URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

18. Dezember 2014 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 — Richtlinie 2004/83/EU — Mindestnormen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus — Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz — Art. 15 Buchst. b — Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland — Art. 3 — Günstigere Normen — An einer schweren Krankheit leidender Antragsteller — Nichtverfügbarkeit einer angemessenen Behandlung im Herkunftsland — Richtlinie 2008/115/EU — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Art. 13 — Gerichtlicher Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung — Art. 14 — Garantien bis zur Rückkehr — Grundbedürfnisse“

In der Rechtssache C‑562/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour du travail de Bruxelles (Belgien) mit Entscheidung vom 25. Oktober 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Oktober 2013, in dem Verfahren

Centre public d’action sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve

gegen

Moussa Abdida

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen (Berichterstatter), T. von Danwitz und J.‑C. Bonichot, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Richter A. Rosas, E. Juhász und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan und D. Šváby sowie der Richterinnen M. Berger und A. Prechal,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Juni 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

des Centre public d’action sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve, vertreten durch V. Vander Geeten, avocat,

von Herrn Abdida, vertreten durch O. Stein, avocat,

der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und T. Materne als Bevollmächtigte im Beistand von J.‑J. Masquelin, D. Matray, J. Matray, C. Piront und N. Schynts, avocats,

der französischen Regierung, vertreten durch F.‑X. Bréchot und D. Colas als Bevollmächtigte,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Banner, Barrister,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und R. Troosters als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. September 2014

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31, S. 18), der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, und – Berichtigung – ABl. 2005, L 204, S. 24), der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13, und – Berichtigung – ABl. 2006, L 236, S. 36) und der Art. 1 bis 4, des Art. 19 Abs. 2 sowie der Art. 20, 21 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Centre public d’action sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve (öffentliches Sozialhilfezentrum Ottignies-Louvain-la-Neuve, im Folgenden: CPAS) und Herrn Abdida, einem nigerianischen Staatsangehörigen, wegen der von dieser Stelle gegenüber Herrn Abdida erlassenen Entscheidung über den Entzug der Sozialhilfe.

Rechtlicher Rahmen

Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten

3

Die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sieht in Art. 3 („Verbot der Folter“) vor:

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“

4

Art. 13 dieser Konvention bestimmt:

„Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.“

Unionsrecht

Richtlinie 2003/9

5

Art. 3 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2003/9 bestimmt:

„(1)   Diese Richtlinie gilt für alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, die an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats Asyl beantragen, solange sie als Asylbewerber im Hoheitsgebiet verbleiben dürfen …

(4)   Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie auf Verfahren zur Bearbeitung von Ersuchen um andere Formen der Schutzgewährung anzuwenden, die sich nicht aus [dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Vertragssammlung der Vereinten Nationen, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954])] ergeben und die Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zugutekommen, die nicht als Flüchtlinge gelten.“

Richtlinie 2004/83

6

Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2004/83 bestimmt:

„Das Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung von Mindestnormen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, sowie des Inhalts des zu gewährenden Schutzes.“

7

Art. 2 Buchst. c, e und g der Richtlinie 2004/83 bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

c)

‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will …

e)

‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel[s] 15 zu erleiden, … und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will;

g)

‚Antrag auf internationalen Schutz‘ das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und wenn er nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht“.

8

Art. 3 der Richtlinie 2004/83 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können günstigere Normen zur Entscheidung der Frage, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“

9

In Kapitel V („Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz“) der Richtlinie 2004/83 sieht Art. 15 („Ernsthafter Schaden“) vor:

„Als ernsthafter Schaden gilt:

a)

die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder

b)

Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder

c)

eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“

Richtlinie 2005/85

10

In Art. 3 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2005/85 heißt es:

„(1)   Diese Richtlinie gilt für alle Asylanträge, die im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten gestellt werden, sowie für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft.

(3)   Wenn Mitgliedstaaten ein Verfahren anwenden oder einführen, nach dem Asylanträge sowohl als Anträge aufgrund [des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge] als auch als Anträge auf Gewährung anderer Formen internationalen Schutzes, der unter den in Artikel 15 der Richtlinie 2004/83/EG definierten Umständen gewährt wird, geprüft werden, wenden sie die vorliegende Richtlinie während des gesamten Verfahrens an.

