URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

31. Januar 2013 ( *1 )

„Vorabentscheidungsersuchen — Gemeinsames europäisches Asylsystem — Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft — Richtlinie 2005/85/EG — Art. 23 — Möglichkeit einer vorrangigen Bearbeitung von Asylanträgen — Nationales Verfahren, das für die Prüfung von Anträgen, die von Personen gestellt wurden, die einer nach der Staatsangehörigkeit oder dem Herkunftsland bestimmten Gruppe von Personen angehören, ein vorrangiges Verfahren vorsieht — Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz — Art. 39 der Richtlinie 2005/85 — Begriff ‚Gericht‘ oder ‚Tribunal‘ im Sinne dieser Vorschrift“

In der Rechtssache C-175/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Irland) mit Entscheidung vom 8. April 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 13. April 2011, in dem Verfahren

H. I. D.,

B. A.

gegen

Refugee Applications Commissioner,

Refugee Appeals Tribunal,

Minister for Justice, Equality and Law Reform,

Irland,

Attorney General

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Zweiten Kammer sowie der Richter E. Juhász, U. Lõhmus, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Juni 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Frau D., vertreten durch R. Boyle, SC, A. Lowry und G. O’Halloran, BL, beauftragt durch A. Bello Cortés, Solicitor,

von Herrn A., vertreten durch R. Boyle, A. Lowry und G. O’Halloran, beauftragt durch B. Trayers, Solicitor,

von Irland, vertreten durch E. Creedon, E. Burke, A. Flynn und D. O’Hagan als Bevollmächtigte im Beistand von M. Collins, SC, und D. Conlan Smyth, Barrister,

der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki und L. Kotroni als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. September 2012

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 23 und 39 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13, berichtigt in ABl. 2006, L 236, S. 36).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten, die Frau D. und Herr A., beide nigerianische Staatsangehörige, gegen den Refugee Applications Commissioner, das Refugee Appeals Tribunal, den Minister for Justice, Equality and Law Reform (im Folgenden: Minister), Irland und den Attorney General führen, weil der Minister in einem vorrangigen Prüfungsverfahren ihren Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Nach dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85 sahen die Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 u. a. die Errichtung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vor, das sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten und am 22. April 1954 in Kraft getretenen Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954], im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention) stützt. Dieses Abkommen wurde durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt, wodurch der Grundsatz der Nichtzurückweisung gewahrt bleiben und sichergestellt werden sollte, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist.

4

Die Erwägungsgründe 3 und 4 der Richtlinie 2005/85 lauten:

„(3)

Nach den Schlussfolgerungen von Tampere sollte ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem auf kurze Sicht einheitliche Standards für ein gerechtes und wirksames Asylverfahren in den Mitgliedstaaten umfassen; auf längere Sicht sollten die Regeln der Gemeinschaft zu einem gemeinsamen Asylverfahren in der Europäischen Gemeinschaft führen.

(4)

Die in dieser Richtlinie niedergelegten Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft stellen somit eine erste Maßnahme im Bereich der Asylverfahren dar.“

5

Nach ihrem achten Erwägungsgrund steht die genannte Richtlinie in Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) anerkannt wurden.

6

Der elfte Erwägungsgrund dieser Richtlinie lautet:

„Es liegt im Interesse sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Asylbewerber, dass über Asylanträge so rasch wie möglich entschieden wird. Die Organisation der Bearbeitung von Asylanträgen sollte dem freien Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen bleiben, so dass sie gemäß den nationalen Erfordernissen unter Berücksichtigung der in dieser Richtlinie enthaltenen Normen Anträge vorrangig oder beschleunigt bearbeiten können.“

7

Satz 1 des 13. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie sieht vor:

„Im Interesse einer ordnungsgemäßen Ermittlung der Personen, die Schutz als Flüchtlinge im Sinne des Artikels 1 der Genfer Flüchtlingskonvention benötigen, sollte jeder Antragsteller – vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen – einen wirksamen Zugang zum Asylverfahren und die Möglichkeit der Zusammenarbeit und echten Kommunikation mit den zuständigen Behörden haben, um ihnen die asylrelevanten Tatsachen vortragen zu können; ferner sollten ausreichende Garantien bestehen, damit er sein Verfahren über sämtliche Instanzen betreiben kann.“

8

Der 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85 lautet:

„Ein entscheidendes Kriterium für die Begründetheit eines Asylantrags ist die Sicherheit des Antragstellers in seinem Herkunftsstaat. Kann ein Drittstaat als sicherer Herkunftsstaat betrachtet werden, so sollten die Mitgliedstaaten diesen als sicher bestimmen und von der Vermutung ausgehen können, dass dieser Staat für einen bestimmten Antragsteller sicher ist, sofern Letzterer keine stichhaltigen Gegenargumente vorbringt.“

9

Der 27. Erwägungsgrund der Richtlinie lautet:

„Einem Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts zufolge müssen die Entscheidungen über einen Asylantrag und über die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft vor einem Gericht oder Tribunal im Sinne des Artikels [267 AEUV] anfechtbar sein. Die Wirksamkeit des Rechtsbehelfs, auch hinsichtlich der Prüfung der relevanten Tatsachen, hängt von dem – als ein Ganzes betrachteten – Verwaltungs- und Justizsystem jedes einzelnen Mitgliedstaats ab.“

10

Nach Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2005/85 benennen die Mitgliedstaaten für alle Verfahren eine Asylbehörde, die für eine angemessene Prüfung der Anträge gemäß dieser Richtlinie zuständig ist. Aus Art. 2 Buchst. e derselben Richtlinie geht hervor, dass der Ausdruck „Asylbehörde“ vorbehaltlich des Anhangs I der Richtlinie jede gerichtsähnliche Behörde bzw. jede Verwaltungsstelle eines Mitgliedstaats bezeichnet, die für die Prüfung von Asylanträgen zuständig und befugt ist, erstinstanzliche Entscheidungen über diese Anträge zu erlassen.

11

Die von derselben Behörde durchgeführte Prüfung muss bestimmte Grundsätze und Garantien beachten, die in Kapitel II der Richtlinie 2005/85 genannt werden, das die Art. 6 bis 22 enthält.

12

Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2005/85 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Asylbehörde ihre Entscheidung über einen Asylantrag nach angemessener Prüfung trifft. Zu diesem Zweck stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass

a)

die Anträge einzeln, objektiv und unparteiisch geprüft und entschieden werden;

b)

genaue und aktuelle Informationen verschiedener Quellen gesammelt werden, wie etwa des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR), über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der Asylbewerber und gegebenenfalls in den Staaten, durch die sie gereist sind, und den für die Prüfung der Anträge und die Entscheidungen zuständigen Bediensteten zur Verfügung stehen;

c)

die für die Prüfung der Anträge und die Entscheidungen zuständigen Bediensteten die anzuwendenden Normen im Bereich Asyl- und Flüchtlingsrecht kennen.“

13

Im Übrigen sieht Art. 9 Abs. 1 und 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2005/85 vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Entscheidungen über Asylanträge schriftlich ergehen und dass bei der Ablehnung eines Antrags die sachlichen und rechtlichen Gründe dafür in der Entscheidung dargelegt werden und schriftlich darüber informiert wird, wie eine ablehnende Entscheidung angefochten werden kann.

