URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

30. Januar 2024 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Kohäsionsfonds der Europäischen Union – Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 – Art. 99 und 101 – Finanzielle Berichtigungen im Zusammenhang mit aufgedeckten Unregelmäßigkeiten – Verordnung (EU) 2021/1060 – Art. 104 – Von der Kommission vorgenommene Finanzkorrekturen – Beschluss der Kommission, mit dem ein Beitrag aus diesem Fonds teilweise gestrichen wird – Gültigkeit – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 41 – Recht auf eine gute Verwaltung – Art. 47 Abs. 1 – Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf“

In der Rechtssache C‑471/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 4. Juli 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Juli 2022, in dem Verfahren

Agentsia „Patna infrastruktura“

gegen

Rakovoditel na Upravlyavashtia organ na Operativna programa „Transport“ 2007–2013 i direktor na direktsia „Koordinatsia na programi i proekti“ v Ministerstvo na transporta (RUO)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter N. Piçarra (Berichterstatter), M. Safjan, N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Agentsia „Patna infrastruktura“, vertreten durch I. Ivanov,

des Rakovoditel na Upravlyavashtia organ na Operativna programa „Transport“ 2007–2013 i direktor na direktsia „Koordinatsia na programi i proekti“ v Ministerstvo na transporta (RUO), vertreten durch M. Georgiev,

der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Mitova als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Carlin, D. Drambozova und G. Wils als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft zum einen die Gültigkeit des Beschlusses C(2021) 5739 final der Kommission vom 27. Juli 2021 über die teilweise Aufhebung des Kohäsionsfondsbeitrags für das operationelle Programm „Verkehr“ 2007–2013 im Rahmen des Ziels „Konvergenz“ in Bulgarien (im Folgenden: Beschluss vom 27. Juli 2021) und zum anderen die Auslegung der Art. 41 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 296 Abs. 3 AEUV sowie der Art. 98 und 100 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 (ABl. 2006, L 210, S. 25).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Agentsia „Patna infrastruktura“ (Agentur für Straßeninfrastruktur, Bulgarien) (im Folgenden: API) und dem Rakovoditel na Upravlyavashtia organ na Operativna programa „Transport“ 2007–2013 i direktor na direktsia Koordinatsia na programi i proekti v Ministerstvo na transporta (Leiter der Verwaltungsbehörde des operationellen Programms „Verkehr“ 2007–2013 und Direktor der Direktion für Programm- und Projektkoordinierung im Verkehrsministerium, Bulgarien) (im Folgenden: Verwaltungsbehörde) über eine von der Verwaltungsbehörde gegenüber der API mit Schreiben vom 29. Dezember 2021 vorgenommene Finanzkorrektur in Höhe von 5 % des Wertes eines Vertrags vom 27. Februar 2012, der durch eine in Durchführung des operationellen Programms „Verkehr“ 2007–2013 gewährte Subvention finanziert wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung Nr. 1083/2006

3

Der 65. Erwägungsgrund der in zeitlicher Hinsicht auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Verordnung Nr. 1083/2006 lautete:

„Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sollten für die Umsetzung und die Kontrolle der Interventionen in erster Linie die Mitgliedstaaten zuständig sein.“

4

Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung bestimmte:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

7.

‚Unregelmäßigkeit‘ jeden Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers, die dadurch einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union bewirkt hat oder haben würde, dass ihm eine ungerechtfertigte Ausgabe angelastet werden muss oder müsste.“

5

Art. 60 („Aufgaben der Verwaltungsbehörde“) der Verordnung sah vor:

„Die Verwaltungsbehörde ist verantwortlich dafür, dass das operationelle Programm im Einklang mit dem Grundsatz der wirtschaftlichen Haushaltsführung verwaltet und durchgeführt wird; sie hat insbesondere

a)

sicherzustellen, dass die zu finanzierenden Vorhaben nach den für das operationelle Programm geltenden Kriterien ausgewählt werden und während ihrer Durchführung stets den geltenden gemeinschaftlichen und einzelstaatlichen Rechtsvorschriften entsprechen;

…“

6

Art. 70 („Verwaltung und Kontrolle“) Abs. 1 und 2 der Verordnung bestimmte:

„(1)   Die Mitgliedstaaten sind zuständig für die Verwaltung und Kontrolle der operationellen Programme und treffen hierzu insbesondere folgende Maßnahmen:

a)

Sie sorgen dafür, dass Verwaltungs- und Kontrollsysteme für die operationellen Programme nach den Artikeln 58 bis 62 eingerichtet werden und wirksam funktionieren.

b)

Sie treffen vorbeugende Maßnahmen gegen Unregelmäßigkeiten, decken sie auf und korrigieren sie und ziehen rechtsgrundlos gezahlte Beträge, gegebenenfalls mit Verzugszinsen, wieder ein. Sie unterrichten die [Europäische] Kommission darüber und halten sie über den Stand von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren auf dem Laufenden.

(2)   Können rechtsgrundlos an einen Begünstigten gezahlte Beträge nicht wieder eingezogen werden, so haftet der Mitgliedstaat für die Erstattung der verlorenen Beträge an den Gesamthaushalt der Europäischen Union, wenn nachgewiesen wird, dass der Verlust durch einen ihm anzulastenden Fehler oder durch seine Fahrlässigkeit entstanden ist.“

7

Art. 98 („Finanzielle Berichtigungen durch die Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 1083/2006 bestimmte:

„(1)   Es obliegt in erster Linie den Mitgliedstaaten, Unregelmäßigkeiten zu untersuchen, bei nachgewiesenen erheblichen Änderungen, welche sich auf die Art oder die Bedingungen für die Durchführung und Kontrolle der Vorhaben oder der operationellen Programme auswirken, zu handeln und die erforderlichen finanziellen Berichtigungen vorzunehmen.

