URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

21. Februar 2018 ( *1 )

„Rechtsmittel – Nichtigkeitsklage – Art. 263 Abs. 6 AEUV – Zulässigkeit – Klagefrist – Berechnung – Ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments – Beschluss über die Rückforderung der Zulage für parlamentarische Assistenz – Durchführungsbestimmungen zum Abgeordnetenstatut des Parlaments – Art. 72 – Beschwerdeverfahren innerhalb des Parlaments – Mitteilung der beschwerenden Entscheidung – Vom Empfänger nicht abgeholtes Einschreiben“

In der Rechtssache C‑326/16 P

betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 9. Juni 2016,

LL, Prozessbevollmächtigter: J. Petrulionis, advokatas,

Rechtsmittelführer,

andere Partei des Verfahrens:

Europäisches Parlament, vertreten durch G. Corstens und S. Toliušis als Bevollmächtigte,

Beklagter im ersten Rechtszug,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger (Berichterstatterin) und des Richters F. Biltgen,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. Mai 2017,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Juli 2017

folgendes

Urteil

1

Mit seinem Rechtsmittel beantragt der Rechtsmittelführer, der ehemalige Abgeordnete des Europäischen Parlaments LL, den Beschluss des Gerichts der Europäischen Union vom 19. April 2016, LL/Parlament (T‑615/15, nicht veröffentlicht, im Folgenden: angefochtener Beschluss, EU:T:2016:432), aufzuheben, mit dem dieses seine Klage, die u. a. auf Nichtigerklärung des Beschlusses des Parlaments vom 17. April 2014 über die Rückforderung einer Zulage für parlamentarische Assistenz gerichtet war, die während seines Parlamentsmandats an den Rechtsmittelführer gezahlt worden war (im Folgenden: streitiger Beschluss), wegen Verspätung als offensichtlich unzulässig abgewiesen hat.

Rechtlicher Rahmen

2

Der Beschluss des Präsidiums des Europäischen Parlaments vom 19. Mai und 9. Juli 2008 mit Durchführungsbestimmungen zum Abgeordnetenstatut des Europäischen Parlaments (ABl. 2009, C 159, S. 1) in seiner ab dem 21. Oktober 2010 geltenden Fassung (ABl. 2010, C 283, S. 9) (im Folgenden: Durchführungsbestimmungen zum Statut) sieht in Abs. 1 seines Art. 68 („Rückforderung zu viel gezahlter Beträge“) vor:

„Alle gemäß diesen Durchführungsbestimmungen zu Unrecht ausgezahlten Beträge können zurückgefordert werden. Der Generalsekretär erteilt Anweisungen zur Rückforderung dieser Beträge von den betroffenen Abgeordneten.“

3

Art. 72 („Beschwerde“) der Durchführungsbestimmungen zum Statut bestimmt:

„(1)   Ein Abgeordneter, der die Auffassung vertritt, dass die vorliegenden Durchführungsbestimmungen, was ihn betrifft, von der zuständigen Dienststelle nicht korrekt angewandt wurden, kann eine schriftliche Beschwerde an den Generalsekretär richten.

Die Gründe, auf die sich die Entscheidung des Generalsekretärs über die Beschwerde stützt, sind anzugeben.

(2)   Ein Abgeordneter, der mit der Entscheidung des Generalsekretärs nicht einverstanden ist, kann innerhalb von zwei Monaten nach Mitteilung der Entscheidung des Generalsekretärs beantragen, dass die Quästoren mit der betreffenden Angelegenheit befasst werden. Diese treffen nach Stellungnahme des Generalsekretärs eine Entscheidung.

(3)   Ist eine Partei im Beschwerdeverfahren mit der Entscheidung der Quästoren nicht einverstanden, kann der oder die Betreffende innerhalb von zwei Monaten nach der Mitteilung der Entscheidung der Quästoren beantragen, dass das Präsidium mit der Angelegenheit befasst wird, das dann eine endgültige Entscheidung trifft.

