Rechtssache C-533/08

TNT Express Nederland BV

gegen

AXA Versicherung AG

(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden)

„Justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen – Gerichtliche Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen – Verordnung (EG) Nr. 44/2001 – Art. 71 – Von den Mitgliedstaaten für besondere Rechtsgebiete geschlossene Übereinkommen – Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR)“

Leitsätze des Urteils

1.        Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Verordnung Nr. 44/2001 – Verhältnis zu den Übereinkommen auf einem besonderen Rechtsgebiet – Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr

(Verordnung Nr. 44/2001 des Rates, Erwägungsgründe 6, 11, 12 und 15 bis 17 sowie Art. 71)

2.        Vorabentscheidungsverfahren – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Grenzen – Internationales Übereinkommen, an das die Gemeinschaft nicht gebunden ist – Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr

(Art. 267 AEUV; Verordnung Nr. 44/2001 des Rates, Art. 71)

1.        Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass die in einem Übereinkommen über ein besonderes Rechtsgebiet vorgesehenen Regeln über die gerichtliche Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung, wie z. B. die Rechtshängigkeitsregel in Art. 31 Abs. 2 des am 19. Mai 1956 in Genf unterzeichneten Übereinkommens über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR) in der Fassung des am 5. Juli 1978 in Genf unterzeichneten Protokolls oder die Vollstreckbarkeitsregel in Art. 31 Abs. 3 dieses Übereinkommens, zur Anwendung kommen, sofern sie in hohem Maße vorhersehbar sind, eine geordnete Rechtspflege fördern und es erlauben, die Gefahr von Parallelverfahren so weit wie möglich zu vermeiden, und sofern sie den freien Verkehr der Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen sowie das gegenseitige Vertrauen in die Justiz im Rahmen der Union (favor executionis) unter mindestens ebenso günstigen Bedingungen gewährleisten, wie sie in der genannten Verordnung vorgesehen sind.

Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 soll zwar für die Einhaltung der Bestimmungen sorgen, die aufgrund der Besonderheiten eines bestimmten Rechtsgebiets in einem besonderen Übereinkommen vorgesehen sind, aber diese Anwendung darf nicht die vorgenannten Grundsätze beeinträchtigen, auf denen die justizielle Zusammenarbeit in Zivil‑ und Handelssachen in der Union beruht und deren Einhaltung für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes – dem Sinn und Zweck der Verordnung Nr. 44/2001 – erforderlich ist. Art. 71 dieser Verordnung darf nämlich in seiner Tragweite nicht mit den Grundsätzen kollidieren, die der Regelung, zu der dieser Artikel gehört, zugrunde liegen. Deshalb ist ein besonderes Übereinkommen wie das CMR in einem von dieser Verordnung erfassten Bereich wie der Beförderung von Waren im Güterkraftverkehr nicht so auszulegen, dass es im Hinblick auf das Ziel des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts zu weniger günstigen Ergebnissen führen könnte als die Bestimmungen der genannten Verordnung.

(vgl. Randnrn. 48-51, 56, Tenor 1)

2.        Der Gerichtshof ist für die Auslegung von Art. 31 des Übereinkommens über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR), unterzeichnet am 19. Mai 1956 in Genf in der Fassung des am 5. Juli 1978 ebenda unterzeichneten Protokolls, nicht zuständig. Lediglich wenn und soweit die Union die Zuständigkeiten übernommen hat, die zuvor von den Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich eines internationalen Übereinkommens, das nicht von der Union geschlossen wurde, ausgeübt wurden, und die Bestimmungen dieses Übereinkommens damit für die Union bindend geworden sind, ist der Gerichtshof für die Auslegung eines solchen Übereinkommens zuständig. Es kann jedoch nicht behauptet werden, dass die im CMR vorgesehenen Regeln über die gerichtliche Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung für die Union bindend wären. Aus der Auslegung von Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen ergibt sich vielmehr, dass diese Regeln im Rahmen der Union nur unter Einhaltung der Grundsätze zur Anwendung kommen können, die der genannten Verordnung zugrunde liegen.

(vgl. Randnrn. 62-63, Tenor 2)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

4. Mai 2010(*)

„Justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen – Gerichtliche Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen – Verordnung (EG) Nr. 44/2001 – Art. 71 – Von den Mitgliedstaaten für besondere Rechtsgebiete geschlossene Übereinkommen – Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR)“

In der Rechtssache C‑533/08

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach den Art. 68 EG und 234 EG, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidung vom 28. November 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Dezember 2008, in dem Verfahren

TNT Express Nederland BV

gegen

AXA Versicherung AG

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts und J.-C. Bonichot, der Kammerpräsidentinnen R. Silva de Lapuerta und C. Toader sowie der Richter K. Schiemann, P. Kūris, E. Juhász, M. Ilešič (Berichterstatter), J.‑J. Kasel und M. Safjan,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. November 2009,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der TNT Express Nederland BV, vertreten durch J. H. J. Teunissen, advocaat,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und Y. de Vries als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und J. Kemper als Bevollmächtigte,

–        der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch A.‑M. Rouchaud-Joët und R. Troosters als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 28. Januar 2010

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 71 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) sowie von Art. 31 des Übereinkommens über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR), unterzeichnet am 19. Mai 1956 in Genf in der Fassung des am 5. Juli 1978 ebenda unterzeichneten Protokolls (im Folgenden: CMR).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der TNT Express Nederland BV (im Folgenden: TNT) und der AXA Versicherung AG (im Folgenden: AXA) wegen der Vollstreckung von Entscheidungen eines deutschen Gerichts in den Niederlanden, mit denen TNT verurteilt wurde, für den Verlust von Waren im grenzüberschreitenden Straßengüterverkehr Schadensersatz zu leisten.

