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Document 62004CS0001

Beschluss des Gerichtshofes (Dritte Kammer) vom 14. Dezember 2004.
Tertir-Terminais de Portugal SA gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften.
Antrag auf Ermächtigung zur Sicherungspfändung bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften.
Rechtssache C-1/04 SA.

European Court Reports 2004 I-11931

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2004:803

Ordonnance de la Cour

Rechtssache C‑1/04 SA

Tertir-Terminais de Portugal SA

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Antrag auf Ermächtigung zur Sicherungspfändung bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften“

Leitsätze

Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften – Antrag auf Ermächtigung zur Sicherungspfändung bei einem Gemeinschaftsorgan – Erfordernis einer Ermächtigung des Gerichtshofes – Verweigerung der Ermächtigung – Kein rechtswidriger und unverhältnismäßiger Eingriff in die Ausübung der Menschenrechte

(Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften, Artikel 1)

Artikel 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften, wonach die Vermögensgegenstände und Guthaben der Gemeinschaften ohne Ermächtigung des Gerichtshofes nicht Gegenstand von Zwangsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden oder Gerichte sein dürfen, bezweckt, zu verhindern, dass die Funktionsfähigkeit und die Unabhängigkeit der Gemeinschaften beeinträchtigt werden. Eine solche Auslegung steht im Einklang mit den Grundsätzen des allgemeinen Völkerrechts, die im Bereich der Immunitäten der Staaten und der internationalen Organisationen gelten.

Daraus folgt, dass eine Entscheidung des Gerichtshofes, mit der die Ermächtigung zur Durchführung einer Zwangsmaßnahme, etwa einer Sicherungspfändung, verweigert wird und die im Einklang mit dieser Auslegung ergangen ist, nicht als rechtswidriger und unverhältnismäßiger Eingriff in die Ausübung der durch die verschiedenen internationalen Verträge geschützten Menschenrechte und insbesondere auch des Rechts auf Achtung des Eigentums oder des Rechts auf Zugang zu den Gerichten, das Bestandteil des Rechts auf ein faires Verfahren ist, angesehen werden kann.

(vgl. Randnrn. 10, 12-13)




BESCHLUSS DES GERICHTSHOFES (Dritte Kammer)
14. Dezember 2004(1)

„Antrag auf Ermächtigung zur Sicherungspfändung bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften“

In der Rechtssache C-1/04 SAwegen Antrags auf Ermächtigung zur Sicherungspfändung bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, eingereicht am 15. März 2004,

Tertir-Terminais de Portugal SA mit Sitz in Terminal do Freixieiro (Portugal), Prozessbevollmächtigte: G. Vandersanden, C. Houssa und L. Levi, avocats, sowie F. Gonçalves Pereira, advogado, Zustellungsanschrift in Brüssel (Belgien),

Antragstellerin,

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch I. Martinez del Peral Cagigal und F. Clotuche-Duvieusart als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Antragsgegnerin,

erlässt



DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)



unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas sowie der Richter A. Borg Barthet, S. von Bahr (Berichterstatter), J. Malenovský und A. Ó Caoimh,

Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,
Kanzler: R. Grass,

nach Anhörung des Generalanwalts

folgenden



Beschluss



1
Mit ihrer Antragsschrift beantragt die Gesellschaft portugiesischen Rechts Tertir-Terminais de Portugal SA (im Folgenden: Tertir-Terminais), sie zu ermächtigen, bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften eine Sicherungspfändung der Beträge durchzuführen, die die Europäische Gemeinschaft der Republik Guinea-Bissau als finanzielle Gegenleistung nach der Verordnung (EG) Nr. 249/2002 des Rates vom 21. Januar 2002 über den Abschluss des Protokolls zur Festlegung der Fangmöglichkeiten und der finanziellen Gegenleistung nach dem Abkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Regierung der Republik Guinea-Bissau über die Fischerei vor der Küste Guinea-Bissaus für die Zeit vom 16. Juni 2001 bis 15. Juni 2006 (ABl. L 40, S. 1) schuldet.


Sachverhalt

2
Tertir-Terminais führt in ihrer Antragsschrift aus, dass sie mit der Republik Guinea-Bissau einen Vertrag über das Recht geschlossen habe, im Rahmen einer Konzession für öffentliche Dienstleistungen den Hafen von Bissau zu betreiben.