(2)   Der Mitgliedstaat nimmt die finanziellen Berichtigungen vor, die aufgrund der im Rahmen von Vorhaben oder operationellen Programmen festgestellten vereinzelten oder systembedingten Unregelmäßigkeiten notwendig sind. Die vom Mitgliedstaat vorgenommenen Berichtigungen erfolgen, indem der öffentliche Beitrag zum operationellen Programm ganz oder teilweise gestrichen wird. Der Mitgliedstaat berücksichtigt Art und Schweregrad der Unregelmäßigkeiten sowie den dem Fonds entstandenen finanziellen Verlust.

…“

8

Art. 99 („Kriterien für finanzielle Berichtigungen“) der Verordnung lautete:

„(1)   Die Kommission kann finanzielle Berichtigungen vornehmen, indem sie den Gemeinschaftsbeitrag zu einem operationellen Programm ganz oder teilweise streicht, wenn sie nach der notwendigen Untersuchung zu dem Schluss gelangt, dass

a)

das Verwaltungs- und Kontrollsystem für das Programm einen schwer wiegenden Mangel aufweist, der ein Risiko für den bereits für das Programm gezahlten Gemeinschaftsbeitrag darstellt;

b)

die in einer bescheinigten Ausgabenerklärung geltend gemachten Ausgaben mit Unregelmäßigkeiten behaftet sind und vom Mitgliedstaat vor Einleitung des Berichtigungsverfahrens nach diesem Absatz nicht berichtigt wurden;

c)

ein Mitgliedstaat vor Einleitung des Berichtigungsverfahrens nach diesem Absatz seinen Verpflichtungen gemäß Artikel 98 nicht nachgekommen ist.

(2)   Die Kommission legt die Höhe der finanziellen Berichtigung anhand einzelner ermittelter Unregelmäßigkeiten fest, wobei sie berücksichtigt, ob eine Unregelmäßigkeit systembedingt ist, um zu entscheiden, ob eine pauschale oder extrapolierte Berichtigung vorzunehmen ist.

(3)   Die Kommission setzt die Höhe einer Berichtigung nach Maßgabe der Art und des Schweregrads der Unregelmäßigkeit sowie des Umfangs und der finanziellen Auswirkungen der in dem betreffenden operationellen Programm festgestellten Mängel fest.

(4)   Stützt die Kommission ihre Stellungnahme auf die Feststellungen kommissionsexterner Prüfer, so trifft sie ihre eigene Schlussfolgerung in Bezug auf die finanziellen Auswirkungen erst, nachdem sie die von dem betreffenden Mitgliedstaat gemäß Artikel 98 Absatz 2 getroffenen Maßnahmen, die gemäß Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe b vorgelegten Berichte und alle Antworten des Mitgliedstaats geprüft hat.

(5)   Kommt ein Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen aus Artikel 15 Absatz 4 nicht nach, so kann die Kommission je nach Schweregrad der Nichteinhaltung dieser Verpflichtungen eine finanzielle Berichtigung vornehmen, indem sie den Beitrag aus den Strukturfonds für den betroffenen Mitgliedstaat ganz oder teilweise streicht.

Der Satz für die finanzielle Berichtigung nach diesem Absatz wird in den Durchführungsbestimmungen zu dieser Verordnung festgesetzt, die die Kommission nach dem in Artikel 103 Absatz 3 genannten Verfahren erlässt.“

9

Art. 100 („Verfahren“) der Verordnung sah vor:

„(1)   Bevor die Kommission eine finanzielle Berichtigung beschließt, eröffnet sie das Verfahren, indem sie den Mitgliedstaat über ihre vorläufigen Schlussfolgerungen in Kenntnis setzt und ihn auffordert, sich binnen zwei Monaten zu äußern.

(2)   Die Kommission berücksichtigt jedes Beweismaterial, das der Mitgliedstaat innerhalb der in Absatz 1 genannten Frist vorlegt.

(3)   Erhebt der Mitgliedstaat Einwände gegen die vorläufigen Schlussfolgerungen der Kommission, so wird er von der Kommission zu einer Anhörung eingeladen, bei der beide Seiten in partnerschaftlicher Zusammenarbeit bemüht sind, zu einer Einigung über die Feststellungen und die daraus zu ziehenden Schlüsse zu gelangen.

(5)   Kommt keine Einigung zustande, so entscheidet die Kommission binnen sechs Monaten nach der Anhörung über die finanzielle Berichtigung, wobei sie alle Informationen und Bemerkungen berücksichtigt, die ihr im Zuge des Verfahrens übermittelt wurden. Findet keine Anhörung statt, so beginnt die Sechsmonatsfrist zwei Monate nach dem Datum des von der Kommission versandten Einladungsschreibens.“

10

Art. 101 („Verpflichtungen der Mitgliedstaaten“) der Verordnung sah vor:

„Eine finanzielle Berichtigung durch die Kommission berührt nicht die Verpflichtungen des Mitgliedstaats, Einziehungen gemäß Artikel 98 Absatz 2 dieser Verordnung weiter zu verfolgen und die staatlichen Beihilfen gemäß Artikel [107 AEUV] und Artikel 14 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] [(ABl. 1999, L 83, S. 1)] zurückzufordern.“