 Rechtlicher Rahmen

 Die Verordnung Nr. 44/2001

3        Der erste Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 lautet:

„Die Gemeinschaft hat sich zum Ziel gesetzt, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, zu erhalten und weiterzuentwickeln. Zum schrittweisen Aufbau dieses Raums hat die Gemeinschaft unter anderem im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen die für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Maßnahmen zu erlassen.“

4        Im sechsten Erwägungsgrund dieser Verordnung wird festgestellt:

„Um den freien Verkehr der Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen zu gewährleisten, ist es erforderlich und angemessen, dass die Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen im Wege eines Gemeinschaftsrechtsakts festgelegt werden, der verbindlich und unmittelbar anwendbar ist.“

5        In den Erwägungsgründen 11, 12 und 15 der Verordnung Nr. 44/2001 heißt es:

„(11) Die Zuständigkeitsvorschriften müssen in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten, und diese Zuständigkeit muss stets gegeben sein, außer in einigen genau festgelegten Fällen …“

(12)      Der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten muss durch alternative Gerichtsstände ergänzt werden, die entweder aufgrund der engen Verbindung zwischen Gericht und Rechtsstreit oder im Interesse einer geordneten Rechtspflege zuzulassen sind.

(15)      Im Interesse einer abgestimmten Rechtspflege müssen Parallelverfahren so weit wie möglich vermieden werden, damit nicht in zwei Mitgliedstaaten miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen. …“

6        In den Erwägungsgründen 16 und 17 dieser Verordnung wird erläutert:

„(16) Das gegenseitige Vertrauen in die Justiz im Rahmen der Gemeinschaft rechtfertigt, dass die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen, außer im Falle der Anfechtung, von Rechts wegen, ohne ein besonderes Verfahren, anerkannt werden.

(17)      Aufgrund dieses gegenseitigen Vertrauens ist es auch gerechtfertigt, dass das Verfahren, mit dem eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung für vollstreckbar erklärt wird, rasch und effizient vonstatten geht. …“

7        Der 25. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 lautet:

„Um die internationalen Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten eingegangen sind, zu wahren, darf sich diese Verordnung nicht auf von den Mitgliedstaaten geschlossene Übereinkommen in besonderen Rechtsgebieten auswirken.“

8        Art. 1 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 44/2001 bestimmt:

„(1)      Diese Verordnung ist in Zivil‑ und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten.

(2)      Sie ist nicht anzuwenden auf:

a)      den Personenstand, die Rechts‑ und Handlungsfähigkeit sowie die gesetzliche Vertretung von natürlichen Personen, die ehelichen Güterstände, das Gebiet des Erbrechts einschließlich des Testamentsrechts;

b)      Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren;

c)      die soziale Sicherheit;

d)      die Schiedsgerichtsbarkeit.“

9        Art. 27 in Kapitel II („Zuständigkeit“) Abschnitt 9 („Rechtshängigkeit und im Zusammenhang stehende Verfahren“) der Verordnung Nr. 44/2001 bestimmt:

„(1)      Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.

(2)      Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.“

10      In Art. 34 in Kapitel III („Anerkennung und Vollstreckung“) Abschnitt 1 („Anerkennung“) der Verordnung Nr. 44/2001 heißt es:

„Eine Entscheidung wird nicht anerkannt, wenn

1.      die Anerkennung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich widersprechen würde;

…“

11      Art. 35 im selben Abschnitt der genannten Verordnung lautet:

„(1)      Eine Entscheidung wird ferner nicht anerkannt, wenn die Vorschriften der Abschnitte 3, 4 und 6 des Kapitels II verletzt worden sind oder wenn ein Fall des Artikels 72 vorliegt.

(2)      Das Gericht oder die sonst befugte Stelle des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ist bei der Prüfung, ob eine der in Absatz 1 angeführten Zuständigkeiten gegeben ist, an die tatsächlichen Feststellungen gebunden, aufgrund deren das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats seine Zuständigkeit angenommen hat.

(3)      Die Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats darf, unbeschadet der Bestimmungen des Absatzes 1, nicht nachgeprüft werden. Die Vorschriften über die Zuständigkeit gehören nicht zur öffentlichen Ordnung (ordre public) im Sinne des Artikels 34 Nummer 1.“

12      Gemäß Art. 36, der ebenfalls in Kapitel III Abschnitt 1 der Verordnung steht, darf „die ausländische Entscheidung … keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden“.

13      Art. 38 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 in Kapitel III Abschnitt 2 („Vollstreckung“) bestimmt:

„Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen, die in diesem Staat vollstreckbar sind, werden in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt, wenn sie dort auf Antrag eines Berechtigten für vollstreckbar erklärt worden sind.“

14      Art. 43 Abs. 1 der Verordnung bestimmt, dass jede Partei „[g]egen die Entscheidung über den Antrag auf Vollstreckbarerklärung … einen Rechtsbehelf einlegen [kann]“.