3
Die Erfüllung dieses Vertrages habe zu einer Streitigkeit zwischen den Parteien geführt. Diese Streitigkeit sei an ein Schiedsgericht verwiesen worden, das die Republik Guinea-Bissau verurteilt habe, verschiedene Beträge, deren Hauptsumme ungefähr 6 000 000 Euro betrage, an Tertir-Terminais zu zahlen. Diese Entscheidung sei in Frankreich ergangen.

4
Tertir-Terminais beantragte bei der Kommission eine Sicherungspfändung der Beträge, die die Gemeinschaft der Republik Guinea-Bissau nach der Verordnung Nr. 249/2002 schuldet.

5
Die Kommission teilte Tertir-Terminais mit, dass sie nicht beabsichtige, dieser Sicherungspfändung zuzustimmen, da deren Durchführung eine Beeinträchtigung der Unabhängigkeit und des ordnungsgemäßen Funktionierens der Gemeinschaften darstellen würde, die durch Artikel 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften (im Folgenden: Protokoll) verhindert werden solle.


Der Antrag beim Gerichtshof

6
Tertir-Terminais beantragt, sie zu ermächtigen, bei der Kommission nach Artikel 1 des Protokolls eine Sicherungspfändung der Beträge durchzuführen, die die Gemeinschaft der Republik Guinea-Bissau als finanzielle Gegenleistung nach der Verordnung Nr. 249/2002 schuldet.

7
Tertir-Terminais macht geltend, dass die bisherige Auslegung des Artikels 1 des Protokolls durch den Gerichtshof über den völkerrechtlich anerkannten Schutz vor Vollstreckung hinausgehe und das Grundrecht auf ein faires Verfahren, das sich aus Artikel 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergebe, sowie das Recht auf Achtung des Eigentums nach Artikel 1 des Zusatzprotokolls zur Konvention verletze.

8
Hilfsweise trägt Tertir-Terminais vor, dass die fragliche Pfändung weder das Funktionieren noch die Unabhängigkeit der Gemeinschaften beeinträchtige. Die finanzielle Gegenleistung nach der Verordnung Nr. 249/2002 sei nur die Vergütung einer Dienstleistung, nämlich der von der Republik Guinea-Bissau gewährten Fangmöglichkeiten. Selbst wenn diese finanzielle Gegenleistung unter eine Gemeinschaftspolitik falle, könne die Sicherungspfändung keine Beeinträchtigung des Funktionierens und der Unabhängigkeit der Gemeinschaften darstellen.

9
Die Kommission beantragt, den Antrag von Tertir-Terminais zurückzuweisen.


Würdigung durch den Gerichtshof

10
Zunächst ist daran zu erinnern, dass nach Artikel 1 des Protokolls „die Vermögensgegenstände und Guthaben der Gemeinschaften … ohne Ermächtigung des Gerichtshofes nicht Gegenstand von Zwangsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden oder Gerichte sein [dürfen]“. Diese Bestimmung bezweckt nach der Auslegung des Gerichtshofes, zu verhindern, dass die Funktionsfähigkeit und die Unabhängigkeit der Gemeinschaften beeinträchtigt werden (Beschlüsse vom 11. April 1989 in der Rechtssache 1/88 SA, Générale de Banque/Kommission, Slg. 1989, 857, Randnr. 2, vom 29. Mai 2001 in der Rechtssache C‑1/00 SA, Cotecna Inspection/Kommission, Slg. 2001, I‑4219, Randnr. 9, und vom 27. März 2003 in der Rechtssache C‑1/02 SA, Antippas/Kommission, Slg. 2003, I‑2893, Randnr. 12).

11
Aus dieser Auslegung des Artikels 1 des Protokolls ergibt sich, dass der Schutz, den die Gemeinschaften genießen, nicht absolut ist und dass eine Zwangsmaßnahme wie eine Pfändung erlaubt werden kann, wenn sie nicht droht, das Funktionieren der Gemeinschaften zu beeinträchtigen (vgl. z. B. die durch den Beschluss Générale de Banque/Kommission erlaubte Pfändung).