Verordnung (EU) 2021/1060

11

Die Verordnung (EU) 2021/1060 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Juni 2021 mit gemeinsamen Bestimmungen für den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds Plus, den Kohäsionsfonds, den Fonds für einen gerechten Übergang und den Europäischen Meeres‑, Fischerei- und Aquakulturfonds sowie mit Haushaltsvorschriften für diese Fonds und für den Asyl‑, Migrations- und Integrationsfonds, den Fonds für die innere Sicherheit und das Instrument für finanzielle Hilfe im Bereich Grenzverwaltung und Visumpolitik (ABl. 2021, L 231, S. 159) bestimmt in Art. 104 („Finanzkorrekturen durch die Kommission“):

„…

(2)   Vor der Entscheidung über eine Finanzkorrektur informiert die Kommission den Mitgliedstaat über ihre Schlussfolgerungen und gibt dem Mitgliedstaat die Möglichkeit, binnen zwei Monaten Anmerkungen vorzubringen und nachzuweisen, dass das tatsächliche Ausmaß der Unregelmäßigkeit geringer ist als von der Kommission bewertet. Die Frist kann im gegenseitigen Einvernehmen verlängert werden.

(3)   Akzeptiert der Mitgliedstaat die Schlussfolgerungen der Kommission nicht, so wird er von der Kommission zu einer Anhörung eingeladen, damit gewährleistet ist, dass alle relevanten Informationen und Anmerkungen vorliegen, die die Grundlage für die Schlussfolgerungen der Kommission bezüglich der Vornahme der Finanzkorrektur bilden.

(4)   Die Kommission entscheidet über eine Finanzkorrektur unter Berücksichtigung des Ausmaßes, der Häufigkeit und der finanziellen Auswirkungen der Unregelmäßigkeiten oder gravierenden Mängel mittels eines Durchführungsrechtsakts binnen zehn Monaten nach dem Tag der Anhörung oder der Übermittlung zusätzlicher von der Kommission angeforderter Informationen.

Bei der Entscheidung über eine Finanzkorrektur berücksichtigt die Kommission alle übermittelten Informationen und Anmerkungen.

…“

Bulgarisches Recht

12

Art. 70 Abs. 1 des Zakon za upravlenie na sredstvata ot evropeyskite strukturni i investitsionni fondove (Gesetz über die Verwaltung der Mittel aus den Europäischen Struktur- und Investitionsfonds, DV Nr. 101 vom 22. Dezember 2015) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über die Europäischen Fonds) bestimmt:

„Die finanzielle Unterstützung aus Mitteln der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds kann aus den folgenden Gründen ganz oder teilweise durch Vornahme einer Finanzkorrektur gestrichen werden:

9.

Unregelmäßigkeit, die einen Verstoß gegen die Vorschriften über die Benennung eines Vertragspartners gemäß Kapitel 4 darstellt, durch eine Handlung oder Unterlassung des Begünstigten, die einen Schaden für die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds bewirkt oder bewirken würde;

10.

jede andere Unregelmäßigkeit, die einen Verstoß gegen das anwendbare Unions- und/oder bulgarische Recht durch eine Handlung oder Unterlassung des Begünstigten darstellt, die einen Schaden für die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds bewirkt oder bewirken würde“.

13

Nach Art. 71 Abs. 1 des Gesetzes über die Europäischen Fonds wird „durch Finanzkorrekturen … die gemäß Kapitel 3 gewährte finanzielle Unterstützung aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds zurückgenommen oder der Betrag der ausgegebenen Mittel (förderungsfähige Kosten des Projekts) gekürzt, um eine Situation zu schaffen oder wiederherzustellen, in der alle der Europäischen Kommission bescheinigten Ausgaben mit dem anwendbaren Unionsrecht und den bulgarischen Rechtsvorschriften in Einklang stehen“.

14

Art. 73 des Gesetzes über die Europäischen Fonds sieht vor:

„(1)   Die Finanzkorrektur wird in Bezug auf die Grundlage und die Höhe durch eine mit Gründen versehene Entscheidung des Leiters der Verwaltungsbehörde festgelegt, die das Projekt genehmigt hat.

(2)   Vor Erlass der in Abs. 1 genannten Entscheidung stellt die Verwaltungsbehörde sicher, dass der Begünstigte die Möglichkeit hat, innerhalb einer angemessenen Frist von nicht weniger als zwei Wochen schriftliche Einwände gegen die Grundlage und die Höhe der Finanzkorrektur vorzubringen und gegebenenfalls Nachweise beizufügen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15

Die API war aufgrund einer mit der Verwaltungsbehörde getroffenen Vereinbarung Begünstigte des operationellen Programms „Verkehr“ 2007–2013. Zur Durchführung dieser Vereinbarung schloss sie nach Durchführung von Vergabeverfahren drei Verträge ab, die jeweils die Planung und den Bau einer Straße zum Gegenstand hatten.

16

Am 18. Mai 2017 leitete die Kommission ein Finanzkorrekturverfahren ein und gewährte der Republik Bulgarien eine Frist von zwei Monaten zur Stellungnahme. Am 4. Dezember 2019 fand ein fachliches Treffen zwischen der Kommission und diesem Mitgliedstaat statt, um ihre jeweiligen Standpunkte zu klären. Am 2. März 2021 fand zudem eine Anhörung statt, in deren Folge der Mitgliedstaat der Kommission zusätzliche Informationen übermittelte.

17

Mit an die Republik Bulgarien gerichtetem Beschluss vom 27. Juli 2021 stellte die Kommission fest, dass die drei fraglichen Vergabeverfahren von der API unter Verstoß gegen bestimmte Vorschriften der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114) durchgeführt worden seien. Auf der Grundlage von Art. 99 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 1083/2006 hob die Kommission daher einen Teil des Kohäsionsfondsbeitrags für das in Rede stehende operationelle Programm auf und wendete einen pauschalen Korrektursatz von 5 % auf die Ausgaben an, die auf der Grundlage der von diesen öffentlichen Aufträgen betroffenen Vorhaben geltend gemacht wurden.