15      In Art. 45 derselben Verordnung heißt es:

„(1)      Die Vollstreckbarerklärung darf von dem mit einem Rechtsbehelf nach Artikel 43 … befassten Gericht nur aus einem der in den Artikeln 34 und 35 aufgeführten Gründe versagt oder aufgehoben werden. …

(2)      Die ausländische Entscheidung darf keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden.“

16      Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 in Kapitel VII („Verhältnis zu anderen Rechtsinstrumenten“) bestimmt:

„(1)      Diese Verordnung lässt Übereinkommen unberührt, denen die Mitgliedstaaten angehören und die für besondere Rechtsgebiete die gerichtliche Zuständigkeit, die Anerkennung oder die Vollstreckung von Entscheidungen regeln.

(2)      Um eine einheitliche Auslegung des Absatzes 1 zu sichern, wird dieser Absatz in folgender Weise angewandt:

a)      Diese Verordnung schließt nicht aus, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, der Vertragspartei eines Übereinkommens über ein besonderes Rechtsgebiet ist, seine Zuständigkeit auf ein solches Übereinkommen stützt, und zwar auch dann, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, der nicht Vertragspartei eines solchen Übereinkommens ist. In jedem Fall wendet dieses Gericht Artikel 26 dieser Verordnung an.

b)      Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat von einem Gericht erlassen worden sind, das seine Zuständigkeit auf ein Übereinkommen über ein besonderes Rechtsgebiet gestützt hat, werden in den anderen Mitgliedstaaten nach dieser Verordnung anerkannt und vollstreckt.

Sind der Ursprungsmitgliedstaat und der ersuchte Mitgliedstaat Vertragsparteien eines Übereinkommens über ein besonderes Rechtsgebiet, welches die Voraussetzungen für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen regelt, so gelten diese Voraussetzungen. In jedem Fall können die Bestimmungen dieser Verordnung über das Verfahren zur Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen angewandt werden.“

 Das CMR

17      Das CMR gilt nach seinem Art. 1 „für jeden Vertrag über die entgeltliche Beförderung von Gütern auf der Straße mittels Fahrzeugen, wenn der Ort der Übernahme des Gutes und der für die Ablieferung vorgesehene Ort … in zwei verschiedenen Staaten liegen, von denen mindestens einer ein Vertragsstaat ist[,] … ohne Rücksicht auf den Wohnsitz und die Staatsangehörigkeit der Parteien“.

18      Das CMR wurde im Rahmen der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen ausgehandelt. Dem CMR sind über 50 Staaten, darunter alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union, beigetreten.

19      Art. 23 CMR lautet:

„1.      Hat der Frachtführer aufgrund der Bestimmungen dieses Übereinkommens für gänzlichen oder teilweisen Verlust des Gutes Schadensersatz zu leisten, so wird die Entschädigung nach dem Wert des Gutes am Ort und zur Zeit der Übernahme zur Beförderung berechnet.

3.      Die Entschädigung darf jedoch 8,33 Rechnungseinheiten für jedes fehlende Kilogramm des Rohgewichts nicht übersteigen.

4.      Außerdem sind – ohne weiteren Schadensersatz – Fracht, Zölle und sonstige aus Anlass der Beförderung des Gutes entstandene Kosten zurückzuerstatten, und zwar im Falle des gänzlichen Verlustes in voller Höhe, im Falle des teilweisen Verlustes anteilig.

7.      Die in diesem Übereinkommen genannte Rechnungseinheit ist das Sonderziehungsrecht des Internationalen Währungsfonds. Der in Absatz 3 genannte Betrag wird in die Landeswährung des Staates des angerufenen Gerichts umgerechnet …

…“

20      Art. 31 CMR lautet:

„1.      Wegen aller Streitigkeiten aus einer diesem Übereinkommen unterliegenden Beförderung kann der Kläger, außer durch Vereinbarung der Parteien bestimmte Gerichte von Vertragsstaaten, die Gerichte eines Staates anrufen, auf dessen Gebiet

a)      der Beklagte seinen gewöhnlichen Aufenthalt, seine Hauptniederlassung oder die Zweigniederlassung oder Geschäftsstelle hat, durch deren Vermittlung der Beförderungsvertrag geschlossen worden ist, oder

b)      der Ort der Übernahme des Gutes oder der für die Ablieferung vorgesehene Ort liegt.

Andere Gerichte können nicht angerufen werden.

2.      Ist ein Verfahren bei einem nach Absatz 1 zuständigen Gericht wegen einer Streitigkeit im Sinne des genannten Absatzes anhängig oder ist durch ein solches Gericht in einer solchen Streitsache ein Urteil erlassen worden, so kann eine neue Klage wegen derselben Sache zwischen denselben Parteien nicht erhoben werden, es sei denn, dass die Entscheidung des Gerichtes, bei dem die erste Klage erhoben worden ist, in dem Staat nicht vollstreckt werden kann, in dem die neue Klage erhoben wird.

3.      Ist in einer Streitsache im Sinne des Absatzes 1 ein Urteil eines Gerichtes eines Vertragstaates in diesem Staat vollstreckbar geworden, so wird es auch in allen anderen Vertragsstaaten vollstreckbar, sobald die in dem jeweils in Betracht kommenden Staat hierfür vorgeschriebenen Formerfordernisse erfüllt sind. Diese Formerfordernisse dürfen zu keiner sachlichen Nachprüfung führen.

4.      Die Bestimmungen des Absatzes 3 gelten für Urteile im kontradiktorischen Verfahren, für Versäumnisurteile und für gerichtliche Vergleiche, jedoch nicht für nur vorläufig vollstreckbare Urteile sowie nicht für Verurteilungen, durch die dem Kläger bei vollständiger oder teilweiser Abweisung der Klage neben den Verfahrenskosten Schadensersatz und Zinsen auferlegt werden.

