Rechtssache C-309/02
Radlberger Getränkegesellschaft mbH & Co. und S. Spitz KG
gegen
Land Baden-Württemberg
(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Stuttgart)
„Umwelt – Freier Warenverkehr – Verpackungen und Verpackungsabfälle – Richtlinie 94/62/EG – Pfand- und Rücknahmepflichten für Einwegverpackungen nach Maßgabe des Gesamtanteils der Mehrwegverpackungen“
Leitsätze des Urteils
1. Umwelt – Abfälle – Verpackungen und Verpackungsabfälle – Richtlinie 94/62 – Befugnis der Mitgliedstaaten, Systeme zur Wiederverwendung
von Verpackungen zu fördern – Zulässigkeit nationaler Maßnahmen – Voraussetzungen
(Richtlinie 94/62 des Europäischen Parlaments und des Rates, Artikel 1 Absatz 2 und Artikel 5)
2. Umwelt – Abfälle – Verpackungen und Verpackungsabfälle – Richtlinie 94/62 – Kein Anspruch der Hersteller und Vertreiber, weiterhin
an einem bestimmten System der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall teilzunehmen – Ersetzung eines bestehenden Systems der
Bewirtschaftung von Verpackungsabfall – Zulässigkeit – Voraussetzungen
(Richtlinie 94/62 des Europäischen Parlaments und des Rates, Artikel 7)
3. Freier Warenverkehr – Mengenmäßige Beschränkungen – Maßnahmen gleicher Wirkung – Nationale Regelung, mit der ein flächendeckendes
System der Sammlung von Verpackungsabfällen durch ein Pfand- und Rücknahmesystem ersetzt wird – Rechtfertigung – Umweltschutz
– Voraussetzung – Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit
(Artikel 28 EG und 30 EG)
1. Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 94/62 über Verpackungen und Verpackungsabfälle verwehrt es den Mitgliedstaaten nicht, Maßnahmen
einzuführen, mit denen die Systeme zur Wiederverwendung von Verpackungen gefördert werden sollen.
Gemäß Artikel 5 der Richtlinie müssen solche Maßnahmen nicht nur den Anforderungen genügen, die sich aus den übrigen Vorschriften
der Richtlinie, insbesondere aus Artikel 7, ergeben, sondern sie müssen auch die Verpflichtungen aus den Bestimmungen des
Vertrages, insbesondere aus Artikel 28 EG, beachten.
(vgl. Randnrn. 36-37 und Tenor 1)
2. Artikel 7 der Richtlinie 94/62 über Verpackungen und Verpackungsabfälle gibt den betroffenen Herstellern und Vertreibern keinen
Anspruch darauf, weiterhin an einem bestimmten System der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall teilzunehmen, er steht aber
der Ersetzung eines flächendeckenden Systems der Sammlung von Verpackungsabfällen durch ein Pfand- und Rücknahmesystem entgegen,
wenn das neue System nicht ebenfalls geeignet ist, die Ziele dieser Richtlinie zu erreichen, oder wenn der Übergang auf dieses
neue System nicht ohne Bruch erfolgt und nicht ohne die Möglichkeit für die Marktteilnehmer der betreffenden Wirtschaftszweige
zu gefährden, sich tatsächlich an dem neuen System ab dessen Inkrafttreten zu beteiligen.
(vgl. Randnrn 43, 46, 48, 50 und Tenor 2)
3. Artikel 28 EG steht einer nationalen Regelung entgegen, wenn diese die Ersetzung eines flächendeckenden Systems der Sammlung
von Verpackungsabfällen durch ein Pfand- und Rücknahmesystem vorsieht, ohne dass die betroffenen Hersteller und Vertreiber
über eine angemessene Übergangsfrist verfügen, um sich darauf einzustellen, und ohne dass sichergestellt ist, dass sie sich
im Zeitpunkt der Umstellung des Systems der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall tatsächlich an einem arbeitsfähigen System
beteiligen können. Eine solche Regelung kann nämlich nur dann aus Gründen des Umweltschutzes gerechtfertigt sein, wenn die
gewählten Mittel das Maß des hierzu Erforderlichen nicht übersteigen.
(vgl. Randnrn. 79, 83 und Tenor 3)
-
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Große Kammer)
14. Dezember 2004(1)
„Umwelt – Freier Warenverkehr – Verpackungen und Verpackungsabfälle – Richtlinie 94/62/EG – Pfand- und Rücknahmepflichten für Einwegverpackungen nach Maßgabe des Gesamtanteils der Mehrwegverpackungen“
In der Rechtssache C-309/02betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG,eingereicht vom Verwaltungsgericht Stuttgart (Deutschland) mit Entscheidung vom 21. August 2002, beim Gerichtshof eingegangen am 29. August 2002, in dem Verfahren
Radlberger Getränkegesellschaft mbH & Co.,S. Spitz KG
gegen
Land Baden-Württemberg,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer),
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann und K. Lenaerts (Berichterstatter), der Richter
C. Gulmann, J.‑P. Puissochet und R. Schintgen, der Richterin N. Colneric sowie der Richter S. von Bahr und J. N. Cunha Rodrigues,
Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,
Kanzler: M.-F. Contet, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. März 2004,unter Berücksichtigung der Erklärungen
- –
der Radlberger Getränkegesellschaft mbH & Co. und der S. Spitz KG, vertreten durch Rechtsanwalt R. Karpenstein,
- –
des Landes Baden-Württemberg, vertreten durch Rechtsanwalt L.‑A. Versteyl,
- –
der deutschen Regierung, vertreten durch W.‑D. Plessing und A. Tiemann als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt D. Sellner,
- –
der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,
- –
der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und D. Petrausch als Bevollmächtigte,
- –
der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von M. Fiorilli, avvocato dello
Stato,
- –
der niederländischen Regierung, vertreten durch S. Terstal und C. Wissels als Bevollmächtigte,
- –
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch J. Grunwald und M. Konstantinidis als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Mai 2004,
folgendes
Urteil
- 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 94/62/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
20. Dezember 1994 über Verpackungen und Verpackungsabfälle (ABl. L 365, S. 10) und des Artikels 28 EG.
- 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen einer Klage der österreichischen Getränkeherstellerinnen Radlberger Getränkegesellschaft
mbH & Co. und S. Spitz KG gegen das Land Baden-Württemberg.
-
- Rechtlicher Rahmen
Die Richtlinie 94/62
- 3
Die Richtlinie 94/62 bezweckt nach ihrem Artikel 1 Absatz 1, die Vorschriften der Mitgliedstaaten im Bereich der Verpackungs-
und der Verpackungsabfallwirtschaft zu harmonisieren, um einerseits Auswirkungen dieser Abfälle in allen Mitgliedstaaten sowie
in dritten Ländern auf die Umwelt zu vermeiden bzw. diese Auswirkungen zu verringern und so ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen
und andererseits das Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten und zu verhindern, dass es in der Gemeinschaft zu Handelshemmnissen
und Wettbewerbsverzerrungen und ‑beschränkungen kommt.