(4)   Dieser Artikel gilt auch für den Rechtsnachfolger des Abgeordneten sowie für ehemalige Abgeordnete und deren Rechtsnachfolger.“

Vorgeschichte des Rechtsstreits und streitiger Beschluss

4

Der Rechtsmittelführer war vom 1. Mai bis zum 19. Juli 2004 Abgeordneter des Europäischen Parlaments.

5

Infolge einer Untersuchung des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF), bei der festgestellt wurde, dass an den Rechtsmittelführer zu Unrecht eine Zulage für parlamentarische Assistenz in Höhe von 37728 Euro gezahlt worden war, erließ der Generalsekretär des Parlaments am17. April 2014 den streitigen Beschluss über die Rückforderung dieses Betrags. Am 22. Mai 2014 wurden dem Rechtsmittelführer dieser Beschluss und eine die Rückforderungsmodalitäten enthaltende Zahlungsaufforderung vom 5. Mai 2014 zugestellt.

6

Da der Rechtsmittelführer mit dem streitigen Beschluss nicht einverstanden war, rief er nach Art. 72 Abs. 2 der Durchführungsbestimmungen zum Statut die Quästoren an.

7

Mit Schreiben der Quästoren vom 3. Dezember 2014 (im Folgenden: Entscheidung der Quästoren) wurde der Rechtsmittelführer über die Zurückweisung seiner Beschwerde in Kenntnis gesetzt. Er gab an, am darauffolgenden Tag hiervon Kenntnis erlangt zu haben.

8

Am 2. Februar 2015 legte der Rechtsmittelführer gemäß Art. 72 Abs. 3 der Durchführungsbestimmungen zum Statut gegen die Entscheidung der Quästoren und gegen den streitigen Beschluss beim Präsidium des Parlaments Beschwerde ein.

9

Das Präsidium des Parlaments wies die Beschwerde des Rechtsmittelführers mit Beschluss vom 26. Juni 2015 zurück (im Folgenden: Beschluss des Präsidiums).

10

Dem Parlament zufolge wurde dieser Beschluss am 30. Juni 2015 per Einschreiben an die Anschrift gesandt, die der Rechtsmittelführer in seiner Beschwerde beim Präsidium angegeben hatte. Nach einer Aufbewahrungsfrist von 15 Tagen wurde dieses Schreiben von der belgischen Post zurückgesandt, ohne von dem Rechtsmittelführer abgeholt worden zu sein.

11

Am 10. September 2015 erhielt der Rechtsmittelführer eine E‑Mail von einem Beamten des Parlaments, der u. a. der Beschluss des Präsidiums beigefügt war.

Verfahren vor dem Gericht und angefochtener Beschluss

12

Mit Klageschrift, die am 4. November 2015 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob der Rechtsmittelführer Klage auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses sowie der Zahlungsaufforderung vom 5. Mai 2014 und auf Verurteilung des Parlaments zur Tragung der Kosten.

13

Der Rechtsmittelführer stützte seine Klage auf zwei Klagegründe, nämlich erstens auf die Rechtswidrigkeit und Unbegründetheit des streitigen Beschlusses, der Entscheidung der Quästoren, des Beschlusses des Präsidiums sowie der Zahlungsaufforderung und zweitens auf die Verkennung der Verjährungsfrist und der Grundsätze der angemessenen Frist, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes beim Erlass des streitigen Beschlusses und der Zahlungsaufforderung.

14

In dem angefochtenen Beschluss wies das Gericht darauf hin, dass die Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 Abs. 6 AEUV binnen zwei Monaten zu erheben sei; diese Frist laufe je nach Lage des Falles von der Bekanntgabe der angefochtenen Handlung, von ihrer Mitteilung an den Kläger oder in Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an, zu dem der Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt habe. Es betonte, dass diese Klagefrist zwingendes Recht darstelle, und stellte in den Rn. 7 und 8 des angefochtenen Beschlusses fest, dass die angefochtenen Handlungen am 17. April bzw. am 5. Mai 2014 erlassen und dem Rechtsmittelführer am 22. Mai 2014 mitgeteilt worden seien, während die Klage über 17 Monate nach diesem letztgenannten Zeitpunkt erhoben worden sei, ohne dass der Rechtsmittelführer das Vorliegen eines Zufalls oder eines Falles höherer Gewalt geltend gemacht hätte. Folglich wies das Gericht die Klage wegen Verspätung als offensichtlich unzulässig ab.