14

Außerdem müssen Asylbewerber gemäß Art. 10 Abs. 1 der genannten Richtlinie über Mindestgarantien verfügen, z. B. in einer Sprache, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann, informiert werden, die Dienste eines Dolmetschers in Anspruch nehmen können, mit dem UNHCR Verbindung aufnehmen können und innerhalb einer angemessenen Frist von der Entscheidung über ihren Asylantrag oder vom Ergebnis der Entscheidung der Asylbehörde unterrichtet werden. Darüber hinaus sieht Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie vor, dass ihnen, bevor die Asylbehörde eine Entscheidung trifft, Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu ihrem Asylantrag durch einen zuständigen Bediensteten gegeben wird.

15

In Art. 23 („Prüfungsverfahren“) Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2005/85 heißt es:

„(1)   Die Mitgliedstaaten bearbeiten Asylanträge im Rahmen eines Prüfungsverfahrens unter Beachtung der in Kapitel II enthaltenen Grundsätze und Garantien.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ein derartiges Verfahren unbeschadet einer angemessenen und vollständigen Prüfung der Anträge so rasch wie möglich zum Abschluss gebracht wird.

(3)   Die Mitgliedstaaten können jede Prüfung gemäß den Grundsätzen und Garantien nach Kapitel II vorrangig oder beschleunigt bearbeiten, u. a. in Fällen, in denen der Antrag wahrscheinlich wohlbegründet ist oder in denen der Asylbewerber besondere Bedürfnisse hat.“

16

In Art. 23 Abs. 4 der genannten Richtlinie sind 15 spezifische Gründe aufgeführt, die die Durchführung eines vorrangigen oder beschleunigten Prüfungsverfahrens rechtfertigen.

17

In dieser Vorschrift heißt es insbesondere:

„Ferner können die Mitgliedstaaten festlegen, dass ein Prüfungsverfahren gemäß den Grundprinzipien und Garantien nach Kapitel II vorrangig oder beschleunigt durchgeführt wird, wenn

b)

der Antragsteller offensichtlich nicht als Flüchtling anzuerkennen ist oder die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem Mitgliedstaat nach Maßgabe der Richtlinie 2004/83/EG [des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, berichtigt in ABl. 2005, L 204, S. 24)] offensichtlich nicht erfüllt, oder

c)

der Asylantrag als unbegründet betrachtet wird:

i)

weil der Antragsteller aus einem sicheren Herkunftsstaat im Sinne der Artikel 29, 30 und 31 kommt, oder

ii)

weil der Staat, der kein Mitgliedstaat ist, unbeschadet des Artikels 28 Absatz 1 als sicherer Drittstaat für den Antragsteller betrachtet wird, oder

…“

18

Art. 39 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“) Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2005/85 sieht u. a. vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Asylbewerber das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht oder Tribunal gegen eine Entscheidung über ihren Asylantrag haben.

19

In Anhang I der Richtlinie 2005/85 ist festgelegt, dass Irland bei der Umsetzung dieser Richtlinie davon ausgehen darf, dass die „Asylbehörde“ im Sinne des Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie das Office of the Refugee Applications Commissioner (im Folgenden: ORAC) bezeichnet, soweit es um die Prüfung geht, ob ein Asylbewerber als Flüchtling anzuerkennen ist oder nicht. Die erstinstanzliche Entscheidung im Sinne der genannten Vorschrift umfasst gemäß Anhang I der Richtlinie auch Empfehlungen des Refugee Applications Commissioner zu der Frage, ob ein Asylbewerber als Flüchtling anzuerkennen ist oder nicht.

Irisches Recht

20

Die einschlägigen Vorschriften sind der Refugee Act 1996 (Flüchtlingsgesetz von 1996) in der durch Section 11(1) des Immigration Act 1999 (Einwanderungsgesetz von 1999), durch Section 9 des Illegal Immigrants (Trafficking) Act 2000 (Gesetz über illegale Einwanderung [Menschenhandel] von 2000) und durch Section 7 des Immigration Act 2003 (Einwanderungsgesetz von 2003) geänderten Fassung (im Folgenden: Refugee Act). Der Refugee Act enthält u. a. Verfahrensvorschriften für Asylanträge.

Das Verfahren für die Prüfung eines Asylantrags in Irland

21

Nach den Angaben im Urteil des High Court vom 9. Februar 2011, das der Vorlageentscheidung beigefügt ist, läuft das Verfahren zur Prüfung eines Asylantrags folgendermaßen ab.

22

Der Asylantrag wird gemäß Section 8 des Refugee Act beim Refugee Applications Commissioner gestellt. Dieser ist Mitarbeiter des ORAC und nach Section 11 des Refugee Act für die Anhörung des Antragstellers, die Durchführung der Ermittlungen und die Einholung der erforderlichen Auskünfte zuständig. Gemäß Section 13 des Refugee Act erstellt er einen Bericht, in dem er eine Empfehlung ausspricht, ob dem betreffenden Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist oder nicht, und sendet diesen Bericht an den Minister.

23

Ist die Empfehlung des Refugee Applications Commissioner positiv, muss der Minister gemäß Section 17(1) des Refugee Act dem betreffenden Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen. Geht die Empfehlung dahin, dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen, kann dieser nach Section 16 des Refugee Act gegen die Empfehlung beim Refugee Appeals Tribunal ein Rechtsmittel einlegen.

24

Im Rechtsmittelverfahren vor dem Refugee Appeals Tribunal kann eine Anhörung vor einem Mitglied des Tribunals erfolgen. Anschließend bestätigt das Refugee Appeals Tribunal die Empfehlung des Refugee Applications Commissioner oder weist sie zurück. Gibt es dem Antragsteller Recht und ist es der Auffassung, dass eine positive Empfehlung auszusprechen ist, muss der Minister nach Section 17(1) die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen. Wenn jedoch das Refugee Appeals Tribunal die negative Empfehlung des Refugee Applications Commissioner bestätigt, liegt es im Ermessen des Ministers, ob er die Flüchtlingseigenschaft zuerkennt oder nicht.

25

Ein Asylbewerber kann gemäß Section 5 des Illegal Immigrants (Trafficking) Act 2000 die Gültigkeit der Empfehlungen des Refugee Applications Commissioner und der Entscheidungen des Refugee Appeals Tribunal vorbehaltlich der für Asylverfahren geltenden besonderen Bestimmungen vor dem High Court anfechten. Ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des High Court zum Supreme Court ist nach der genannten Vorschrift nur zulässig, wenn der High Court das Rechtsmittel in einem Urteil zulässt („certificate of leave to appeal“).

26

Section 12 des Refugee Act sieht zudem vor, dass der Minister, falls er es für erforderlich oder zweckmäßig hält, den Refugee Applications Commissioner und/oder das Refugee Appeals Tribunal schriftlich anweisen kann, dass einer oder gegebenenfalls beide bestimmte Kategorien von Anträgen vorrangig bearbeiten. Dieser Vorrang kann gemäß Section 12(1)(b) und (e) unter Berücksichtigung des Herkunftslands oder des gewöhnlichen Aufenthalts des Antragstellers oder auch unter Berücksichtigung des Zeitpunkts der Einreichung der Asylanträge eingeräumt werden.

27

Am 11. Dezember 2003 erteilte der Minister dem Refugee Applications Commissioner und dem Refugee Appeals Tribunal gemäß Section 12(1)(b) und (e) des Refugee Act die Anweisung, Asylanträge, die von nigerianischen Staatsangehörigen ab 15. Dezember 2003 gestellt werden, vorrangig zu bearbeiten (im Folgenden: ministerielle Anweisung von 2003).