- 4
Nach ihrem Artikel 1 Absatz 2 schreibt diese Richtlinie „Maßnahmen [vor], die auf Folgendes abzielen: Erste Priorität ist
die Vermeidung von Verpackungsabfall; weitere Hauptprinzipien sind die Wiederverwendung der Verpackungen, die stoffliche Verwertung
und die anderen Formen der Verwertung der Verpackungsabfälle sowie als Folge daraus eine Verringerung der endgültigen Beseitigung
der Abfälle“.
- 5
Artikel 5 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können nach Maßgabe des Vertrags Systeme zur Wiederverwendung der Verpackungen, die umweltverträglich
wieder verwendet werden, fördern.“
- 6
Artikel 7 der Richtlinie 94/62 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen zur Einrichtung von Systemen für
- a)
- die Rücknahme und/oder Sammlung von gebrauchten Verpackungen und/oder Verpackungsabfällen beim Verbraucher oder jedem anderen
Endabnehmer bzw. aus dem Abfallaufkommen mit dem Ziel einer bestmöglichen Entsorgung;
- b)
- die Wiederverwendung oder Verwertung – einschließlich der stofflichen Verwertung – der gesammelten Verpackungen und/oder Verpackungsabfälle,
um die Zielvorgaben dieser Richtlinie zu erfüllen.
An diesen Systemen können sich alle Marktteilnehmer der betreffenden Wirtschaftszweige und die zuständigen Behörden beteiligen.
Sie gelten auch für Importprodukte, die dabei keine Benachteiligung erfahren, auch nicht bei den Modalitäten und etwaigen
Gebühren für den Zugang zu den Systemen, die so beschaffen sein müssen, dass gemäß dem Vertrag keine Handelshemmnisse oder
Wettbewerbsverzerrungen entstehen.
(2) Die Maßnahmen nach Absatz 1 sind Teil einer für alle Verpackungen und Verpackungsabfälle geltenden Politik und berücksichtigen
im Besonderen Anforderungen des Umwelt- und Verbraucherschutzes in Bezug auf Gesundheit, Sicherheit und Hygiene, des Schutzes
von Qualität, Echtheit und technischer Beschaffenheit des Verpackungsinhalts und der verwendeten Materialien sowie des Schutzes
gewerblicher und kommerzieller Eigentumsrechte.“
- 7
Artikel 18 der Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten dürfen in ihrem Hoheitsgebiet das Inverkehrbringen von Verpackungen, die dieser Richtlinie entsprechen,
nicht verbieten.“
Die nationale Regelung
- 8
Die Verordnung über die Vermeidung und Verwertung von Verpackungsabfällen vom 21. August 1998 (BGBl. 1998 I S. 2379, im Folgenden:
Verpackungsverordnung oder VerpackV) sieht verschiedene Maßnahmen zur Vermeidung oder Verringerung der Auswirkungen von Verpackungsabfällen
auf die Umwelt vor. Die Verpackungsverordnung, deren Zweck insbesondere die Umsetzung der Richtlinie 94/62 ist, hat die Verordnung
über die Vermeidung von Verpackungsabfällen vom 12. Juni 1991 (BGBl. 1991 I S. 1234) ersetzt.
- 9
§ 6 Absätze 1 und 2 VerpackV führt die folgenden Verpflichtungen auf:
„(1) Der Vertreiber ist verpflichtet, vom Endverbraucher gebrauchte, restentleerte Verkaufsverpackungen am Ort der tatsächlichen
Übergabe oder in dessen unmittelbarer Nähe unentgeltlich zurückzunehmen, einer Verwertung entsprechend den Anforderungen in
Nummer 1 des Anhangs I zuzuführen und die Anforderungen nach Nummer 2 des Anhangs I zu erfüllen. Die Anforderungen an die
Verwertung können auch durch eine erneute Verwendung oder Weitergabe an Vertreiber oder Hersteller nach Absatz 2 erfüllt werden.
Der Vertreiber muss den privaten Endverbraucher durch deutlich erkennbare und lesbare Schrifttafeln auf die Rückgabemöglichkeit
nach Satz 1 hinweisen. Die Verpflichtung nach Satz 1 beschränkt sich auf Verpackungen der Art, Form und Größe und auf Verpackungen
solcher Waren, die der Vertreiber in seinem Sortiment führt. Für Vertreiber mit einer Verkaufsfläche von weniger als 200 qm
beschränkt sich die Rücknahmeverpflichtung auf die Verpackungen der Marken, die der Vertreiber in Verkehr bringt. Im Versandhandel
ist die Rücknahme durch geeignete Rückgabemöglichkeiten in zumutbarer Entfernung zum Endverbraucher zu gewährleisten. In der
Warensendung und in den Katalogen ist auf die Rückgabemöglichkeit hinzuweisen. Soweit Verkaufsverpackungen nicht bei privaten
Endverbrauchern anfallen, können abweichende Vereinbarungen über den Ort der Rückgabe und die Kostenregelung getroffen werden.
Soweit Vertreiber die Verpflichtungen nach Satz 1 nicht durch Rücknahme an der Abgabestelle erfüllen, haben sie diese durch
ein System nach Absatz 3 sicherzustellen. Für Vertreiber von Verpackungen, für die die Möglichkeit einer Beteiligung an einem
System nach Absatz 3 nicht besteht, gelten abweichend von Satz 1 die Verwertungsanforderungen nach § 4 Absatz 2 entsprechend.
(2) Hersteller und Vertreiber sind verpflichtet, die nach Absatz 1 von Vertreibern zurückgenommenen Verpackungen am Ort der
tatsächlichen Übergabe unentgeltlich zurückzunehmen, einer Verwertung entsprechend den Anforderungen in Nummer 1 des Anhangs
I zuzuführen und die Anforderungen nach Nummer 2 des Anhangs I zu erfüllen. Die Anforderungen an die Verwertung können auch
durch eine erneute Verwendung erfüllt werden. Die Verpflichtungen nach Satz 1 beschränken sich auf Verpackungen der Art, Form
und Größe sowie auf Verpackungen solcher Waren, welche die jeweiligen Hersteller und Vertreiber in Verkehr bringen. Absatz
1 Satz 8 bis 10 gilt entsprechend.“
- 10
Nach § 6 Absatz 3 VerpackV können diese Rücknahme- und Verwertungspflichten grundsätzlich auch durch die Beteiligung des Herstellers
oder Vertreibers an einem flächendeckenden System der Sammlung gebrauchter Verkaufsverpackungen erfüllt werden. Die Feststellung,
ob dieses System flächendeckend im Sinne der Verpackungsverordnung ist, obliegt der zuständigen Landesbehörde.
- 11
Gemäß § 8 Absatz 1 VerpackV sind Vertreiber, die flüssige Lebensmittel in Getränkeverpackungen, die keine Mehrwegverpackungen
sind, in den Verkehr bringen, verpflichtet, von ihrem Abnehmer ein Pfand in Höhe von mindestens 0,25 Euro einschließlich Umsatzsteuer
je Verpackung zu erheben. Ab einem Füllvolumen von mehr als 1,5 Liter beträgt das Pfand mindestens 0,50 Euro einschließlich
Umsatzsteuer. Das Pfand ist von jedem weiteren Vertreiber auf allen Handelsstufen bis zur Abgabe an den Endverbraucher zu
erheben. Das Pfand ist jeweils bei Rücknahme der Verpackungen nach § 6 Absätze 1 und 2 VerpackV zu erstatten.
