SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
M. POIARES MADURO
vom 29. Juni 2004(1)



Rechtssache C-319/03



Serge Briheche
gegen
Ministère de l'intérieur, de la sécurité intérieure et des libertés locales


(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal administratif Paris [Frankreich])

„Sozialpolitik – Gleichbehandlung – Richtlinie 76/207 – Zugang zur Beschäftigung – Bestimmungen, die die Freistellung von der Altersgrenze für den Eintritt in die Verwaltung nicht wiederverheirateten Witwen vorbehalten“






1.        Mit der Vorlagefrage möchte das Tribunal administratif Paris (Frankreich) wissen, ob die Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (2) einer Bestimmung wie Artikel 8 des französischen Gesetzes Nr. 75-3 vom 3. Januar 1975 (3) in der durch das Gesetz Nr. 79-569 vom 7. Juli 1979 (4) und das Gesetz Nr. 2001‑397 vom 9. Mai 2001 (5) geänderten Fassung (im Folgenden: maßgebliches Gesetz) entgegensteht, soweit sie nicht wiederverheiratete Witwen von der Altersgrenze für die Einstellung in die Verwaltung freistellt.

I – Sachverhalt, rechtlicher Rahmen und Vorlagefrage

2.        Zur maßgeblichen Zeit war Herr Briheche Witwer, hatte nicht wieder geheiratet, war 48 Jahre alt und hatte ein zwölfjähriges unterhaltsberechtigtes Kind. Er bewarb sich um die Teilnahme an vier Auswahlverfahren für Einstellungen in verschiedenen Verwaltungsabteilungen, für die die Altersgrenze auf 45 Jahre festgesetzt worden war. Seine Bewerbungen wurden jeweils mit der Begründung abgelehnt, dass er die gesetzliche Altersgrenze überschritten habe.

3.        Am 30. Januar 2002 lehnte der Directeur du Service inter-académique des examens et concours des académies de Créteil, Paris et Versailles (Direktor des bezirksübergreifenden Dienstes für Prüfungen und Auswahlverfahren der Verwaltungsbezirke für das Bildungswesen von Créteil, Paris und Versailles) Herrn Briheches Bewerbungen für das externe Auswahlverfahren zur Besetzung von Stellen für Verwaltungsassistenten der Zentralverwaltung ab. Am 5. Februar 2002 lehnte er Herrn Briheches Bewerbung für das gemeinsame externe Auswahlverfahren für Verwaltungssekretäre der Zentralverwaltung und Verwaltungssekretäre im Schul- und Hochschulbereich ab. Am 27. Februar 2002 wies der Ministre de l’éducation nationale (Bildungsminister) Herrn Briheches Beschwerde gegen die vorstehend genannten Entscheidungen zurück.

4.        Am 28. Januar und 8. März 2002 lehnte der Ministre de l’intérieur (Innenminister) Herrn Briheches Bewerbung für das externe Auswahlverfahren zur Besetzung von Stellen für Verwaltungsassistenten der Zentralverwaltung ab.

5.        Am 28. Februar 2002 lehnte der Ministre de la justice (Justizminister) Herrn Briheches Bewerbung für das externe Auswahlverfahren zur Besetzung von Stellen für Verwaltungsassistenten der dezentralisierten Dienste der Strafvollzugsverwaltung ab.

6.        Herr Briheche erhob beim Tribunal administratif Paris drei verschiedene Klagen auf Aufhebung der vorstehend genannten Entscheidungen und auf Ersatz des Schadens, der ihm durch diese entstanden ist (6) .

7.        Je nach Art des Auswahlverfahrens setzt entweder Artikel 5 des Dekrets Nr. 90‑713 vom 1. August 1990 über die auf Verwaltungsassistenten in der staatlichen Verwaltung anwendbaren Rechtsvorschriften (7) oder Artikel 1 des Dekrets Nr. 75‑765 vom 14. August 1975 über die auf die Einstellung von Beamten der Kategorien B, C und D durch Auswahlverfahren anwendbaren Altersgrenzen (8) für die Bewerber eine Altersgrenze von 45 Jahren fest.

8.        Artikel 8 des maßgeblichen Gesetzes sieht eine Ausnahme vor: „Die Altersgrenzen für den Zugang zu öffentlichen Stellen können Müttern von drei oder mehr Kindern, nicht wiederverheirateten Witwen, nicht wiederverheirateten geschiedenen Frauen und aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung getrennt lebenden Frauen sowie unverheirateten Frauen oder Männern mit mindestens einem unterhaltsberechtigten Kind, die darauf angewiesen sind zu arbeiten, nicht entgegengehalten werden.“

9.        Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 verbietet jede „unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung auf Grund des Geschlechts – insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand“. Dieser Grundsatz hat einen weiten sachlichen Anwendungsbereich, der in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie definiert ist: „Die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung beinhaltet, dass bei den Bedingungen des Zugangs – einschließlich der Auswahlkriterien – zu den Beschäftigungen oder Arbeitsplätzen – unabhängig vom Tätigkeitsbereich oder Wirtschaftszweig – und zu allen Stufen der beruflichen Rangordnung keine Diskriminierung auf Grund des Geschlechts erfolgt.“

10.      Im vorliegenden Fall könnten nach Ansicht der Beteiligten verschiedene andere Bestimmungen der Richtlinie 76/207 eingreifen. Herr Briheche beruft sich in seinen an das vorlegende Gericht und an den Gerichtshof gerichteten schriftlichen Erklärungen auf deren Artikel 2 Absatz 2, der Folgendes bestimmt: „Diese Richtlinie steht nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen, solche beruflichen Tätigkeiten und gegebenenfalls die dazu jeweils erforderliche Ausbildung, für die das Geschlecht auf Grund ihrer Art oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine unabdingbare Voraussetzung darstellt, von ihrem Anwendungsbereich auszuschließen.“