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

21      Im April 2001 schlossen die Siemens Nederland N.V. (im Folgenden: Siemens) und TNT einen Vertrag über die Beförderung von Waren auf der Straße von Zoetermeer (Niederlande) nach Unterschleissheim (Deutschland). Die Waren hatten einen Wert von 103 540 DM (52 939 Euro) und ein Gewicht von 12 kg.

22      Diese Waren wurden jedoch nicht am Bestimmungsort abgeliefert.

23      Im Mai 2002 erhob TNT bei der Rechtbank te Rotterdam (Niederlande) Klage gegen AXA, den Versicherer von Siemens, auf Feststellung, dass TNT gegenüber AXA für keinen Schaden infolge des Verlustes der Waren haftbar sei, mit Ausnahme eines Betrags von 11,50 Euro pro kg, insgesamt 138 Euro, gemäß Art. 23 CMR, der die Höhe der Entschädigung regelt, die beansprucht werden kann. Die Rechtbank te Rotterdam wies die Klage mit Urteil vom 4. Mai 2005 ab. TNT legte gegen dieses Urteil Rechtsmittel beim Gerechtshof te ’s‑Gravenhage (Niederlande) ein.

24      Im August 2004 erhob AXA beim Landgericht München (Deutschland) Klage gegen TNT auf Ersatz des Schadens, der Siemens aufgrund des Verlustes der Waren entstanden war. Da zwischen denselben Parteien wegen desselben Transports bereits ein Rechtsstreit in den Niederlanden anhängig war, machte TNT geltend, dass das Landgericht München über die Klage aufgrund der Rechtshängigkeitsregel des Art. 31 Abs. 2 CMR nicht entscheiden dürfe.

25      Mit Entscheidungen vom 4. April und 7. September 2006 wies das Landgericht München das auf Art. 31 Abs. 2 CMR gestützte Vorbringen von TNT zurück und verurteilte dieses Unternehmen zur Leistung von Schadensersatz.

26      Am 6. März 2007 beantragte AXA bei der Rechtbank te Utrecht (Niederlande), die Entscheidungen des Landgerichts München gemäß der Verordnung Nr. 44/2001 in den Niederlanden für vollstreckbar zu erklären. Nachdem der Richter des vorläufigen Rechtsschutzes bei der Rechtbank te Utrecht diesem Antrag mit Beschluss vom 28. März 2007 stattgegeben hatte, beantragte TNT am 4. Mai 2007 bei der Rechtbank te Utrecht, diesen Beschluss aufzuheben und die Vollstreckung der genannten Entscheidungen abzulehnen oder zumindest die Entscheidung über den Antrag auf Vollstreckbarerklärung auszusetzen, bis der Gerechtshof te ’s‑Gravenhage über das gegen das Urteil der Rechtbank te Rotterdam vom 4. Mai 2005 eingelegte Rechtsmittel entschieden habe.

27      TNT stützte ihre Klage vor der Rechtbank te Utrecht darauf, dass die Anerkennung der Entscheidungen des Landgerichts München dem niederländischen ordre public offensichtlich widerspreche. Das Landgericht München sei aufgrund der Rechtshängigkeitsregel des Art. 31 Abs. 2 CMR nicht befugt gewesen, über die von AXA erhobene Klage zu entscheiden.

28      AXA machte demgegenüber geltend, dass gemäß Art. 35 Abs. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 das niederländische Gericht die Zuständigkeit des deutschen Gerichts nicht nachprüfen dürfe, da das Kriterium der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 34 Nr. 1 dieser Verordnung nicht für Zuständigkeitsregeln gelte.

29      Die Rechtbank te Utrecht wies die Klage von TNT mit Beschluss vom 18. Juli 2007 ab. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Gerechtshof te ’s‑Gravenhage über das bei ihm von TNT eingelegte Rechtsmittel noch nicht entschieden.

30      Die Rechtbank te Utrecht vertrat die Auffassung, dass sich TNT nicht auf den in Art. 34 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 genannten Grund für die Versagung der Anerkennung berufen könne, um die Zuständigkeit des deutschen Gerichts zu bestreiten, da die Zuständigkeitsregeln, wie in Art. 35 Abs. 3 dieser Verordnung klargestellt werde, nicht zur öffentlichen Ordnung im Sinne dieser Vorschrift gehörten.

31      TNT legte am 18. Juli 2007 gegen den Beschluss der Rechtbank te Utrecht Kassationsbeschwerde zum vorlegenden Gericht ein. Sie macht geltend, die Rechtbank habe mit ihrer Entscheidung verkannt, dass Art. 31 CMR wegen Art. 71 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 eine in deren Art. 35 Abs. 3 vorgesehene Ausnahme vom Verbot der Nachprüfung der Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats sei.

32      Der Hoge Raad der Nederlanden hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 71 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 dahin auszulegen, dass

a)      die Anerkennungs‑ und Vollstreckungsregelung der Verordnung Nr. 44/2001 nur dann gegenüber der entsprechenden Regelung des besonderen Übereinkommens zurücktritt, wenn die Regelung des besonderen Übereinkommens Ausschließlichkeit beansprucht, oder

b)      bei gleichzeitiger Anwendbarkeit der Anerkennungs‑ und Vollstreckungsvoraussetzungen des besonderen Übereinkommens und derjenigen der Verordnung Nr. 44/2001 stets die Voraussetzungen des besonderen Abkommens angewandt werden müssen und die Voraussetzungen der Verordnung Nr. 44/2001 unangewendet bleiben müssen, auch wenn das besondere Übereinkommen keinen Anspruch auf ausschließliche Wirkung gegenüber anderen internationalen Anerkennungs- und Vollstreckungsregeln erhebt?