- 12
Nach § 9 Absatz 1 VerpackV findet diese Pfandpflicht keine Anwendung auf Verpackungen, für die der Hersteller oder Vertreiber
aufgrund seiner Beteiligung an einem flächendeckenden System der Sammlung im Sinne von § 6 Absatz 3 VerpackV befreit ist.
- 13
Die Verpackungsverordnung führt jedoch in § 9 Absatz 2 Umstände auf, unter denen für bestimmte Getränke die Befreiung nach
§ 6 Absatz 3 entfällt. Diese Vorschrift lautet:
„Sofern der Anteil der in Mehrwegverpackungen abgefüllten Getränke für Bier, Mineralwasser (einschließlich Quellwässer, Tafelwässer
und Heilwässer), Erfrischungsgetränke mit Kohlensäure, Fruchtsäfte … und Wein … im Kalenderjahr insgesamt im Geltungsbereich
dieser Verordnung unter 72 vom Hundert sinkt, wird für den Zeitraum von 12 Monaten nach der Bekanntmachung des Unterschreitens
der Mehrweganteile eine erneute Erhebung über die erheblichen Mehrweganteile durchgeführt. Liegt danach der Mehrweganteil
im Bundesgebiet unter dem nach Satz 1 festgesetzten Anteil, gilt die Entscheidung nach § 6 Absatz 3 vom ersten Tage des auf
die Bekanntgabe nach Absatz 3 folgenden sechsten Kalendermonats bundesweit für die Getränkebereiche als widerrufen, für die
der im Jahr 1991 festgestellte Mehrweganteil unterschritten ist. …“
- 14
Nach § 9 Absatz 3 VerpackV gibt die Bundesregierung die nach § 9 Absatz 2 erheblichen Anteile von in ökologisch vorteilhaften
Getränkeverpackungen abgefüllten Getränken jährlich bekannt. Sofern der erhebliche Anteil von in solchen Verpackungen abgefüllten
Getränken nach einem Widerruf wieder erreicht wird, hat die zuständige Behörde gemäß § 9 Absatz 4 VerpackV auf Antrag oder
von Amts wegen eine erneute Feststellung nach § 6 Absatz 3 zu treffen.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
- 15
Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Klägerinnen) exportieren in verwertbaren Einwegverpackungen Erfrischungsgetränke
mit Kohlensäure, Fruchtsäfte und andere Getränke ohne Kohlensäure sowie Tafelwasser nach Deutschland. Zur Verwertung dieser
Verpackungen schlossen sie sich dem von der Gesellschaft „Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland AG“ betriebenen flächendeckenden
System der Sammlung von Abfällen an und waren deshalb von der in § 8 Absatz 1 VerpackV vorgesehenen Pfanderhebungspflicht
für die in Deutschland in Einwegverpackungen vertriebenen Getränke befreit.
- 16
Nach einer Bekanntmachung der Bundesregierung vom 28. Januar 1999 war der Mehrweganteil 1997 zum ersten Mal unter 72 %, d. h.
auf 71,33 %, gesunken. Da dieser Anteil in zwei aufeinander folgenden Erhebungszeiträumen, d. h. von Februar 1999 bis Januar
2000 sowie von Mai 2000 bis April 2001, im gesamten Bundesgebiet unter 72 % blieb, gab die Bundesregierung am 2. Juli 2002
nach § 9 Absatz 3 VerpackV bekannt, dass ab 1. Januar 2003 ein Pflichtpfand auf Mineralwasser, Bier und Erfrischungsgetränke
zu erheben sei. Nach der Verpackungsverordnung wären die Klägerinnen folglich von da an verpflichtet, für die meisten ihrer
Verpackungen von in Deutschland vertriebenen Getränken das in § 8 Absatz 1 dieser Regelung vorgeschriebene Pfand zu erheben,
sodann Leerverpackungen zurückzunehmen und zu verwerten.
- 17
Am 23. Mai 2002 erhoben die Klägerinnen vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart gegen das Land Baden-Württemberg (im Folgenden:
Beklagter) Klage, mit der sie geltend machen, dass die in der Verpackungsverordnung vorgesehene Mehrwegquotenregelung und
die damit in Zusammenhang stehenden Pfand- und Rücknahmepflichten gegen Artikel 1 Absätze 1 und 2 sowie die Artikel 5, 7 und
18 der Richtlinie 94/62 und gegen Artikel 28 EG verstießen. Die Bundesrepublik Deutschland wurde beigeladen.
- 18
Ausgehend von der von den Klägerinnen vertretenen Auslegung, wonach Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 94/62 eine Gleichrangigkeit
zwischen der Wiederverwendung von Verpackungen und deren Verwertung vorsehe, stellt sich nach Ansicht des vorlegenden Gerichts
die Frage nach der Vereinbarkeit des Systems der Verpackungsverordnung mit dieser Richtlinie, da dieses System das Inverkehrbringen
von Einwegverpackungen erschwere, wenn der Mehrweganteil einen bestimmten Schwellenwert unterschreite. In einem anderen Mitgliedstaat
ansässige Hersteller hätten höhere Aufwendungen als inländische, wenn sie sich dafür entschieden, ihre Getränke in wieder
verwendbaren Verpackungen zu vertreiben. Das Gericht hebt hervor, dass den Klägerinnen zufolge die deutsche Regelung die Situation
der in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Hersteller bereits dann nachteilig beeinflusse, wenn die Pfanderhebungspflicht
ausgesetzt sei, da die deutschen Vertreiber die Neigung hätten, Einwegverpackungen aus ihrem Getränkesortiment zu nehmen,
um die Mehrwegquote nicht unter 72 % sinken zu lassen.
- 19
Daher hat das Verwaltungsgericht Stuttgart beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen
zur Vorabentscheidung vorzulegen:
- 1.
- Ist Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 94/62 so auszulegen, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten untersagt, Systeme zur
Wiederverwendung von Getränkeverpackungen dadurch gegenüber verwertbaren Einwegverpackungen zu bevorzugen, dass bei Unterschreitung
eines bundesweiten Mehrweganteils von 72 % die Möglichkeit der Befreiung von einer verordneten Rücknahme-, Entsorgungs- und
Pfanderhebungspflicht für entleerte Getränke-Einwegverpackungen durch Teilnahme an einem Rücknahme- und Entsorgungssystem
für die Getränkebereiche aufgehoben wird, in denen der Mehrweganteil unter den im Jahre 1991 festgestellten Anteil gesunken
ist?
- 2.
