URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

20. März 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/6/EG – Marktmanipulation – Sanktionen – Nationale Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine strafrechtliche Sanktion vorsehen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Strafrechtliche Natur der Verwaltungssanktion – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen“

In der Rechtssache C‑537/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 20. September 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Oktober 2016, in dem Verfahren

Garlsson Real Estate SA, in Liquidation,

Stefano Ricucci,

Magiste International SA

gegen

Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, T. von Danwitz (Berichterstatter), A. Rosas und E. Levits, der Richter E. Juhász, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und E. Regan,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Mai 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Garlsson Real Estate SA, in Liquidation, von Herrn Ricucci und der Magiste International SA, vertreten durch M. Canfora, avvocato,

der Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob), vertreten durch A. Valente, S. Providenti und P. Palmisano, avvocati,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Galluzzo und P. Gentili, avvocati dello Stato,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und D. Klebs als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Di Bucci, R. Troosters und T. Scharf als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. September 2017

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Garlsson Real Estate SA, in Liquidation, Herrn Stefano Ricucci und der Magiste International SA auf der einen Seite und der Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Nationale Unternehmens- und Börsenaufsichtsbehörde, Italien) (im Folgenden: Consob) auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit einer Geldbuße als Verwaltungssanktion, mit der sie wegen Verstößen gegen die Rechtsvorschriften über Marktmanipulation belegt wurden.

Rechtlicher Rahmen

EMRK

3

Art. 4 („Recht, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden“) des Protokolls Nr. 7 zur EMRK bestimmt:

„(1)   Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.

(2)   Absatz 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist.

(3)   Von diesem Artikel darf nicht nach Artikel 15 der Konvention abgewichen werden.“

Unionsrecht

4

Nach Art. 5 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) (ABl. 2003, L 96, S. 16) untersagen die Mitgliedstaaten jedermann, Marktmanipulation zu betreiben. In Art. 1 Nr. 2 dieser Richtlinie wird bestimmt, welche Verhaltensweisen eine Marktmanipulation darstellen.

5

Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Unbeschadet des Rechts der Mitgliedstaaten, strafrechtliche Sanktionen zu verhängen, sorgen die Mitgliedstaaten entsprechend ihrem jeweiligen innerstaatlichen Recht dafür, dass bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften gegen die verantwortlichen Personen geeignete Verwaltungsmaßnahmen ergriffen oder im Verwaltungsverfahren zu erlassende Sanktionen verhängt werden können. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass diese Maßnahmen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind.“

Italienisches Recht

6

Art. 185 („Marktmanipulation“) des Decreto Legislativo n. 58 – Testo unico delle disposizioni in materia di intermediazione finanziaria, ai sensi degli articoli 8 e 21 della legge 6 febbraio 1996, n. 52 (Gesetzesdekret Nr. 58 – Einheitstext der Bestimmungen über die Finanzvermittlung gemäß den Art. 8 und 21 des Gesetzes Nr. 52 vom 6. Februar 1996), vom 24. Februar 1998 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 71 vom 26. März 1998) in der durch die Legge n. 62 – Disposizioni per l’adempimento di obblighi derivanti dall’appartenenza dell’Italia alle Comunità europee. Legge comunitaria 2004 (Gesetz Nr. 62 – Vorschriften zur Erfüllung der sich aus der Zugehörigkeit Italiens zu den Europäischen Gemeinschaften ergebenden Verpflichtungen. Gemeinschaftsgesetz 2004) vom 18. April 2005 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 76 vom 27. April 2005) geänderten Fassung (im Folgenden: TUF) bestimmt:

„(1)   Mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu sechs Jahren und mit Geldstrafe von zwanzigtausend Euro bis fünf Millionen Euro wird bestraft, wer unrichtige Informationen verbreitet, Geschäfte vortäuscht oder andere Täuschungshandlungen vornimmt, die konkret geeignet sind, den Preis von Finanzinstrumenten erheblich zu verändern.