Anträge der Parteien

15

Der Rechtsmittelführer beantragt,

den angefochtenen Beschluss aufzuheben und

die Rechtssache zur erneuten Prüfung an das Gericht zurückzuverweisen.

16

Das Parlament beantragt,

das Rechtsmittel als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen und

dem Rechtsmittelführer die Kosten des Rechtsmittelverfahrens aufzuerlegen.

Zum Rechtsmittel

17

Der Rechtsmittelführer trägt vier Rechtsmittelgründe vor. Mit seinem ersten Rechtsmittelgrund macht er eine unzureichende Prüfung der Akte durch das Gericht und eine rechtsfehlerhafte Anwendung von Art. 263 Abs. 6 AEUV und von Art. 72 der Durchführungsbestimmungen zum Statut geltend. Mit seinem zweiten Rechtsmittelgrund rügt er, das Gericht habe gegen Art. 126 seiner Verfahrensordnung verstoßen. Mit dem dritten Rechtsmittelgrund macht er geltend, das Gericht habe gegen Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßen. Mit seinem vierten Rechtsmittelgrund rügt der Rechtsmittelführer schließlich, das Gericht habe gegen Art. 133 und Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts verstoßen, indem es entschieden habe, dass der Rechtsmittelführer seine eigenen Kosten trage.

Zum ersten Rechtsmittelgrund

Vorbringen der Parteien

18

Der erste Rechtsmittelgrund besteht aus zwei Teilen.

19

Mit dem ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes beanstandet der Rechtsmittelführer im Wesentlichen, das Gericht habe nicht alle zur Stützung der Klage vorgebrachten Beweise erschöpfend geprüft, da es nicht berücksichtigt habe, dass der Rechtsmittelführer das in Art. 72 der Durchführungsbestimmungen zum Statut vorgesehene Beschwerdeverfahren eingeleitet habe.

20

Mit dem zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes rügt der Rechtsmittelführer, das Gericht habe gegen Art. 263 Abs. 6 AEUV und gegen Art. 72 der Durchführungsbestimmungen zum Statut verstoßen, da aus dem angefochtenen Beschluss implizit hervorgehe, dass die Berufung auf das in Art. 72 vorgesehene Beschwerdeverfahren keine Auswirkung auf die Berechnung der Klagefrist nach Art. 263 AEUV habe. Dem Rechtsmittelführer zufolge stellt dieses Verfahren jedoch ein zwingendes Vorverfahren dar.

21

Das Parlament macht u. a. geltend, das fragliche Verfahren sei im Gegensatz zu der Beschwerde nach den Art. 90 und 91 des Statuts der Beamten der Europäischen Union freiwillig. Habe sich der Kläger einmal für das Verfahren nach Art. 72 der Durchführungsbestimmungen zum Statut entschieden, könne er gegen den streitigen Beschluss keine gerichtliche Klage mehr erheben, sondern sei verpflichtet, den Ausgang des Beschwerdeverfahrens abzuwarten und gegebenenfalls den Beschluss des Präsidiums anzufechten.

22

Hinsichtlich der Berechnung der Klagefrist macht das Parlament geltend, dass der Rechtsmittelführer sowohl vor dem Gericht als auch in seinem Rechtsmittel nicht die Nichtigerklärung des Beschlusses des Präsidiums, sondern die des streitigen Beschlusses und der Zahlungsaufforderung beantrage. Daraus folge, dass das Gericht verpflichtet gewesen sei, die Klage als verspätet abzuweisen, da die ab dem Tag der Zustellung des streitigen Beschlusses und der Zahlungsaufforderung berechnete Klagefrist nach Art. 263 Abs. 6 AEUV um mehr als 17 Monate überschritten gewesen sei.