18

Auf diesen Beschluss hin leitete die Verwaltungsbehörde für jeden dieser öffentlichen Aufträge gegenüber der API ein Finanzkorrekturverfahren ein. Mit Schreiben vom 29. Dezember 2021 nahm sie daher eine Finanzkorrektur in Höhe von 5 % des Wertes eines der in Rede stehenden öffentlichen Verträge vor. Gegen diese Entscheidung erhob die API Klage beim Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht.

19

Das vorlegende Gericht hat Zweifel an der Gültigkeit des Beschlusses vom 27. Juli 2021. Es führt aus, die Kommission habe diesen Beschluss weder hinreichend begründet noch einen etwaigen Widerspruch zwischen der in Rede stehenden veröffentlichten Auftragsbekanntmachung und den Verdingungsunterlagen berücksichtigt, die Teil der Ausschreibungsunterlagen seien, und sich darüber hinaus mehrfach auf eine Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung der Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (ABl. 2004, L 134, S. 1) berufen, obwohl die Richtlinie 2004/18 auf die beim vorlegenden Gericht anhängige Rechtssache anwendbar sei.

20

Das vorlegende Gericht möchte außerdem wissen, ob Art. 41 der Charta es der Kommission erlaubt, einen Verstoß gegen die im Bereich des öffentlichen Auftragswesens geltenden Vorschriften allein auf der Grundlage der Stellungnahme des Mitgliedstaats und nicht des öffentlichen Auftraggebers festzustellen, ob die zuständigen nationalen Behörden die Unregelmäßigkeit im Rahmen eines eigenen Verfahrens feststellen müssen, bevor sie eine Finanzkorrektur vornehmen, oder ob sie sich auf die von der Kommission getroffene Feststellung einer Unregelmäßigkeit stützen können und ob Art. 47 der Charta in einem solchen Fall ausschließt, dass das für die Überprüfung der nationalen Korrekturmaßnahme zuständige Gericht an die von der Kommission getroffene Feststellung einer Unregelmäßigkeit gebunden ist.

21

Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Kann der Beschluss vom 27. Juli 2021 im Hinblick auf die Anforderungen betreffend die Rechtsgrundlage, die Begründung, die Vollständigkeit und die Objektivität der durchgeführten Prüfung gemäß Art. 296 Abs. 3 AEUV und den Grundsatz der guten Verwaltung nach Art. 41 der Charta Gültigkeit beanspruchen?

2.

Ist Art. 100 der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin auszulegen, dass die Kommission für die Rechtmäßigkeit ihrer Beschlüsse nicht alle rechtlich relevanten Tatsachen im Verfahren festzustellen, zu prüfen und einzustufen hat, sondern dass sie ihre Schlussfolgerungen auf die Kommunikation und den Austausch von Stellungnahmen bzw. Mitteilungen mit dem Mitgliedstaat einzuschränken und allein daraus zu ziehen hat?

3.

Besteht für die zuständigen nationalen Behörden in einer Situation wie der vorliegenden, in der ein bestandskräftiger Rechtsakt der Kommission vorliegt, mit dem gegenüber einem Mitgliedstaat eine finanzielle Berichtigung wegen einer Unregelmäßigkeit bei der Auszahlung der Mittel der Europäischen Union im Rahmen von drei getrennten Vergabeverfahren festgesetzt wurde, eine Verpflichtung dahin, dass sie ein eigenes Verfahren zur Feststellung von Unregelmäßigkeiten durchzuführen haben, um eine finanzielle Berichtigung gemäß Art. 98 der Verordnung Nr. 1083/2006 rechtmäßig vorzunehmen?

4.

Falls die vorstehende Frage verneint wird, ist dann davon auszugehen, dass das Recht von Personen sichergestellt ist, im Einklang mit dem Recht auf eine gute Verwaltung gemäß Art. 41 der Charta am Verfahren über die Vornahme einer finanziellen Berichtigung durch die Mitgliedstaaten teilzunehmen?

5.

Ist Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht in einer Situation wie der vorliegenden, in der ein bestandskräftiger Rechtsakt der Kommission vorliegt, mit dem gegenüber einem Mitgliedstaat eine finanzielle Berichtigung wegen einer Unregelmäßigkeit bei der Verwendung von Mitteln der Europäischen Union im Rahmen von drei getrennten Vergabeverfahren festgesetzt wurde, an die Feststellungen und Schlussfolgerungen der Kommission gebunden ist, wenn es über eine Klage gegen die Vornahme einer finanziellen Berichtigung durch die zuständige nationale Behörde betreffend eines dieser Vergabeverfahren zu entscheiden hat, oder folgt aus der angeführten Rechtsvorschrift, dass es bei der Schaffung der erforderlichen rechtlichen Lösung im Rahmen eines umfassenden Gerichtsverfahrens mit allen gesetzlich vorgesehenen Mitteln die rechtlich bedeutsamen Tatsachen und Umstände des Rechtsstreits festzustellen und zu prüfen hat?

6.