(2)   Das Gericht kann die Geldstrafe bis zum Dreifachen dieses Betrags oder bis zum Zehnfachen des Ertrags oder des Gewinns aus der Straftat, je nachdem, welcher Betrag höher ist, erhöhen, wenn sie unter Berücksichtigung der Schwere der Rechtsgutsverletzung, persönlicher Eigenschaften des Täters oder der Höhe des Ertrags oder des Gewinns aus der Straftat trotz Verhängung des Höchstbetrags nicht angemessen erscheint.“

7

Art. 187ter („Marktmanipulation“) TUF sieht vor:

„(1)   Unbeschadet strafrechtlicher Sanktionen, wenn die Tat eine Straftat ist, wird als Verwaltungssanktion mit einer Geldbuße in Höhe von zwanzigtausend Euro bis fünf Millionen Euro belegt, wer über die Medien einschließlich des Internets oder auf anderem Wege falsche oder irreführende Informationen, Gerüchte oder Nachrichten verbreitet, die falsche oder irreführende Signale in Bezug auf Finanzinstrumente geben oder geben könnten.

(3)   Unbeschadet strafrechtlicher Sanktionen, wenn die Tat eine Straftat ist, wird die in Abs. 1 genannte Geldbuße als Verwaltungssanktion auf jeden angewandt, der

c)

Geschäfte oder Kauf- bzw. Verkaufsaufträge unter Vorspiegelung falscher Tatsachen oder unter Verwendung sonstiger Kunstgriffe oder Formen der Täuschung vornimmt.

(5)   Die in den vorstehenden Absätzen vorgesehenen Geldbußen als Verwaltungssanktionen werden bis zum Dreifachen dieses Betrags oder bis zum Zehnfachen des Ertrags oder des Gewinns aus der Zuwiderhandlung, je nachdem, welcher Betrag höher ist, erhöht, wenn sie unter Berücksichtigung der Schwere der Rechtsgutsverletzung, persönlicher Eigenschaften des Täters oder der Höhe des Ertrags oder des Gewinns aus den Auswirkungen der Zuwiderhandlung auf den Markt trotz Verhängung des Höchstbetrags nicht angemessen erscheinen.

…“

8

In Art. 187decies („Verhältnis zu den Gerichten“) TUF heißt es:

„(1)   Erfährt die Staatsanwaltschaft von einer der in Kapitel II aufgeführten Straftaten, unterrichtet sie unverzüglich den Präsidenten der [Consob].

(2)   Der Präsident der [Consob] übermittelt der Staatsanwaltschaft durch einen mit Gründen versehenen Bericht die bei der Ausübung der Kontrolltätigkeit erstellte Dokumentation, sofern der Verdacht einer Straftat besteht. Die Übersendung der Akten an die Staatsanwaltschaft erfolgt spätestens, nachdem die in den Bestimmungen des Kapitels III dieses Titels aufgeführten Straftaten festgestellt wurden.

(3)   Die [Consob] und die Justizbehörde arbeiten u. a. durch den Austausch von Informationen zur Erleichterung der Feststellung von Verstößen nach diesem Titel auch dann zusammen, wenn diese Verstöße keine Straftat darstellen. …“

9

Art. 187duodecies („Verhältnis von Strafverfahren zu Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren“) TUF bestimmt in Abs. 1:

„Das Verwaltungskontrollverfahren und das Widerspruchsverfahren … können während des laufenden Strafverfahrens wegen derselben Tat oder einer Tat, deren Feststellung für den Verfahrensausgang maßgebend ist, nicht ausgesetzt werden.“

10

Art. 187terdecies („Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen im Strafverfahren“) TUF lautet:

„Wurde gegen den Täter oder die juristische Person wegen derselben Tat als Verwaltungssanktion eine Geldbuße … verhängt, wird die Erhebung der Geldstrafe und der Geldbuße, die wegen der Straftat verhängt werden, auf den Teil beschränkt, der den von der Verwaltungsbehörde eingezogenen Betrag übersteigt.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11

Mit Entscheidung vom 9. September 2007 verhängte die Consob als Verwaltungssanktion eine Geldbuße in Höhe von 10,2 Mio. Euro gegen Herrn Ricucci, Magiste International und Garlsson Real Estate als Gesamtschuldner.

