BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

12. Juli 2012 ( *1 )

„Vorabentscheidungsersuchen — Art. 92 § 1 der Verfahrensordnung — Klage der Opfer von Massentötungen gegen einen Mitgliedstaat als Verantwortlichen für die von seinen Streitkräften in Kriegszeiten begangenen Handlungen — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Offensichtliche Unzuständigkeit des Gerichtshofs“

In der Rechtssache C-466/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale ordinario di Brescia (Italien) mit Entscheidung vom 25. Juli 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 9. September 2011, in dem Verfahren

Gennaro Currà u. a.

gegen

Bundesrepublik Deutschland,

Beteiligte:

Repubblica italiana,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts sowie der Richter J. Malenovský (Berichterstatter), E. Juhász, T. von Danwitz und D. Šváby,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: A. Calot Escobar,

nach Anhörung der Generalanwältin

folgenden

Beschluss

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des EU- und des AEU-Vertrags sowie der Art. 17, 47 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen italienischen Staatsangehörigen und der Bundesrepublik Deutschland wegen Ersatzes des Schadens, der ihnen dadurch entstanden ist, dass sie oder Personen, deren Hinterbliebene sie sind, während des Zweiten Weltkriegs deportiert wurden.

Rechtlicher Rahmen

3

Art. 28 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 lautet:

„Sofern keine abweichende Absicht aus dem Vertrag hervorgeht oder anderweitig festgestellt ist, binden seine Bestimmungen eine Vertragspartei nicht in Bezug auf eine Handlung oder Tatsache, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags hinsichtlich der betreffenden Vertragspartei vorgenommen wurde oder eingetreten ist, sowie in Bezug auf eine Lage, die vor dem genannten Zeitpunkt zu bestehen aufgehört hat.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

4

Im Urteil Ferrini vom 6. November 2003, veröffentlicht am 11. März 2004, entschied die Corte suprema di cassazione, dass ein italienischer Staatsangehöriger bei den italienischen Gerichten eine Klage auf Ersatz des von ihm aufgrund seiner Deportation erlittenen Schadens gegen die Bundesrepublik Deutschland erheben könne, da diese sich angesichts der Schwere der gegenüber diesem Staatsangehörigen begangenen Verbrechen nicht auf ihre völkerrechtliche Staatenimmunität berufen könne.

5

Auf dieses Urteil hin erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens beim Tribunale ordinario di Brescia Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland auf eine angemessene Entschädigung für die Zwangsarbeit und die Deportation, deren Opfer sie selbst oder ihre Rechtsvorgänger waren.

6

Am 23. Dezember 2008 erhob die Bundesrepublik Deutschland beim Internationalen Gerichtshof Klage gegen die Repubblica italiana, weil diese gegen das völkerrechtliche Prinzip der Staatenimmunität verstoßen habe.

7

In Erwartung des Urteils des Internationalen Gerichtshofs erließ die Repubblica italiana die Legge 23 giugno 2010, n. 98, recante disposizioni urgenti in tema di immunità di Stati esteri dalla giurisdizione italiana e di elezioni degli organismi rappresentativi degli italiani all’estero (Gesetz Nr. 98/2010 vom 23. Juni 2010 mit Dringlichkeitsbestimmungen über die Immunität fremder Staaten vor italienischen Gerichten und die Wahlen zu den Vertretungsorganen von Italienern im Ausland) (GURI Nr. 147 vom 26. Juni 2010), die die Vollstreckung der gegen die Bundesrepublik Deutschland ergangenen Urteile aussetzt; diese Maßnahme soll mit der Veröffentlichung des Urteils des Internationalen Gerichtshofs enden.

8

Unter Berücksichtigung des internationalen Zusammenhangs und des Erlasses des genannten Gesetzes sind die Kläger des Ausgangsverfahrens der Ansicht, dass die deutschen und die italienischen Gerichte die völkerrechtlichen Bestimmungen verkannt hätten, die den italienischen Bürgern die Ausübung ihrer Rechte garantierten, insbesondere die Art. 17 und 47 der Charta, und beantragten daher beim Tribunale ordinario di Brescia eine Vorlage zum Gerichtshof.

9

Die Bundesrepublik Deutschland ist der Auffassung, dass sie nach Völkerrecht Staatenimmunität besitze, die in mehreren Mitgliedstaaten, in mehreren Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie in dem von der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 2. Dezember 2004 verabschiedeten Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Immunität der Staaten und ihres Vermögens von der Gerichtsbarkeit bestätigt worden sei. Außerdem sei die Klage unzulässig, da die Repubblica italiana nach dem Friedensvertrag von 1947 auf alle Schadensersatzansprüche gegenüber der Bundesrepublik Deutschland verzichtet habe.