- Ist Artikel 18 der Richtlinie 94/62 so auszulegen, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten untersagt, das Inverkehrbringen
von Getränken in verwertbaren Einwegverpackungen dadurch zu behindern, dass bei Unterschreitung eines bundesweiten Mehrweganteils
von 72 % die Möglichkeit der Befreiung von einer verordneten Rücknahme-, Entsorgungs- und Pfanderhebungspflicht für entleerte
Getränke-Einwegverpackungen durch Teilnahme an einem Rücknahme- und Entsorgungssystem für die Getränkebereiche aufgehoben
wird, in denen der Mehrweganteil unter den im Jahre 1991 festgestellten Anteil gesunken ist?
- 3.
- Ist Artikel 7 der Richtlinie 94/62 so auszulegen, dass Herstellern und Vertreibern von Getränken in verwertbaren Einwegverpackungen
ein Anspruch auf die Teilnahme an einem bereits eingerichteten Rücknahme- und Entsorgungssystem für gebrauchte Getränkeverpackungen
gewährt wird, um dadurch eine gesetzlich verordnete Pflicht zur Bepfandung von Einwegverpackungen für Getränke und zur Rücknahme
gebrauchter Getränkeverpackungen zu erfüllen?
- 4.
- Ist Artikel 28 EG so auszulegen, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten untersagt, Regelungen zu treffen, wonach bei Unterschreitung
eines bundesweiten Mehrweganteils bei Getränkeverpackungen von 72 % die Möglichkeit der Befreiung von einer verordneten Rücknahme-,
Entsorgungs- und Pfanderhebungspflicht für entleerte Getränke-Einwegverpackungen durch Teilnahme an einem Rücknahme- und Entsorgungssystem
für die Getränkebereiche aufgehoben wird, in denen der Mehrweganteil unter den im Jahre 1991 festgestellten Anteil gesunken
ist?
Zu den Anträgen auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung
- 20
Mit Schriftsätzen, die am 14. und 17. Juni 2004 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen sind, haben die deutsche Regierung
und der Beklagte gemäß Artikel 61 der Verfahrensordnung die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beantragt.
- 21
Zur Begründung ihres Antrags macht die deutsche Regierung geltend, dass die Schlussanträge des Generalanwalts vom 6. Mai 2004
eine Reihe von Gesichtspunkten enthielten, die nicht Gegenstand des schriftlichen oder mündlichen Verfahrens gewesen seien
und aus denen sich eine unrichtige Würdigung ihres Vorbringens vor dem Gerichtshof ergebe. In seinem Antrag macht auch der
Beklagte geltend, dass diese Schlussanträge bestimmte Gesichtspunkte ansprächen, die nicht erörtert worden seien und über
die der Gerichtshof daher nicht ausreichend unterrichtet worden sei.
- 22
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach Artikel 61 seiner Verfahrensordnung die mündliche Verhandlung von
Amts wegen, auf Vorschlag des Generalanwalts oder auch auf Antrag der Parteien wiedereröffnen kann, wenn er sich für unzureichend
unterrichtet hält oder ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen für entscheidungserheblich erachtet (vgl. Urteile
vom 10. Februar 2000 in den Rechtssachen C‑270/97 und C‑271/97, Deutsche Post, Slg. 2000, I‑929, Randnr. 30, vom 19. Februar
2002 in der Rechtssache C‑309/99, Wouters u. a., Slg. 2002, I‑1577, Randnr. 42, vom 18. Juni 2002 in der Rechtssache C‑299/99,
Philips, Slg. 2002, I‑5475, Randnr. 20, und vom 12. Dezember 2002 in der Rechtssache C‑273/00, Sieckmann, Slg. 2002, I‑11737,
Randnr. 22).
- 23
Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts jedoch der Ansicht, dass er über alle Informationen
verfügt, die er für die Beantwortung der Fragen benötigt, und dass diese Informationen im Verfahren vor ihm erörtert worden
sind.
- 24
Daher sind die Anträge der deutschen Regierung und des Beklagten auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zurückzuweisen.
Zu den Vorlagefragen Zur Zulässigkeit der Vorlagefragen
- 25
Der Beklagte macht geltend, dass der Gerichtshof die Vorlagefragen als unzulässig zurückweisen müsse, da die im Ausgangsverfahren
erhobene Klage unzulässig sei, weil sie sich gegen das Land Baden-Württemberg richte. Dieses habe keine eigene Gesetzgebungs‑
oder Verordnungskompetenz in diesem Bereich und führe daher lediglich die Bundesregelung aus. Die Klage hätte gegen den Bund
vor dem dafür zuständigen Verwaltungsgericht, nämlich dem Verwaltungsgericht Berlin, erhoben werden müssen. In Parallelverfahren
hätten einige deutsche Verwaltungsgerichte bereits die Unzulässigkeit entsprechender Klagen festgestellt.
- 26
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es unter Berücksichtigung der Verteilung der Aufgaben zwischen dem Gerichtshof und den
nationalen Gerichten nicht Sache des Gerichtshofes ist, nachzuprüfen, ob die Entscheidung, mit der er angerufen worden ist,
den nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das Gerichtsverfahren entspricht (vgl. Urteile vom 3. März 1994
in den Rechtssachen C‑332/92, C‑333/92 und C‑335/92, Eurico Italia u. a., Slg. 1994, I‑711, Randnr. 13, vom 16. September
1999 in der Rechtssache C‑435/97, WWF u. a., Slg. 1999, I‑5613, Randnr. 33, und vom 3. Oktober 2000 in der Rechtssache C‑371/97,
Gozza u. a., Slg. 2000, I‑7881, Randnr. 30). Der Gerichtshof hat sich an die von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene
Vorlageentscheidung zu halten, solange sie nicht aufgrund eines im nationalen Recht eventuell vorgesehenen Rechtsbehelfs aufgehoben
worden ist (Urteil vom 14. Januar 1982 in der Rechtssache 65/81, Reina, Slg. 1982, 33, Randnr. 7).
- 27
Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorlagebeschluss, dass das Verwaltungsgericht Stuttgart die Klage für zumindest teilweise
zulässig hält.
- 28
Im Übrigen steht fest, dass ein unmittelbarer Zusammenhang besteht zwischen einerseits den vier Vorlagefragen nach der Auslegung
der Artikel 1, 7 und 18 der Richtlinie 94/62 und des Artikels 28 EG, die das vorlegende Gericht gestellt hat, um die Vereinbarkeit
der in Rede stehenden deutschen Regelung mit diesen Bestimmungen beurteilen zu können, und andererseits dem Gegenstand der
im Ausgangsverfahren erhobenen Klage, mit der die Feststellung begehrt wird, dass die Klägerinnen nicht verpflichtet sind,
den Pfand- und Rücknahmepflichten in Bezug auf ihre Einwegverpackungen nachzukommen.
- 29
Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.
Zur ersten Frage
- 30
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 94/62 es
einem Mitgliedstaat verwehrt, Systeme zur Wiederverwendung von Verpackungen durch die Anwendung einer Regelung wie der in
den §§ 8 Absatz 1 und 9 Absatz 2 VerpackV vorgesehenen zu fördern.
- 31
Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 94/62 schreibt als „erste Priorität“ Maßnahmen vor, die auf die Vermeidung von Verpackungsabfall
abzielen; er zählt als „weitere Hauptprinzipien“ die Wiederverwendung der Verpackungen, die stoffliche Verwertung und die
anderen Formen der Verwertung der Verpackungsabfälle auf.