(4)   Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten beschließen, diese Richtlinie bei Verfahren anzuwenden, mit denen über Anträge auf Gewährung irgendeiner Form des internationalen Schutzes entschieden wird.“

Richtlinie 2008/115/EG

11

Die Erwägungsgründe 2 und 12 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98) lauten:

„(2)

Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.

(12)

Die Situation von Drittstaatsangehörigen, die sich unrechtmäßig im Land aufhalten, aber noch nicht abgeschoben werden können, sollte geregelt werden. Die Festlegungen hinsichtlich der Sicherung des Existenzminimums dieser Personen sollten nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften getroffen werden. …“

12

Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

4.

‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme[,] mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird“.

13

Art. 5 der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:

c)

den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,

und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

14

Art. 9 („Aufschub der Abschiebung“) der Richtlinie 2008/115 bestimmt in Abs. 1:

„Die Mitgliedstaaten schieben die Abschiebung auf,

a)

wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde oder

b)

solange nach Artikel 13 Absatz 2 aufschiebende Wirkung besteht.“

15

Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„Rückkehrentscheidungen sowie – gegebenenfalls – Entscheidungen über ein Einreiseverbot oder eine Abschiebung ergehen schriftlich und enthalten eine sachliche und rechtliche Begründung sowie Informationen über mögliche Rechtsbehelfe.

…“

16

Art. 13 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„(1)   Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen.

(2)   Die in Absatz 1 genannte Behörde oder dieses Gremium ist befugt, Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 zu überprüfen, und hat auch die Möglichkeit, ihre Vollstreckung einstweilig auszusetzen, sofern eine einstweilige Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist.“

17

In Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten stellen außer in Fällen nach Artikel 16 und 17 sicher, dass innerhalb der nach Artikel 7 für die freiwillige Ausreise gewährten Frist und der Fristen, während derer die Vollstreckung einer Abschiebung nach Artikel 9 aufgeschoben ist, die folgenden Grundsätze in Bezug auf Drittstaatsangehörige so weit wie möglich beachtet werden:

b)

Gewährung medizinischer Notfallversorgung und unbedingt erforderlicher Behandlung von Krankheiten;

…“

Belgisches Recht

18

Art. 9ter § 1 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980) lautet:

„Ein Ausländer, der sich in Belgien aufhält, seine Identität gemäß § 2 nachweist und so sehr an einer Krankheit leidet, dass sie eine tatsächliche Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit oder eine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung darstellt, wenn in seinem Herkunftsland oder dem Land, in dem er sich aufhält, keine angemessene Behandlung vorhanden ist, kann beim Minister beziehungsweise seinem Beauftragten beantragen, dass ihm der Aufenthalt im Königreich erlaubt wird.“

19

Art. 48/4 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 bestimmt:

„§ 1   Der subsidiäre Schutzstatus wird einem Ausländer zuerkannt, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt und nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 9ter fällt, für den aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne von § 2 zu erleiden, und der unter Berücksichtigung der Gefahr den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will, sofern er nicht von den in Artikel 55/4 erwähnten Ausschlussklauseln betroffen ist.

§ 2   Als ernsthafter Schaden gilt:

a)

die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder

b)

Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder

c)

eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“

20

Die Art. 39/82, 39/84 und 39/85 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 sehen verschiedene Verfahren vor, die dazu dienen, die Aussetzung von Verwaltungsentscheidungen über den Aufenthalt und die Entfernung von Ausländern zu erreichen.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

21

Am 15. April 2009 stellte Herr Abdida auf der Grundlage von Art. 9ter des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen, den er damit begründete, dass er an einer besonders schweren Krankheit leide.

22

Am 4. Dezember 2009 wurde dieser Antrag für zulässig erklärt. Dies hatte zur Folge, dass Herr Abdida Sozialhilfe vom CPAS erhielt.

23

Mit Entscheidung vom 6. Juni 2011 wurde der von Herrn Abdida gestellte Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung zurückgewiesen, dass sein Herkunftsland über eine ausreichende medizinische Infrastruktur zur Behandlung von an seiner Krankheit erkrankten Personen verfüge. Diese Entscheidung wurde Herrn Abdida zusammen mit einer Anordnung zum Verlassen des belgischen Staatsgebiets am 29. Juni 2011 zugestellt.

24

Am 7. Juli 2011 legte Herr Abdida beim Rat für Ausländerstreitsachen Beschwerde gegen die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis ein.