2.      Ist der Gerichtshof, um voneinander abweichende Entscheidungen in dem in der ersten Frage dargestellten Fall konkurrierender Regelungen zu verhindern, für eine – die Gerichte der Mitgliedstaaten bindende – Auslegung des CMR zuständig, soweit es um den in Art. 31 dieses Übereinkommens geregelten Bereich geht?

3.      Ist, falls die zweite Frage bejaht wird und die erste Frage zu Buchst. a ebenfalls zu bejahen ist, die Anerkennungs- und Vollstreckungsregelung von Art. 31 Abs. 3 und 4 CMR so auszulegen, dass sie keine Ausschließlichkeit beansprucht und Raum für die Anwendung anderer internationaler Vollstreckungsregeln lässt, die wie die Verordnung Nr. 44/2001 die Anerkennung oder Vollstreckung ermöglichen?

Für den Fall, dass der Gerichtshof die erste Frage zu Buchst. b und außerdem auch die zweite Frage bejaht, stellt der Hoge Raad noch die folgenden drei Fragen:

4.      Ermächtigt Art. 31 Abs. 3 und 4 CMR das Gericht des ersuchten Staates, bei einem Antrag auf Vollstreckbarerklärung zu prüfen, ob das Gericht des Ursprungsstaats für die Entscheidung des Rechtsstreits international zuständig war?

5.      Ist Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen, dass im Fall des Zusammentreffens der Rechtshängigkeitsregelung des CMR und derjenigen der Verordnung Nr. 44/2001 die Rechtshängigkeitsregelung des CMR Vorrang vor der Rechtshängigkeitsregelung der Verordnung Nr. 44/2001 hat?

6.      Betreffen die in der vorliegenden Rechtssache in den Niederlanden beantragte Feststellung und der in Deutschland beantragte Schadensersatz „dieselbe Sache“ im Sinne von Art. 31 Abs. 2 CMR?

 Zu den Vorlagefragen

 Vorbemerkungen

33      Zunächst ist festzustellen, dass der Rechtsstreit zwischen TNT und AXA sowohl in den Anwendungsbereich der Bestimmungen des CMR als auch in den der Verordnung Nr. 44/2001 fällt.

34      Zum einen geht es in diesem Rechtsstreit nämlich um einen Vertrag über die Beförderung von Waren auf der Straße, in dem als Ort der Übernahme des Gutes eine Adresse in den Niederlanden und als Ort für die Ablieferung eine Adresse in Deutschland angegeben ist. Daher sind die in Art. 1 CMR genannten Voraussetzungen für die Anwendung des CMR erfüllt.

35      Zum anderen fallen Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit der Beförderung von Waren auf der Straße zwischen Mitgliedstaaten unter „Zivil‑ und Handelssachen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001. Außerdem gehört die Beförderung von Waren auf der Straße nicht zu den in der genannten Vorschrift abschließend aufgezählten Bereichen, die vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossen sind.

36      Darüber hinaus ist vorab darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 44/2001 das Brüsseler Übereinkommen von 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung der aufeinander folgenden Übereinkommen über den Beitritt neuer Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen) ersetzt, so dass die Auslegung der Bestimmungen dieses Übereinkommens durch den Gerichtshof auch für die Bestimmungen der Verordnung gilt, soweit die Bestimmungen dieser Rechtsakte als gleichwertig angesehen werden können (Urteile vom 14. Mai 2009, Ilsinger, C‑180/06, Slg. 2009, I‑0000, Randnr. 41, sowie vom 16. Juli 2009, Zuid-Chemie, C‑189/08, Slg. 2009, I‑0000, Randnr. 18).

37      Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001, um dessen Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, ersetzt Art. 57 des Brüsseler Übereinkommens, der in Bezug auf Übereinkommen über besondere Rechtsgebiete (nachstehend: besondere Übereinkommen) Folgendes bestimmte:

„(1)      Dieses Übereinkommen lässt Übereinkommen unberührt, denen die Vertragsstaaten angehören oder angehören werden und die für besondere Rechtsgebiete die gerichtliche Zuständigkeit, die Anerkennung oder die Vollstreckung von Entscheidungen regeln.

(2)      Um eine einheitliche Auslegung des Absatzes 1 zu sichern, wird dieser Absatz in folgender Weise angewandt:

a)      Dieses Übereinkommen schließt nicht aus, dass ein Gericht eines Vertragsstaats, der Vertragspartei eines Übereinkommens über ein besonderes Rechtsgebiet ist, seine Zuständigkeit auf ein solches Übereinkommen stützt, und zwar auch dann, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, der nicht Vertragspartei eines solchen Übereinkommens ist. …

b)      Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat von einem Gericht erlassen worden sind, das seine Zuständigkeit auf ein Übereinkommen über ein besonderes Rechtsgebiet gestützt hat, werden in den anderen Mitgliedstaaten nach dem vorliegenden Übereinkommen anerkannt und vollstreckt.