12

Nach den Angaben in dieser Entscheidung nahm Herr Ricucci in dem im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraum Manipulationen vor, um die Aufmerksamkeit auf die Wertpapiere der RCS Mediagroup SpA zu lenken und damit den Kurs dieser Wertpapiere aus Eigennutz zu stützen. Nach Ansicht der Consob führten diese Handlungen zu einer anormalen Entwicklung der genannten Wertpapiere und stellten daher eine Marktmanipulation im Sinne von Art. 187ter Abs. 3 Buchst. c TUF dar.

13

Herr Ricucci, Magiste International und Garlsson Real Estate gingen gegen die im Ausgangsverfahren als Verwaltungssanktion verhängte Geldbuße bei der Corte d’appello di Roma (Berufungsgericht von Rom, Italien) vor. Mit Urteil vom 2. Januar 2009 gab dieses Gericht der Klage teilweise statt und setzte die Geldbuße auf 5 Mio. Euro herab. Dagegen haben alle Parteien des Ausgangsverfahrens Kassationsbeschwerde zur Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof, Italien) eingelegt.

14

Wegen der in Rn. 12 des vorliegenden Urteils beschriebenen Handlungen wurde Herr Ricucci auch strafrechtlich verfolgt und letztlich durch ein Urteil des Tribunale di Roma (Gericht von Rom, Italien) vom 10. Dezember 2008 im Wege der Verfahrensabsprache nach Art. 185 TUF zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Strafe wurde später auf drei Jahre ermäßigt und nachfolgend im Wege der Begnadigung erlassen. Das Urteil ist rechtskräftig.

15

In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Grundsatz ne bis in idem in der italienischen Rechtsordnung keine Anwendung auf das Verhältnis zwischen strafrechtlichen Sanktionen und Verwaltungssanktionen finde.

16

Es bestünden jedoch Zweifel, ob das Verfahren zur Verhängung der Geldbuße als Verwaltungssanktion, um das es im Ausgangsverfahren gehe, nach dem Urteil des Tribunale di Roma (Gericht von Rom) vom 10. Dezember 2008 noch mit Art. 50 der Charta, wie er im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK ausgelegt werde, vereinbar sei.

17

Auch wenn dieses Urteil in der italienischen Rechtsordnung einer strafrechtlichen Verurteilung gleichstehe, sei die im Ausgangsverfahren nach Art. 187ter TUF als Verwaltungssanktion verhängte Geldbuße nämlich im Sinne von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 4. März 2014, Grande Stevens u. a./Italien (CE:ECHR:2014:0304JUD001864010), strafrechtlicher Natur. Im Rahmen dieses Verwaltungsverfahrens seien Herrn Ricucci dieselben Handlungen vorgeworfen worden wie die, die der strafrechtlichen Sanktion gegen ihn zugrunde lägen.

18

In der Überzeugung, dass die Anwendung von Art. 187ter TUF im Ausgangsverfahren Fragen nach der Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung aufwirft, rief das vorlegende Gericht die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) an.

19

Mit Urteil vom 12. Mai 2016 erklärte die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit für unzulässig und gab zur Begründung an, das vorlegende Gericht habe nicht zuvor geklärt, in welchem Verhältnis der Grundsatz ne bis in idem, wie er in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verankert sei, und dieser Grundsatz, wie er im Kontext des Marktmissbrauchs im Unionsrecht angewandt werde, zueinander stünden. Außerdem stelle sich die Frage, ob der unionsrechtlich verbürgte Grundsatz ne bis in idem auf das innerstaatliche Recht eines Mitgliedstaats unmittelbar anwendbar sei.