Falls die vorstehende Frage dahin beantwortet wird, dass das nationale Gericht an den Beschluss der Kommission einschließlich der darin enthaltenen Tatsachenfeststellungen gebunden ist, kann dann davon ausgegangen werden, dass das Recht von Personen, denen eine finanzielle Berichtigung auferlegt wurde, auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren gemäß Art. 47 der Charta gewährleistet ist?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten und zur zweiten Frage

22

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht in seiner zweiten Frage zwar auf Art. 100 der Verordnung Nr. 1083/2006 Bezug nimmt, die Kommission im vorliegenden Fall aber das in Art. 104 der Verordnung 2021/1060 vorgesehene Verfahren befolgt hat, weil sie davon ausging, dass der letztgenannte Artikel wegen der verfahrensrechtlichen Natur der darin enthaltenen Bestimmungen in zeitlicher Hinsicht anwendbar sei.

23

Unter diesen Umständen sind die ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, so zu verstehen, dass mit ihnen geklärt werden soll, ob der Beschluss vom 27. Juli 2021 im Hinblick auf Art. 296 Abs. 2 AEUV, Art. 41 der Charta und Art. 104 der Verordnung 2021/1060 ungültig ist.

24

Was erstens den Vorwurf betrifft, die Kommission habe gegen den in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta garantierten Anspruch auf rechtliches Gehör verstoßen, weil der Empfänger der Mittel nicht angehört worden sei, ergibt sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 22 bis 27 des Beschlusses vom 27. Juli 2021 sowie aus den schriftlichen Erklärungen der Verwaltungsbehörde, der bulgarischen Regierung und der Kommission, dass Art. 104 der Verordnung 2021/1060 zwar nicht ausdrücklich die Verpflichtung der Kommission vorsieht, den Empfänger der Mittel anzuhören, jedoch sowohl die Vertreter der Verwaltungsbehörde als auch die der API im vorliegenden Fall im Rahmen des in diesem Artikel vorgesehenen Verfahrens an einem fachlichen Treffen und einer Anhörung teilnahmen, die von der Kommission organisiert wurden.

25

Was zweitens den Vorwurf eines Verstoßes der Kommission gegen ihre Begründungspflicht nach Art. 296 Abs. 2 AEUV und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese Begründung die Überlegungen ihres Urhebers so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen muss, dass die Betroffenen ihr die Gründe für den Rechtsakt entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann (vgl. u. a. Urteile vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C‑367/95 P, EU:C:1998:154, Rn. 63, vom 22. März 2001, Frankreich/Kommission, C‑17/99, EU:C:2001:178, Rn. 35, und vom 2. September 2021, EPSU/Kommission, C‑928/19 P, EU:C:2021:656, Rn. 108).

26

Das Begründungserfordernis ist somit nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und dem Interesse, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können, zu beurteilen. In der Begründung brauchen daher nicht alle Gesichtspunkte genannt zu werden, die als tatsächlich oder rechtlich einschlägig betrachtet werden könnten (vgl. Urteile vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C‑367/95 P, EU:C:1998:154, Rn. 63, sowie vom 14. Oktober 2010, Deutsche Telekom/Kommission, C‑280/08 P, EU:C:2010:603, Rn. 131).

27

Hierzu ist zunächst festzustellen, dass die Kommission, nachdem sie entsprechend Art. 104 Abs. 2 der Verordnung 2021/1060 in den Erwägungsgründen 28 bis 36 des Beschlusses vom 27. Juli 2021 die Gründe für ihre Schlussfolgerung dargelegt hatte, dass eine Unregelmäßigkeit vorliege, in den Erwägungsgründen 49 bis 67 des Beschlusses auf die Argumente eingegangen ist, die die Republik Bulgarien bei den verschiedenen Schriftwechseln im Lauf des in Art. 104 vorgesehenen Verfahrens vorgebracht hatte. Die Kommission hat somit geprüft, ob die von diesem Mitgliedstaat geltend gemachten Rechtfertigungsgründe als außergewöhnliche Umstände angesehen werden können, die es rechtfertigen, von den im vorliegenden Fall in Rede stehenden Vorschriften der Richtlinie 2004/18 abzuweichen.

28

Was sodann das Vorbringen betrifft, die Kommission habe die Besonderheit jedes der von der Finanzkorrekturmaßnahme betroffenen drei Verträge nicht berücksichtigt, geht aus den Erwägungsgründen 32, 33 und insbesondere 56 bis 59 des Beschlusses vom 27. Juli 2021 hervor, dass der öffentliche Auftraggeber jedem Mitglied des Konsortiums, mit dem diese Verträge geschlossen wurden, für jeden der Verträge eine identische Anforderung auferlegt hat, nämlich eine Erfahrung im Bau von Straßen, deren Struktur eine Achslast von 11,5 Tonnen tragen kann, ohne dass dies durch einen außergewöhnlichen Umstand gerechtfertigt wäre. Unter Berufung auf Rn. 91 des Urteils vom 5. April 2017, Borta (C‑298/15, EU:C:2017:266), hielt die Kommission diese Anforderung, die allen Mitgliedern eines Konsortiums unabhängig von ihren spezifischen beruflichen Fähigkeiten innerhalb dieses Konsortiums auferlegt worden war, für unverhältnismäßig.

29

Der Umstand, dass sich dieses Urteil, wie das vorlegende Gericht ausführt, auf die Richtlinie 2004/17 bezieht, während im Ausgangsverfahren die Richtlinie 2004/18 anwendbar ist, schließt weder die Relevanz der Richtlinie 2004/17 noch die des genannten Urteils aus. Die beiden Richtlinien haben nämlich einen ähnlichen Gegenstand und teilen dieselben Rechtsgrundlagen, und die einschlägige Bestimmung der Richtlinie 2004/18 hat denselben Wortlaut wie die ihr entsprechende Bestimmung in der Richtlinie 2004/17, wobei das Urteil vom 5. April 2017, Borta (C‑298/15, EU:C:2017:266), zudem auf das Urteil vom 7. April 2016, Partner Apelski Dariusz (C‑324/14, EU:C:2016:214), Bezug nimmt, das die Auslegung der Richtlinie 2004/18 betrifft.