Sind der Ursprungsmitgliedstaat und der ersuchte Mitgliedstaat Vertragsparteien eines Übereinkommens über ein besonderes Rechtsgebiet, welches die Voraussetzungen für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen regelt, so gelten diese Voraussetzungen. …

…“

38      In Art. 57 Abs. 1 des Brüsseler Übereinkommens wurde durch die Formulierung „oder angehören werden“ klargestellt, dass die Regeln in diesem Übereinkommen abweichenden Regeln, die die Vertragsstaaten später in besonderen Übereinkommen vereinbaren würden, nicht entgegenstünden. Diese Formulierung ist in Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 nicht übernommen worden. Somit bietet diese Bestimmung den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit, durch den Abschluss neuer besonderer Übereinkommen oder die Änderung bereits geltender Übereinkommen Regeln einzuführen, die gegenüber der Verordnung Nr. 44/2001 Vorrang haben. Dies wird durch die Rechtsprechung bestätigt, wonach die Mitgliedstaaten in dem Maße, wie diese Gemeinschaftsrechtsetzung fortschreitet, nicht mehr zum Abschluss von völkerrechtlichen Vereinbarungen berechtigt sind, die diese Regeln beeinträchtigen (vgl. u. a. Urteile vom 31. März 1971, Kommission/Rat, „AETR“, 22/70, Slg. 1971, 263, Randnrn. 17 bis 19, und vom 5. November 2002, Kommission/Dänemark, [„Offener Himmel“], C‑467/98, Slg. 2002, I‑9519, Randnr. 77).

39      Was demgegenüber Bestimmungen wie Art. 31 CMR angeht, an die die Mitgliedstaaten im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 44/2001 bereits gebunden waren, weist Art. 71 dieser Verordnung dieselbe Systematik auf wie Art. 57 des Brüsseler Übereinkommens und ist nahezu wortgleich. Demzufolge ist die vom Gerichtshof bereits im Rahmen des Brüsseler Übereinkommens vorgenommene Auslegung zu berücksichtigen.

40      Im Licht dieser einleitenden Erwägungen und unter Berücksichtigung des zwischen den einzelnen Vorlagefragen bestehenden Zusammenhangs werden nachstehend die erste und die fünfte Frage nach der Auslegung von Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 zusammen und zuerst geprüft. Danach werden die Fragen nach der Auslegung des CMR behandelt.

 Zur Auslegung von Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001

41      Mit der ersten und der fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen ist, dass die in einem besonderen Übereinkommen vorgesehenen Regeln über die gerichtliche Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung, wie z. B. die Rechtshängigkeitsregel in Art. 31 Abs. 2 CMR oder die Vollstreckbarkeitsregel in Art. 31 Abs. 3 CMR, zur Anwendung kommen.

42      Diese Frage stellt sich gemäß dem Vorlagebeschluss zum einen, weil die Rechtshängigkeitsregel im CMR und diejenige in der Verordnung Nr. 44/2001 vom Wortlaut her zwar ähnlich sind, jedoch eine unterschiedliche Tragweite haben könnten, je nachdem, ob das Übereinkommen und die dazu vorliegende nationale Rechtsprechung oder die Verordnung und die dazu ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs herangezogen werden, und zum anderen, weil das niederländische Gericht, das mit dem Antrag von AXA auf Vollstreckbarerklärung der Entscheidungen des Landgerichts München befasst ist, wissen muss, ob es die Zuständigkeit des deutschen Gerichts prüfen darf, um über die Schadensersatzklage von AXA entscheiden zu können.

43      Zum letztgenannten Punkt macht TNT geltend, dass eine derartige Prüfung nach Art. 31 Abs. 3 CMR zulässig sei, während AXA eine Prüfung der Zuständigkeit des Landgerichts München wegen Art. 35 Abs. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 für unzulässig hält. AXA hat sich vor den niederländischen Gerichten darauf berufen, dass die Anerkennung und die Vollstreckung von Entscheidungen im internationalen Straßengüterverkehr durch die Verordnung Nr. 44/2001 und nicht durch das CMR geregelt würden.

44      Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteile vom 18. Mai 2000, KVS International, C‑301/98, Slg. 2000, I‑3583, Randnr. 21, vom 16. Oktober 2008, Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände, C‑298/07, Slg. 2008, I‑7841, Randnr. 15, und vom 23. Dezember 2009, Detiček, C‑403/09 PPU, Slg. 2009, I‑0000, Randnr. 33). Für die Beantwortung der ersten und der fünften Vorlagefrage sind daher sowohl der Wortlaut und die Ziele von Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 als auch dessen Kontext und die Ziele der genannten Verordnung zu berücksichtigen.

45      Nach dem Wortlaut von Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 sind grundsätzlich, wenn der Rechtsstreit in den Anwendungsbereich eines besonderen Übereinkommens fällt, die Regeln dieses Übereinkommens und nicht die der Verordnung Nr. 44/2001 anzuwenden.

46      Wie nämlich insbesondere die niederländische und die tschechische Regierung geltend machen, ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 71 Abs. 1 der genannten Verordnung, wonach sie besondere Übereinkommen „unberührt … [lässt]“, dass der Gesetzgeber für den Fall konkurrierender Regeln die Anwendung dieser Übereinkommen vorgesehen hat.

47      Diese Auslegung wird durch Art. 71 Abs. 2 der Verordnung bestätigt, wonach, wenn das besondere Übereinkommen die Voraussetzungen für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen regelt und der Ursprungsmitgliedstaat und der ersuchte Mitgliedstaat Vertragsparteien dieses Übereinkommens sind, die Voraussetzungen des Übereinkommens gelten. Art. 71 Abs. 2 der Verordnung bezieht sich ausdrücklich nur auf rein unionsinterne Sachverhalte. Daraus folgt, dass der Gesetzgeber – trotz der Erläuterung im 25. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001, wonach die besonderen Übereinkommen unberührt bleiben, um es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, ihre internationalen Verpflichtungen gegenüber Drittstaaten einzuhalten – mit Art. 71 der Verordnung auch die Anwendung dieser Übereinkommen innerhalb der Union durchsetzen wollte.