20

Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Steht Art. 50 der Charta, wie er im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK, der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des nationalen Rechts auszulegen ist, der Möglichkeit entgegen, ein Verwaltungsverfahren wegen einer Tat (rechtswidrige Marktmanipulation) durchzuführen, für die der Betroffene rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde?

2.

Kann der nationale Richter die Grundsätze des Unionsrechts, die mit dem Grundsatz ne bis in idem nach Art. 50 der Charta, wie er im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK, der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des nationalen Rechts auszulegen ist, im Zusammenhang stehen, unmittelbar anwenden?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

21

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 50 der Charta im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es zulässig ist, gegen eine Person ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion wegen rechtswidriger Marktmanipulationen fortzusetzen, wegen denen sie bereits rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde.

22

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6 in Verbindung mit deren Art. 5 unbeschadet ihres Rechts, strafrechtliche Sanktionen zu verhängen, gegen die für eine Marktmanipulation verantwortlichen Personen wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Verwaltungsmaßnahmen ergreifen oder im Verwaltungsverfahren zu erlassende Sanktionen verhängen.

23

Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung wurde Art. 187ter TUF zur Umsetzung dieser Bestimmungen der Richtlinie 2003/6 in das italienische Recht erlassen. Das Verwaltungsverfahren, um das es im Ausgangsverfahren geht, und die gegen Herrn Ricucci nach Art. 187ter TUF als Verwaltungssanktion verhängte Geldbuße stellen eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dar. Daher müssen sie insbesondere das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht wahren, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden.

24

Zudem sind die durch die EMRK anerkannten Grundrechte zwar, wie Art. 6 Abs. 3 EUV bestätigt, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts, und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta haben die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden. Jedoch stellt die EMRK, solange die Europäische Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde (Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 44, sowie vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Nach den Erläuterungen zu Art. 52 der Charta soll mit dessen Abs. 3 die notwendige Kohärenz zwischen der Charta und der EMRK geschaffen werden, „ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird“ (Urteile vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 47, und vom 14. September 2017, K., C‑18/16, EU:C:2017:680, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Daher ist die Prüfung der Vorlagefrage anhand der durch die Charta verbürgten Grundrechte und insbesondere ihres Art. 50 vorzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti, C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Art. 50 der Charta lautet: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“ Der Grundsatz ne bis in idem verbietet somit eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 34).

Zur strafrechtlichen Natur der Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen

28

Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37, und vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 35).

29

Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der genannten Kriterien zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren fraglichen straf- und verwaltungsrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen im Sinne von Art. 50 der Charta strafrechtlicher Natur sind, doch kann der Gerichtshof in seiner Vorabentscheidung Klarstellungen vornehmen, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2014, Mahdi, C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass die Verfolgung von Herrn Ricucci in einem Strafverfahren und die gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe, die in Rn. 14 des vorliegenden Urteils erwähnt worden sind, anhand der in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien zweifelsfrei als strafrechtlich einzustufen sind. Hingegen stellt sich die Frage, ob die Geldbuße als Verwaltungssanktion und das Verwaltungsverfahren, die im Ausgangsverfahren in Rede stehen, strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta sind.

31

Hinsichtlich des ersten in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführten Kriteriums ergibt sich insoweit aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte, dass das Verfahren, das zur Verhängung der Verwaltungssanktion führte, im nationalen Recht als Verwaltungsverfahren eingestuft wird.

32

Die Anwendung von Art. 50 der Charta beschränkt sich jedoch nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern erstreckt sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die nach den beiden anderen in Rn. 28 angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind.

33

In Bezug auf das zweite Kriterium, das sich auf die Art der Zuwiderhandlung bezieht, ist zu prüfen, ob die fragliche Sanktion insbesondere eine repressive Zielsetzung verfolgt (vgl. Urteil vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 39). Dem ist zu entnehmen, dass eine Sanktion mit repressiver Zielsetzung strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta ist und dass der bloße Umstand, dass sie auch eine präventive Zielsetzung verfolgt, ihr nicht ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion nehmen kann. Wie der Generalanwalt in Nr. 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, liegt es nämlich in der Natur strafrechtlicher Sanktionen, dass sie sowohl auf die Repression als auch auf die Prävention rechtswidriger Verhaltensweisen abzielen. Dagegen ist eine Maßnahme, die nur den durch die Straftat entstandenen Schaden ersetzen soll, nicht strafrechtlicher Natur.