11.      Die französische Regierung nennt Artikel 2 Absatz 3 der Richtlinie 76/207: „Diese Richtlinie steht nicht den Vorschriften zum Schutz der Frau, insbesondere bei Schwangerschaft und Mutterschaft, entgegen.“

12.      Nach Ansicht der Kommission ist für die Beantwortung der Vorlagefrage Artikel 2 Absatz 4 die zentrale Regelung der Richtlinie 76/207; dieser lautet: „Diese Richtlinie steht nicht den Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit für Männer und Frauen, insbesondere durch Beseitigung der tatsächlich bestehenden Ungleichheiten, die die Chancen der Frauen in den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Bereichen beeinträchtigen, entgegen.“

13.      Unter diesen Voraussetzungen hat das vorlegende Gericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Läuft es den Bestimmungen der Richtlinie 76/207/EWG vom 9. Februar 1976 zuwider, wenn Frankreich die Vorschriften über nicht wiederverheiratete Witwen des Artikels 8 des Gesetzes Nr. 75-3 vom 3. Januar 1975, geändert durch das Gesetz Nr. 79-569 vom 7. Juli 1979 und durch das Gesetz Nr. 2001-397 vom 9. Mai 2001, aufrechterhält?

II – Würdigung

14.      Ich werde zunächst die Anwendbarkeit der Richtlinie 76/207 auf Gesetze wie dasjenige, um das es im vorliegenden Verfahren geht, bestimmen, und dann prüfen, ob ein solches Gesetz durch die Ausnahmen vom Grundsatz der Gleichbehandlung gerechtfertigt werden kann.

A – Anwendbarkeit der Richtlinie 76/207 und Vorliegen einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts

15.      Artikel 8 des maßgeblichen Gesetzes regelt den Zugang zu öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnissen, soweit er bestimmte Gruppen von der Altersgrenze für die Teilnahme an Auswahlverfahren freistellt. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Richtlinie 76/207 auf öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse anwendbar (9) . Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 erfasst ausdrücklich den Zugang zur Beschäftigung. Artikel 8 des maßgeblichen Gesetzes fällt daher in den in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 definierten sachlichen Anwendungsbereich.

16.      Es steht außer Zweifel, dass Artikel 8 des maßgeblichen Gesetzes eine unmittelbare Diskriminierung zwischen nicht wiederverheirateten Witwen und Witwern darstellt. Während Witwen sich auch bei Auswahlverfahren zur Einstellung in der Verwaltung bewerben können, wenn sie die Altersgrenze von 45 Jahren überschritten haben, steht Witwern dieses Recht nicht zu. Dies stellt eindeutig eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bei den Zugangsvoraussetzungen für Stellen in der Verwaltung dar (10) .

17.      Außerdem macht Herr Briheche vor dem Gerichtshof weitere Diskriminierungen geltend und weist darauf hin, dass Artikel 8 des maßgeblichen Gesetzes zu Unrecht zwischen einem nicht wiederverheirateten Witwer mit einem unterhaltsberechtigten Kind und einem unverheirateten Mann oder einer unverheirateten Frau mit einem unterhaltsberechtigten Kind unterscheide, weil nur Letztere von der Altersgrenze von 45 Jahren freigestellt sind. Auch hier lägen für Eltern mit einem unterhaltsberechtigten Kind je nach ihrem Ehestand unterschiedliche Voraussetzungen für den Zugang zur Verwaltung vor. Nur Alleinerziehende, nicht wiederverheiratete Witwen, geschiedene Frauen und aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung getrennt lebende Frauen mit einem unterhaltsberechtigten Kind könnten an den Auswahlverfahren teilnehmen, wenn sie die Schwelle von 45 Jahren überschritten hätten.

18.      Das vorlegende Gericht hat seine Frage auf die Lage von nicht wiederverheirateten Witwern im Vergleich zu der Lage nicht wiederverheirateter Witwen beschränkt. In dieser Hinsicht ist zu bedenken, dass es nach ständiger Rechtsprechung allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen (11) . Der Umfang der Analyse kann daher auf die Frage betreffend die diskriminierende Unterscheidung zwischen nicht wiederverheirateten Witwen und Witwern beschränkt werden.

19.      Man kann hier jedoch feststellen, dass Artikel 8 des maßgeblichen Gesetzes weitere ähnliche Beispiele für Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts enthält. Mütter mit drei oder mehr Kindern, nicht wiederverheiratete geschiedene Frauen sowie aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung getrennt lebende Frauen mit einem unterhaltsberechtigten Kind sind alle in Bezug auf den Zugang zur Verwaltung von der Altersgrenze von 45 Jahren freigestellt, während Männer in derselben Lage (Väter mit drei oder mehr Kindern, nicht wiederverheiratete geschiedene Männer und aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung getrennt lebende Männer mit einem unterhaltsberechtigten Kind) nicht freigestellt sind.

20.      Artikel 8 des maßgeblichen Gesetzes verletzt dadurch, dass er eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts enthält, da er nicht wiederverheirateten Witwen – nicht aber nicht wiederverheirateten Witwern – die Möglichkeit einräumt, an Auswahlverfahren zur Einstellung in die Verwaltung teilzunehmen, Artikel 2 Absatz 1 und 3 Absatz 1 der Richtlinie 76/207.