28

Irland hat in seinen dem Gerichtshof unterbreiteten schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass diese ministerielle Anweisung in der Folge mit Schreiben vom 25. Februar 2010 an das ORAC und den Präsidenten des Refugee Appeals Tribunal mit Wirkung ab 1. März 2010 widerrufen worden sei.

Vorschriften betreffend das Refugee Appeals Tribunal

29

Section 15(1) des Refugee Act sieht die Errichtung eines Tribunals, des „Refugee Appeals Tribunal“, vor, das Rechtsmittel prüft, die gemäß Section 16 des Refugee Act eingelegt wurden, und über sie entscheidet. Section 15(2) des Refugee Act bestimmt: „Das Refugee Appeals Tribunal ist in der Wahrnehmung seiner Aufgaben unabhängig.“

30

Section 16 („Rechtsmittel zum Tribunal“) des Refugee Act bestimmt:

„(1)   Der Antragsteller kann vorschriftsgemäß gegen eine Empfehlung des [Refugee Applications] Commissioner im Sinne von Section 13 Rechtsmittel einlegen.

(2)   Das Tribunal kann

a)

eine Empfehlung des [Refugee Applications] Commissioner bestätigen oder

b)

eine Empfehlung des [Refugee Applications] Commissioner außer Acht lassen und empfehlen, den Antragsteller als Flüchtling anzuerkennen.

(2B)   Wenn

b)

der Minister dem Tribunal seine Auffassung mitteilt, dass der Antragsteller gegen Section 9 Subsection (4)(a), (4A) oder (5) verstößt,

sendet das Tribunal dem Antragsteller eine schriftliche Aufforderung, schriftlich … mitzuteilen, ob er sein Rechtsmittel aufrechterhalten will; antwortet der Antragsteller nicht innerhalb der im Aufforderungsschreiben genannten Frist, so gilt sein Rechtsmittel als zurückgenommen.

(3)   Ein Rechtsmittel nach dieser Section ist schriftlich innerhalb der in Section 13 … genannten Frist einzulegen und muss die Rechtsmittelgründe sowie eine Angabe darüber enthalten, ob der Antragsteller im Zusammenhang mit seinem Rechtsmittel eine mündliche Verhandlung begehrt.

(5)   Der [Refugee Applications] Commissioner übermittelt dem Tribunal Kopien aller Berichte, Dokumente und schriftlichen Erklärungen, die ihm gemäß Section 11 vorgelegt wurden, sowie eine schriftliche Erklärung über die Art und Herkunft aller sonstigen im Zusammenhang mit dem Antrag stehenden Informationen, von denen er im Laufe seiner Ermittlungen Kenntnis erlangt hat.

(8)   Das [Refugee Appeals] Tribunal übermittelt dem Antragsteller und seinem Solicitor (falls bekannt) sowie dem Hohen Flüchtlingskommissar [der Vereinten Nationen] auf Antrag Kopien aller Berichte, Bemerkungen und schriftlichen Erklärungen sowie aller sonstigen Dokumente, die das Tribunal vom [Refugee Applications] Commissioner erhalten hat und die dem Antragsteller oder gegebenenfalls dem Hohen Flüchtlingskommissar noch nicht gemäß Section 11(6) in Kopie übermittelt wurden, zusammen mit einer schriftlichen Erklärung über die Art und Herkunft aller sonstigen im Zusammenhang mit dem Rechtsmittel stehenden Informationen, von denen das Tribunal im Laufe eines Rechtsmittelverfahrens nach dieser Section Kenntnis erlangt hat.

(10)   Das Tribunal kann, falls erforderlich, im Zusammenhang mit einem Rechtsmittel nach dieser Section eine mündliche Verhandlung anberaumen, wenn es eine Mitteilung gemäß Subsection (3) erhalten hat.

a)

Das Tribunal kann zum Zweck einer mündlichen Verhandlung … im Sinne dieser Section

i)

jede Person, deren Aussage … erforderlich ist, schriftlich auffordern, … zu erscheinen und als Zeuge auszusagen sowie … Dokumente oder Gegenstände vorzulegen, die sich in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befinden,

ii)

diese Person auffordern, bestimmte Dokumente oder Gegenstände vorzulegen, die sich in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befinden, oder

iii)

sonstige Anordnungen in Bezug auf ein Rechtsmittel treffen, die es für sinnvoll und angemessen hält.

b)

Buchst. a Ziff. i und ii gilt nicht für Dokumente oder Gegenstände, die Informationen betreffen, deren Offenlegung der Minister oder gegebenenfalls der Minister for Foreign Affairs [Außenminister] im Interesse der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung (‚ordre public‘) untersagt hat. (Diese Befugnis wird ihm hiermit eingeräumt.)

c)

Das Tribunal gibt dem Antragsteller und dem [Refugee Applications] Commissioner oder einem bevollmächtigten Beamten Gelegenheit, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und sein jeweiliges Anliegen persönlich, durch einen Prozessbevollmächtigten oder jede sonstige Person darzutun.

(16)   Das Tribunal hat, bevor es über ein Rechtsmittel nach dieser Section entscheidet, Folgendes zu berücksichtigen:

a)

die Mitteilung nach Subsection 3,

b)

den Bericht des [Refugee Applications] Commissioner nach Section 13,

c)

ihm gegenüber vom [Refugee Applications] Commissioner oder vom Hohen Flüchtlingskommissar abgegebene Erklärungen,

d)

die vorgelegten Beweise und ein etwaiges Vorbringen in der mündlichen Verhandlung sowie

e)

dem [Refugee Applications] Commissioner gemäß Section 11 unterbreitete Dokumente, schriftliche Erklärungen und sonstige Informationen.

…“

31

Anhang II des Refugee Act bestimmt, dass das Refugee Appeals Tribunal aus einem Präsidenten und aus so vielen ordentlichen Mitgliedern besteht, wie es der Minister mit Zustimmung des Minister for Finance (Finanzminister) für eine zügige Erledigung der Verfahren des Tribunals für erforderlich hält, wobei jedes dieser Mitglieder bei seiner Ernennung über eine mindestens fünfjährige Berufserfahrung als Barrister oder Solicitor verfügen muss. Die Mitglieder des Refugee Appeals Tribunal werden vom Minister ernannt. Die Amtszeit eines ordentlichen Mitglieds beträgt drei Jahre, und für die Ausübung seines Amtes gelten vorbehaltlich der Bestimmungen des genannten Anhangs die vom Minister bei der Ernennung festgelegten Bedingungen. Der Präsident des Refugee Appeals Tribunal übt seine Tätigkeit aufgrund eines schriftlichen Dienstvertrags aus, dessen Bedingungen der Minister jeweils mit Zustimmung des Finanzministers festlegt. Jedes ordentliche Mitglied erhält eine Vergütung, eine Aufwandsentschädigung sowie eine Kostenerstattung, die unter denselben Bedingungen festgelegt werden.

32

In Anhang II Section 7 ist ferner geregelt, dass ein ordentliches Mitglied des Refugee Appeals Tribunal vom Minister seines Amtes enthoben werden kann; dieser hat seine Entscheidung zu begründen.

Sachverhalt der Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

33

In den beiden Ausgangsverfahren stellte jeweils ein im Jahr 2008 nach Irland eingereister nigerianischer Staatsangehöriger einen Asylantrag.

34

Im Fall von Frau D. lehnte das ORAC den Asylantrag in seinem nach Section 13 des Refugee Act erstellten Bericht vom 15. August 2008 ab. Die Behandlung des hiergegen beim Refugee Appeals Tribunal eingelegten Rechtsmittels wurde bis zur Verkündung des Urteils des vorlegenden Gerichts in den Ausgangsverfahren ausgesetzt.