34

Im vorliegenden Fall sieht Art. 187ter TUF vor, dass als Verwaltungssanktion mit einer Geldbuße in Höhe von 20000 bis 5 Mio. Euro belegt wird, wer Marktmanipulation betrieben hat, wobei diese Sanktion nach Abs. 5 dieses Artikels unter bestimmten Umständen bis zum Dreifachen dieses Betrags oder bis zum Zehnfachen des Ertrags oder des Gewinns aus der Zuwiderhandlung, je nachdem, welcher Betrag höher ist, erhöht werden kann. Die italienische Regierung hat zudem in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen darauf hingewiesen, dass die Anwendung dieser Sanktion immer mit der Einziehung des Ertrags oder des Gewinns aus der Straftat und der bei ihrer Begehung verwendeten Gegenstände verbunden sei. Somit ist davon auszugehen, dass diese Sanktion nicht nur den durch die Straftat entstandenen Schaden ersetzen soll, sondern auch eine repressive Zielsetzung verfolgt, was im Übrigen auch der Einschätzung des vorlegenden Gerichts entspricht, so dass sie strafrechtlicher Natur ist.

35

Zum dritten Kriterium ist darauf hinzuweisen, dass eine als Verwaltungssanktion verhängte Geldbuße, die einen Betrag bis zum Zehnfachen des Ertrags oder des Gewinns aus der Zuwiderhandlung erreichen kann, einen hohen Schweregrad aufweist, der geeignet ist, die Einschätzung zu stützen, dass die Sanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta ist. Dies zu prüfen ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts.

Zum Vorliegen derselben Straftat

36

Schon aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta geht hervor, dass er es verbietet, dieselbe Person mehr als einmal wegen derselben Straftat in einem Strafverfahren zu verfolgen oder zu bestrafen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti, C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 18). Wie das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung ausführt, richten sich die verschiedenen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur, um die es im Ausgangsverfahren geht, gegen dieselbe Person, nämlich gegen Herrn Ricucci.

37

Für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben (vgl. entsprechend Urteile vom 18. Juli 2007, Kraaijenbrink, C‑367/05, EU:C:2007:444, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 16. November 2010, Mantello, C‑261/09, EU:C:2010:683, Rn. 39 und 40). Art. 50 der Charta verbietet somit, wegen derselben Tat am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur zu verhängen.

38

Ferner sind die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte rechtliche Interesse für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann.

39

Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Herrn Ricucci sowohl in dem Strafverfahren, das zu seiner rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung geführt hat, als auch im Verfahren strafrechtlicher Natur zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion, um das es im Ausgangsverfahren geht, dieselben Manipulationen vorgeworfen wurden, mit denen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Wertpapiere von RCS MediaGroup gelenkt werden sollte.

40

Die Consob führt zwar in ihren schriftlichen Erklärungen aus, dass die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion am Ende eines Strafverfahrens wie des im Ausgangsverfahren fraglichen – im Gegensatz zu der in Rede stehenden Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur – ein subjektives Element verlange. Jedoch kann der Umstand, dass die Verhängung dieser strafrechtlichen Sanktion von einem im Vergleich zur Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur zusätzlichen Tatbestandsmerkmal abhängt, für sich allein die Identität der betreffenden materiellen Tat nicht in Frage stellen. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheinen daher die Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur und das Strafverfahren, um die es im Ausgangsverfahren geht, dieselbe Straftat zu betreffen.