25

Am 13. Juli 2011 entschied das CPAS, Herrn Abdida die Sozialhilfe zu entziehen und die dringende medizinische Hilfe zu verweigern. Am 27. Juli 2011 änderte das CPAS diese Entscheidung dahin ab, dass es die dringende medizinische Hilfe gewährte.

26

Am 5. August 2011 erhob Herr Abdida vor dem Tribunal du travail de Nivelles Klage gegen die Entscheidung des CPAS, mit der ihm die Sozialhilfe entzogen wurde.

27

Mit Urteil vom 9. September 2011 gab dieses Gericht der Klage statt und verurteilte das CPAS, an Herrn Abdida eine dem Eingliederungseinkommen zum Satz für Alleinstehende entsprechende Sozialhilfe zu zahlen. Es befand u. a., dass es sich bei dem Recht auf Sozialhilfe um eine unerlässliche Voraussetzung für die wirksame Ausübung eines Rechtsbehelfs handele und dass die Sozialhilfe für Herrn Abdida daher bis zu einer Entscheidung über seine Klage gegen die Entscheidung, ihm die Aufenthaltserlaubnis zu verweigern, aufrechterhalten werden müsse.

28

Am 7. Oktober 2011 legte das CPAS gegen dieses Urteil bei der Cour du travail de Bruxelles Berufung ein.

29

Dieses Gericht stellt fest, dass Herr Abdida gemäß den geltenden Bestimmungen des nationalen Rechts nicht über einen gerichtlichen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung gegen die Entscheidung über die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis verfüge und dass er bis zur Entscheidung über die Klage von jeder Sozialhilfe, mit Ausnahme dringender medizinischer Hilfe, ausgeschlossen sei.

30

Unter diesen Umständen hat die Cour du travail de Bruxelles das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Sind die Richtlinien 2004/83, 2005/85 und 2003/9 so auszulegen, dass sie einen Mitgliedstaat, der vorsieht, dass ein Ausländer, der „so sehr an einer Krankheit leidet, dass sie eine tatsächliche Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit oder eine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung darstellt, wenn in seinem Herkunftsland … keine angemessene Behandlung vorhanden ist“, Anspruch auf subsidiären Schutz im Sinne von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 hat, verpflichten,

einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung gegen die behördliche Entscheidung vorzusehen, mit der das Aufenthaltsrecht und/oder der subsidiäre Schutz versagt und das Verlassen des Staatsgebiets angeordnet werden,

bis zu einer Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen diese behördliche Entscheidung andere als medizinische Grundbedürfnisse des Rechtsbehelfsführers im Rahmen seiner Sozialhilfe- oder Aufnahmeregelung zu befriedigen?

2.

Falls dies verneint werden sollte: Verpflichtet die Charta … und insbesondere ihre Art. 1 bis 3 …, ihr Art. 4 …, ihr Art. 19 Abs. 2 …, ihre Art. 20 und 21 … und/oder ihr Art. 47 … den Mitgliedstaat, der die Richtlinien 2004/83, 2005/85 und 2003/9 umsetzt, einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung und die Befriedigung der oben in Frage 1 aufgeführten Grundbedürfnisse vorzusehen?

Zu den Vorlagefragen

31

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85, gegebenenfalls in Verbindung mit den Art. 1 bis 4, Art. 19 Abs. 2 sowie den Art. 20, 21 und 47 der Charta, dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat, dessen zuständige Behörden eine Entscheidung erlassen haben, mit der der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in diesem Mitgliedstaat gemäß nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden – die vorsehen, dass der Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat einem Ausländer erlaubt wird, der an einer Krankheit leidet, die eine tatsächliche Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit oder eine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung darstellt, wenn in seinem Herkunftsland oder dem Land, in dem er sich zuvor aufgehalten hat, keine angemessene Behandlung vorhanden ist – abgelehnt und diesem Drittstaatsangehörigen gegenüber angeordnet wurde, das Gebiet dieses Mitgliedstaats zu verlassen, einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung gegen diese Entscheidung vorsehen und die Grundbedürfnisse dieses Drittstaatsangehörigen bis zur Entscheidung über die Klage gegen diese Entscheidung befriedigen muss.

32

Vorab ist festzustellen, dass aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, dass diese Fragen auf der Prämisse beruhen, dass Anträge, die gemäß den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften gestellt werden, Anträge auf internationalen Schutz im Sinne der Richtlinie 2004/83 darstellen und somit in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen.