21.      Fraglich ist, ob eine solche Diskriminierung gerechtfertigt sein könnte.

22.      Die französische Regierung wies in ihren beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen darauf hin, dass eine Reform der Zugangsvoraussetzungen für Auswahlverfahren zur Einstellung in die Verwaltung durchgeführt worden sei, um die vorstehend genannten Diskriminierungen abzuschaffen.

B – Potenzielle Ausnahmen vom Grundsatz der Gleichbehandlung

23.      Die Richtlinie 76/207 sieht drei Ausnahmen vom Grundsatz der Gleichbehandlung vor: wenn das Geschlecht des Arbeitnehmers eine unabdingbare Voraussetzung darstellt (Artikel 2 Absatz 2), wenn Frauen bei Schwangerschaft und Mutterschaft eines Schutzes bedürfen (Artikel 2 Absatz 3) und wenn Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit ergriffen werden (Artikel 2 Absatz 4). Wie sich zeigen wird, ist unter Berücksichtigung der vorliegenden Rechtsprechung des Gerichtshofes hier keine dieser Ausnahmen anwendbar.

24.      Herr Briheche hat unter Berufung auf Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 76/207 geltend gemacht, dass es nicht gerechtfertigt sei, die Stellen in der Verwaltung, um die er sich beworben habe, Frauen vorzubehalten. Aber diese Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung ist nicht einschlägig. Die Französische Republik hat sich nicht auf ihre Anwendbarkeit berufen. Die Auswahlverfahren, die vom Staat für Stellen in der Verwaltung durchgeführt werden, sind nicht Frauen vorbehalten, da sich sowohl Männer als auch Frauen bewerben können. Die Diskriminierung besteht in den Ausnahmen von der in Artikel 8 des maßgeblichen Gesetzes festgesetzten Altersgrenze von 45 Jahren.

25.      Artikel 2 Absatz 3 der Richtlinie 76/207 enthält eine weitere mögliche Ausnahme vom Gleichbehandlungsgrundsatz, der auf den Schutz der Frau, insbesondere bei Schwangerschaft und Mutterschaft, abzielt. Die französische Regierung scheint sich zumindest implizit auf diese Ausnahme zu stützen, wenn sie darauf hinweist, dass das fragliche Gesetz erlassen worden sei, um Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen zu beschränken. Hierzu nimmt sie Bezug auf Studien, wonach Frauen insbesondere in Familien mit Kindern den wesentlichen Teil der Hausarbeiten verrichten. Sie zitiert außerdem Statistiken von Juli 2003, aus denen hervorgehe, dass 10,8 % der Frauen, aber nur 8,7 % der Männer arbeitslos seien. Diese Statistiken sind unbeachtlich für die Anwendung von Artikel 2 Absatz 3 der Richtlinie 76/207. Sie könnten jedoch für die Rechtfertigung von Maßnahmen nach Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie 76/207 von Belang sein.

26.      Wie die französische Regierung selbst einräumt, kann die Ausnahme des Artikels 2 Absatz 3 der Richtlinie 76/207 nach ständiger Rechtsprechung nur zum „Schutz [der] körperlichen Verfassung [der Frau] während und nach der Schwangerschaft bis zu dem Zeitpunkt, in dem sich ihre körperlichen und seelischen Funktionen nach der Entbindung normalisiert haben“ (12) , geltend gemacht werden. Diese Ausnahme ist daher nicht im vorliegenden Fall anwendbar.

27.      Schließlich wäre Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie 76/207 anwendbar, wenn anzunehmen wäre, dass Artikel 8 des maßgeblichen Gesetzes der „Förderung der Chancengleichheit für Männer und Frauen, insbesondere durch Beseitigung der tatsächlich bestehenden Ungleichheiten, die die Chancen der Frauen … beeinträchtigen“, dienen soll.

28.      Den Zweck dieser Bestimmung hat der Gerichtshof als dahin gehend beschrieben, „Maßnahmen zuzulassen, die zwar dem Anschein nach diskriminierend sind, tatsächlich aber in der sozialen Wirklichkeit bestehende faktische Ungleichheiten beseitigen oder verringern sollen. Sie lässt nationale Maßnahmen im Bereich des Zugangs zur Beschäftigung einschließlich des Aufstiegs zu, die Frauen spezifisch begünstigen und ihre Fähigkeit verbessern sollen, im Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen und unter den gleichen Bedingungen wie die Männer eine berufliche Laufbahn zu verfolgen“ (13) .

29.      Während dieser Zweck sehr weit gefasst ist und daher Maßnahmen zur Herstellung einer echten Gleichbehandlung zwischen Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu umfassen scheint, hat der Gerichtshof Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie 76/207 eng ausgelegt und auf das „begrenzte Konzept zur Verwirklichung der Chancengleichheit“ (14) abgestellt.