- 32
Die achte Begründungserwägung der Richtlinie lautet: „Bis wissenschaftliche und technologische Ergebnisse im Bereich der Verwertung
vorliegen, sind die Wiederverwendung und die stoffliche Verwertung hinsichtlich ihrer Umweltauswirkungen vorzuziehen. Aus
diesem Grunde sind in den Mitgliedstaaten Rückgabesysteme für gebrauchte Verpackungen und/oder Verpackungsabfälle einzurichten.
Lebenszyklusuntersuchungen müssen so bald wie möglich abgeschlossen werden, um eine klare Rangfolge der wieder verwendbaren,
der stofflich und der anderweitig verwertbaren Verpackungen zu rechtfertigen.“
- 33
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Richtlinie 94/62 keine Rangfolge zwischen der Wiederverwendung der Verpackungen
einerseits und der stofflichen Verwertung der Verpackungsabfälle andererseits aufstellt.
- 34
Jedoch erlaubt Artikel 5 der Richtlinie 94/62 es den Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu erlassen, die die Systeme der Wiederverwendung
der Verpackungen, die umweltverträglich wieder verwendet werden können, fördern.
- 35
Nach dem Wortlaut des Artikels 5 ist eine derartige Politik der Förderung der Wiederverwendung von Verpackungen nur nach Maßgabe
des Vertrages erlaubt.
- 36
Somit müssen die von einem Mitgliedstaat gemäß Artikel 5 der Richtlinie erlassenen Maßnahmen nicht nur den Anforderungen genügen,
die sich aus den übrigen Vorschriften der Richtlinie, insbesondere aus Artikel 7, auf den sich die dritte Vorlagefrage bezieht,
ergeben, sondern sie müssen auch die Verpflichtungen aus den Bestimmungen des Vertrages, insbesondere aus Artikel 28 EG, auf
den sich die vierte Frage bezieht, beachten.
- 37
Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 94/62 es den Mitgliedstaaten nicht verwehrt,
Maßnahmen einzuführen, mit denen die Systeme zur Wiederverwendung von Verpackungen gefördert werden sollen.
- 38
Unter Berücksichtigung des Vorstehenden sind zunächst die dritte und die vierte Vorlagefrage zu beantworten.
Zur dritten Frage
- 39
Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Artikel 7 der Richtlinie 94/62 den Herstellern
und Vertreibern von Getränken in verwertbaren Einwegverpackungen, die berechtigt sind, ihre Pfand- und Rücknahmeverpflichtungen
durch Teilnahme an einem flächendeckenden System der Sammlung von Verpackungen zu erfüllen, einen Anspruch darauf gewährt,
weiterhin an diesem flächendeckenden System teilzunehmen, um ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachzukommen.
- 40
Die Richtlinie 94/62 verpflichtet die Mitgliedstaaten in Artikel 7 Absatz 1 dazu, die erforderlichen Maßnahmen zur Einrichtung
von Systemen für die Rücknahme und/oder Sammlung von gebrauchten Verpackungen und/oder Verpackungsabfällen und die Wiederverwendung
oder Verwertung der gesammelten Verpackungen und/oder Verpackungsabfälle zu ergreifen. Weiterhin müssen sich nach dieser Vorschrift
alle Marktteilnehmer der betreffenden Wirtschaftszweige und die zuständigen Behörden an diesen Systemen beteiligen können;
sie müssen für Importprodukte, die dabei keine Benachteiligung erfahren, gelten und so beschaffen sein, dass gemäß dem Vertrag
keine Handelshemmnisse oder Wettbewerbsverzerrungen entstehen.
- 41
Nach Artikel 7 Absatz 2 müssen die in Artikel 7 Absatz 1 bezeichneten Maßnahmen Teil einer für alle Verpackungen und Verpackungsabfälle
geltenden Politik sein und im Besonderen Anforderungen des Umwelt- und Verbraucherschutzes in Bezug auf Gesundheit, Sicherheit
und Hygiene, des Schutzes von Qualität, Echtheit und technischer Beschaffenheit des Verpackungsinhalts und der verwendeten
Materialien sowie des Schutzes gewerblicher und kommerzieller Eigentumsrechte berücksichtigen.
- 42
Artikel 7 überlässt es den Mitgliedstaaten, im Hinblick auf Einwegverpackungen zwischen einem Pfand- und Rücknahmesystem und
einem flächendeckenden System der Sammlung von Verpackungen zu wählen oder sich für eine Kombination der beiden Systeme nach
der Art der Erzeugnisse zu entscheiden, vorausgesetzt, die gewählten Systeme bezwecken, die Verpackungen der bestmöglichen
Entsorgung zuzuführen, und sind Teil einer für alle Verpackungen und Verpackungsabfälle geltenden Politik.
- 43
Diese Bestimmung verleiht den betroffenen Herstellern und Vertreibern keinen Anspruch darauf, weiterhin an einem bestimmten
System der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall teilzunehmen.
- 44
Die Richtlinie 94/62 hindert einen Mitgliedstaat nämlich nicht daran, Änderungen der in seinem Hoheitsgebiet eingerichteten
Systeme der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall vorzusehen, damit die bestmögliche Entsorgung gewährleistet ist.
- 45
Somit erlaubt es zwar die Richtlinie 94/62 einem Mitgliedstaat, je nach den Umständen ein System der Sammlung von Verpackungen
in Wohnortnähe des Verbrauchers oder in der Nähe der Verkaufsstellen durch ein Pfand- und Rücknahmesystem zu ersetzen, doch
sind dabei bestimmte Voraussetzungen zu beachten.
- 46
Zum einen muss das neue System ebenfalls geeignet sein, die Ziele der Richtlinie 94/62 zu erreichen. Insbesondere muss der
betreffende Mitgliedstaat, wenn das neue System wie im vorliegenden Fall ein Pfand- und Rücknahmesystem ist, dafür sorgen,
dass eine ausreichende Anzahl von Rücknahmestellen besteht, damit die Verbraucher, die in Einwegpfandverpackungen verpackte
Produkte gekauft haben, das Pfand zurückerhalten können, ohne sich an den Ort des ursprünglichen Einkaufs zurückbegeben zu
müssen.
- 47
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach § 6 Absatz 1 Satz 1 VerpackV der Vertreiber verpflichtet ist, die Verkaufsverpackungen
am Ort der tatsächlichen Übergabe oder in dessen unmittelbarer Nähe unentgeltlich zurückzunehmen. Obwohl die folgenden Sätze
dieses Absatzes einige nähere Angaben hierzu enthalten, u. a. in Bezug auf die Beschränkungen dieser Verpflichtung aufgrund
der Merkmale der betreffenden Verpackungen und der Verkaufsfläche des jeweiligen Vertreibers, erscheint der Umfang der Rücknahmeverpflichtung
gleichwohl nicht eindeutig.
- 48
Zum anderen muss der Übergang zum neuen System ohne Bruch erfolgen und ohne dass die Möglichkeit für die Marktteilnehmer der
betreffenden Wirtschaftszweige gefährdet wird, sich tatsächlich an dem neuen System ab dessen Inkrafttreten zu beteiligen.