35

In dem Verfahren betreffend Herrn A. sprach das ORAC in seinem Bericht vom 25. August 2008 eine negative Empfehlung zu dem Antrag dieses nigerianischen Staatsangehörigen aus. Die Empfehlung wurde vom Refugee Appeals Tribunal als Rechtsmittelgericht mit Entscheidung vom 25. November 2008 bestätigt.

36

Frau D. und Herr A. legten jeweils Rechtsmittel zum High Court ein, um die Nichtigerklärung der ministeriellen Anweisung von 2003, nach der Asylanträge von nigerianischen Staatsangehörigen vorrangig zu bearbeiten sind, sowie. die Nichtigerklärung des Berichts des Refugee Applications Commissioner vom 15. August 2008 bzw. der Entscheidung des Refugee Appeals Tribunal vom 25. November 2008 zu erwirken.

37

Im Rahmen der beiden Rechtsmittelverfahren vor dem High Court tragen die Rechtsmittelführer im Wesentlichen zwei Argumente vor.

38

Mit dem ersten Argument machen sie geltend, die ministerielle Anweisung von 2003 sei aus folgenden Gründen rechtswidrig: Sie verstoße gegen Art. 23 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2005/85, die eine abschließende Liste der Umstände enthalte, in denen ein beschleunigtes Verfahren angewandt werden könne, und nicht vorsehe, dass Asylanträge einer Gruppe von Staatsangehörigen aufgrund von deren Staatsangehörigkeit vorrangig oder beschleunigt geprüft werden könnten. Außerdem verstoße die ministerielle Anweisung gegen das Verbot einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. In dieser Hinsicht machen die Rechtsmittelführer der Ausgangsverfahren einen „verfahrensrechtlichen Nachteil“ gegenüber anderen Asylbewerbern aus nicht sicheren Drittstaaten geltend, da weniger Zeit und Ressourcen auf die vorrangig bearbeiteten Fälle verwendet würden, so dass im Ergebnis weniger sorgfältig geprüft werde, ob für die Prüfung der Anträge zusätzliche Informationen oder Nachforschungen erforderlich seien, und die Antragsteller folglich weniger Möglichkeiten hätten, zusätzliche Informationen vorzulegen.

39

Mit ihrem zweiten Argument machen sie geltend, die Möglichkeit, beim Refugee Appeals Tribunal gegen den Bericht des ORAC Rechtsmittel einzulegen, stehe nicht im Einklang mit der Verpflichtung nach Art. 39 der Richtlinie 2005/85, „einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht oder Tribunal“ zu gewähren.

40

Dieses Argument stützen die Rechtsmittelführer der Ausgangsverfahren darauf, dass das Refugee Appeals Tribunal aus folgenden Gründen kein „Gericht“ oder „Tribunal“ im Sinne von Art. 267 AEUV sei.

41

Erstens handele es sich nicht um ein Organ mit obligatorischer Gerichtsbarkeit, da Entscheidungen des ORAC auch im Rahmen einer gerichtlichen Überprüfung durch den High Court auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüft werden könnten. Zweitens werde eine derartige Gerichtsbarkeit nicht im Rahmen eines streitigen Verfahrens ausgeübt, denn das ORAC brauche in dem Rechtsmittelverfahren nicht vertreten zu sein, um seine erstinstanzliche Entscheidung zu verteidigen. Drittens sei das Refugee Appeals Tribunal wegen funktionaler Verbindungen mit dem ORAC und dem Minister und gewisser Befugnisse des Letzteren nicht unabhängig.

42

Mit Urteil vom 9. Februar 2011 wies der High Court die beiden Rechtsmittel zurück und lehnte die Anträge der Rechtsmittelführer ab.

43

Der High Court stellte zum ersten Argument der Rechtsmittelführer fest, dass die organisatorischen Aspekte des Asylverfahrens nach dem elften Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85 im Ermessen der Mitgliedstaaten stünden. Art. 23 dieser Richtlinie enthalte eine fakultative Regelung, sei nicht abschließend und enthalte keine ausdrückliche Beschränkung im Hinblick auf die Art der Anträge, die vorrangig bearbeitet werden könnten. Der High Court entschied daher, dass Art. 23 den Mitgliedstaaten nicht gebiete, derartige Fälle vorrangig zu bearbeiten, und ebenso wenig ausschließe, dass anderen Fällen Vorrang eingeräumt werde.

44

Zu dem Argument, dass eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit vorliege, stellte der High Court fest, die unterschiedliche Behandlung sei lediglich administrativer Art und betreffe nicht die inhaltliche Behandlung der Asylanträge, denn die Anträge seien zwar beschleunigt bearbeitet worden, jedoch nach den für alle Asylanträge geltenden Grundsätzen und Garantien einschließlich der Bestimmungen des Kapitels II der Richtlinie 2005/85 geprüft worden. Die Rechtsmittelführer hätten einen „verfahrensrechtlichen Nachteil“ geltend gemacht, weil die Dauer der Prüfung ihrer Asylanträge verkürzt worden sei, doch hätten sie weder ein konkretes Unterlassen noch eine Rechtswidrigkeit oder einen Verstoß gegen diese Grundsätze und Garantien bei der Bearbeitung ihrer Anträge geltend gemacht. Der aus der ministeriellen Anweisung von 2003 resultierende organisatorische Unterschied sei durch die hohe Zahl der von nigerianischen Staatsangehörigen eingereichten Anträge gerechtfertigt, die 39 % aller Anträge ausgemacht hätten, die im Jahr 2003, als diese ministerielle Anweisung erlassen worden sei, eingereicht worden seien.

45

Zu dem Vorbringen der Rechtsmittelführer, dass kein wirksamer Rechtsbehelf gegeben sei, stellte der High Court fest, das ORAC sei die „Asylbehörde“ im Sinne von Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2005/85, die Empfehlung des ORAC nach Section 13 des Refugee Act sei die „erstinstanzliche Entscheidung“ über den Asylantrag und das Rechtsmittel zum Refugee Appeals Tribunal sei als wirksamer Rechtsbehelf im Sinne von Art. 39 der Richtlinie anzusehen. Da es sich um einen die umfassende Prüfung tatsächlicher und rechtlicher Fragen ermöglichenden Rechtsbehelf handele, in dessen Rahmen das Refugee Appeals Tribunal die Beschwerde überprüfen, neue Zeugenaussagen einholen und eine zusätzliche Beweisaufnahme vornehmen könne, entspreche er den in Art. 39 aufgestellten Mindestanforderungen.

46

Ferner stellte der High Court fest, dass das Refugee Appeals Tribunal gesetzlich zur Unabhängigkeit verpflichtet sei und dass sich die Bestimmungen über seine Errichtung, Arbeitsweise und Organisation sowie über die Ernennung und die Vergütung seiner Mitglieder nicht wesentlich von denen anderer Gerichte oder Tribunale mit ähnlichen Aufgaben unterschieden, und kam zu dem Ergebnis, dass das Refugee Appeals Tribunal ein „Gericht“ oder „Tribunal“ sei.

47

Der High Court hat nun über einen Antrag der Rechtsmittelführer der Ausgangsverfahren auf Zulassung eines Rechtsmittels gegen sein Urteil vom 9. Februar 2011 zum Supreme Court zu entscheiden. Ein solches Rechtsmittel kann nur eingelegt werden, wenn der High Court es zulässt und bescheinigt, dass seine Entscheidung eine Rechtsfrage von außerordentlichem öffentlichem Interesse betrifft und die Einlegung eines Rechtsmittels im öffentlichen Interesse liegt („certificate of leave to appeal“).