30.      Es können drei Gruppen von positiven Maßnahmen unterschieden werden (15) . Eine erste Gruppe betrifft Maßnahmen, die keinen unmittelbar diskriminierenden Charakter haben, sondern nur auf eine Verbesserung der Berufsbildung und der Qualifikationen von Frauen abzielen (z. B. Zuteilung von Ausbildungsplätzen an Frauen). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass Chancengleichheit die Bereitstellung von Mitteln voraussetzt, mit denen die individuellen Begabungen der Frauen entfaltet werden können. Eine zweite Gruppe umfasst Maßnahmen, die darauf abzielen, es den Frauen zu ermöglichen, ihre Rolle als Elternteil und ihre Berufstätigkeit besser miteinander zu vereinbaren (wie etwa die Möglichkeit, vom Arbeitgeber angebotene Krippenplätze zu nutzen). Auch Männer können von dieser Art von Maßnahmen profitieren, die neutral als Angebot für Eltern ausgestaltet werden können. Zur dritten Gruppe gehören Maßnahmen, die ebenfalls darauf abzielen, die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu verwirklichen, aber diskriminierenden Charakter haben, weil sie Frauen fördern, um ihre Unterrepräsentation im Berufsleben abzubauen. Die dritte Gruppe schließt Maßnahmen ein, die sich unmittelbar auf die Beschäftigung auswirken, die Frauen bei der Auswahl bevorzugen oder zu erreichende Ziele oder Quoten vorgeben. Die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofes betraf hauptsächlich positive Maßnahmen der dritten Gruppe, bei denen es um die potenzielle Diskriminierung von Männern ging. In den Rechtssachen Badeck und Lommers hatte der Gerichtshof zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen Maßnahmen der ersten und der zweiten Gruppe mit Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie 76/207 vereinbar sind. Bei allen Gruppen positiver Maßnahmen ist eine dreiteilige Prüfung vorzunehmen.

31.      Eine nationale Maßnahme muss, um mit Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie 76/207 vereinbar zu sein, auf die Beseitigung eines bestehenden Ungleichgewichts zwischen Männern und Frauen abzielen. Damit eine positive Maßnahme unter Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie 76/207 fällt, muss daher zunächst dargelegt werden, dass Frauen in einem bestimmten Sektor oder in einer bestimmten Besoldungsgruppe unterrepräsentiert sind. Die Maßnahme zielt also darauf ab, die in diesem Sektor oder in dieser Besoldungsgruppe bestehenden Ungleichheiten zu beseitigen. Denkbar ist auch der Erlass einer positiven Maßnahme im öffentlichen Dienst, um z. B. einen Ausgleich für die Schwierigkeiten zu schaffen, die ältere Frauen im Privatsektor haben. Eine solche Maßnahme der zweiten Art würde jedoch nicht auf die Beseitigung einer Diskriminierung abzielen, sondern auf den Ausgleich für eine Diskriminierung. Jedenfalls kann ohne Nachweise keine Maßnahme, die darauf abzielt, dieser Situation unmittelbar oder mittelbar abzuhelfen, durch Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie 76/207 gerechtfertigt werden.

32.      Zweitens wird der Gerichtshof die Wahrscheinlichkeit prüfen, mit der die Maßnahme in der konkreten Situation Abhilfe schaffen wird. Diese Prüfung der Angemessenheit ist jedoch für Maßnahmen der dritten Gruppe überflüssig, da diese ausdrücklich die Ergebnisse vorschreiben, die mit ihnen erreicht werden sollen.

33.      Schließlich muss die positive Maßnahme so weit wie möglich mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar sein, um nach Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie 76/207 gerechtfertigt zu sein. Danach scheinen Maßnahmen, nach denen automatisch oder absolut Frauen bevorzugt werden, ausgeschlossen und eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme erforderlich zu sein. Eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung wirkt sich je nach der Art der fraglichen Maßnahme und ihrer etwaigen Vereinbarkeit mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz unterschiedlich aus.

34.      In den Rechtssachen Kalanke, Marschall und Badeck hatte der Gerichtshof nationale Rechtsvorschriften zu prüfen, die Bewerberinnen bevorzugten, die über dieselben Qualifikationen wie Bewerber verfügten. In der Rechtssache Badeck entschied der Gerichtshof, dass „eine Maßnahme, nach der weibliche Bewerber in Bereichen des öffentlichen Dienstes, in denen Frauen unterrepräsentiert sind, vorrangig befördert werden sollen, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist,

wenn sie weiblichen Bewerbern, die die gleiche Qualifikation wie ihre männlichen Mitbewerber besitzen, keinen automatischen und unbedingten Vorrang einräumt und

wenn die Bewerbungen Gegenstand einer objektiven Beurteilung sind, bei der die besondere persönliche Lage aller Bewerber berücksichtigt wird“ (16) .

35.      In der Rechtssache Abrahamsson (17) bevorzugten die streitigen nationalen Vorschriften automatisch Bewerberinnen, wenn diese über eine ausreichende Qualifikation verfügten, und zwar allein unter der Bedingung, dass der Unterschied der Verdienste der Bewerber beiderlei Geschlechts nicht so groß war, dass er zu einem Verstoß gegen die Sachgerechtigkeit bei der Einstellung führte. Der Gerichtshof entschied, dass eine solche Maßnahme nach Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie 76/207 ausgeschlossen sei, weil eine solche Auswahl „letztlich allein auf … [der] Zugehörigkeit zum unterrepräsentierten Geschlecht beruht“ (18) . Der Gerichtshof führte jedoch aus, dass bei einer Auswahl Kriterien angewandt werden könnten, die Frauen bevorzugten, wenn diese „in transparenter und nachprüfbarer Weise angewandt werden müssen, um jede willkürliche Beurteilung der Qualifikation der Bewerber auszuschließen“ (19) .

36.      Entsprechend dieser Rechtsprechung hat der EFTA-Gerichtshof in der Rechtssache E‑1/02, EFTA-Überwachungsbehörde gegen Königreich Norwegen (20) , entschieden, dass eine besondere Zuweisung unbefristeter und befristeter Akademikerstellen für Frauen gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoße und nicht als unter die Ausnahmen des Artikels 2 Absatz 4 der Richtlinie 76/207 fallend angesehen werden könne, da sie nicht die erforderliche Flexibilität zur Folge habe und keine Beurteilung der Befähigung der Bewerber vorsehe, sondern männliche Bewerber von den besonders zugewiesenen Stellen automatisch ausschließe.