Insoweit ist festzustellen, dass Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie 94/62 die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, den betroffenen
Herstellern und Vertreibern jederzeit und ohne Benachteiligung Zugang zu einem System der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall
zu garantieren.
- 49
Daher obliegt es dem Mitgliedstaat, der ein bestehendes System der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall durch ein anderes
ersetzt, sicherzustellen, dass die betroffenen Hersteller und Vertreiber über eine angemessene Frist für den Übergang auf
das neue System verfügen, so dass sie ihre Produktionsmethoden und ihre Vertriebsketten den Anforderungen des neuen Systems
anpassen können.
- 50
Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Artikel 7 der Richtlinie 94/62 den betroffenen Herstellern und Vertreibern
keinen Anspruch darauf gibt, weiterhin an einem bestimmten System der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall teilzunehmen,
dass er aber der Ersetzung eines flächendeckenden Systems der Sammlung von Verpackungsabfällen durch ein Pfand- und Rücknahmesystem
entgegensteht, wenn das neue System nicht ebenfalls geeignet ist, die Ziele dieser Richtlinie zu erreichen, oder wenn der
Übergang auf dieses neue System nicht ohne Bruch erfolgt und nicht ohne die Möglichkeit für die Marktteilnehmer der betreffenden
Wirtschaftszweige zu gefährden, sich tatsächlich an dem neuen System ab dessen Inkrafttreten zu beteiligen.
Zur vierten Frage
- 51
Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Artikel 28 EG einer nationalen Regelung
wie der nach den §§ 8 Absatz 1 und 9 Absatz 2 VerpackV entgegensteht, wonach die Möglichkeit für die Einwegverpackungen verwendenden
Hersteller und Vertreiber, ihre Pfand-, Rücknahme- und Verwertungspflichten durch die Teilnahme an einem flächendeckenden
System der Sammlung zu erfüllen, vom Anteil der Mehrwegverpackungen auf dem betreffenden Markt abhängt.
Zur Anwendbarkeit des Artikels 28 EG
- 52
Nach Ansicht der deutschen Regierung kann es keinen Konflikt zwischen Artikel 28 EG und der streitigen nationalen Regelung
geben, da die Richtlinie 94/62 und insbesondere ihre Artikel 5, 9 und 18 hinsichtlich der Wiederverwendung der Verpackungen
eine vollständige Harmonisierung des betreffenden Bereichs bezweckten und bewirkten.
- 53
Da eine nationale Maßnahme in einem Bereich, der auf Gemeinschaftsebene abschließend harmonisiert wurde, anhand der Bestimmungen
dieser Harmonisierungsmaßnahme und nicht der des Primärrechts zu beurteilen ist (Urteile vom 12. Oktober 1993 in der Rechtssache
C‑37/92, Vanacker und Lesage, Slg. 1993, I‑4947, Randnr. 9, vom 13. Dezember 2001 in der Rechtssache C‑324/99, DaimlerChrysler,
Slg. 2001, I‑9897, Randnr. 32, und vom 11. Dezember 2003 in der Rechtssache C‑322/01, Deutscher Apothekerverband, noch nicht
in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 64), ist zu untersuchen, ob die von der Richtlinie 94/62 bewirkte Harmonisierung
es ausschließt, die Vereinbarkeit der in Rede stehenden nationalen Regelung mit Artikel 28 EG zu prüfen.
- 54
In Bezug auf die Wiederverwendung der Verpackungen beschränkt sich Artikel 5 der Richtlinie 94/62 darauf, den Mitgliedstaaten
zu erlauben, nach Maßgabe des Vertrages Systeme zur Wiederverwendung der Verpackungen, die umweltverträglich wieder verwendet
werden können, zu fördern.
- 55
Abgesehen von der Definition des Begriffes „Wiederverwendung“ der Verpackungen in Artikel 3 Nummer 5, bestimmten allgemeinen
Vorschriften über Maßnahmen zur Vermeidung von Verpackungsabfällen in Artikel 4 und Vorschriften über Rücknahme-, Sammel-
und Verwertungssysteme in Artikel 7 regelt die Richtlinie 94/62 in Bezug auf die Mitgliedstaaten, die von der durch Artikel
5 eingeräumten Befugnis Gebrauch machen wollen, nicht die Organisation von Systemen zur Förderung von wieder verwendbaren
Verpackungen.
- 56
Anders als die Kennzeichnung und Identifizierung der Verpackungen sowie die Anforderungen an die Zusammensetzung und die Wiederverwendbarkeit
bzw. Verwertbarkeit der Verpackungen, die in den Artikeln 8 bis 11 und in Anhang II der Richtlinie 94/62 geregelt sind, ist
die Organisation der nationalen Systeme, mit denen die Wiederverwendung von Verpackungen gefördert werden soll, somit nicht
abschließend harmonisiert.
- 57
Solche Systeme können folglich anhand der Vertragsbestimmungen über die Warenverkehrsfreiheit geprüft werden.
- 58
Artikel 5 der Richtlinie 94/62 erlaubt im Übrigen den Mitgliedstaaten die Förderung von Systemen zur Wiederverwendung von
Verpackungen nur „nach Maßgabe des Vertrages“.
- 59
Zu Artikel 18 der Richtlinie ist darauf hinzuweisen, dass sich diese Bestimmung darauf beschränkt, den freien Verkehr von
Verpackungen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu garantieren, die den Anforderungen hinsichtlich Kennzeichnung, Zusammensetzung,
Wiederwendbarkeit und Verwertbarkeit entsprechen, und deshalb ebenfalls einer Prüfung der nationalen Systeme der Bewirtschaftung
von Verpackungsabfall im Licht des Artikels 28 EG nicht entgegensteht, wenn diese Systeme geeignet sind, die Bedingungen des
Inverkehrbringens der betreffenden Erzeugnisse zu beeinträchtigen.
Zum Bestehen eines Handelshemmnisses
- 60
Zu prüfen ist, ob Artikel 28 EG einer nationalen Regelung wie der streitigen entgegensteht, wonach den Einwegverpackungen
verwendenden Herstellern und Vertreibern die Erfüllung ihrer Pfand‑ und Rücknahmepflichten durch die Teilnahme an einem flächendeckenden
System der Sammlung nach Maßgabe der Entwicklung des Gesamtanteils der Getränke in Einwegverpackungen auf dem deutschen Markt
und dem Anteil der betreffenden Getränke, die in solchen Verpackungen auf diesem Markt in den Verkehr gebracht werden, erlaubt
ist.
- 61
Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass diese Regelung unterschiedslos auf inländische Erzeugnisse und auf Erzeugnisse
aus anderen Mitgliedstaaten anwendbar ist und hinsichtlich der Bepfandung und Rücknahme die gleichen Anforderungen für in
anderen Mitgliedstaaten ansässige Hersteller wie für inländische Hersteller aufstellt.