48      Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 soll also für die Einhaltung der Bestimmungen sorgen, die unter Berücksichtigung der Besonderheiten eines bestimmten Rechtsgebiets erlassen wurden (vgl. in Bezug auf Art. 57 des Brüsseler Übereinkommens Urteile vom 6. Dezember 1994, Tatry, C‑406/92, Slg. 1994, I‑5439, Randnr. 24, und vom 28. Oktober 2004, Nürnberger Allgemeine Versicherung, C‑148/03, Slg. 2004, I‑10327, Randnr. 14). Im Hinblick auf diesen Zweck hat der Gerichtshof festgestellt, dass die in besonderen Übereinkommen aufgeführten Regeln die Anwendung der Bestimmungen des Brüsseler Übereinkommens ausschließen, soweit sie dieselbe Frage betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil Tatry, Randnr. 25).

49      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass nach Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 in den durch besondere Übereinkommen geregelten Rechtsgebieten zwar diese Übereinkommen zur Anwendung kommen, diese Anwendung aber nicht die Grundsätze beeinträchtigen darf, auf denen die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen in der Union beruht. Dazu gehören u. a. die in den Erwägungsgründen 6, 11, 12 und 15 bis 17 der Verordnung Nr. 44/2001 genannten Grundsätze des freien Verkehrs der Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen, der Vorhersehbarkeit der zuständigen Gerichte und somit der Rechtssicherheit für die Bürger, der geordneten Rechtspflege, der möglichst weitgehenden Vermeidung der Gefahr von Parallelverfahren und des gegenseitigen Vertrauens in die Justiz im Rahmen der Union.

50      Die Einhaltung eines jeden dieser Grundsätze ist für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts notwendig, das laut dem ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 die sachliche Rechtfertigung der Verordnung bildet.

51      Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 darf in seiner Tragweite nicht mit den Grundsätzen kollidieren, die der Regelung, zu der dieser Artikel gehört, zugrunde liegen. Deshalb ist dieser Artikel nicht so auszulegen, dass ein besonderes Übereinkommen wie das CMR in einem von dieser Verordnung erfassten Bereich wie der Beförderung von Waren im Güterkraftverkehr zu weniger günstigen Ergebnissen im Hinblick auf das Ziel des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts führen könnte als die Bestimmungen der genannten Verordnung.

52      Diese Feststellung steht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung, wonach von den Mitgliedstaaten mit Drittstaaten geschlossene Übereinkommen in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten nicht entgegen den Zielen des Unionsrechts angewandt werden dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. September 1988, Deserbais, 286/86, Slg. 1988, 4907, Randnr. 18, vom 6. April 1995, RTE und ITP/Kommission, C‑241/91 P und C‑242/91 P, Slg. 1995, I‑743, Randnr. 84, sowie vom 22. Oktober 2009, Bogiatzi, C‑301/08, Slg. 2009, I‑0000, Randnr. 19).

53      Daraus folgt, dass die Regeln über die gerichtliche Zuständigkeit einschließlich der Rechtshängigkeitsregeln, die in besonderen Übereinkommen im Sinne von Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 vorgesehen sind, im Rahmen der Union nur insoweit angewandt werden können, als sie gemäß den Erwägungsgründen 11, 12 und 15 der genannten Verordnung in hohem Maße vorhersehbar sind, eine geordnete Rechtspflege fördern und es erlauben, die Gefahr von Parallelverfahren so weit wie möglich zu vermeiden.

54      Für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen finden sich die einschlägigen Grundsätze – der freie Verkehr von Entscheidungen und das gegenseitige Vertrauen in die Justiz (favor executionis) – in den Erwägungsgründen 6, 16 und 17 der Verordnung Nr. 44/2001 (vgl. u. a. Urteile vom 14. Dezember 2006, ASML, C‑283/05, Slg. 2006, I‑12041, Randnr. 23, vom 10. Februar 2009, Allianz und Generali Assicurazioni Generali, C‑185/07, Slg. 2009, I‑663, Randnr. 24, sowie vom 28. April 2009, Apostolides, C‑420/07, Slg. 2009, I‑0000, Randnr. 73). Im Rahmen der Union können die Regeln für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, die in besonderen Übereinkommen im Sinne von Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 vorgesehen sind, nur zur Anwendung kommen, wenn diese Grundsätze eingehalten werden.

55      Zum Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Gerichte des ersuchten Mitgliedstaats keineswegs besser als die des Ursprungsmitgliedstaats in der Lage sind, über die Zuständigkeit der Gerichte des Letzteren zu entscheiden. Deshalb gestattet die Verordnung Nr. 44/2001 – abgesehen von einigen begrenzten Ausnahmen – nicht, dass die Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats durch ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats geprüft wird (Urteil Allianz und Generali Assicurazioni Generali, Randnr. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). Demzufolge ist Art. 31 Abs. 3 CMR im Rahmen der Union nur dann anwendbar, wenn er es gestattet, die Ziele des freien Verkehrs der Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen sowie des gegenseitigen Vertrauens in die Justiz im Rahmen der Union unter mindestens ebenso günstigen Bedingungen zu erreichen wie bei Anwendung der Verordnung Nr. 44/2001.