37.      Jedoch ist zu berücksichtigen, dass die Maßnahmen, die den Rechtssachen Kalanke, Marschall und Abrahamsson zugrunde lagen, zur dritten der oben in Nummer 30 genannten Gruppen gehören (Maßnahmen, die Frauen bei der Auswahl bevorzugen oder zu erreichende Ziele oder Quoten vorgeben). Für Maßnahmen der anderen Gruppen gelten dieselben Prüfkriterien, obwohl die letzte Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit möglicherweise andere Anforderungen stellt, weil diese Maßnahmen keine unmittelbare Diskriminierung beim Zugang zur Beschäftigung darstellen.

38.      In der Rechtssache Lommers betraf die streitige nationale Maßnahme die ausschließliche Zuteilung von Krippenplätzen an weibliche Mitarbeiterinnen des Ministeriums für Landwirtschaft, Landschaftspflege und Fischerei in den Niederlanden, „es sei denn, dass ein Notfall vorliegt, was der Direktor zu beurteilen hat“ (21) . Der Gerichtshof betonte, dass die fragliche Maßnahme Frauen keine Arbeitsplätze vorbehalte, sondern lediglich „die Inanspruchnahme bestimmter Arbeitsbedingungen“ (22) .

39.      Außerdem sei die Zuteilung von Krippenplätzen an weibliche Arbeitnehmerinnen geeignet, die Chancengleichheit für Frauen zu verbessern, da erwiesen sei, dass sie eher als Männer für die Kindererziehung ihr berufliches Fortkommen aufgäben (23) .

40.      Sowohl im Urteil Badeck als auch im Urteil Lommers ging der Gerichtshof besonders darauf ein, dass die fraglichen Maßnahmen nicht zu einem völligen Ausschluss männlicher Bewerber führten (24) . Der Gerichtshof entschied, dass eine Maßnahme diese negative Voraussetzung erfüllen müsse, um mit Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie 76/207 vereinbar zu sein. In der Rechtssache Lommers wies er ausdrücklich darauf hin, dass die in Rede stehende Maßnahme die männlichen Arbeitnehmer nicht vollständig von ihrem Anwendungsbereich ausschließe (25) . Sonst wären die positiven Maßnahmen nicht mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar (26) .

41.      Eine solche Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung wird durch jede Form der automatischen Bevorzugung von Frauen ausgeschlossen und setzt voraus, dass sich die Maßnahmen bei der Abwägung der Vorteile der positiven Maßnahme zur Förderung der Chancengleichheit für Frauen gegenüber den Kosten, die anderen Menschen auferlegt werden, als verhältnismäßig erweisen. Diese Voraussetzungen scheinen erforderlich zu sein, um zu verhindern, dass die Sorge um inhaltliche Gleichheit zwischen Gruppen gegenüber der Gleichheit zwischen Einzelnen überwiegt (27) .

42.      Der Gerichtshof versucht, positive Diskriminierung und den allgemeinen Grundsatz der Gleichbehandlung dadurch miteinander zu vereinbaren, dass Erstere nur insoweit zugelassen wird, als sie nicht zu einer Diskriminierung führt, die eine bestimmte Gruppe auf Kosten bestimmter Individuen bevorzugt: Das Ziel einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern in der Belegschaft rechtfertigt keine Abweichung vom Recht jedes Einzelnen, nicht diskriminiert zu werden. Mit anderen Worten, die Chancengleichheit hat Vorrang vor der Gleichheit der Ergebnisse. Der Gerichtshof geht davon aus, dass positive diskriminierende Maßnahmen nur zugelassen werden können, wenn sie im Einzelfall dazu dienen sollen, Diskriminierung zu verhindern und den Arbeitgeber zu zwingen, Frauen in eine ähnliche Lage wie Männer zu versetzen. Positive diskriminierende Maßnahmen sind so gesehen nur scheinbar diskriminierend. Dies erklärt, warum der Gerichtshof z. B. Maßnahmen zulässt, die darauf abzielen, Beruf und Kinderbetreuung vereinbar zu machen und dadurch Frauen zu bevorzugen, solange diese Maßnahmen sich nicht auf den Zugang zur Beschäftigung beziehen und auf Männer ausgedehnt werden können (28) . Es erklärt auch, warum der Gerichtshof Maßnahmen zulässt, die Frauen in Bezug auf Beschäftigung in gewisser Weise bevorzugen, solange daraus keine automatische Bevorzugung wird, sondern nur ein weiteres Kriterium, das vom Arbeitgeber bei der Stellenvergabe zu berücksichtigen ist. Diese Denkweise, positive Diskriminierung nur insoweit zuzulassen, als sie der Beseitigung potenzieller Diskriminierung dienen kann, kann jedoch leicht den ehrgeizigeren Zielen widersprechen, die bisweilen positiven Maßnahmen („affirmative action“) beigemessen werden. Diese bezwecken oft die Beseitigung oder den Ausgleich der Unterrepräsentierung bestimmter Gesellschaftsgruppen, indem sie diese beim Zugang zu bestimmten sozialen Bereichen bevorzugen.

43.      Die Rechtsprechung des Gerichtshofes bringt dagegen zum Ausdruck, dass Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie 76/207 ausschließlich auf Maßnahmen verweist, die auf die „Beseitigung der tatsächlich bestehenden Ungleichheiten“ abzielen, ohne einen Ausgleich zu erwähnen. Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung lässt der Gerichtshof Formen positiver Diskriminierung nur zu, soweit sie diskriminierende Entscheidungsmechanismen (insbesondere in Bezug auf Beschäftigung) korrigieren helfen können, aber nicht, soweit sie diese ausgleichen sollen.