- 62
Zweitens wird – anders als durch die Begrenzung der Menge der Getränke, die in nicht genehmigten Verpackungen in den Verkehr
gebracht werden können, um die es im Urteil vom 20. September 1988 in der Rechtssache 302/86 (Kommission/Dänemark, Slg. 1988,
4607) ging – durch die im Ausgangsverfahren fraglichen Anteile nicht die Menge der Erzeugnisse begrenzt, die in einer bestimmten
Verpackungsart eingeführt werden können. Die Verpackungsverordnung verbietet es nicht, Erzeugnisse in Einwegverpackungen in
einem über die angegebenen Anteile hinausgehenden Maß in den Verkehr zu bringen, sondern sieht nur vor, dass die Überschreitung
dieser Quoten zu einer Änderung des Systems der Bewirtschaftung von Einwegverpackungen führt.
- 63
Es ist jedoch festzustellen, dass die §§ 8 Absatz 1 und 9 Absatz 2 VerpackV, obwohl sie auf alle Hersteller und Vertreiber,
die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, Anwendung finden, in Deutschland hergestellte Getränke und Getränke aus anderen Mitgliedstaaten
hinsichtlich ihres Inverkehrbringens nicht in gleicher Weise betreffen.
- 64
Wenn nämlich der Wechsel von einem System der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall zu einem anderen allgemein Kosten in Bezug
auf die Kennzeichnung oder Etikettierung der Verpackungen zur Folge hat, führt eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren
fragliche, die die Einwegverpackungen verwendenden Hersteller und Vertreiber verpflichtet, ihre Teilnahme an einem flächendeckenden
System der Sammlung durch die Einführung eines Pfand- und Rücknahmesystems zu ersetzen, für alle solche Verpackungen verwendenden
Hersteller und Vertreiber zu zusätzlichen Kosten im Zusammenhang mit der Organisation der Verpackungsrücknahme, der Erstattung
des Pfandes und dem eventuellen Ausgleich dieser Beträge unter den Vertreibern.
- 65
Es steht fest, dass die außerhalb Deutschlands ansässigen Hersteller erheblich mehr Einwegverpackungen verwenden als die deutschen
Hersteller.
- 66
Hierzu weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Verwendung von Mehrwegverpackungen normalerweise für einen in einem
anderen Mitgliedstaat ansässigen Getränkehersteller zu höheren Kosten führt, als sie ein deutscher Hersteller zu tragen hat,
da die Kosten im Zusammenhang mit der Organisation des Pfandsystems und der Beförderung mit der Entfernung des Herstellers
von den Verkaufsstellen steigen.
- 67
Daraus folgt, dass in Bezug auf Einwegverpackungen die Ersetzung eines flächendeckenden Systems der Sammlung von Verpackungen
durch ein Pfand- und Rücknahmesystem geeignet ist, das Inverkehrbringen von aus anderen Mitgliedstaaten eingeführten Getränken
auf dem deutschen Markt zu behindern (vgl. in diesem Sinne zu Getränkemehrwegverpackungen das Urteil Kommission/Dänemark vom
20. September 1988, Randnr. 13).
- 68
Insoweit ist unerheblich, dass die in Rede stehenden Vorschriften Pfand- und Rücknahmepflichten für Einwegverpackungen betreffen,
ohne die Einfuhren von in solchen Verpackungen abgefüllten Getränken zu verbieten, und dass für die Hersteller außerdem die
Möglichkeit besteht, Mehrwegverpackungen zu benutzen. Eine Maßnahme, die geeignet ist, die Einfuhren zu behindern, ist nämlich
als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung zu qualifizieren, selbst wenn die Behinderung geringfügig
ist und noch andere Möglichkeiten für den Vertrieb der Erzeugnisse bestehen (Urteil vom 5. April 1984 in den Rechtssachen
177/82 und 178/82, Van de Haar und Kaveka de Meern, Slg. 1984, 1797, Randnr. 14).
- 69
Unbeachtlich ist in diesem Zusammenhang das Vorbringen der deutschen Regierung, dass der Anstieg der Einfuhren von in Einwegverpackungen
abgefüllten natürlichen Mineralwässern nach Deutschland für die der Einführung der Pfand- und Rücknahmepflichten vorangegangene
Zeit belege, dass keine Diskriminierung der in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Getränkehersteller vorliege. Denn selbst
wenn diese Tendenz auf dem deutschen Markt zu beobachten sein sollte, kann sie doch nichts an der Tatsache ändern, dass die
§§ 8 und 9 VerpackV für die in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Getränkehersteller ein Hindernis für das Inverkehrbringen
ihrer Erzeugnisse in Deutschland darstellen.
- 70
Entgegen dem Vorbringen des Beklagten und der deutschen Regierung können die §§ 8 und 9 VerpackV nicht nationalen Bestimmungen
gleichgestellt werden, die bestimmte „Verkaufsmodalitäten“ im Sinne des Urteils vom 24. November 1993 in den Rechtssachen
C‑267/91 und C‑268/91 (Keck und Mithouard, Slg. 1993, I‑6097, Randnrn. 16 ff.) beschränken oder verbieten.
- 71
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes schließt es nämlich das sich aus den fraglichen Maßnahmen ergebende Erfordernis,
die Verpackung oder die Etikettierung der eingeführten Erzeugnisse zu ändern, aus, dass diese Maßnahmen im Sinne des Urteils
Keck und Mithouard Verkaufsmodalitäten der Erzeugnisse betreffen (vgl. Urteile vom 3. Juni 1999 in der Rechtssache C‑33/97,
Colim, Slg. 1999, I‑3175, Randnr. 37, vom 16. Januar 2003 in der Rechtssache C‑12/00, Kommission/Spanien, Slg. 2003, I‑459,
Randnr. 76, und vom 18. September 2003 in der Rechtssache C‑416/00, Morellato, Slg. 2003, I‑9343, Randnr. 29).
- 72
Wie in Randnummer 64 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, verpflichtet die Ersetzung der Teilnahme an einem flächendeckenden
System der Sammlung durch die Einführung eines Pfand- und Rücknahmesystems die betroffenen Hersteller dazu, bestimmte Angaben
auf ihren Verpackungen zu ändern.
- 73
Da die Vorschriften der Verpackungsverordnung das Inverkehrbringen der in Deutschland hergestellten Getränke und das Inverkehrbringen
der Getränke aus anderen Mitgliedstaaten jedenfalls nicht in der gleichen Weise berühren, fallen sie in den Anwendungsbereich
des Artikels 28 EG (vgl. Urteil Keck und Mithouard, Randnrn. 16 und 17).
Zur Rechtfertigung aus Gründen des Umweltschutzes
- 74
Sodann ist zu prüfen, ob, wie dies der Beklagte und die deutsche Regierung geltend machen, eine Regelung wie die in den §§ 8
Absatz 1 und 9 Absatz 2 VerpackV vorgesehene aus Gründen des Umweltschutzes gerechtfertigt sein kann.
- 75
Nach ständiger Rechtsprechung können nationale Maßnahmen, die geeignet sind, den Handel in der Gemeinschaft zu behindern,
durch zwingende Erfordernisse des Umweltschutzes gerechtfertigt sein, sofern die fraglichen Maßnahmen in einem angemessenen
Verhältnis zum angestrebten Ziel stehen (Urteile Kommission/Dänemark vom 20. September 1988, Randnrn. 6 und 9, und vom 14.