41

Somit ist davon auszugehen, dass es nach der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung zulässig ist, gegen eine Person wie Herrn Ricucci wegen rechtswidriger Marktmanipulation, wegen der sie bereits rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta fortzusetzen. Eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen stellt aber eine Einschränkung des in diesem Artikel verbürgten Rechts dar.

Zur Rechtfertigung der Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Rechts

42

Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic (C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 55 und 56), entschieden, dass eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatzes ne bis in idem nach Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden kann.

43

Gemäß Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

44

Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die Möglichkeit, strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen mit verwaltungsrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur zu kumulieren, gesetzlich vorgesehen ist.

45

Zudem wahrt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta. Sie lässt eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nämlich nur unter abschließend festgelegten Voraussetzungen zu und stellt damit sicher, dass das in Art. 50 verbürgte Recht als solches nicht in Frage gestellt wird.

46

Hinsichtlich der Frage, ob die Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem, die sich aus einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ergibt, einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht, ist der dem Gerichtshof vorliegenden Akte zu entnehmen, dass mit dieser Regelung die Integrität der Finanzmärkte der Union und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Finanzinstrumente geschützt werden soll. In Anbetracht der Bedeutung, die die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Bekämpfung von Verstößen gegen das Verbot der Marktmanipulation zur Erreichung dieses Ziels beimisst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Dezember 2009, Spector Photo Group und Van Raemdonck, C‑45/08, EU:C:2009:806, Rn. 37 und 42), kann eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur gerechtfertigt sein, wenn zur Erreichung eines solchen Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

47

Insoweit erscheint es bei Zuwiderhandlungen im Zusammenhang mit Marktmanipulationen legitim, dass ein Mitgliedstaat zum einen mit der Verhängung von gegebenenfalls pauschal festgesetzten Verwaltungssanktionen von jedem vorsätzlichen oder nicht vorsätzlichen Verstoß gegen das Verbot der Marktmanipulation abschrecken und ihn ahnden will, und zum anderen von schweren Verstößen gegen dieses Verbot, die für die Gesellschaft besonders schädlich sind und die Verhängung schwererer strafrechtlicher Sanktionen rechtfertigen, abschrecken und sie ahnden will.

48

Zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Februar 2010, Müller Fleisch, C‑562/08, EU:C:2010:93, Rn. 43, vom 9. März 2010, ERG u. a., C‑379/08 und C‑380/08, EU:C:2010:127, Rn. 86, sowie vom 19. Oktober 2016, EL-EM-2001, C‑501/14, EU:C:2016:777, Rn. 37 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6 in Verbindung mit ihrem Art. 5 frei wählen können, mit welchen Sanktionen sie Personen belegen, die für Marktmanipulationen verantwortlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Dezember 2009, Spector Photo Group und Van Raemdonck, C‑45/08, EU:C:2009:806, Rn. 71 und 72). In Ermangelung einer Harmonisierung des Unionsrechts auf diesem Gebiet dürfen die Mitgliedstaaten daher sowohl eine Regelung vorsehen, in der Verstöße gegen das Verbot der Marktmanipulation nur einmal Gegenstand von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sein können, als auch eine Regelung, die eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zulässt. Der bloße Umstand, dass sich der betreffende Mitgliedstaat für die Möglichkeit einer solchen Kumulierung entschieden hat, kann mithin die Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht in Zweifel ziehen, da dem Mitgliedstaat sonst diese Wahlfreiheit genommen würde.

50

Dies vorausgeschickt, ist festzustellen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die eine solche Kumulierungsmöglichkeit vorsieht, zur Erreichung des in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannten Ziels geeignet ist.

51

Zur zwingenden Erforderlichkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sie klare und präzise Regeln aufstellen muss, die es den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt.

52

Wie sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt, sieht im vorliegenden Fall die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung, insbesondere Art. 187ter TUF, vor, unter welchen Voraussetzungen die Verbreitung falscher Informationen und die Vortäuschung von Geschäften mit einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur geahndet werden können, wenn diese Handlungen falsche oder irreführende Signale in Bezug auf Finanzinstrumente geben können. Nach Art. 187ter TUF können unter den in Art. 185 TUF genannten Voraussetzungen auch eine Freiheitsstrafe und eine Geldstrafe wegen solcher Handlungen verhängt werden, wenn diese konkret geeignet sind, den Preis von Finanzinstrumenten erheblich zu verändern.