33

Wie aber aus den Rn. 27, 41, 45 und 46 des Urteils M’Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452) hervorgeht, sind Art. 2 Buchst. c und e sowie die Art. 3 und 15 der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen, dass Anträge, die gemäß diesen nationalen Rechtsvorschriften gestellt werden, keine Anträge auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. g dieser Richtlinie darstellen. Folglich fällt die Lage eines Drittstaatsangehörigen, der einen solchen Antrag gestellt hat, nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie, wie er in deren Art. 1 definiert wird.

34

Was die Richtlinie 2005/85 betrifft, so geht aus ihrem Art. 3 hervor, dass sie für Asylanträge gilt, aber auch für Anträge auf subsidiären Schutz, wenn ein Mitgliedstaat ein einheitliches Verfahren einführt, in dessen Rahmen er einen Antrag unter dem Aspekt der beiden Formen des internationalen Schutzes prüft (Urteile M., C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 79, und N., C‑604/12, EU:C:2014:302, Rn. 39), und dass die Mitgliedstaaten beschließen können, diese Richtlinie auch auf Anträge auf Gewährung anderer Formen des internationalen Schutzes anzuwenden.

35

Es steht fest, dass die gemäß den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften gestellten Anträge keine Anträge auf internationalen Schutz sind.

36

Auch die Richtlinie 2003/9 ist auf einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht anwendbar, weil zum einen Art. 3 Abs. 1 und 4 dieser Richtlinie ihre Geltung auf Asylanträge beschränkt – wobei allerdings weiter bestimmt wird, dass die Mitgliedstaaten beschließen können, diese Richtlinie auf die Bearbeitung von Ersuchen um andere Formen der Schutzgewährung anzuwenden – und zum anderen aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervorgeht, dass das Königreich Belgien beschlossen hätte, diese Richtlinie auf Anträge anzuwenden, die gemäß den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften gestellt werden.

37

Im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof ist es indessen Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Auch wenn das vorlegende Gericht formal nur auf die Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 Bezug genommen hat, hindert dies demnach den Gerichtshof nicht daran, dem Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten von dem einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile Fuß, C‑243/09, EU:C:2010:609, Rn. 39 und 40, sowie Hadj Ahmed, C‑45/12, EU:C:2013:390, Rn. 42).

38

Im vorliegenden Fall betreffen die von dem vorlegenden Gericht gestellten Fragen die Merkmale des Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung, mit der gegenüber Herrn Abdida wegen der Rechtswidrigkeit seines Aufenthalts in Belgien angeordnet wird, das belgische Staatsgebiet zu verlassen, sowie die Garantien, die Herrn Abdida bis zur Entscheidung über den von ihm gegen diese Entscheidung eingelegten Rechtsbehelf zu gewähren sind.

39

Es steht fest, dass diese Entscheidung eine behördliche Maßnahme darstellt, mit der der illegale Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen und eine Rückkehrverpflichtung festgestellt werden. Sie ist somit als „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 zu qualifizieren.

40

Diese Richtlinie enthält aber in ihren Art. 13 und 14 Vorschriften in Bezug auf die gegen Rückkehrentscheidungen gegebenen Rechtsbehelfe und die Garantien, die Drittstaatsangehörigen, die von einer solchen Entscheidung betroffen sind, bis zur Rückkehr gewährt werden.

41

Es ist daher zu bestimmen, ob diese Artikel dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die einem gegen eine Rückkehrentscheidung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende ausgeübten Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung verleiht und die nicht die Befriedigung der Grundbedürfnisse des Drittstaatsangehörigen bis zur Entscheidung über den gegen eine solche Entscheidung ausgeübten Rechtsbehelf vorsieht.

42

Insoweit ist hervorzuheben, dass die Auslegung der Vorschriften der Richtlinie 2008/115, wie es in deren zweitem Erwägungsgrund heißt, unter vollständiger Achtung der Grundrechte und der Menschenwürde der Betroffenen erfolgen muss.

43

Was erstens die Merkmale des Rechtsbehelfs angeht, der gegen eine Rückkehrentscheidung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende gegeben sein muss, ergibt sich aus Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie, dass ein Drittstaatsangehöriger über einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine gegen ihn ergangene Rückkehrentscheidung verfügen muss.