Würdigung durch den Gerichtshof

23

Mit dem zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes, der zuerst zu prüfen ist, wird eine rechtsfehlerhafte Anwendung von Art. 263 Abs. 6 AEUV und Art. 72 der Durchführungsbestimmungen zum Statut gerügt, da der angefochtene Beschluss auf der Prämisse beruhe, dass die Einleitung des in Art. 72 vorgesehenen Verfahrens keine Auswirkung auf die Berechnung der Klagefrist im Sinne der erstgenannten Bestimmung habe.

24

Was das Beschwerdeverfahren nach Art. 72 der Durchführungsbestimmungen zum Statut angeht, ist zunächst festzuhalten, dass aus dem Wortlaut dieses Artikels hervorgeht, dass das dort vorgesehene Verfahren freiwillig ist.

25

In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass ein Rechtsbehelf auf Verwaltungsebene, sei er freiwillig oder nicht, eine gütliche Beilegung des zwischen dem Betroffenen und der Verwaltung entstandenen Streits ermöglichen und fördern soll (vgl. entsprechend Urteile vom 23. Januar 1986, Rasmussen/Kommission, 173/84, EU:C:1986:29, Rn. 12, sowie vom 7. Mai 1986, Rihoux u. a./Kommission, 52/85, EU:C:1986:199, Rn. 12 und die dort angeführte Rechtsprechung), um ein Gerichtsverfahren zu vermeiden, wie der Generalanwalt in den Nrn. 35 und 36 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat.

26

Ob ein Verwaltungsrechtsbehelf freiwillig oder zwingend ist, hat daher keine Auswirkungen auf die Tatsache, dass ein vorgelagertes Verwaltungsverfahren einen vorgerichtlichen Rechtsbehelf darstellt. Wie der Generalanwalt in Nr. 42 seiner Schlussanträge dargelegt hat, genügt nämlich in Bezug auf das Vorbringen des Parlaments, die Verwaltung des Parlaments unterliege anders als im Fall einer Beschwerde nach dem Statut der Beamten der Europäischen Union keiner Antwortfrist, der Hinweis, dass Letzteres eine erforderliche Garantie im Fall eines zwingenden Verwaltungsrechtsbehelfs beinhaltet, um zu vermeiden, dass es zu Verzögerungen oder sogar dazu kommt, dass der Betreffende infolge einer Untätigkeit der Verwaltung keine gerichtliche Klage erheben kann. Hingegen kann das Fehlen einer solchen Frist im Rahmen eines freiwilligen Verwaltungsverfahrens den Zugang zum Gericht nicht beschränken, da der Betreffende jederzeit von der Weiterbetreibung dieses Verfahrens absehen und eine gerichtliche Klage erheben kann.

27

In dieser Hinsicht ist zu betonen, dass das Beschwerdeverfahren seiner praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn der Europaabgeordnete, nachdem er von dieser Möglichkeit zum Zweck einer gütlichen Beilegung Gebrauch gemacht hat, vor Abschluss dieses Verwaltungsverfahrens eine gerichtliche Klage erheben müsste, um die Frist für eine Klage gegen den streitigen Beschluss einzuhalten.

28

Somit hat das Gericht einen Rechtsfehler begangen, indem es die Verspätung der Klage festgestellt hat, ohne dem von dem Rechtsmittelführer angestrengten Beschwerdeverfahren Rechnung zu tragen.

29

Ohne dass es notwendig wäre, über den ersten Teil dieses Rechtsmittelgrundes oder über die weiteren Rechtsmittelgründe zu entscheiden, ist folglich dem ersten Rechtsmittelgrund stattzugeben und der angefochtene Beschluss aufzuheben.

Zur Zulässigkeit der Klage

30

Nach Art. 61 Abs. 1 Satz 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann der Gerichtshof im Fall der Aufhebung der Entscheidung des Gerichts den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn er zur Entscheidung reif ist.

31

Der Gerichtshof ist in diesem Stadium des Verfahrens nicht in der Lage, über die Begründetheit der bei dem Gericht erhobenen Klage zu entscheiden, was die Prüfung von Tatsachenfragen auf der Grundlage von Angaben erfordert, die weder vom Gericht beurteilt noch vor dem Gerichtshof erörtert wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juli 2008, Athinaïki Techniki/Kommission, C‑521/06 P, EU:C:2008:422, Rn. 66).