53

Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht ist somit davon auszugehen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung klar und präzise vorsieht, unter welchen Umständen bei Marktmanipulationen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur in Frage kommt.

54

Sodann muss eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche sicherstellen, dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zur Erreichung des in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannten Ziels zwingend Erforderliche beschränkt bleiben.

55

Was zum einen die Kumulierung von Verfahren strafrechtlicher Natur betrifft, die, wie aus der Akte hervorgeht, unabhängig voneinander durchgeführt werden, folgt aus der in der vorstehenden Randnummer genannten Anforderung, dass es Regeln zur Gewährleistung einer Koordinierung geben muss, um die mit einer solchen Kumulierung verbundene zusätzliche Belastung für die Betroffenen auf das zwingend Erforderliche zu beschränken.

56

Zum anderen muss die Kumulierung von Sanktionen strafrechtlicher Natur von Regeln begleitet sein, mit denen sichergestellt werden kann, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen der Schwere der betreffenden Straftat entspricht, wobei sich eine solche Anforderung nicht nur aus Art. 52 Abs. 1 der Charta ergibt, sondern auch aus dem in Art. 49 Abs. 3 der Charta verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen. Diese Regeln müssen die zuständigen Behörden dazu verpflichten, im Fall der Verhängung einer zweiten Sanktion dafür zu sorgen, dass die Schärfe aller verhängten Sanktionen nicht die Schwere der festgestellten Straftat überschreitet.

57

Im vorliegenden Fall kann zwar die in Art. 187decies TUF vorgesehene Verpflichtung zur Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen der Staatsanwaltschaft und der Consob die Belastung verringern, die sich für den Betroffenen aus der Kumulierung eines Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Art und eines Strafverfahrens wegen rechtswidriger Marktmanipulation ergibt. Doch geht in den Fällen, in denen ein Strafverfahren mit einer strafrechtlichen Verurteilung nach Art. 185 TUF geendet hat, die Fortsetzung des Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur über das hinaus, was zur Erreichung des in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannten Ziels zwingend erforderlich ist, sofern die strafrechtliche Verurteilung geeignet ist, die begangene Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden.

58

Insoweit ist den in Rn. 52 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Angaben in der dem Gerichtshof vorliegenden Akte zu entnehmen, dass die für eine strafrechtliche Verurteilung nach Art. 185 TUF in Betracht kommenden Marktmanipulationen eine gewisse Schwere aufweisen müssen und dass als Strafen gemäß dieser Bestimmung Freiheitsstrafen und Geldstrafen in Betracht kommen, wobei die Spanne Letzterer derjenigen entspricht, die für die in Art. 187ter TUF geregelte Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur vorgesehen ist.

59

Somit ist davon auszugehen, dass die Fortsetzung eines Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur nach Art. 187ter TUF über das hinausginge, was zur Erreichung des in Rn. 46 des vorliegenden Urteils angeführten Ziels zwingend erforderlich ist, sofern die rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung unter Berücksichtigung des der Gesellschaft durch die begangene Straftat zugefügten Schadens geeignet wäre, diese Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden. Dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.

60

In Bezug auf die Kumulierung von Sanktionen, die nach der im Ausgangsverfahren fraglichen Regelung zulässig ist, ist hinzuzufügen, dass diese Regelung in Art. 187terdecies TUF nur vorzusehen scheint, dass sich, wenn wegen derselben Tat eine Geldstrafe und eine Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur verhängt wurden, die Erhebung der Geldstrafe auf den Teil beschränkt, der den Betrag der Geldbuße übersteigt. Da Art. 187terdecies TUF nur die Kumulierung von Geldstrafen und Geldbußen und nicht die Kumulierung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur mit einer Freiheitsstrafe zu betreffen scheint, ist davon auszugehen, dass er keine Gewähr dafür bietet, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das beschränkt bleibt, was aufgrund der Schwere der betreffenden Straftat zwingend erforderlich ist.