44.      Im vorliegenden Fall hat die französische Regierung nicht dargelegt, dass Frauen in der Verwaltung, insbesondere in bestimmten Besoldungsgruppen, unterrepräsentiert seien. Überdies unterscheidet Artikel 8 des maßgeblichen Gesetzes nicht einfach zwischen Männern und Frauen, sondern stellt auch auf den Ehestand Einzelner ab. Nicht klar ist auch, warum nicht wiederverheiratete Witwen, nicht wiederverheiratete geschiedene Frauen und aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung getrennt lebende Frauen von anderen Gruppen von Singles zu unterscheiden wären, für die Maßnahmen ergriffen werden müssten. Jedenfalls hat die französische Regierung keinen Beweis erbracht, der solche Erwägungen stützen könnte.

45.      Wie bereits oben ausgeführt wurde, sind Maßnahmen, die unter Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie 76/207 fallen, nur mit dieser Vorschrift vereinbar, wenn sie in Bezug auf das mit ihnen verfolgte Ziel geeignet und angemessen sind. Im vorliegenden Fall ist es mangels des Beweises dafür, dass die Maßnahme dazu dienen soll, eine tatsächlich bestehende Unterrepräsentierung der Frauen zu korrigieren, nicht einmal erforderlich, die Geeignetheit und die Angemessenheit des maßgeblichen Gesetzes in Bezug auf sein Ziel zu prüfen.

46.      Aus diesen Erwägungen folgt, dass keine der Ausnahmen von Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nach Artikel 8 des maßgeblichen Gesetzes rechtfertigen könnte.

47.      Unter diesen Umständen ist es jedoch erforderlich, festzustellen, ob das streitige Gesetz nach Artikel 141 Absatz 4 EG gerechtfertigt sein könnte.

48.      Artikel 141 Absatz 4 EG lässt Maßnahmen „zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn“ zu (29) . Es ist nicht auszuschließen, dass positive Maßnahmen, die nicht unter die Richtlinie 76/207 fallen, nach dieser Bestimmung zulässig sein könnten (30) . Wie ich bereits betont habe, könnte man geltend machen, dass es einen Unterschied zwischen Maßnahmen gibt, die auf die Verringerung von Ungleichheiten abzielen, und Maßnahmen, die auf den Ausgleich für frühere oder tatsächlich bestehende Ungleichheiten für eine soziale Gruppe abzielen. Es ist nicht auszuschließen, dass mit der Bezugnahme auf Zwecke des Ausgleichs in Artikel 141 Absatz 4 EG beabsichtigt wird, den Mitgliedstaaten beim Erlass von positiven diskriminierenden Maßnahmen ein größeres Ermessen einzuräumen. Eine solche Auslegung muss sich jedoch immer innerhalb des nach dem allgemeinen Grundsatz der Gleichbehandlung zulässigen Rahmens bewegen. Mit der Vorlagefrage soll nicht geklärt werden, ob bestimmte Formen positiver Diskriminierung zu einer gleicheren und gerechteren Gesellschaft führen würden, sondern ob sie, wenn sie vom Gesetzgeber erlassen werden, mit dem allgemeinen Grundsatz der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung vereinbar sind (31) .

49.      In dieser Hinsicht ist die Bezugnahme auf einen Ausgleich in Artikel 141 Absatz 4 EG entweder dahin zu verstehen, dass das Erfordernis eines Ausgleichs für frühere oder tatsächlich bestehende soziale Ungleichheiten die Bevorzugung Einzelner in diesen Gruppen um den Preis einer Diskriminierung der Mitglieder der überrepräsentierten Gruppen rechtferigen kann, oder dahin, dass der Erlass von Ausgleichsmaßnahmen im Hinblick darauf erforderlich ist, dass die nichtdiskriminierende Anwendung der geltenden gesellschaftlichen Regelungen zugunsten der Mitglieder der überrepräsentierten Gruppen strukturell voreingenommen ist (32) . Die erste Auslegung lässt das Recht des Einzelnen, nicht diskriminiert zu werden, hinter das Erreichen von Gleichheit zwischen Gruppen zurücktreten, die durch das Ziel gerechtfertigt wird, den Angehörigen der unterrepräsentierten Gruppen einen Ausgleich für Diskriminierungen zu gewähren, die sie in der Vergangenheit erlitten haben. Diese Auslegung ist kaum mit dem Vorrang, den der Gerichtshof der Chancengleichheit einräumt, und mit seinem traditionellen Verständnis des allgemeinen Grundsatzes der Gleichbehandlung vereinbar.

50.      Die zweite Auslegung könnte jedoch leichter mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung, wie er vom Gerichtshof ausgelegt und angewandt wird, vereinbar sein. Nach dieser Ansicht sind nicht gleiche Ergebnisse das Ziel. Auch die Ziele positiver Diskriminierung rechtfertigen nicht unbedingt Diskriminierungen zwischen Einzelnen. Man geht davon aus, dass Maßnahmen, die oft mit inhaltlicher Gleichheit verbunden sind und die Unterrepräsentation bestimmter Gruppen ausgleichen (z. B. Quoten, automatische Bevorzugung), die einzigen sind, die zu effektiver, langfristiger Chancengleichheit führen können. Maßnahmen, die die Angehörigen bestimmter Gruppen bevorzugen, werden daher nicht als Mittel angesehen, um Gleichheit zwischen Gruppen oder gleiche Ergebnisse zu erreichen, sondern vielmehr als ein Instrument, um effektive Chancengleichheit herbeizuführen. Es wird zum Ziel von Ausgleichsmaßnahmen dieser Art, die Chancengleichheit dadurch wiederherzustellen, dass die Auswirkungen der Diskriminierung aufgehoben und die langfristige Maximierung der Chancengleichheit gefördert wird (33) . Ausgleich bezieht sich in diesem Fall darauf, das Gleichgewicht zwischen den Chancen wiederherzustellen, die die Gesellschaft den Angehörigen der verschiedenen Gruppen gibt.