30

Was schließlich den Vorwurf eines Widerspruchs zwischen der veröffentlichten Bekanntmachung und den Verdingungsunterlagen, die Teil der Ausschreibungsunterlagen sind, im Hinblick auf die Frage betrifft, ob die Auswahlkriterien von jedem Konsortium oder individuell von jedem Mitglied des Konsortiums zu erfüllen waren, ist festzustellen, dass ein solcher Widerspruch, selbst wenn er erwiesen wäre, von den Parteien im Rahmen des gemäß Art. 104 der Verordnung 2021/1060 durchgeführten Finanzkorrekturverfahrens nicht geltend gemacht wurde. Der Kommission kann daher nicht vorgeworfen werden, insoweit gegen ihre Begründungspflicht verstoßen zu haben.

31

Nach alledem ist festzustellen, dass die gemeinsame Prüfung der ersten und der zweiten Frage nichts ergeben hat, was die Gültigkeit des Beschlusses vom 27. Juli 2021 berühren könnte.

Zur dritten und zur vierten Frage

32

Mit seiner dritten und seiner vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 98 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 in Verbindung mit Art. 41 der Charta dahin auszulegen ist, dass, wenn die Kommission mit einem auf der Grundlage von Art. 99 dieser Verordnung erlassenen Beschluss eine Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung feststellt und infolgedessen eine finanzielle Berichtigung gegenüber einem Mitgliedstaat vornimmt, die zuständigen nationalen Behörden die rechtsgrundlos erhaltenen Beträge wiedereinzuziehen haben, indem sie am Ende eines eigenen Verwaltungsverfahrens eine finanzielle Berichtigung gegenüber dem Empfänger der Mittel vornehmen.

33

Aus den Art. 98 und 99 der Verordnung Nr. 1083/2006 in Verbindung mit deren 65. Erwägungsgrund geht hervor, dass es in erster Linie den Mitgliedstaaten obliegt, die ordnungsgemäße Verwendung der Mittel zu kontrollieren und gegebenenfalls das Vorliegen einer Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung festzustellen. So bestimmt Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung, dass die Mitgliedstaaten finanzielle Berichtigungen vorzunehmen haben, wenn sie Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit den Vorhaben oder den operationellen Programmen feststellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Mai 2016, Județul Neamț und Județul Bacău, C‑260/14 und C‑261/14, EU:C:2016:360, Rn. 48, und vom 6. Dezember 2017, Compania Naţională de Administrare a Infrastructurii Rutiere, C‑408/16, EU:C:2017:940, Rn. 64 und 65).

34

Diese Auslegung wird durch Art. 60 Buchst. a der Verordnung Nr. 1083/2006 gestützt, wonach es der Verwaltungsbehörde obliegt, sicherzustellen, dass die zu finanzierenden Vorhaben während ihrer Durchführung stets den geltenden Vorschriften des Unionsrechts und des einzelstaatlichen Rechts entsprechen.

35

Die Kommission ist somit nur subsidiär – um einem Versäumnis des Mitgliedstaats abzuhelfen – auf der Grundlage von Art. 99 der Verordnung Nr. 1083/2006 befugt, Maßnahmen zur finanziellen Berichtigung zu erlassen, nachdem sie zu dem Schluss gekommen ist, dass ein Mitgliedstaat seine Verpflichtungen aus Art. 98 dieser Verordnung nicht erfüllt hat. Im vorliegenden Fall hat die Kommission im Beschluss vom 27. Juli 2021 festgestellt, dass die Republik Bulgarien keine Entscheidung auf der Grundlage von Art. 98 dieser Verordnung erlassen habe.

36

Außerdem ergibt sich aus Art. 101 der Verordnung Nr. 1083/2006, dass die Vornahme einer finanziellen Berichtigung durch die Kommission gegenüber einem Mitgliedstaat dessen Verpflichtung unberührt lässt, gemäß Art. 98 Abs. 2 dieser Verordnung europäische Mittel wiedereinzuziehen, die rechtsgrundlos von den Begünstigten bezogen wurden.

37

Diese Auslegung wird durch Art. 70 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1083/2006 gestützt, wonach die Mitgliedstaaten, die für die Verwaltung und Kontrolle der operationellen Programme zuständig sind, rechtsgrundlos gezahlte Beträge, gegebenenfalls mit Verzugszinsen, wiedereinzuziehen haben.

38

Da die Mitgliedstaaten europäische Mittel, die aufgrund von den Empfängern dieser Mittel anzulastenden Unregelmäßigkeiten oder aufgrund von deren Fahrlässigkeit rechtsgrundlos bezogen wurden, zurückzufordern haben, entbindet sie folglich der Umstand, dass sie die Erstattung an die Union gemäß dem an sie gerichteten Beschluss der Kommission vorgenommen haben, grundsätzlich nicht davon, diese Mittel von den Empfängern wiedereinzuziehen (vgl. entsprechend Urteile vom 13. März 2008, Vereniging Nationaal Overlegorgaan Sociale Werkvoorziening u. a., C‑383/06 bis C‑385/06, EU:C:2008:165, Rn. 38 und 58, vom 21. Dezember 2011, Chambre de commerce et d’industrie de l’Indre, C‑465/10, EU:C:2011:867, Rn. 34, und vom 18. Dezember 2014, Somvao, C‑599/13, EU:C:2014:2462, Rn. 44 und 45).