32

Hingegen verfügt der Gerichtshof über die erforderlichen Angaben, um endgültig über die Zulässigkeit dieser Klage gegen den streitigen Beschluss zu entscheiden (Urteil vom 27. Februar 2014, Stichting Woonpunt u. a./Kommission, C‑132/12 P, EU:C:2014:100, Rn. 66).

33

Was als Erstes die Berechnung der Klagefrist angeht, so hat das Parlament vorliegend die Ansicht vertreten, dass ein Europaabgeordneter, der sich für das Beschwerdeverfahren nach Art. 72 der Durchführungsbestimmungen zum Statut entscheide, um einen Beschluss anzufechten, gegen diesen Beschluss keine gerichtliche Klage mehr erheben könne, sondern den Beschluss des Präsidiums anfechten müsse, mit dem die Beschwerde zurückgewiesen worden sei.

34

Ob ein Verwaltungsrechtsbehelf freiwillig oder zwingend ist, hat jedoch, wie sich aus Rn. 26 des vorliegenden Urteils ergibt, weder Auswirkungen auf die Tatsache, dass ein vorgelagertes Verwaltungsverfahren einen vorgerichtlichen Rechtsbehelf darstellt, noch auf das Recht des Betreffenden, jederzeit eine gerichtliche Klage zu erheben.

35

Daher kann die Einleitung eines Beschwerdeverfahrens nach Art. 72 der Durchführungsbestimmungen zum Statut insbesondere angesichts des Rechts auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nicht das Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen den streitigen Beschluss beeinträchtigen.

36

Außerdem ist hervorzuheben, dass der Gerichtshof im Rahmen des Beschwerdeverfahrens nach den Art. 90 und 91 des Statuts der Beamten der Europäischen Union entschieden hat, dass die Verwaltungsbeschwerde und ihre ausdrückliche oder stillschweigende Zurückweisung Bestandteil eines vielschichtigen Verfahrens sind. Unter diesen Umständen bewirkt die Klageerhebung beim Gerichtshof, selbst wenn sie formal gegen die Zurückweisung der Beschwerde gerichtet ist, dass der Gerichtshof mit der beschwerenden Maßnahme befasst wird, gegen die die Beschwerde gerichtet ist (Urteil vom 17. Januar 1989, Vainker/Parlament, 293/87, EU:C:1989:8, Rn. 7 und 8).

37

Überdies hat der Gerichtshof in Bezug auf das Statut der Beamten der Europäischen Union für Recht erkannt, dass eine Klage unabhängig davon zulässig ist, ob sie nur gegen die Entscheidung gerichtet ist, die Gegenstand der Beschwerde war, gegen die Entscheidung, mit der die Beschwerde zurückgewiesen wurde, oder gegen diese beiden Entscheidungen zusammen, vorausgesetzt, dass die Beschwerde und die Klage innerhalb der in den oben angeführten Artikeln vorgesehenen Fristen eingereicht wurden (Urteile vom 26. Januar 1989, Koutchoumoff/Kommission, 224/87, EU:C:1989:38, Rn. 7, und vom 10. März 1989, Del Plato/Kommission, 126/87, EU:C:1989:115, Rn. 9).

38

Jedoch kann der Richter nach dem Grundsatz der Verfahrensökonomie entscheiden, dass über die Anträge, die sich gegen die Entscheidung richten, mit der die Beschwerde zurückgewiesen wird, nicht eigens zu entscheiden ist, wenn er feststellt, dass diese Anträge keinen eigenständigen Gehalt haben und in Wirklichkeit mit den Anträgen zusammenfallen, die sich gegen die Entscheidung richten, gegen die die Beschwerde eingelegt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Januar 1989, Vainker/Parlament, 293/87, EU:C:1989:8, Rn. 7 bis 9).