51.      Stützte man die Akzeptierung von Ausgleichsformen der positiven Diskriminierung auf Chancengleichheit anstatt auf gleiche Ergebnisse, würde immer noch der Gleichheit zwischen den Einzelnen gegenüber der Gleichheit zwischen Gruppen der Vorzug gegeben, aber im Gegenzug würden für die Formen ausgleichender positiver Diskriminierung, die nach Artikel 141 Absatz 4 EG zulässig sein könnte, gewisse Grenzen und Voraussetzungen festgelegt. Die Zulässigkeit solcher Formen positiver Diskriminierung wäre z. B. eng mit ihrem Übergangscharakter verbunden (34) . Sonst könnten solche Formen positiver Diskriminierung auf lange Sicht gefestigte Rechte schaffen, selbst wenn die Voraussetzungen, durch die sie ursprünglich gerechtfertigt waren, nicht mehr bestehen. Dies würde folglich dem Ziel, eine langfristige effektive Chancengleichheit zu schaffen, schaden. Weitere Voraussetzungen könnten mit der Art und dem Ausmaß der Last, die den Einzelnen in der überrepräsentierten Gruppe aufgebürdet wird, mit der Wahrscheinlichkeit, dass bessere Chancen für die Angehörigen der unterrepräsentierten Gruppe zu echter Chancengleichheit führen kann, und mit dem Erfordernis verbunden werden, Unterrepräsentierung nicht nur im Allgemeinen aufzuzeigen, sondern in dem spezifischen Sektor oder der spezifischen Einrichtung, in dem oder in der Formen positiver Diskriminierung auftreten.

52.      Im vorliegenden Fall kann eine Vorschrift wie Artikel 8 des maßgeblichen Gesetzes nicht nach Artikel 141 Absatz 4 EG gerechtfertigt werden, da kein Nachweis für das mit ihr verfolgte Ziel erbracht wurde. Daher ist es nicht erforderlich, festzustellen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind.

III – Ergebnis

53.      Folglich ist die Vorlagefrage meines Erachtens wie folgt zu beantworten:

Die Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen und Artikel 141 Absatz 4 EG stehen einer nationalen Bestimmung wie Artikel 8 des französischen Gesetzes Nr. 75‑3 in geänderter Fassung entgegen, soweit diese Bestimmung in diskriminierender Weise zwischen nicht wiederverheirateten Witwen und Witwern in Bezug auf die für sie geltende Altersgrenze für den Zugang zu Stellen in der Verwaltung unterscheidet, ohne auf die Beseitigung bestehender Ungleichheiten oder deren Ausgleich abzuzielen.


1
Originalsprache: Portugiesisch.


2
ABl. L 39, S. 40. Die Richtlinie 76/207 wurde durch die Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207 (ABl. L 269, S. 15) ersetzt. Die neue Regelung ist auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, da sie von den Mitgliedstaaten erst bis spätestens 5. Oktober 2005 umgesetzt werden muss.


3
.Journal Officiel de la République Française (JORF) vom 4. Januar 1975, S. 198.


4
JORF vom 8. Juli 1979.


5
JORF vom 10. Mai 2001, S. 7320.


6
Die Klagen wurden am 28. und 29. März sowie am 19. April 2002 unter den Nrn. 0204512/5, 0204571/5 und 0205683/5 eingetragen.


7
Artikel 5 des Dekrets Nr. 90‑713 vom 1. August 1990 über die auf Verwaltungsassistenten in der staatlichen Verwaltung anwendbaren Rechtsvorschriften: „Das Auswahlverfahren steht Bewerbern offen, die am 1. Januar des Jahres, in dem das Auswahlverfahren stattfindet, das 45. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.“ JORF vom 11. August 1990, S. 9795.


8
Artikel 1 des Dekrets Nr. 75‑765 vom 14. August 1975 betreffend auf die Einstellung von Beamten der Kategorien B, C und D durch Auswahlverfahren anwendbare Altersgrenzen: „Die Altersgrenze … wird auf 45 Jahre festgesetzt, wenn keine spezifischen Regelungen eine höhere Altersgrenze vorsehen.“ JORF vom 19. August 1975.


9
Urteil vom 26. Oktober 1999 in der Rechtssache C‑273/97, Sirdar, Slg. 1999, I‑7403, Randnr. 18, vom 11. Januar 2000 in der Rechtssache C‑285/98, Kreil, Slg. 2000, I‑69, Randnr. 18, und vom 19. März 2002 in der Rechtssache C‑476/99, Lommers, Slg. 2002, I‑2891, Randnr. 25.


10
Obwohl die Richtlinie 76/207 ursprünglich geschaffen wurde, um Diskriminierungen von Frauen zu beseitigen, steht außer Zweifel, dass Männer ebenfalls die Beseitigung von Diskriminierungen verlangen können, von denen sie betroffen sind und die sie gegenüber Frauen benachteiligen.