61

Somit ist davon auszugehen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, wonach die Fortführung eines Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur nach einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung unter den in der vorstehenden Randnummer angeführten Voraussetzungen zulässig ist, über das hinausgeht, was zur Erreichung des in Rn. 46 des vorliegenden Urteils angeführten Ziels zwingend erforderlich ist. Dies zu prüfen ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts.

62

Dieses Ergebnis wird nicht durch den Umstand in Frage gestellt, dass die in Anwendung von Art. 185 TUF verhängte rechtskräftige Strafe gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt im Wege einer Begnadigung erlassen werden kann, wie dies im Ausgangsverfahren wohl der Fall war. Aus Art. 50 der Charta ergibt sich nämlich, dass der durch den Grundsatz ne bis in idem gewährte Schutz Personen zugutekommen muss, die bereits freigesprochen oder durch ein rechtskräftiges Strafurteil verurteilt wurden, und damit auch denjenigen, die durch ein solches Urteil mit einer später im Wege einer Begnadigung erlassenen strafrechtlichen Sanktion belegt wurden. Daher ist ein solcher Umstand für die Beurteilung der zwingenden Erforderlichkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen unerheblich.

63

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es zulässig ist, gegen eine Person ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur wegen rechtswidriger Marktmanipulationen fortzusetzen, wegen denen sie bereits rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, sofern diese Verurteilung unter Berücksichtigung des der Gesellschaft durch die begangene Straftat zugefügten Schadens geeignet ist, die Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden.

Zur zweiten Frage

64

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der in Art. 50 der Charta verbürgte Grundsatz ne bis in idem dem Einzelnen ein Recht verleiht, das im Rahmen eines Rechtsstreits wie dem des Ausgangsverfahrens unmittelbar anwendbar ist.

65

Nach ständiger Rechtsprechung lassen die Bestimmungen des Primärrechts, die klare und unbedingte Verpflichtungen aufstellen, deren Anwendung kein weiteres Eingreifen der Unionsbehörden oder der nationalen Behörden erfordert, unmittelbar in der Person der Bürger Rechte entstehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Juli 1969, Brachfeld und Chougol Diamond, 2/69 und 3/69, EU:C:1969:30, Rn. 22 und 23, sowie vom 20. September 2001, Banks, C‑390/98, EU:C:2001:456, Rn. 91).

66

Das Recht, das Art. 50 der Charta dem Einzelnen verleiht, ist aber schon nach dessen Wortlaut durch nichts bedingt und daher im Rahmen eines Rechtsstreits wie dem des Ausgangsverfahrens unmittelbar anwendbar.

67

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof die unmittelbare Wirkung von Art. 50 der Charta bereits anerkannt hat, indem er in Rn. 45 des Urteils vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105), festgestellt hat, dass das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, bei der Prüfung der Vereinbarkeit von Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts mit den durch die Charta verbürgten Rechten gehalten ist, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste.

68

Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass der in Art. 50 der Charta verbürgte Grundsatz ne bis in idem dem Einzelnen ein Recht verleiht, das im Rahmen eines Rechtsstreits wie dem des Ausgangsverfahrens unmittelbar anwendbar ist.

Kosten

69

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es zulässig ist, gegen eine Person ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur wegen rechtswidriger Marktmanipulationen fortzusetzen, wegen denen sie bereits rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, sofern diese Verurteilung unter Berücksichtigung des der Gesellschaft durch die begangene Straftat zugefügten Schadens geeignet ist, die Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden.

 

2.

Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgte Grundsatz ne bis in idem verleiht dem Einzelnen ein Recht, das im Rahmen eines Rechtsstreits wie dem des Ausgangsverfahrens unmittelbar anwendbar ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.