39

Erlässt die Kommission auf der Grundlage von Art. 99 der Verordnung Nr. 1083/2006 einen Beschluss über eine finanzielle Berichtigung, ist der Mitgliedstaat daher nach Art. 101 dieser Verordnung verpflichtet, die zu Unrecht erhaltenen Beträge durch den Erlass von Maßnahmen zur finanziellen Berichtigung nach Art. 98 Abs. 2 der Verordnung wiedereinzuziehen, es sei denn, die Wiedereinziehung ist infolge eines diesem Mitgliedstaat anzulastenden Fehlers oder durch dessen Fahrlässigkeit unmöglich geworden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2020, Elme Messer Metalurgs, C‑743/18, EU:C:2020:767, Rn. 71).

40

Beim Erlass solcher Maßnahmen zur Durchführung des Unionsrechts haben die Mitgliedstaaten dessen allgemeine Grundsätze sowie die Bestimmungen der Charta zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Mai 2016, Județul Neamț und Județul Bacău, C‑260/14 und C‑261/14, EU:C:2016:360, Rn. 54, und vom 17. November 2022, Avicarvil Farms, C‑443/21, EU:C:2022:899, Rn. 38).

41

Da sich das vorlegende Gericht in diesem Zusammenhang insbesondere auf Art. 41 der Charta über das Recht auf eine gute Verwaltung bezieht, ist hervorzuheben, dass sich dieser Artikel an die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union und nicht an die Einrichtungen oder Stellen der Mitgliedstaaten richtet, so dass sich eine Privatperson gegenüber nationalen Behörden nicht auf diesen Artikel berufen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juli 2014, YS u. a., C‑141/12 und C‑372/12, EU:C:2014:2081, Rn. 67). Wenn ein Mitgliedstaat Unionsrecht durchführt, sind jedoch die aus dem Grundsatz der guten Verwaltung als allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts folgenden Anforderungen, insbesondere das Recht jeder Person darauf, dass ihre Angelegenheiten unparteiisch und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden, im Rahmen des von der zuständigen nationalen Behörde durchgeführten Verfahrens anzuwenden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Mai 2014, N., C‑604/12, EU:C:2014:302, Rn. 49 und 50, und vom 10. Februar 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Verjährungsfrist], C‑219/20, EU:C:2022:89, Rn. 37).

42

Soweit sich das vorlegende Gericht auch auf das Recht auf Beteiligung am Verfahren bezieht, ist klarzustellen, dass dieses Recht die Ausübung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ermöglicht und deshalb ein integraler Bestandteil der Verteidigungsrechte ist, deren Achtung einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt. Das Recht auf Anhörung garantiert jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen wird, sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen, auch wenn solche Verfahrensrechte in der anwendbaren Regelung nicht vorgesehen sind. Die Regel, wonach der Adressat einer beschwerenden Entscheidung in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt vorzutragen, bevor die Entscheidung getroffen wird, soll es der zuständigen Behörde erlauben, alle maßgeblichen Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. November 2014, Mukarubega, C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 44 bis 47 und 49).

43

Diese Regel ist somit auf ein Verfahren der finanziellen Berichtigung anwendbar, das die nationalen Behörden auf der Grundlage von Art. 98 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 im Anschluss an einen Beschluss der Kommission durchführen, mit dem eine Unregelmäßigkeit festgestellt wird.

44

Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 98 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 in Verbindung mit den allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätzen der guten Verwaltung, der Achtung der Verteidigungsrechte und der Waffengleichheit dahin auszulegen ist, dass, wenn die Kommission mit einem auf der Grundlage von Art. 99 dieser Verordnung erlassenen Beschluss eine Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung feststellt und infolgedessen eine finanzielle Berichtigung gegenüber einem Mitgliedstaat vornimmt, die zuständigen nationalen Behörden grundsätzlich die rechtsgrundlos erhaltenen Beträge wiedereinzuziehen haben, indem sie am Ende eines eigenen Verwaltungsverfahrens, in dem der Empfänger der Mittel sachdienlich und wirksam seine Stellungnahme abgeben konnte, eine finanzielle Berichtigung gegenüber diesem Empfänger vornehmen.

Zur fünften und zur sechsten Frage

45

Mit seiner fünften und seiner sechsten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht an einen endgültigen Beschluss der Kommission, mit dem der Beitrag aus einem Fonds der Europäischen Union wegen einer Unregelmäßigkeit ganz oder teilweise gestrichen wird, gebunden ist, wenn es mit einer Klage gegen den nationalen Rechtsakt befasst ist, mit dem in Durchführung dieses Beschlusses eine finanzielle Berichtigung gegenüber dem Empfänger der Mittel vorgenommen wird.

46

Das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz umfasst mehrere Elemente, zu denen die Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Waffengleichheit, das Recht auf Zugang zu den Gerichten sowie das Recht, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen, gehören (Urteil vom 6. November 2012, Otis u. a., C‑199/11, EU:C:2012:684, Rn. 48).

47

Wie in Rn. 42 des vorliegenden Urteils ausgeführt, garantiert das Recht auf Anhörung, das integraler Bestandteil der Verteidigungsrechte ist, jeder Person die Möglichkeit, im Lauf eines Verfahrens sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen (Urteil vom 26. Oktober 2021, Openbaar Ministerie [Recht auf Anhörung durch die vollstreckende Justizbehörde], C‑428/21 PPU und C‑429/21 PPU, EU:C:2021:876, Rn. 62). Dieses Recht wäre verletzt, wenn eine gerichtliche Entscheidung auf Tatsachen und Schriftstücke gegründet werden könnte, von denen die Parteien selbst – oder eine von ihnen – keine Kenntnis nehmen und zu denen sie daher auch nicht Stellung nehmen konnten (vgl. Urteil vom 17. November 2022, Harman International Industries, C‑175/21, EU:C:2022:895, Rn. 63).