11
Vgl. u. a. Urteil vom 15. Juni 2000 in der Rechtssache C‑302/98, Sehrer, Slg. 2000, I‑4585, Randnr. 20, vom 20. März 2001 in der Rechtssache C‑33/99, Fahmi, Slg. 2001, I‑2415, Randnr. 28, und vom 8. Mai 2003 in der Rechtssache C‑111/01, Gantner Electronic, Slg. 2003, I‑4207, Randnrn. 34 und 38.


12
Urteile vom 12. Juli 1984 in der Rechtssache 184/83, Hofmann, Slg. 1984, 3047, und vom 30. Juni 1998 in der Rechtssache C‑394/96, Brown, Slg. 1998, I‑4185. Vgl. in analoger Anwendung auch Urteil vom 29. November 2001 in der Rechtssache C‑366/99, Griesmar, Slg. 2001, I‑9383, Randnrn. 43 und 44, wobei die Prüfung dort anhand von Artikel 141 EG vorgenommen wird.


13
Urteil Lommers, Randnr. 32. Vgl. auch Urteile vom 17. Oktober 1995 in der Rechtssache C‑450/93, Kalanke, Slg. 1995, I‑3051, Randnrn. 18 und 19, vom 11. November 1997 in der Rechtssache C‑409/95, Marschall, Slg. 1997, I‑6363, Randnrn. 26 und 27, und vom 28. März 2000 in der Rechtssache C‑158/97, Badeck u. a., Slg. 2000, I‑1875, Randnr. 19.


14
Urteil Lommers, Randnr. 33.


15
Eine ähnliche Unterscheidung wurde bereits in Nr. 9 der Schlussanträge von Generalanwalt Tesauro in der Rechtssache Kalanke vorgeschlagen.


16
Randnr. 23. Vgl. auch Rechtssache E‑1/02, EFTA-Überwachungsbehörde gegen Königreich Norwegen, EFTA Court Report 2003, 1, Randnr. 15.


17
Urteil vom 6. Juli 2000 in der Rechtssache C‑407/98, Abrahamsson und Anderson, Slg. 2000, I‑5539.


18
Abrahamsson, Randnr. 53.


19
Abrahamsson, Randnr. 49.


20
Oben zitiert.


21
Lommers, Randnr. 11.


22
Lommers, Randnr. 38.


23
Lommers, Randnr. 37.


24
Badeck, Randnr. 53; Lommers, Randnrn. 44 und 45.


25
Lommers, Randnr. 45.


26
Lommers, Randnr. 39, und EFTA-Überwachungsbehörde gegen Königreich Norwegen, Randnr. 43.


27
Für eine kritische Analyse des der Gleichheit zwischen Einzelnen gegebenen Vorzugs, vgl. Freeman, S., Social Law and Policy in an evolving European Union, Shaw, J., (Hrsg.), 2000, S. 189; Haquet, A., L’action positive, instrument de l’égalité des chances entre hommes et femmes, RTDE, 2001, S. 305; Prechal, S., Equality of Treatment, Non-Discrimination and Social Policy: Achievements in Three Themes, CMLRev., 2004, S. 533.


28
Badeck, Randnr. 53; Lommers, Randnrn. 44 und 45.


29
Das Wort „Ausgleich“ wurde durch den Vertrag von Amsterdam eingeführt.


30
Wie der Gerichtshof in der Rechtssache Abrahamsson, Randnr. 54, anerkannte.


31
Bei der Beurteilung der Entscheidungen des nationalen Gesetzgebers muss der Gerichtshof auch berücksichtigen, dass das Zulassen einer gewissen Vielfalt der nationalen politischen Entscheidungen auf einem in Bezug auf die genauen Auswirkungen und Vorteile positiver diskriminierender Maßnahmen sehr unsicheren und viel diskutierten Gebiet für einen nützlichen Grad des Ausprobierens und Lernens zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten sorgen kann. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, ob die Mitglieder der überrepräsentierten Gruppe in den Fällen, in denen positive diskriminierende Maßnahmen ergriffen werden, im politischen Prozess ausreichend vertreten und daran so beteiligt sind, dass sie ihre Ansichten zum Ausdruck bringen können.


32
Das ist der Kern der Kritik an der formalen Gleichheit, die angeblich die in der Gesellschaft bestehende Diskriminierung verstärkt.


33
In dieser Hinsicht können zwei wesentliche Gründe genannt werden. Zum einen wird positive Diskriminierung einfach als eine derartige Verbesserung der Chancen von Diskriminierungsopfern angesehen, dass sie dadurch so gestellt werden, wie sie ohne die Diskriminierung stünden. Zweitens geht man davon aus, dass positive Diskriminierung das einzige effektive Mittel ist, um die richtigen Anreize für die unterrepräsentierten Gruppen zu schaffen, in menschliches Kapital zu investieren (Durchbrechen des Diskriminierungskreislaufs) und Marktversagen anzuvisieren (soziale Monopole und Kosten für Information), die durch die Verstärkung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskriminierung verhindern, dass die Besten ausgewählt werden. Es ist zu beachten, dass die Kausalität zwischen diesen Gründen und den Folgen positiver Diskriminierung oft bestritten wird und Gegenstand vieler alternativer Strategien ist. Es ist jedoch nicht Sache des Gerichtshofes, die Vorzüge dieser Politiken zu beurteilen, sondern ihm obliegt lediglich die Beurteilung, ob und inwieweit sie mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar sind.


34
Dies kann durch Begrenzungsklauseln oder das Erfordernis einer periodischen Neubewertung der Gesetze erfolgen.