Sachverhalts anwendbar, ist offensichtlich, dass eine auf das Unionsrecht verweisende Bestimmung derselben nationalen Regelung ‐ wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende – entsprechend den Erwägungen insbesondere in Randnr. 24 des vorliegenden Urteils nicht darauf abzielt, eine solche Gleichbehandlung sicherzustellen.

33

Eine Gleichbehandlung ist nämlich nur dann sichergestellt, wenn der Verweis auf die Unionsregeln durch das nationale Recht unmittelbar und unbedingt ist, ohne dass Bestimmungen des nationalen Rechts erlauben, diese Regeln, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt werden, zu verdrängen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. März 1995, Kleinwort Benson, C-346/93, Slg. 1995, I-615, Randnr. 16; Poseidon Chartering, Randnrn. 17 und 18, ETI u. a., Randnr. 25, und Allianz Hungária Biztosító u. a., Randnr. 21).

34

Sofern eine nationale Regelung spezifische Regeln wie die in den Randnrn. 4 bis 7 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen über die Begründungspflicht bei der Entscheidung über eine innerstaatliche Rechtsfrage und gleichzeitig eine Bestimmung enthält, die auf die Grundsätze des Unionsrechts verweist, wie das bei der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung der Fall ist, muss aus dieser nationalen Regelung daher klar hervorgehen, dass bei der Entscheidung über diese innerstaatliche Rechtsfrage nicht die spezifischen Regeln des nationalen Rechts, sondern die Grundsätze des Unionsrechts anzuwenden sind.

35

Im vorliegenden Fall ist in Anbetracht der Erwägungen, die die Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, in ihrer Vorlageentscheidung erwähnt, offensichtlich, dass der italienische Gesetzgeber nicht beabsichtigt hat, rein innerstaatliche Sachverhalte im Hinblick auf die Begründungspflicht den Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta statt den spezifischen Regeln des italienischen Rechts über die Begründungspflicht und die Folgen einer Verletzung dieser Pflicht zu unterstellen.

36

Die Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, hat auch keine Angaben gemacht, aus denen abgeleitet werden könnte, dass sich der in Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 enthaltene Verweis auf die Grundsätze des Unionsrechts tatsächlich auf den Gehalt der Bestimmungen der Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta oder auf andere Vorschriften des Unionsrechts über die Pflicht zur Begründung von Rechtsakten bezieht.

37

Unter diesen Umständen ist nicht davon auszugehen, dass die Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta oder andere Vorschriften des Unionsrechts über die Pflicht zur Begründung von Rechtsakten als solche von Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 unmittelbar und unbedingt für anwendbar erklärt worden sind, damit innerstaatliche und dem Unionsrecht unterliegende Sachverhalte gleich behandelt werden. Daher ist festzustellen, dass im vorliegenden Fall kein klares Interesse der Union daran besteht, dass eine einheitliche Auslegung der aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon gewahrt wird, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen.

38

Folglich ist der Gerichtshof für die Beantwortung der zweiten und der dritten Vorlagefrage nicht zuständig.

Zur ersten Frage

39

Aus den vorstehenden Feststellungen ergibt sich, dass die erste Frage in Wirklichkeit darauf abzielt, den Gerichtshof zur Abgabe eines Gutachtens zu einer allgemeinen Frage zu veranlassen, die für die Entscheidung des bei der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, anhängigen Rechtsstreits gegenstandslos ist.

40

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs liegt die Rechtfertigung für ein Vorabentscheidungsersuchen jedoch nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits über das Unionsrecht erforderlich ist (vgl. Urteile vom 12. März 1998, Djabali, C-314/96, Slg. 1998, I-1149, Randnr. 19, vom 30. März 2004, Alabaster, C-147/02, Slg. 2004, I-3101, Randnr. 54, und vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, Randnr. 42).

41

Folglich ist die erste Frage als unzulässig anzusehen.

42

Unter diesen Umständen ist nicht zu prüfen, ob die Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits ein Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV ist.

Kosten

43

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die erste von der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana (Italien), mit Entscheidung vom 19. Juni 2012 vorgelegte Frage ist unzulässig.

 

2.

Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der zweiten und der dritten von der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, mit Entscheidung vom 19. Juni 2012 vorgelegten Frage nicht zuständig.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

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