39

Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Richter feststellt, dass die Entscheidung, mit der die Beschwerde zurückgewiesen wird, auch wenn diese Entscheidung implizit erfolgt, lediglich eine Bestätigung der Entscheidung darstellt, die Gegenstand der Beschwerde ist, und sich daher die Aufhebung der Entscheidung, mit der die Beschwerde zurückgewiesen wird, nicht anders auf die Rechtslage der betroffenen Person auswirkt als die Aufhebung der Entscheidung, die Gegenstand der Beschwerde ist.

40

Wie der Generalanwalt in Nr. 40 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, gelten die gleichen Erwägungen im Rahmen des Beschwerdeverfahrens, das gemäß Art. 72 der Durchführungsbestimmungen zum Statut für Europaabgeordnete vorgesehen ist.

41

Folglich hat das Gericht, indem es den streitigen Beschluss und nicht den Beschluss des Präsidiums als Ausgangspunkt der Frist für die Erhebung der Nichtigkeitsklage genommen hat, die Klage von Herrn LL zu Unrecht wegen Verspätung als offensichtlich unzulässig abgewiesen.

42

Zum einen war der Rechtsmittelführer nämlich, wie aus den dem Gerichtshof u. a. in der mündlichen Verhandlung unterbreiteten Angaben hervorgeht, nur summarisch über die Zurückweisung seiner Beschwerden durch die Entscheidung der Quästoren und den Beschluss des Präsidiums informiert worden, da diese Entscheidungen lediglich den streitigen Beschluss bestätigten und seine Rechtslage im Vergleich zu der aus dem streitigen Beschluss folgenden Rechtslage nicht veränderten.

43

Zum anderen ist in Anbetracht der Erwägungen in den Rn. 34 und 35 des vorliegenden Urteils festzustellen, dass die Frist für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage für den Rechtsmittelführer erst am Tag der Mitteilung des Beschlusses des Präsidiums, mit dem das Beschwerdeverfahren nach Art. 72 der Durchführungsbestimmungen zum Statut abgeschlossen wurde, zu laufen begann.

44

Aus der Klageschrift im Verfahren vor dem Gericht ergibt sich jedenfalls, dass der Rechtsmittelführer auch gegen die Entscheidung der Quästoren und den Beschluss des Präsidiums vorgegangen ist.

45

Was als Zweites die Mitteilung des Beschlusses des Präsidiums angeht, ist erstens darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 297 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV Beschlüsse, die an einen bestimmten Adressaten gerichtet sind, diesem Adressaten bekannt zu geben sind und durch diese Bekanntgabe wirksam werden, wobei der Begriff „Bekanntgabe“ in dieser Bestimmung nicht definiert wird.

46

Wie der Generalanwalt in Nr. 59 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, legt diese Bestimmung einen Grundsatz der Rechtssicherheit fest, aus dem sich ergibt, dass die Rechte und Pflichten, die sich aus einem individuellen Verwaltungsakt ergeben, seinem Empfänger nicht entgegengehalten werden können, solange dieser Rechtsakt diesem Empfänger nicht ordnungsgemäß zur Kenntnis gebracht worden ist.

47

Zweitens geht aus Art. 263 Abs. 6 AEUV hervor, dass die Nichtigkeitsklage binnen zwei Monaten zu erheben ist, wobei diese Frist im Fall einer Handlung, die mitzuteilen ist, von ihrer Mitteilung an den Kläger oder in Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an läuft, zu dem der Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt hat. Wie der Begriff „Bekanntgabe“ in Art. 297 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV ist der Begriff „Mitteilung“ in dieser Bestimmung nicht definiert. Nach Art. 60 der Verfahrensordnung des Gerichts wird diese Frist um eine pauschale Entfernungsfrist von zehn Tagen verlängert.