12
Eine solche Auslegung steht im Einklang mit den Grundsätzen des allgemeinen Völkerrechts, die im Bereich der Immunitäten der Staaten und der internationalen Organisationen gelten.

13
Daraus folgt, dass eine Entscheidung des Gerichtshofes, mit der die Ermächtigung zur Durchführung einer Zwangsmaßnahme verweigert wird und die im Einklang mit dieser Auslegung ergangen ist, nicht als rechtswidriger und unverhältnismäßiger Eingriff in die Ausübung der durch die verschiedenen internationalen Verträge geschützten Menschenrechte und insbesondere auch des Rechts auf Achtung des Eigentums oder des Rechts auf Zugang zu den Gerichten, das Bestandteil des Rechts auf ein faires Verfahren ist, angesehen werden kann.

14
Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt, kann das Funktionieren der Gemeinschaften durch Zwangsmaßnahmen behindert werden, die die Finanzierung der gemeinsamen Politiken oder die Durchführung von Aktionsprogrammen der Gemeinschaften betreffen (Beschlüsse Générale de Banque/Kommission, Randnrn. 9 und 13, Cotecna Inspection/Kommission, Randnr. 12, und Antippas/Kommission, Randnr. 15).

15
Nach Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe e EG umfasst die Tätigkeit der Gemeinschaft eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der Fischerei, deren Ziele in den Artikeln 32 EG bis 38 EG definiert sind.

16
Die Gemeinschaft hat u. a. auf der Grundlage des Artikels 37 EG zahlreiche Fischereiabkommen mit Drittländern geschlossen, die Fangmöglichkeiten für die Staaten der Gemeinschaft in den Hoheitsgewässern dieser Länder gegen finanzielle Leistungen vorsehen.

17
Ein solches Abkommen, das am 27. Februar 1980 zwischen der Gemeinschaft und der Republik Guinea-Bissau abgeschlossen wurde und die Fischerei vor der Küste dieses Staates betrifft, wurde durch die Verordnung (EWG) Nr. 2213/80 des Rates vom 27. Juni 1980 (ABl. L 226, S. 33) genehmigt.

18
Durch die Verordnung Nr. 249/2002 genehmigte der Rat den Abschluss des Protokolls zur Festlegung der Fangmöglichkeiten und der finanziellen Gegenleistung für die Zeit vom 16. Juni 2001 bis 15. Juni 2006.

19
Der Antrag von Tertir-Terminais betrifft die Mittel der Gemeinschaft, die als finanzielle Gegenleistung nach dieser Verordnung an die Republik Guinea-Bissau gezahlt werden sollen.

20
Eine Pfändung, auch eine Sicherungspfändung, wäre geeignet, das Funktionieren der gemeinsamen Fischereipolitik zu beeinträchtigen.

21
Zum einen könnte eine solche Zwangsmaßnahme zur Aussetzung des Fischereiabkommens mit der Republik Guinea-Bissau führen. Nach Artikel 6 des durch die Verordnung Nr. 249/2002 genehmigten Protokolls hätte diese nämlich das Recht, die Anwendung des Protokolls auszusetzen, falls die Gemeinschaft es versäumt, die als Gegenleistung für die Fangmöglichkeiten vorgesehenen Zahlungen zu leisten.

22
Zum anderen könnte eine solche Sicherungspfändung nachteilige Folgen für die Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und den Drittländern auf dem Gebiet der Fischerei und insbesondere auch hinsichtlich der Möglichkeit für die Gemeinschaft haben, Fischereiabkommen mit diesen Ländern zu schließen.

23
Daher ist festzustellen, dass die Ermächtigung zu einer Sicherungspfändung bei der Kommission geeignet ist, das ordnungsgemäße Funktionieren und die Unabhängigkeit der Europäischen Gemeinschaften zu beeinträchtigen.

24
Der Antrag von Tertir-Terminais ist deshalb zurückzuweisen.


Kosten

25
Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung von Tertir-Terminais in die Kosten beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) beschlossen:

1.
Der Antrag wird zurückgewiesen.

2.
Die Tertir-Terminais de Portugal SA trägt die Kosten des Verfahrens.

Unterschriften


1
Verfahrenssprache: Französisch.

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