48

Unter diesen Umständen hat der High Court beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Stehen die Bestimmungen der Richtlinie 2005/85 oder die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts dem Erlass von Verwaltungsvorschriften durch einen Mitgliedstaat entgegen, nach denen eine nach der Staatsangehörigkeit oder dem Herkunftsland des Asylbewerbers bestimmte Kategorie von Asylanträgen in einem beschleunigten oder vorrangigen Prüfungsverfahren geprüft und beschieden wird?

2.

Ist Art. 39 der Richtlinie 2005/85 in Verbindung mit ihrem 27. Erwägungsgrund und Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass der dort vorgeschriebene wirksame Rechtsbehelf im nationalen Recht sichergestellt ist, wenn die Funktion der Überprüfung oder der Entscheidung über Rechtsbehelfe gegen die erstinstanzliche Entscheidung über Asylanträge kraft Gesetzes einem Rechtsbehelf an das Tribunal zugewiesen ist, das durch ein Parlamentsgesetz geschaffen und befugt ist, in allen für den Asylantrag relevanten rechtlichen und tatsächlichen Fragen bindende Entscheidungen zugunsten des Asylbewerbers zu erlassen, obwohl administrative und organisatorische Vorkehrungen getroffen wurden, die einen oder mehrere der nachstehenden Punkte umfassen:

die Beibehaltung eines Restermessens des Ministers, sich über eine negative Entscheidung zu einem Asylantrag hinwegzusetzen;

das Vorliegen organisatorischer und administrativer Verbindungen zwischen den für die erstinstanzliche Entscheidung zuständigen und den für die Entscheidung über die Rechtsbehelfe zuständigen Organen;

der Umstand, dass die mit der Entscheidung betrauten Mitglieder des Tribunals vom Minister ernannt werden, im Rahmen eines Teilzeitvertrags über einen Zeitraum von drei Jahren beschäftigt sind und jeweils im Einzelfall eine Vergütung erhalten;

die Beibehaltung von Anweisungsbefugnissen des Ministers, wie in Section 12, Section 16(2B)(b) und Section 16(11) des Refugee Act bezeichnet?

49

Der Gerichtshof hat auf Antrag des vorlegenden Gerichts geprüft, ob es erforderlich ist, das vorliegende Verfahren gemäß Art. 104b seiner Verfahrensordnung in ihrer zum Zeitpunkt dieses Antrags geltenden Fassung dem Eilverfahren zu unterwerfen. Mit Beschluss vom 2. Mai 2011 ist gemäß Art. 104b § 1 Unterabs. 4 der Verfahrensordnung nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen worden, diesem Antrag nicht stattzugeben.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

50

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 23 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2005/85 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, die Prüfung bestimmter Kategorien von Asylanträgen, die nach der Staatsangehörigkeit oder dem Herkunftsland des Asylbewerbers festgelegt sind, in einem beschleunigten oder vorrangigen Prüfungsverfahren durchzuführen.

51

Dazu haben Frau D. und Herr A. in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass die Bearbeitung eines Asylantrags in einem vorrangigen oder beschleunigten Prüfungsverfahren nach Art. 23 Abs. 3 der genannten Richtlinie nur dann zulässig sei, wenn der Antrag begründet sei oder wenn einer der 15 in Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie angeführten Gründe vorliege und somit alles dafür spreche, dass der Antrag unbegründet sei. Die Mitgliedstaaten seien daher nicht befugt, Asylanträge allein wegen der Staatsangehörigkeit oder des Herkunftslands des Asylbewerbers einem derartigen Prüfungsverfahren zu unterwerfen.

52

Außerdem vertreten die Rechtsmittelführer der Ausgangsverfahren die Auffassung, dass die Wahl des beschleunigten oder vorrangigen Verfahrens nur für einen Einzelantrag und nicht für eine Kategorie von Anträgen möglich sei. Insbesondere sehe Art. 3 der Genfer Flüchtlingskonvention vor, dass die Vertragsstaaten die Bestimmungen dieser Konvention auf Flüchtlinge ohne unterschiedliche Behandlung aus Gründen der Rasse, der Religion oder des Herkunftslands anwendeten. Daher verstoße die Einführung eines beschleunigten oder vorrangigen Verfahrens für eine nach einem solchen Kriterium bestimmte Kategorie von Personen gegen das Verbot einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit.

53

Irland macht geltend, Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2005/85 sei im Licht des gesamten Art. 23 sowie im allgemeinen Kontext dieser Richtlinie unter Berücksichtigung ihrer Erwägungsgründe, insbesondere des elften Erwägungsgrundes, auszulegen, in dem der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten bei der Organisation der Bearbeitung von Asylanträgen anerkannt werde.

54

Nach dieser Vorschrift sei es Irland nicht verwehrt, gestützt auf das Kriterium der Staatsangehörigkeit der Asylbewerber bestimmten Anträgen Vorrang einzuräumen, denn sie sehe für die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Einrichtung von Kategorien von Antragstellern keinerlei Verpflichtung oder Beschränkung vor, sofern das Prüfungsverfahren unter Einhaltung der Grundsätze und Garantien des Kapitels II der genannten Richtlinie erfolge.

55

Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2005/85 dürfe nicht losgelöst von Art. 23 Abs. 3 und vom übrigen Teil der Richtlinie insgesamt ausgelegt werden. Das ergebe sich erstens aus dem in Abs. 4 verwendeten Adverb „ferner“, womit eine Fortführung der Grundvorschrift des Abs. 3 bezweckt werde, und zweitens daraus, dass Abs. 4 eine nicht abschließende Liste der Fälle enthalte, in denen ein Mitgliedstaat die Prüfung von Asylanträgen vorrangig oder beschleunigt durchführen könne. Dies sei im Übrigen auch die Auffassung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen, der in einem im März 2010 veröffentlichten Bericht erklärt habe, angesichts des Wortlauts von Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2005/85 diene die in Abs. 4 dieser Vorschrift enthaltene umfangreiche Liste der möglichen Gründe für eine vorrangige oder beschleunigte Bearbeitung „nur zur Veranschaulichung“.

56

Im Übrigen lasse die unterschiedliche Behandlung von Staatsangehörigen bestimmter Drittländer die von der Richtlinie 2005/85 verliehenen materiellen Rechte unberührt. So seien sämtliche Asylanträge – sowohl vorrangige als auch nicht vorrangige – nach Inkrafttreten der ministeriellen Anweisung von 2003 gründlich geprüft worden. Der Unterschied zwischen vorrangigen und nicht vorrangigen Anträgen komme auf der Ebene des ORAC zum Tragen und betreffe die Zeitspanne bis zur Durchführung einer Anhörung sowie die Erstellung und die Übersendung der nach dem Refugee Act vorgeschriebenen Berichte. Jeder Antragsteller, ob sein Antrag vorrangig sei oder nicht, habe Anspruch auf ein Rechtsmittel zum Refugee Appeals Tribunal, und bezüglich der bei diesem Tribunal eingelegten Rechtsmittel werde weder verfahrensrechtlich noch materiell-rechtlich danach unterschieden, ob ein Antrag vorrangig sei oder nicht.

57

Für die Beantwortung der ersten Frage ist zunächst festzustellen, dass die Richtlinie 2005/85 nach ihren Erwägungsgründen 3 und 4 sowie ihrem Art. 1 die Aufstellung von gemeinsamen Mindestnormen für ein gerechtes und wirksames Asylverfahren in den Mitgliedstaaten zum Ziel hat.