56      Nach alledem ist auf die erste und die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens die in einem besonderen Übereinkommen vorgesehenen Regeln über die gerichtliche Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung, wie z. B. die Rechtshängigkeitsregel in Art. 31 Abs. 2 CMR oder die Vollstreckbarkeitsregel in Art. 31 Abs. 3 CMR, zur Anwendung kommen, sofern sie in hohem Maße vorhersehbar sind, eine geordnete Rechtspflege fördern und es erlauben, die Gefahr von Parallelverfahren so weit wie möglich zu vermeiden, und sofern sie den freien Verkehr der Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen sowie das gegenseitige Vertrauen in die Justiz im Rahmen der Union (favor executionis) unter mindestens ebenso günstigen Bedingungen gewährleisten, wie sie in der genannten Verordnung vorgesehen sind.

 Zur Auslegung von Art. 31 CMR

57      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Gerichtshof für die Auslegung von Art. 31 CMR zuständig ist. Wenn dies zu bejahen ist, ersucht es mit seinen Fragen 3, 4 und 6 um eine konkrete Auslegung dieses Artikels.

 Zur zweiten Frage

58      Angesichts der Tatsache, dass das CMR keine Klausel enthält, die dem Gerichtshof eine Zuständigkeit zuweist, kann dieser die gewünschte Auslegung von Art. 31 CMR nur insoweit vornehmen, als eine solche Aufgabe unter Art. 267 AEUV fällt.

59      Nach ständiger Rechtsprechung bezieht sich die Zuständigkeit zu Auslegungen im Wege der Vorabentscheidung, wie sie sich aus dieser Vorschrift ergibt, lediglich auf Rechtsvorschriften, die zum Unionsrecht gehören (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 17. Juli 1997, Giloy, C‑130/95, Slg. 1997, I‑4291, Randnr. 21, vom 10. Januar 2006, Cassa di Risparmio di Firenze u. a., C‑222/04, Slg. 2006, I‑289, Randnr. 63, und vom 1. Juni 2006, innoventif, C‑453/04, Slg. 2006, I‑4929, Randnr. 29).

60      In Bezug auf internationale Übereinkommen steht fest, dass diejenigen, die von der Union geschlossen worden sind, fester Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind und daher Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens sein können (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 30. April 1974, Haegeman, 181/73, Slg. 1974, 449, Randnrn. 3 bis 6, vom 30. September 1987, Demirel, 12/86, Slg. 1987, 3719, Randnr. 7, sowie vom 11. September 2007, Merck Genéricos – Produtos Farmacêuticos, C‑431/05, Slg. 2007, I‑7001, Randnr. 31).

61      Dagegen ist der Gerichtshof grundsätzlich nicht dafür zuständig, im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens internationale Übereinkommen auszulegen, die zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten geschlossen worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. November 1973, Vandeweghe u. a., 130/73, Slg. 1973, 1329, Randnr. 2, Beschluss vom 12. November 1998, Hartmann, C‑162/98, Slg. 1998, I‑7083, Randnr. 9, und Urteil Bogiatzi, Randnr. 24).

62      Lediglich wenn und soweit die Union die Zuständigkeiten übernommen hat, die zuvor von den Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich eines internationalen Übereinkommens, das nicht von der Union geschlossen wurde, ausgeübt wurden, und die Bestimmungen dieses Übereinkommens damit für die Union bindend geworden sind, ist der Gerichtshof für die Auslegung eines solchen Übereinkommens zuständig (vgl. u. a. Urteile vom 12. Dezember 1972, International Fruit Company u. a., 21/72 bis 24/72, Slg. 1972, 1219, Randnr. 18, vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a., C 308/06, Slg. 2008, I‑4057, Randnr. 48, sowie Bogiatzi, Randnr. 25). Im vorliegenden Fall kann jedoch nicht behauptet werden, dass die im CMR vorgesehenen Regeln über die gerichtliche Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung für die Union bindend wären. Aus der im vorliegenden Urteil vorgenommenen Auslegung von Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 ergibt sich vielmehr, dass diese Regeln des CMR im Rahmen der Union nur unter Einhaltung der Grundsätze zur Anwendung kommen können, die der genannten Verordnung zugrunde liegen.

63      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass der Gerichtshof für die Auslegung von Art. 31 CMR nicht zuständig ist.

 Zu den Fragen 3, 4 und 6

64      In Anbetracht der Antwort auf die zweite Vorlagefrage sind die Fragen 3, 4 und 6 nicht zu beantworten.

 Kosten

65      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 71 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens die in einem Übereinkommen über ein besonderes Rechtsgebiet vorgesehenen Regeln über die gerichtliche Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung, wie z. B. die Rechtshängigkeitsregel in Art. 31 Abs. 2 des am 19. Mai 1956 in Genf unterzeichneten Übereinkommens über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr in der Fassung des am 5. Juli 1978 in Genf unterzeichneten Protokolls oder die Vollstreckbarkeitsregel in Art. 31 Abs. 3 dieses Übereinkommens, zur Anwendung kommen, sofern sie in hohem Maße vorhersehbar sind, eine geordnete Rechtspflege fördern und es erlauben, die Gefahr von Parallelverfahren so weit wie möglich zu vermeiden, und, sofern sie den freien Verkehr der Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen sowie das gegenseitige Vertrauen in die Justiz im Rahmen der Union (favor executionis) unter mindestens ebenso günstigen Bedingungen gewährleisten, wie sie in der genannten Verordnung vorgesehen sind.

2.      Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Auslegung von Art. 31 des geänderten Übereinkommens über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr nicht zuständig.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Niederländisch.