48

Der Grundsatz der Waffengleichheit, der wie der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens eine logische Folge aus dem Begriff des fairen Verfahrens ist, gebietet, dass es jeder Partei angemessen ermöglicht wird, ihren Standpunkt sowie ihre Beweise unter Bedingungen vorzutragen, die sie nicht in eine gegenüber ihrem Gegner deutlich nachteilige Position versetzen. Dieser Grundsatz gewährleistet somit gleiche Rechte und Pflichten der Parteien, insbesondere hinsichtlich der Vorschriften über die Beweiserhebung und die streitige Verhandlung vor dem zuständigen Gericht. Daraus folgt, dass jedes Dokument, das dem zuständigen Gericht vorgelegt wird, von jedem am Verfahren Beteiligten kontrolliert und in Frage gestellt werden können muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. November 2012, Otis u. a., C‑199/11, EU:C:2012:684, Rn. 71 und 72, vom 10. Februar 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Verjährungsfrist], C‑219/20, EU:C:2022:89, Rn. 46, und vom 17. November 2022, Harman International Industries, C‑175/21, EU:C:2022:895, Rn. 62).

49

Demnach muss ein Gericht, das mit einer Klage gegen einen nationalen Rechtsakt zur Vornahme einer finanziellen Berichtigung gegenüber dem Begünstigten eines Fonds der Europäischen Union befasst ist, der in Durchführung eines endgültigen Beschlusses der Kommission erlassen wurde, mit dem der Beitrag aus einem solchen Fonds wegen einer Unregelmäßigkeit ganz oder teilweise gestrichen wurde, auch die Gültigkeit dieses Beschlusses prüfen können. Ist dieses Gericht der Auffassung, dass einer oder mehrere der von den Parteien für die Ungültigkeit des Beschlusses der Kommission vorgebrachten oder von Amts wegen geprüften Gründe durchgreifen, muss es das Verfahren aussetzen und dem Gerichtshof ein Ersuchen um Vorabentscheidung über die Gültigkeit vorlegen, da allein der Gerichtshof befugt ist, die Ungültigkeit einer Handlung der Union festzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2021, VodafoneZiggo Group/Kommission, C‑689/19 P, EU:C:2021:142, Rn. 144).

50

Durch diesen Vorabentscheidungsmechanismus, der es ermöglicht, die von der Kommission getroffene Feststellung einer Unregelmäßigkeit vor dem Gerichtshof anzufechten, kann das in Art. 47 der Charta vorgesehene Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewährleistet werden, das den Adressaten des nationalen Wiedereinziehungsrechtsakts zusteht, wenn die Behörden des Mitgliedstaats mit diesem Rechtsakt das Unionsrecht durchführen.

51

Nach alledem ist auf die fünfte und die sechste Frage zu antworten, dass Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dem nicht entgegensteht, dass ein nationales Gericht an einen endgültigen Beschluss der Kommission, mit dem der Beitrag aus einem Fonds der Europäischen Union wegen einer Unregelmäßigkeit ganz oder teilweise gestrichen wird, gebunden ist, wenn es mit einer Klage gegen den nationalen Rechtsakt befasst ist, mit dem in Durchführung dieses Beschlusses eine finanzielle Berichtigung gegenüber dem Empfänger der Mittel vorgenommen wird, da es den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die Gültigkeit dieses Beschlusses ersuchen muss, wenn es Zweifel an dessen Gültigkeit hat.

Kosten

52

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die gemeinsame Prüfung der ersten und der zweiten Frage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit des Beschlusses C(2021) 5739 final der Kommission vom 27. Juli 2021 über die teilweise Aufhebung des Kohäsionsfondsbeitrags für das operationelle Programm „Verkehr“ 2007–2013 im Rahmen des Ziels „Konvergenz“ in Bulgarien berühren könnte.

 

2.

Art. 98 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 in Verbindung mit den allgemeinen Grundsätzen der guten Verwaltung, der Achtung der Verteidigungsrechte und der Waffengleichheit

ist dahin auszulegen, dass,

wenn die Europäische Kommission mit einem auf der Grundlage von Art. 99 dieser Verordnung erlassenen Beschluss eine Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung feststellt und infolgedessen eine finanzielle Berichtigung gegenüber einem Mitgliedstaat vornimmt, die zuständigen nationalen Behörden grundsätzlich die rechtsgrundlos erhaltenen Beträge wiedereinzuziehen haben, indem sie am Ende eines eigenen Verwaltungsverfahrens, in dem der Empfänger der Mittel sachdienlich und wirksam seine Stellungnahme abgeben konnte, eine finanzielle Berichtigung gegenüber diesem Empfänger vornehmen.

 

3.

Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

ist dahin auszulegen, dass

er dem nicht entgegensteht, dass ein nationales Gericht an einen endgültigen Beschluss der Kommission, mit dem der Beitrag aus einem Fonds der Europäischen Union wegen einer Unregelmäßigkeit ganz oder teilweise gestrichen wird, gebunden ist, wenn es mit einer Klage gegen den nationalen Rechtsakt befasst ist, mit dem in Durchführung dieses Beschlusses eine finanzielle Berichtigung gegenüber dem Empfänger der Mittel vorgenommen wird, da es den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die Gültigkeit dieses Beschlusses ersuchen muss, wenn es Zweifel an dessen Gültigkeit hat.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.