58

Das Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft beruht nach dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85 auf der Achtung der Grundrechte und Grundsätze, die insbesondere mit der Charta anerkannt wurden. Die Bestimmungen in Kapitel II dieser Richtlinie nennen die Grundsätze und Garantien, nach denen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie sämtliche Asylanträge im Rahmen eines Prüfungsverfahrens behandeln müssen.

59

Nach Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2005/85 haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass dieses Verfahren unbeschadet einer angemessenen und vollständigen Prüfung der Anträge so rasch wie möglich zum Abschluss gebracht wird.

60

Eine rasche Bearbeitung von Asylanträgen liegt nach dem elften Erwägungsgrund der genannten Richtlinie sowohl im Interesse der Mitgliedstaaten als auch der Asylbewerber.

61

Art. 23 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2005/85 sieht in dieser Hinsicht vor, dass die Mitgliedstaaten Asylanträge in einem vorrangigen oder beschleunigten Verfahren bearbeiten können.

62

Diese Möglichkeit der Mitgliedstaaten, einen Asylantrag vorrangig zu behandeln, ist unter Berücksichtigung des Ermessens auszulegen, das die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Organisation der Bearbeitung derartiger Anträge haben.

63

Der Gerichtshof hat bereits im Urteil vom 28. Juli 2011, Samba Diouf (C-69/10, Slg. 2011, I-7151, Randnr. 29), festgestellt, dass die Mitgliedstaaten in mehrfacher Hinsicht über ein Ermessen verfügen, bei der Umsetzung der Richtlinie 2005/85 die Besonderheiten des nationalen Rechts zu berücksichtigen.

64

Der Unionsgesetzgeber hat bei der Ausarbeitung der Richtlinie 2005/85 darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Verfahrens zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft über ein Ermessen verfügen. So hat die Europäische Kommission in ihrem Vorschlag für eine Richtlinie über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (KOM[2000] 578 endg.) klargestellt, dass die Festlegung von Normen für ein gerechtes und effizientes Asylverfahren nicht die Ermessensfreiheit der Mitgliedstaaten beeinträchtigt, im Rahmen ihrer innerstaatlichen Politik bestimmte Fälle vorrangig zu behandeln.

65

Diese Absicht des Unionsgesetzgebers, den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen einzuräumen, zeigt sich auch in der Richtlinie 2005/85 selbst, insbesondere in ihrem elften Erwägungsgrund und ihrem Art. 23, der das Prüfungsverfahren betrifft.

66

So heißt es in Satz 2 des elften Erwägungsgrundes der Richtlinie 2005/85, dass die Organisation der Bearbeitung von Asylanträgen dem freien Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen bleiben sollte, so dass sie gemäß den nationalen Erfordernissen unter Berücksichtigung der in dieser Richtlinie enthaltenen Normen Anträge vorrangig oder beschleunigt bearbeiten können.

67

Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2005/85 zeugt von derselben Absicht. Nach dieser Vorschrift „können“ die Mitgliedstaaten jede Prüfung vorrangig oder beschleunigt bearbeiten, „u. a.“ in Fällen, in denen der Antrag wahrscheinlich wohlbegründet ist oder in denen der Asylbewerber besondere Bedürfnisse hat.

68

Die verwendeten Worte – „jede Prüfung“ („any examination“) – weisen, wie die Kommission ausführt, darauf hin, dass sich die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, bestimmte Asylanträge vorrangig oder beschleunigt zu bearbeiten, nicht auf die in Art. 23 Abs. 3 genannten Fälle beschränkt. Der in dieser Vorschrift verwendete Ausdruck „u. a.“ bedeutet, dass ein solches Verfahren sowohl bei wohlbegründeten als auch bei unbegründeten Anträgen zur Anwendung kommen kann.

69

Ebenso „können“ die Mitgliedstaaten gemäß Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2005/85 das vorrangige oder beschleunigte Prüfungsverfahren gestützt auf einen der 15 spezifischen Gründe anwenden, die die Durchführung eines solchen Verfahrens rechtfertigen.

70

Wie Irland und die griechische Regierung vortragen, ergibt sich aus Art. 23 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2005/85, dass die Liste der Anträge, die einer vorrangigen oder beschleunigten Prüfung unterzogen werden können, lediglich Hinweischarakter hat und nicht abschließend ist. Die Mitgliedstaaten können also eine vorrangige oder beschleunigte Prüfung von Anträgen beschließen, die unter keine der in Art. 23 Abs. 4 genannten Kategorien fallen, soweit sie die in Kapitel II der Richtlinie genannten Grundsätze und Garantien beachten.

71

Zu dem von den Rechtsmittelführern der Ausgangsverfahren geltend gemachten Verbot einer Diskriminierung ist festzustellen, dass in Asylsachen und insbesondere im Rahmen der durch die Richtlinie 2005/85 eingeführten Regelung das Herkunftsland und somit die Staatsangehörigkeit des Antragstellers eine entscheidende Rolle spielen, wie sich sowohl aus dem 17. Erwägungsgrund als auch aus Art. 8 der Richtlinie ergibt. Aus Art. 8 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie folgt nämlich, dass das Herkunftsland des Antragstellers einen Einfluss auf die Entscheidung der Asylbehörde hat, weil diese verpflichtet ist, sich über die allgemeine Situation in diesem Land zu informieren, um festzustellen, ob für den Asylbewerber eine Gefahr besteht und ob er gegebenenfalls eines internationalen Schutzes bedarf.

72

Außerdem hat der Unionsgesetzgeber, wie sich aus dem 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85 ergibt, den Begriff des „sicheren Herkunftsstaats“ eingeführt, wonach die Mitgliedstaaten, wenn ein Drittstaat als sicherer Herkunftsstaat betrachtet werden kann, diesen als sicher bestimmen können sollten und von der Vermutung ausgehen können sollten, dass dieser Staat für einen bestimmten Antragsteller sicher ist. Ferner hat der Unionsgesetzgeber in Art. 23 Abs. 4 Buchst. c dieser Richtlinie vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten festlegen können, dass ein Prüfungsverfahren vorrangig oder beschleunigt durchgeführt wird, wenn der Asylantrag als unbegründet betrachtet wird, weil der Antragsteller aus einem sicheren Herkunftsstaat im Sinne dieser Richtlinie kommt.

73

Daraus folgt, wie der Generalanwalt in Nr. 67 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass die Staatsangehörigkeit des Asylbewerbers ein Faktor ist, der eine vorrangige oder beschleunigte Bearbeitung eines Asylantrags rechtfertigen kann.

74

Um jedoch zu vermeiden, dass Asylbewerber aus einem bestimmten Drittstaat, deren Asylanträge vorrangig geprüft werden, gegenüber Staatsangehörigen anderer Drittstaaten, deren Asylanträge im normalen Verfahren geprüft werden, diskriminiert werden, darf dieses vorrangige Verfahren Antragstellern der erstgenannten Kategorie die nach Art. 23 der Richtlinie 2005/85 zu beachtenden Garantien, die für jede Art von Verfahren gelten, nicht vorenthalten.