44

Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie sieht vor, dass die Behörde oder das Gremium, die oder das zur Entscheidung über diesen Rechtsbehelf zuständig ist, die Vollstreckung der angefochtenen Rückkehrentscheidung einstweilig aussetzen kann, sofern eine einstweilige Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist. Hieraus folgt, dass diese Richtlinie nicht vorschreibt, dass der in Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehene Rechtsbehelf notwendigerweise aufschiebende Wirkung haben muss.

45

Allerdings sind die Merkmale dieses Rechtsbehelfs im Einklang mit Art. 47 der Charta auszulegen, der den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bekräftigt (vgl. in diesem Sinne Urteile Unibet, C‑432/05, EU:C:2007:163, Rn. 37, und Agrokonsulting-04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 59) und nach dem jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

46

Insoweit ist festzustellen, dass Art. 19 Abs. 2 der Charta u. a. klarstellt, dass niemand in einen Staat abgeschoben werden darf, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht.

47

Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 2 der Charta zu berücksichtigen ist, geht hervor, dass Ausländer, die von einer Entscheidung betroffen sind, die ihre Abschiebung ermöglicht, zwar grundsätzlich kein Recht auf Verbleib in einem Staat geltend machen können, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung durch diesen Staat zu erhalten, dass jedoch die Entscheidung, einen Ausländer, der an einer schweren physischen oder psychischen Krankheit leidet, in ein Land abzuschieben, in dem die Möglichkeiten einer Behandlung dieser Krankheit geringer sind als in dem entsprechenden Staat, in absoluten Ausnahmefällen Fragen unter dem Blickwinkel von Art. 3 EMRK aufwerfen kann, wenn die humanitären Erwägungen, die gegen die Abschiebung sprechen, zwingend sind (vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 27. Mai 2008, N./Vereinigtes Königreich, Nr. 42).

48

In den absoluten Ausnahmefällen, in denen die Abschiebung eines an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen in ein Land, in dem keine angemessenen Behandlungsmöglichkeiten bestehen, gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstieße, dürfen die Mitgliedstaaten somit gemäß Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Charta diese Abschiebung nicht vornehmen.

49

Die Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung, die die Abschiebung eines an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen in ein Land, in dem keine angemessenen Behandlungsmöglichkeiten bestehen, umfasst, könnte daher in bestimmten Fällen einen Verstoß gegen Art. 5 der Richtlinie 2008/115 darstellen.

50

Diese absoluten Ausnahmefälle sind dadurch gekennzeichnet, dass der Schaden, der sich aus der Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen in ein Land ergibt, in dem für ihn die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht, schwer und nicht wiedergutzumachen ist. Die Wirksamkeit des Rechtsbehelfs gegen eine Rückkehrentscheidung, deren Vollzug den betroffenen Drittstaatsangehörigen der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte, erfordert unter diesen Umständen, dass diesem Drittstaatsangehörigen ein Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung zur Verfügung steht, um zu gewährleisten, dass die Rückkehrentscheidung nicht vollzogen wird, bevor eine Rüge in Bezug auf einen Verstoß gegen Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Charta durch eine zuständige Stelle geprüft werden konnte.

51

Diese Auslegung wird bestätigt durch die Erläuterungen zu Art. 47 der Charta, wonach sich Art. 47 Abs. 1 der Charta auf Art. 13 EMRK stützt (Urteil Überprüfung Arango Jaramillo u. a./EIB, C‑334/12 RX‑II, EU:C:2013:134, Rn. 42).

52

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nämlich entschieden, dass, wenn ein Staat entscheidet, einen Ausländer in ein Land abzuschieben, bei dem ernsthafte Gründe befürchten lassen, dass tatsächlich die Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung dieses Ausländers besteht, die Wirksamkeit des Rechtsbehelfs nach Art. 13 EMRK es erfordert, dass die Betroffenen über einen Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung gegen den Vollzug der Maßnahme verfügen, die ihre Abschiebung ermöglicht (vgl. u. a. EGMR, Urteile vom 26. April 2007, Gebremedhin/Frankreich, Nr. 67, und vom 23. Februar 2012, Hirsi Jamaa u. a./Italien, Nr. 200).

53

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die keinen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung gegen eine Rückkehrentscheidung vorsehen, deren Vollzug den betroffenen Drittstaatsangehörigen einer ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzt.