Juli 1998 in der Rechtssache C‑389/96, Aher-Waggon, Slg. 1998, I‑4473, Randnr. 20).
- 76
Hierzu ist festzustellen, dass die Verpflichtung, ein Pfand- und Rücknahmesystem von Leerverpackungen einzuführen, ein notwendiger
Bestandteil eines Systems ist, das die Wiederverwendung von Verpackungen sicherstellen soll (Urteil Kommission/Dänemark vom
20. September 1988, Randnr. 13).
- 77
Was Einwegverpackungen angeht, so kann, wie der Beklagte und die deutsche Regierung vortragen, die Einführung eines Pfand-
und Rücknahmesystems die Rücklaufquote der Leerverpackungen erhöhen und führt zu einer Sortenreinheit der Verpackungsabfälle,
wodurch sie zur Verbesserung der Verpackungsabfallverwertung beiträgt. Da die Erhebung eines Pfandes einen Anreiz für den
Verbraucher darstellt, die Leerverpackungen zu den Verkaufsstellen zurückzubringen, leistet sie außerdem einen Beitrag zur
Verringerung von Abfällen in der Natur.
- 78
Soweit die in Rede stehende Regelung das Inkrafttreten eines neuen Systems der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall von dem
Anteil der Mehrwegverpackungen auf dem deutschen Markt abhängig macht, schafft sie darüber hinaus eine Situation, in der jeder
Anstieg des Verkaufs von Getränken in Einwegverpackungen auf diesem Markt die Wahrscheinlichkeit der Änderung des Systems
erhöht. Da diese Regelung somit die betroffenen Hersteller und Vertreiber dazu anreizt, Mehrwegverpackungen zu benutzen, trägt
sie zur Verringerung der zu beseitigenden Abfälle bei, die eines der allgemeinen Ziele der Umweltschutzpolitik ist.
- 79
Eine Regelung entspricht jedoch nur dann dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn die gewählten Mittel nicht nur zur Erreichung
des angestrebten Zweckes geeignet sind, sondern auch das Maß des hierzu Erforderlichen nicht übersteigen (vgl. Urteil vom
14. Juli 1998 in der Rechtssache C‑284/95, Safety Hi-Tech, Slg. 1998, I‑4301, Randnr. 57).
- 80
Um diesem Kriterium zu genügen, muss eine nationale Regelung es den betroffenen Herstellern und Vertreibern vor dem Inkrafttreten
des Pfand- und Rücknahmesystems ermöglichen, ihre Produktionsmethoden und die Bewirtschaftung der Einwegverpackungsabfälle
den Anforderungen des neuen Systems anzupassen. Zwar kann es ein Mitgliedstaat den Herstellern und Vertreibern überlassen,
dieses System einzuführen, indem sie die Rücknahme der Verpackungen, die Erstattung des Pfandes und den eventuellen Ausgleich
der Beträge unter den Vertreibern organisieren, doch muss dieser Mitgliedstaat sicherstellen, dass sich zum Zeitpunkt der
Umstellung des Systems der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall alle betroffenen Hersteller und Vertreiber tatsächlich an
einem arbeitsfähigen System beteiligen können.
- 81
Es ist festzustellen, dass eine Regelung wie die Verpackungsverordnung, die die Einführung eines Pfand- und Rücknahmesystems
von einer ökologisch gewiss vorteilhaften Wiederverwendungsquote der Verpackungen abhängig macht, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
nur dann entspricht, wenn sie neben der Schaffung eines Anreizes zur Wiederverwendung der Verpackungen den betroffenen Herstellern
und Vertreibern eine angemessene Übergangsfrist bietet, um sich ihr anzupassen, und sicherstellt, dass sich im Zeitpunkt der
Umstellung des Systems der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall alle betroffenen Hersteller und Vertreiber tatsächlich an
einem arbeitsfähigen System beteiligen können.
- 82
Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Frage zu entscheiden, ob die Umstellung des Systems der Bewirtschaftung von
Verpackungsabfall, wie sie in den §§ 8 Absatz 1 und 9 Absatz 2 VerpackV vorgesehen ist, es den betroffenen Herstellern und
Vertreibern ermöglicht, sich unter den oben genannten Voraussetzungen an einem arbeitsfähigen System zu beteiligen.
- 83
Folglich ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Artikel 28 EG einer nationalen Regelung wie der nach den §§ 8 Absatz
1 und 9 Absatz 2 VerpackV entgegensteht, wenn diese die Ersetzung eines flächendeckenden Systems der Sammlung von Verpackungsabfällen
durch ein Pfand- und Rücknahmesystem vorsieht, ohne dass die betroffenen Hersteller und Vertreiber über eine angemessene Übergangsfrist
verfügen, um sich darauf einzustellen, und ohne dass sichergestellt ist, dass sie sich im Zeitpunkt der Umstellung des Systems
der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall tatsächlich an einem arbeitsfähigen System beteiligen können.
Zur zweiten Frage
- 84
Angesichts der Antwort auf die vierte Frage bedarf die zweite Frage keiner Beantwortung mehr.
Kosten
- 85
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen
Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von
Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
-
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
- 1.
- Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 94/62/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 1994 über Verpackungen
und Verpackungsabfälle verwehrt es den Mitgliedstaaten nicht, Maßnahmen einzuführen, mit denen die Systeme zur Wiederverwendung
von Verpackungen gefördert werden sollen.
- 2.
- Artikel 7 der Richtlinie 94/62 gibt den betroffenen Herstellern und Vertreibern keinen Anspruch darauf, weiterhin an einem
bestimmten System der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall teilzunehmen, er steht aber der Ersetzung eines flächendeckenden
Systems der Sammlung von Verpackungsabfällen durch ein Pfand‑ und Rücknahmesystem entgegen, wenn das neue System nicht ebenfalls
geeignet ist, die Ziele dieser Richtlinie zu erreichen, oder wenn der Übergang auf dieses neue System nicht ohne Bruch erfolgt
und nicht ohne die Möglichkeit für die Marktteilnehmer der betreffenden Wirtschaftszweige zu gefährden, sich tatsächlich an
dem neuen System ab dessen Inkrafttreten zu beteiligen.
- 3.
- Artikel 28 EG steht einer nationalen Regelung wie der nach den §§ 8 Absatz 1 und 9 Absatz 2 der Verordnung über die Vermeidung
und Verwertung von Verpackungsabfällen entgegen, wenn diese die Ersetzung eines flächendeckenden Systems der Sammlung von
Verpackungsabfällen durch ein Pfand- und Rücknahmesystem vorsieht, ohne dass die betroffenen Hersteller und Vertreiber über
eine angemessene Übergangsfrist verfügen, um sich darauf einzustellen, und ohne dass sichergestellt ist, dass sie sich im
Zeitpunkt der Umstellung des Systems der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall tatsächlich an einem arbeitsfähigen System
beteiligen können.
Unterschriften.
- 1 –
- Verfahrenssprache: Deutsch.