75

Die Einführung eines vorrangigen Verfahrens wie das in den Ausgangsverfahren in Rede stehende muss somit die Ausübung der Rechte, die die genannte Richtlinie Asylbewerbern einräumt, die die nigerianische Staatsangehörigkeit besitzen, in vollem Umfang ermöglichen. Insbesondere muss den Asylbewerbern eine ausreichende Frist zur Verfügung stehen, um die zur Stützung ihres Antrags erforderlichen Informationen zusammentragen und vorlegen zu können, damit die Asylbehörde eine faire und umfassende Prüfung der Anträge vornehmen und sich vergewissern kann, dass die Antragsteller in ihrem Herkunftsland keiner Gefahr ausgesetzt sind.

76

Der High Court hat in seiner Vorlageentscheidung ausgeführt, dass die Rechtsmittelführer der Ausgangsverfahren vor ihm nichts dafür vorgetragen hätten, dass die nach der ministeriellen Anweisung von 2003 vorgeschriebene vorrangige Bearbeitung gegen die in Kapitel II der Richtlinie 2005/85 genannten Grundsätze und Garantien verstoße, und dass er in seinem Urteil in der Hauptsache vom 9. Februar 2011 festgestellt habe, dass die Anträge von Frau D. und von Herrn A. im Einklang mit diesen Grundsätzen und Garantien geprüft worden seien.

77

Nach alledem ist Art. 23 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2005/85 dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, die Prüfung bestimmter Kategorien von Asylanträgen, die nach der Staatsangehörigkeit oder dem Herkunftsland des Asylbewerbers festgelegt sind, unter Beachtung der in Kapitel II dieser Richtlinie genannten Grundsätze und Garantien in einem vorrangigen oder beschleunigten Prüfungsverfahren durchzuführen.

Zur zweiten Frage

78

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 39 der Richtlinie 2005/85 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Asylrechtsregelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die für das Verfahren zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein System mit verschiedenen administrativen und organisatorischen Merkmalen festlegt.

79

Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob eine Regelung wie die in den Ausgangsverfahren fragliche, die gegen Entscheidungen der Asylbehörde ein Rechtsmittel zum Refugee Appeals Tribunal vorsieht, dem die Rechtsmittelführer der Ausgangsverfahren die Eigenschaft eines unabhängigen Gerichts absprechen, dem Erfordernis eines wirksamen Rechtsbehelfs im Sinne von Art. 39 der Richtlinie 2005/85 genügt.

80

Nach Art. 39 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Asylbewerber das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht oder Tribunal gegen eine Entscheidung über ihren Asylantrag haben. Der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, der ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, ist in Art. 47 der Charta verankert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2010, DEB, C-279/09, Slg. 2010, I-13849, Randnrn. 29 und 31, und Samba Diouf, Randnr. 49).

81

In Satz 1 des 27. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2005/85 heißt es, dass einem Grundprinzip des Unionsrechts zufolge Entscheidungen über einen Asylantrag und über die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft vor einem Gericht oder Tribunal im Sinne des Art. 267 AEUV anfechtbar sein müssen.

82

Die Rechtsmittelführer der Ausgangsverfahren machen insbesondere geltend, das Refugee Appeals Tribunal sei kein „Gericht“ oder „Tribunal“ im Sinne des genannten Artikels.

83

Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Gerichtshof zur Beurteilung der rein unionsrechtlichen Frage, ob es sich bei der vorlegenden Einrichtung um ein „Gericht“ im Sinne des Art. 267 AEUV handelt, auf eine Reihe von Merkmalen ab, wie z. B. gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit (vgl. Urteile vom 31. Mai 2005, Syfait u. a., C-53/03, Slg. 2005, I-4609, Randnr. 29, vom 22. Dezember 2010, RTL Belgium, C-517/09, Slg. 2010, I-14093, Randnr. 36, und vom 14. Juni 2011, Miles u. a., C-196/09, Slg. 2011, I-5105, Randnr. 37).

84

Angesichts der sowohl von den Rechtsmittelführern der Ausgangsverfahren als auch von den Mitgliedstaaten und den Organen vorgebrachten Erklärungen steht fest, dass das Refugee Appeals Tribunal den Kriterien der gesetzlichen Grundlage, des ständigen Charakters und der Anwendung von Rechtsnormen entspricht.

85

Die Rechtsmittelführer der Ausgangsverfahren bestreiten jedoch, dass das genannte Tribunal eine obligatorische Gerichtsbarkeit habe, dass die bei ihm anhängigen Verfahren kontradiktorischer Art seien und dass das Tribunal unabhängig sei.

86

Dazu ist erstens festzustellen, dass das Refugee Appeals Tribunal gemäß Section 15 und Section 16(1) des Refugee Act für die Prüfung und Bescheidung von Rechtsmitteln gegen Empfehlungen des Refugee Applications Commissioner zuständig ist, bei denen es sich nach Anhang I zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2005/85 um erstinstanzliche Entscheidungen über Asylanträge handelt.

87

Wenn das Refugee Appeals Tribunal einem Rechtsmittel stattgibt, ist der Minister zudem nach Section 17(1) des Refugee Act verpflichtet, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Nur wenn das Refugee Appeals Tribunal das Rechtsmittel eines Asylbewerbers zurückweist, kann der Minister die Flüchtlingseigenschaft trotzdem zuerkennen. Der Minister hat also kein Ermessen, wenn das Refugee Appeals Tribunal zugunsten des Asylbewerbers entschieden hat. Positive Entscheidungen des Refugee Appeals Tribunal sind somit verbindlich und binden die staatlichen Stellen.

88

Zweitens ist festzustellen, dass das Erfordernis eines kontradiktorischen Verfahrens kein absolutes Kriterium darstellt (vgl. Urteil vom 17. September 1997, Dorsch Consult, C-54/96, Slg. 1997, I-4961, Randnr. 31).

89

Insofern ist es nicht erforderlich, dass das ORAC im Rechtsmittelverfahren vor dem Refugee Appeals Tribunal als Partei auftritt, um die erstinstanzliche Entscheidung zu verteidigen.

90

Der Refugee Applications Commissioner ist jedoch nach Section 16(5) des Refugee Act verpflichtet, dem Refugee Appeals Tribunal Kopien aller Berichte, Dokumente und schriftlichen Erklärungen, die ihm gemäß Section 11 vorgelegt wurden, sowie eine schriftliche Erklärung über die Art und Herkunft aller sonstigen im Zusammenhang mit dem Antrag stehenden Informationen zu übermitteln, von denen er im Laufe seiner Ermittlungen Kenntnis erlangt hat. Das Refugee Appeals Tribunal muss gemäß Section 16(8) dem Antragsteller, seinem Solicitor sowie dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen auf Antrag dieselben Unterlagen übermitteln.

91

Im Übrigen kann das Refugee Appeals Tribunal gemäß Section 16(10) und (11)(a) und (c) des Refugee Act auch eine mündliche Verhandlung abhalten, in der es jede Person, deren Aussage erforderlich ist, vorladen und dem Antragsteller und dem Refugee Applications Commissioner Gelegenheit geben kann, sein jeweiliges Anliegen persönlich oder durch einen Prozessbevollmächtigten darzutun. Demnach kann jede Partei dem Refugee Appeals Tribunal sämtliche für den Erfolg des Asylantrags oder der Verteidigung erforderlichen Informationen zur Kenntnis bringen.

92

Außerdem heißt es in Section 16(16), dass das Refugee Appeals Tribunal, bevor es über ein Rechtsmittel entscheidet, u. a. Folgendes zu berücksichtigen hat: den Bericht des Refugee Applications Commissioner, vom Refugee Applications Commissioner oder vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen abgegebene Erklärungen, die vorgelegten Beweise und ein etwaiges Vorbringen in der mündlichen Verhandlung sowie Dokumente, schriftliche Erklärungen und sonstige Informationen, die dem Refugee Applications Commissioner unterbreitet wurden.