10

Das vorlegende Gericht, nach dessen Ansicht dem Antrag der Kläger des Ausgangsverfahrens stattzugeben ist, verweist darauf, dass das Vorabentscheidungsersuchen die Frage der Einrede der Staatenimmunität im Verhältnis zum Unionsrecht, und zwar zum Vertrag von Lissabon und zur Charta, betreffe. Es fügt hinzu, dass die ersuchte Auslegung, die zwei Mitgliedstaaten betreffe, es ihm erlauben werde, über die Frage der Immunität der Bundesrepublik Deutschland zu entscheiden.

11

Daher hat das Tribunale ordinario di Brescia beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Stehen aufgrund der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland (Art. 2 und Art. 5 Abs. 2 des am 27. Februar 1953 in London abgeschlossenen Abkommens über deutsche Auslandsschulden) das im Hinblick auf den Sachverhalt des Rechtsstreits gegenüber dem italienischen Richter geltend gemachte Privileg der Immunität dieses Staates in Zivilsachen – auf das er sich seit dem 11. März 2004 (Urteil Ferrini der Corte suprema di cassazione) nicht mehr berufen kann – und die am 18. November 2008 in Triest mit der italienischen Regierung unterzeichnete Vereinbarung, ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (Rechtssache Nr. 143/2008 General List) anhängig zu machen, zusammen mit der einschlägigen italienischen Regelung in dem Gesetz Nr. 98/2010, die italienische Urteile über schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit für nicht vollstreckbar erklärt, im Widerspruch zu Art. 6 EUV und den Art. 17, 47 und 52 der Charta?

2.

Sind durch die Anwendung von Art. 7 des Gesetzes vom 22. Mai 1910 über die Haftung des Reiches für seine Beamten (Urteile des Bundesgerichtshofs vom 26. Juni 2003, III ZR 245/98, und des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 2006, 2 Bvr 1476/03) in Fällen, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit betreffen, wodurch Bürgern der Union entgegen Art. 2 des Abkommens über deutsche Auslandsschulden das Recht auf Schadensersatz gegenüber der Bundesrepublik Deutschland genommen wird, die Rechte der Kläger gemäß den Art. 17 und 47 der Charta bis zum 11. März 2004 (Urteil Ferrini der Corte suprema di cassazione) verletzt worden, und steht daher die Berufung auf eine Verjährungsfrist im Widerspruch zu den Gemeinschaftspflichten, insbesondere zu Art. 3 EUV und Art. 4 Abs. 3 letzter Unterabsatz EUV sowie dem Grundsatz des Verbots des venire contra factum proprium?

3.

Steht die Einrede der Immunität der beklagten Bundesrepublik Deutschland von der Gerichtsbarkeit im Widerspruch zu Art. 4 Abs. 3 letzter Unterabsatz EUV und Art. 21 EUV, weil sie die zivilrechtliche Haftung der Beklagten aufgrund der gemeinsamen Grundsätze des Unionsrechts (Art. 340 AEUV) für ihre Verletzung des Völkerrechts (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit) gegenüber den Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats ausschlösse?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

12

Nach den Art. 92 § 1 und 103 § 1 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn er für ein Vorabentscheidungsersuchen offensichtlich unzuständig ist, nach Anhörung des Generalanwalts, ohne das Verfahren fortzusetzen, durch Beschluss entscheiden, der mit Gründen zu versehen ist.

13

Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die völkerrechtliche Einrede der Staatenimmunität in Zivilsachen, auf die sich die Bundesrepublik Deutschland vor den italienischen Gerichten beruft und die sie in ihrem internen Recht auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendet, sowie das Gesetz Nr. 98/2010 im Widerspruch zu den Art. 3 EUV, 4 Abs. 3 EUV, 6 EUV und 340 AEUV sowie den Art. 17, 42 und 52 der Charta stehen.

14

Vorab ist festzustellen, dass sich aus Art. 5 Abs. 2 EUV ergibt, dass die Europäische Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig wird, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben, und dass alle der Union nach den Verträgen nicht übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben.

15

Außerdem kann der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV das Unionsrecht nur in den Grenzen der der Union übertragenen Zuständigkeiten prüfen (vgl. Urteil vom 5. Oktober 2010, McB., C-400/10 PPU, Slg. 2010, I-8965, Randnr. 51, sowie Beschluss vom 14. Dezember 2011, Boncea u. a. und Budan, C-483/11 und C-484/11, Randnr. 32). Insbesondere ist der Gerichtshof nach Art. 267 AEUV nicht befugt, über die Auslegung völkerrechtlicher Bestimmungen zu entscheiden, die zwischen den Mitgliedstaaten Bindungen außerhalb des unionsrechtlichen Bereichs schaffen (Urteil vom 27. November 1973, Vandeweghe u. a., 130/73, Slg. 1973, 1329, Randnr. 2).

16

Im vorliegenden Fall betrifft das Ausgangsverfahren eine Schadensersatzklage, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats gegen einen anderen Mitgliedstaat wegen eines Sachverhalts erhoben haben, der sich während des Zweiten Weltkriegs zugetragen hat, also vor der Gründung der Europäischen Gemeinschaften.