48

Hinsichtlich der Ordnungsmäßigkeit der Mitteilung von Handlungen der Union hat der Gerichtshof klargestellt, dass eine Entscheidung ordnungsgemäß nach Art. 263 Abs. 6 mitgeteilt bzw. nach Art. 297 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV bekannt gegeben wurde, wenn sie ihrem Empfänger übermittelt wurde und dieser in die Lage versetzt wurde, davon Kenntnis zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 1989, Olbrechts/Kommission, 58/88, EU:C:1989:323, Rn. 10, und Beschluss vom 2. Oktober 2014, Page Protective Services/EAD, C‑501/13 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2259, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Partei, die sich auf die verspätete Einreichung der Klageschrift beruft, nachweisen muss, ab welchem Tag die Klagefrist zu laufen begann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 1980, Belfiore/Kommission, 108/79, EU:C:1980:146, Rn. 7, und vom 17. Juli 2008, Athinaïki Techniki/Kommission, C‑521/06 P, EU:C:2008:422, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50

Vorliegend betont das Parlament, der Rechtsmittelführer sei über den Beschluss des Präsidiums mit Schreiben vom 26. Juni 2015 informiert worden, das ihm per Einschreiben mit Rückschein zugesandt worden sei, für das die belgische Post am 30. Juni 2015 einen Benachrichtigungsschein hinterlegt habe. Nach den nationalen Regeln über Postzustellungen sei dieses Schreiben, da es von dem Rechtsmittelführer nicht innerhalb der normalen von der belgischen Post angewandten Aufbewahrungsfrist von 15 Tagen abgeholt worden sei, nach Ablauf dieser Frist als seinem Empfänger ordnungsgemäß zugestellt anzusehen.

51

In diesem Zusammenhang ist unstreitig, dass der Rechtsmittelführer das in Rede stehende Schreiben nicht erhalten hat, da es an seinen Absender zurückgesandt wurde, ohne vom Rechtsmittelführer abgeholt worden zu sein.

52

Indessen hat der Rechtsmittelführer in seiner Beschwerde neben seiner Anschrift seine E‑Mail-Adresse angegeben, unter der er am 10. September 2015 eine E‑Mail von einem Beamten des Parlaments erhalten hat, der u. a. der Beschluss des Präsidiums beigefügt war. Der Rechtsmittelführer hat den Empfang dieser E‑Mail unverzüglich bestätigt.

53

Das Parlament hat daher zu Unrecht vorgetragen, dass die Mitteilung vorliegend nur durch die Versendung des Einschreibens vorgenommen wurde, auch wenn dieses innerhalb der von der belgischen Post gewährten Frist nicht abgeholt wurde.

54

Unerheblich ist auch das Vorbringen des Parlaments, das in Rede stehende Schreiben sei an die in der Beschwerde des Rechtsmittelführers genannte belgische Adresse gesandt worden, und dieser habe weder das Parlament über einen Umzug in sein Herkunftsland informiert noch die Post an seine neue Anschrift weiterleiten lassen – was umso mehr gilt, als, selbst wenn es eine Pflicht zur Mitteilung dieser Anschriftsänderung geben sollte, die Rechtsfolgen der Unterlassung, dies zu tun, nicht festgelegt sind.

55

In der vorliegenden Rechtssache ist nämlich festzustellen, dass das Parlament den streitigen Beschluss auch per E‑Mail vom 10. September 2015 mitgeteilt hat, so dass die Frist von zwei Monaten und zehn Tagen für den Rechtsmittelführer erst zu dem Zeitpunkt zu laufen beginnen konnte, als dieser volle Kenntnis von diesem Beschluss erlangt hat.

56

Da das Parlament keinen Beweis dafür erbringt, dass der Rechtsmittelführer vor dem Empfang der E‑Mail volle Kenntnis von dem streitigen Beschluss hatte, lief die Frist von zwei Monaten und zehn Tagen erst ab dem 10. September 2015. Die Erhebung der Klage am 4. November 2015 war damit nicht verspätet.

Kosten

57

Da die Sache an das Gericht zurückverwiesen wird, ist die Entscheidung über die Kosten des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens vorzubehalten.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Der Beschluss des Gerichts der Europäischen Union vom 19. April 2016, LL/Parlament (T‑615/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:432), wird aufgehoben.

 

2.

Die Sache wird zur Entscheidung über die Begründetheit an das Gericht der Europäischen Union zurückverwiesen.

 

3.

Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Litauisch.