93

Daraus folgt, dass das Refugee Appeals Tribunal über eine ausgedehnte Kontrollbefugnis verfügt, denn es befindet sowohl über die Rechts- als auch über die Sachfragen und entscheidet anhand aller ihm vorgelegten Beweise, hinsichtlich deren ihm ein Ermessen eingeräumt ist.

94

Drittens machen die Rechtsmittelführer der Ausgangsverfahren geltend, das Refugee Appeals Tribunal sei nicht unabhängig, weil zwischen ihm, dem ORAC und dem Minister organisatorische Verbindungen bestünden und seine Mitglieder Druck von außen ausgesetzt seien. Insbesondere schlössen die Regeln für die Ernennung, die Amtszeit und die Abberufung der Mitglieder des Tribunals sowie weitere Aspekte des Mandats seiner Mitglieder eine Unabhängigkeit des Tribunals aus.

95

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bedeutet der Begriff der Unabhängigkeit, die dem Auftrag des Richters innewohnt, vor allem, dass die betreffende Stelle gegenüber der Stelle, die die mit einem Rechtsbehelf angefochtene Entscheidung erlassen hat, die Eigenschaft eines Dritten hat (Urteile vom 30. Mai 2002, Schmid, C-516/99, Slg. 2002, I-4573, Randnr. 36, und RTL Belgium, Randnr. 38).

96

Dieser Begriff umfasst zwei Aspekte. Der erste, externe, Aspekt setzt voraus, dass die Stelle vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder im Hinblick auf die ihnen unterbreiteten Streitigkeiten gefährden könnten (Urteile vom 19. September 2006, Wilson, C-506/04, Slg. 2006, I-8613, Randnrn. 50 und 51, sowie RTL Belgium, Randnr. 39). Der zweite, interne, Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit im Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass hinsichtlich der Parteien des Rechtsstreits und ihrer jeweiligen Interessen an dessen Gegenstand ein gleicher Abstand gewahrt wird (Urteile Wilson, Randnr. 52, und RTL Belgium, Randnr. 40).

97

Der Gerichtshof hat außerdem festgestellt, dass diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraussetzen, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für eine Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der genannten Stelle für Einflussnahmen von außen und an ihrer Neutralität in Bezug auf die einander gegenüberstehenden Interessen auszuräumen. Nach der Rechtsprechung ist die Voraussetzung der Unabhängigkeit der vorlegenden Einrichtung insbesondere nur dann erfüllt, wenn die Fälle, in denen die Mitglieder der Einrichtung abberufen werden können, durch ausdrückliche Gesetzesbestimmungen festgelegt sind (vgl. Beschluss vom 14. Mai 2008, Pilato, C-109/07, Slg. 2008, I-3503, Randnr. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

98

Im vorliegenden Fall bestimmt Section 15(2) des Refugee Act, dass das Refugee Appeals Tribunal in der Wahrnehmung seiner Aufgaben unabhängig ist. Im Übrigen besitzt der Minister zwar ein Restermessen, sich über eine negative Entscheidung zu einem Asylantrag hinwegzusetzen, doch ist er, wenn das Refugee Appeals Tribunal zugunsten des Asylbewerbers entscheidet, an die Entscheidung dieses Tribunals gebunden und kann sie daher nicht überprüfen.

99

Die Regeln für die Ernennung der Mitglieder des Refugee Appeals Tribunal können die Unabhängigkeit dieses Tribunals nicht in Frage stellen. Dessen Mitglieder werden nämlich für eine bestimmte Amtszeit unter Personen ausgewählt, die über eine mindestens fünfjährige Berufserfahrung als Barrister oder Solicitor verfügen, und die Tatsache, dass diese Ernennung vom Minister vorgenommen wird, unterscheidet sich nicht nennenswert von der Praxis in vielen anderen Mitgliedstaaten.

100

Zur Frage der Abberufung von Mitgliedern des Refugee Appeals Tribunal geht aus Section 7 des Anhangs II des Refugee Act hervor, dass die ordentlichen Mitglieder dieses Tribunals vom Minister ihres Amtes enthoben werden können, wobei dessen Entscheidung die Gründe dieser Abberufung angeben muss.

101

Wie der Generalanwalt in Nr. 88 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sind die Fälle, in denen Mitglieder des Refugee Appeals Tribunal ihres Amtes enthoben werden können, im Refugee Act nicht genauer bestimmt. Außerdem geht aus diesem nicht hervor, ob eine Entscheidung über die Abberufung eines Mitglieds des Refugee Appeals Tribunal gerichtlich überprüft werden kann.

102

Die Wirksamkeit eines Rechtsbehelfs hinsichtlich der Prüfung der relevanten Tatsachen hängt jedoch nach Satz 2 des 27. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2005/85 von dem – als ein Ganzes betrachteten – Verwaltungs- und Justizsystem jedes einzelnen Mitgliedstaats ab. Deshalb ist das irische System für die Zuerkennung und die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft als Ganzes zu betrachten, um beurteilen zu können, ob es das in Art. 39 der Richtlinie vorgesehene Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewährleisten kann.

103

Im vorliegenden Fall können Asylbewerber gemäß Section 5 des Illegal Immigrants (Trafficking) Act 2000 die Gültigkeit der Empfehlungen des Refugee Applications Commissioner und die Entscheidungen des Refugee Appeals Tribunal auch vor dem High Court anfechten, gegen dessen Urteile ein Rechtsmittel zum Supreme Court möglich ist. Das Refugee Appeals Tribunal dürfte bereits aufgrund dieser Rechtsbehelfsmöglichkeiten gegen die Versuchung gefeit sein, Interventionen oder Druck von außen, die die Unabhängigkeit seiner Mitglieder gefährden könnten, nachzugeben.

104

Daher ist festzustellen, dass das irische System für die Zuerkennung und die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft das Kriterium der Unabhängigkeit erfüllt und somit das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf wahrt.

105

Demzufolge ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 39 der Richtlinie 2005/85 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die einem Asylbewerber die Möglichkeit bietet, entweder gegen die Entscheidung der Asylbehörde ein Rechtsmittel bei einem Gericht oder Tribunal wie dem Refugee Appeals Tribunal einzulegen und gegen dessen Entscheidung ein Rechtsmittel bei einem höheren Gericht wie dem High Court einzulegen oder die Gültigkeit der Entscheidung der Asylbehörde vor dem High Court anzufechten, gegen dessen Urteile ein Rechtsmittel zum Supreme Court möglich ist.

Kosten

106

Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 23 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, die Prüfung bestimmter Kategorien von Asylanträgen, die nach der Staatsangehörigkeit oder dem Herkunftsland des Asylbewerbers festgelegt sind, unter Beachtung der in Kapitel II dieser Richtlinie genannten Grundsätze und Garantien in einem beschleunigten oder vorrangigen Verfahren durchzuführen.

 

2.

Art. 39 der Richtlinie 2005/85 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die einem Asylbewerber die Möglichkeit bietet, entweder gegen die Entscheidung der Asylbehörde ein Rechtsmittel bei einem Gericht oder Tribunal wie dem Refugee Appeals Tribunal (Irland) einzulegen und gegen dessen Entscheidung ein Rechtsmittel bei einem höheren Gericht wie dem High Court (Irland) einzulegen oder die Gültigkeit der Entscheidung der Asylbehörde vor dem High Court anzufechten, gegen dessen Urteile ein Rechtsmittel zum Supreme Court (Irland) möglich ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.