17

Das vorlegende Gericht trägt keinen Gesichtspunkt vor, der beweisen würde, dass der Gerichtshof sachlich zuständig ist. Es ersucht den Gerichtshof erstens, sich zur Auslegung des allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatzes der Staatenimmunität und zur Auslegung des Abkommens über deutsche Auslandsschulden, bei dem die Union keine Vertragspartei ist, zu äußern, sowie zweitens, zu überprüfen, ob das Recht und das Verhalten zweier Mitgliedstaaten im Licht einer solchen Auslegung mit verschiedenen Bestimmungen des EU- und des AEU-Vertrags sowie der Charta übereinstimmen.

18

Zwar sind die Befugnisse der Union unter Beachtung des Völkerrechts auszuüben (vgl. entsprechend Urteile vom 24. November 1992, Poulsen und Diva Navigation, C-286/90, Slg. 1992, I-6019, Randnr. 9, und vom 21. Dezember 2011, Air Transport Association of America u. a., C-366/10, Slg. 2011, I-13755, Randnr. 123). Dementsprechend hat der Gerichtshof das Völkerrecht anzuwenden und kann veranlasst sein, bestimmte Grundsätze dieses Rechts auszulegen, aber nur im Rahmen der Zuständigkeit, die der Union von den Mitgliedstaaten übertragen wurde.

19

Es gibt jedoch weder Hinweise darauf, dass der Sachverhalt, der Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, unter das Unionsrecht fallen könnte, noch folglich darauf, dass er unter Regeln des Völkerrechts fallen könnte, die eine Auswirkung auf die Auslegung des Unionsrechts haben. Deshalb ist der Gerichtshof für die Auslegung und Anwendung der Regeln des Völkerrechts, die das vorlegende Gericht auf den vorliegenden Sachverhalt anwenden will, nicht zuständig.

20

Der Gerichtshof stellt hierzu ferner fest, dass die beiden im Ausgangsverfahren betroffenen Staaten hinsichtlich der Auslegung und der Anwendung des Grundsatzes der Staatenimmunität im Rahmen einer Schadensersatzklage, die Staatsbürger eines Staates gegen einen anderen Staat wegen eines Sachverhalts erhoben haben, der sich während des Zweiten Weltkriegs zugetragen hat, den Internationalen Gerichtshof angerufen haben, ohne dessen Zuständigkeit zu rügen. Dieses Gericht hat sich für zuständig erklärt und am 3. Februar 2012 ein Urteil zur Sache selbst erlassen.

21

Nach alledem ist der Gerichtshof für eine Beantwortung der Vorlagefragen offensichtlich sachlich unzuständig.

22

Selbst wenn man annähme, dass die Union die vom vorlegenden Gericht ins Auge gefassten Regeln des Völkerrechts auslegen könnte, ergibt sich aus Art. 28 des Wiener Übereinkommens über das Recht auf Verträge, der als Regel des Völkergewohnheitsrechts die Unionsorgane bindet und Bestandteil der Rechtsordnung der Union ist (vgl. entsprechend Urteil vom 25. Februar 2010, Brita, C-386/08, Slg. 2010, I-1289, Randnr. 42), dass, sofern in dem betreffenden Vertrag keine abweichende Absicht zum Ausdruck gebracht wird, seine Bestimmungen die vertragsschließenden Staaten nicht in Bezug auf eine Handlung oder eine Tatsache binden, die vor seinem Inkrafttreten vorgenommen wurde oder eingetreten ist.

23

Eine solche abweichende Absicht, aufgrund deren eine Zuständigkeit der Union auf einen Sachverhalt wie den des Ausgangsverfahrens, der sich vor ihrer Existenz zugetragen hat, ausgedehnt werden könnte, ergibt sich in keiner Weise aus den Verträgen.

24

Daraus folgt, dass der Gerichtshof für eine Beantwortung der Vorlagefragen offensichtlich in zeitlicher Hinsicht unzuständig ist.

25

Insbesondere hinsichtlich der Bestimmungen der Charta, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, genügt es, darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen der Charta nach deren Art. 51 Abs. 1 für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gelten. Nach Art. 51 Abs. 2 der Charta dehnt diese zudem den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben. Somit hat der Gerichtshof im Licht der Charta das Unionsrecht in den Grenzen der der Union übertragenen Zuständigkeiten zu prüfen (vgl. Urteil vom 15. November 2011, Dereci u. a., C-256/11, Slg. 2011, I-11315, Randnr. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Da der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht unter das Unionsrecht fällt und der Gerichtshof daher nicht zuständig ist, können die angeführten Bestimmungen der Charta als solche keine neue Zuständigkeit begründen.

27

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass der Gerichtshof für die Beantwortung des vom Tribunale ordinario di Brescia vorgelegten Vorabentscheidungsersuchens offensichtlich unzuständig ist.

Kosten

28

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) beschlossen:

 

Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung des vom Tribunale ordinario di Brescia (Italien) vorgelegten Vorabentscheidungsersuchens offensichtlich unzuständig.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.