54

Was zweitens die Befriedigung der Grundbedürfnisse eines Drittstaatsangehörigen in einer Lage wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden betrifft, ergibt sich zwar aus dem zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115, dass die Festlegungen hinsichtlich des Existenzminimums von Drittstaatsangehörigen, die sich unrechtmäßig im Land aufhalten, aber noch nicht abgeschoben werden können, nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften getroffen werden sollten, doch müssen diese Rechtsvorschriften mit den sich aus dieser Richtlinie ergebenden Verpflichtungen im Einklang stehen.

55

Art. 14 der Richtlinie 2008/115 sieht aber bestimmte Garantien bis zur Rückkehr vor, u. a. innerhalb der Fristen, während deren die Vollstreckung einer Abschiebung nach Art. 9 dieser Richtlinie aufgeschoben ist.

56

Gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 schieben die Mitgliedstaaten die Abschiebung auf, solange nach Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie aufschiebende Wirkung besteht.

57

Aus dem allgemeinen Aufbau der Richtlinie 2008/115, der bei der Auslegung ihrer Bestimmungen zu berücksichtigen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Abdullahi, C‑394/12, EU:C:2013:813, Rn. 51), geht aber hervor, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie alle Situationen erfassen muss, in denen ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, die Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung infolge der Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen diese Entscheidung auszusetzen.

58

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, einem an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen, der einen Rechtsbehelf gegen eine Rückkehrentscheidung eingelegt hat, deren Vollstreckung ihn der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte, die in Art. 14 der Richtlinie 2008/115 niedergelegten Garantien bis zur Rückkehr zu bieten.

59

Insbesondere ist der betreffende Mitgliedstaat in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie verpflichtet, im Rahmen des Möglichen die Grundbedürfnisse eines an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen zu befriedigen, wenn dieser über keine Mittel verfügt, um selbst für die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu sorgen.

60

Die Gewährung medizinischer Notfallversorgung und unbedingt erforderlicher Behandlung von Krankheiten, die in Art. 14 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 vorgesehen ist, könnte nämlich in einer solchen Situation ihre tatsächliche Wirkung verlieren, wenn sie nicht mit der Befriedigung der Grundbedürfnisse des betroffenen Drittstaatsangehörigen einhergeht.

61

Allerdings ist festzustellen, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, die Form festzulegen, die diese Befriedigung der Grundbedürfnisse des betroffenen Drittstaatsangehörigen anzunehmen hat.

62

Folglich ist Art. 14 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die nicht die im Rahmen des Möglichen erfolgende Befriedigung der Grundbedürfnisse eines an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen vorsehen, um zu gewährleisten, dass die medizinische Notfallversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten innerhalb der Fristen, während deren der betreffende Mitgliedstaat die Abschiebung dieses Drittstaatsangehörigen infolge der Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine gegen ihn erlassene Rückkehrentscheidung aufschieben muss, tatsächlich gewährt werden können.

63

Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta sowie Art. 14 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen,

die einem Rechtsbehelf, der gegen eine Entscheidung eingelegt wird, die gegenüber einem an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen anordnet, das Gebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen, keine aufschiebende Wirkung verleihen, wenn die Vollstreckung dieser Entscheidung den Drittstaatsangehörigen einer ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte, und

die nicht die im Rahmen des Möglichen erfolgende Befriedigung der Grundbedürfnisse dieses Drittstaatsangehörigen vorsehen, um zu gewährleisten, dass die medizinische Notfallversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten innerhalb der Fristen, während deren der betreffende Mitgliedstaat die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen infolge der Einlegung des entsprechenden Rechtsbehelfs aufschieben muss, tatsächlich gewährt werden können.

Kosten

64

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie Art. 14 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen,

 

die einem Rechtsbehelf, der gegen eine Entscheidung eingelegt wird, die gegenüber einem an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen anordnet, das Gebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen, keine aufschiebende Wirkung verleihen, wenn die Vollstreckung dieser Entscheidung den Drittstaatsangehörigen einer ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte, und

 

die nicht die im Rahmen des Möglichen erfolgende Befriedigung der Grundbedürfnisse dieses Drittstaatsangehörigen vorsehen, um zu gewährleisten, dass die medizinische Notfallversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten innerhalb der Fristen, während deren der betreffende Mitgliedstaat die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen infolge der Einlegung des entsprechenden Rechtsbehelfs aufschieben muss, tatsächlich gewährt werden können.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.