URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

5. Juni 2023 ( *1 ) ( i )

Inhaltsverzeichnis

 

Rechtlicher Rahmen

 

Unionsrecht

 

EU-Vertrag

 

Charta

 

DSGVO

 

Polnisches Recht

 

Verfassung

 

Geändertes Gesetz über das Oberste Gericht

 

Geändertes Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit

 

Geändertes Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit

 

Übergangsbestimmungen im Änderungsgesetz

 

Vorverfahren

 

Verfahren vor dem Gerichtshof

 

Zur Klage

 

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs, zur Rechtsstaatlichkeit und zur richterlichen Unabhängigkeit sowie zum Vorrang des Unionsrechts

 

Zum Fortbestand des Streitgegenstands

 

Zur vierten Rüge

 

Vorbringen der Parteien

 

Würdigung durch den Gerichtshof

 

Zur dritten Rüge

 

Vorbringen der Parteien

 

Würdigung durch den Gerichtshof

 

– Einleitende Erwägungen

 

– Zum ersten Teil der dritten Rüge

 

– Zum zweiten Teil der dritten Rüge

 

Zur ersten Rüge

 

Vorbringen der Parteien

 

Würdigung durch den Gerichtshof

 

– Zur Zulässigkeit

 

– Zur Begründetheit

 

Zur zweiten Rüge

 

Vorbringen der Parteien

 

Würdigung durch den Gerichtshof

 

– Zur Zulässigkeit

 

– Zur Begründetheit

 

Zur fünften Rüge

 

Vorbringen der Parteien

 

Würdigung durch den Gerichtshof

 

– Einleitende Erwägungen

 

– Zur Anwendbarkeit der DSGVO

 

– Zur Anwendbarkeit von Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta

 

– Zum Vorwurf eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO sowie Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta

 

Kosten

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Rechtsstaatlichkeit – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Unabhängigkeit von Richtern – Art. 267 AEUV – Berechtigung, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen – Vorrang des Unionsrechts – Der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) übertragene Zuständigkeiten betreffend die Aufhebung der strafrechtlichen Immunität von Richtern sowie arbeitsrechtliche, sozialversicherungsrechtliche und ruhestandsrechtliche Angelegenheiten von Richtern dieses Gerichts – Verbot für die nationalen Gerichte, die Legitimität der Gerichte und der Verfassungsorgane in Frage zu stellen oder die Rechtmäßigkeit der Ernennung von Richtern oder ihrer richterlichen Befugnisse festzustellen oder zu beurteilen – Einstufung der von einem Richter vorgenommenen Prüfung, ob bestimmte Anforderungen in Bezug auf das Vorliegen eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts erfüllt sind, als ‚Disziplinarvergehen‘ – Ausschließliche Zuständigkeit der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) für die Prüfung von Fragen betreffend die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters – Art. 7 und 8 der Grundrechtecharta – Recht auf Achtung des Privatlebens und Recht auf Schutz personenbezogener Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 Unterabs. 2 – Art. 9 Abs. 1 – Sensible Daten – Nationale Regelung, die Richter verpflichtet, eine Erklärung zu ihrer etwaigen Mitgliedschaft in einem Verein, einer Stiftung oder einer politischen Partei sowie zu den dort ausgeübten Funktionen abzugeben, und die Veröffentlichung der in diesen Erklärungen enthaltenen Angaben im Internet vorsieht“

In der Rechtssache C‑204/21

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingelegt am 1. April 2021,

Europäische Kommission, vertreten durch K. Herrmann und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,

Klägerin,

unterstützt durch

Königreich Belgien, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,

Königreich Dänemark, vertreten zunächst durch V. Pasternak Jørgensen, M. Søndahl Wolff und L. Teilgård, dann durch J. F. Kronborg, V. Pasternak Jørgensen und M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte,

Königreich der Niederlande, vertreten durch M. K. Bulterman, J. Langer, M. A. M. de Ree und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

Republik Finnland, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,

Königreich Schweden, vertreten durch H. Eklinder, C. Meyer-Seitz, A. Runeskjöld, M. Salborn Hodgson, R. Shahsavan Eriksson, H. Shev und O. Simonsson als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

gegen

Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna, J. Sawicka, K. Straś und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), des Kammerpräsidenten E. Regan, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, der Richter M. Ilešič, N. Piçarra, I. Jarukaitis, A. Kumin und N. Jääskinen, der Richterin I. Ziemele, der Richter J. Passer und Z. Csehi sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Juni 2022,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Dezember 2022

folgendes

Urteil

1

Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission beim Gerichtshof die Feststellung, dass die Republik Polen

dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sowie aus Art. 267 AEUV und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen hat, dass sie Art. 42a §§ 1 und 2 sowie Art. 55 § 4 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 (Dz. U. Nr. 98, Pos. 1070) in der durch die Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 20. Dezember 2019 (Dz. U. 2020, Pos. 190, im Folgenden: Änderungsgesetz) geänderten Fassung (im Folgenden: geändertes Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit), Art. 26 § 3 und Art. 29 §§ 2 und 3 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 5) in der durch das Änderungsgesetz geänderten Fassung (im Folgenden: geändertes Gesetz über das Oberste Gericht), Art. 5 §§ 1a und 1b der Ustawa – Prawo o ustroju sądów administracyjnych (Gesetz über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit) vom 25. Juli 2002 (Dz. U. 153, Pos. 1269) in der durch das Änderungsgesetz geänderten Fassung (im Folgenden: geändertes Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit) sowie Art. 8 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach allen nationalen Gerichten die Prüfung, ob die Anforderungen der Europäischen Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht erfüllt sind, untersagt ist;

dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie aus Art. 267 AEUV und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen hat, dass sie Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sowie Art. 10 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach für die Prüfung von Rügen und Rechtsfragen betreffend die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters ausschließlich die Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) (im Folgenden: Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) zuständig ist;

dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie aus Art. 267 AEUV verstoßen hat, dass sie Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 1 bis 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht erlassen und beibehalten hat, wonach die Prüfung, ob die Anforderungen der Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht erfüllt sind, als „Disziplinarvergehen“ gewertet werden kann;

dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, dass sie die Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) (im Folgenden: Disziplinarkammer), deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet sind, ermächtigt hat, in Sachen zu entscheiden, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirken, etwa zum einen in Sachen betreffend die Zustimmung dazu, dass Richter und Assessoren strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder festgenommen werden, und zum anderen in arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen betreffend die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sowie Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand;

dadurch das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, wie sie in Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1) (im Folgenden: DSGVO) niedergelegt sind, verletzt hat, dass sie Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit erlassen und beibehalten hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

EU-Vertrag

2

Art. 2 EUV lautet:

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

3

Art. 4 EUV bestimmt:

„(1)   Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben gemäß Artikel 5 bei den Mitgliedstaaten.

(2)   Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Sie achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten.

(3)   Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben.

Die Mitgliedstaaten ergreifen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben.

Die Mitgliedstaaten unterstützen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe und unterlassen alle Maßnahmen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten.“

4

Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV lautet:

„(1)   Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.

(2)   Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten.“

5

Art. 19 Abs. 1 EUV bestimmt:

„Der Gerichtshof der Europäischen Union umfasst den Gerichtshof, das Gericht und Fachgerichte. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge.

Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“

Charta

6

Art. 7 der Charta bestimmt:

„Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.“

7

In Art. 8 der Charta heißt es:

„(1)   Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten.

(2)   Diese Daten dürfen nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage verarbeitet werden. …

…“

8

Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) der Charta bestimmt:

„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. …

…“

9

Art. 52 Abs. 1 der Charta sieht vor:

„Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“

DSGVO

10

In den Erwägungsgründen 4, 10, 16, 20, 39 und 51 der DSGVO heißt es:

„(4)

Die Verarbeitung personenbezogener Daten sollte im Dienste der Menschheit stehen. Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten ist kein uneingeschränktes Recht; es muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Diese Verordnung steht im Einklang mit allen Grundrechten und achtet alle Freiheiten und Grundsätze, die mit der Charta anerkannt wurden und in den Europäischen Verträgen verankert sind, insbesondere Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation, Schutz personenbezogener Daten, Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, unternehmerische Freiheit, Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren und Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.

(10)

Um ein gleichmäßiges und hohes Datenschutzniveau für natürliche Personen zu gewährleisten und die Hemmnisse für den Verkehr personenbezogener Daten in der Union zu beseitigen, sollte das Schutzniveau für die Rechte und Freiheiten von natürlichen Personen bei der Verarbeitung dieser Daten in allen Mitgliedstaaten gleichwertig sein. Die Vorschriften zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten von natürlichen Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sollten unionsweit gleichmäßig und einheitlich angewandt werden. Hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung oder zur Wahrnehmung einer Aufgabe, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde, sollten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, nationale Bestimmungen, mit denen die Anwendung der Vorschriften dieser Verordnung genauer festgelegt wird, beizubehalten oder einzuführen. … Diese Verordnung bietet den Mitgliedstaaten zudem einen Spielraum für die Spezifizierung ihrer Vorschriften, auch für die Verarbeitung besonderer Kategorien von personenbezogenen Daten (im Folgenden ‚sensible Daten‘). Diesbezüglich schließt diese Verordnung nicht Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten aus, in denen die Umstände besonderer Verarbeitungssituationen festgelegt werden, einschließlich einer genaueren Bestimmung der Voraussetzungen, unter denen die Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig ist.

(16)

Diese Verordnung gilt nicht für Fragen des Schutzes von Grundrechten und Grundfreiheiten und des freien Verkehrs personenbezogener Daten im Zusammenhang mit Tätigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, wie etwa die nationale Sicherheit betreffende Tätigkeiten. Diese Verordnung gilt nicht für die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union durchgeführte Verarbeitung personenbezogener Daten.

(20)

Diese Verordnung gilt zwar unter anderem für die Tätigkeiten der Gerichte und anderer Justizbehörden, doch könnte im Unionsrecht oder im Recht der Mitgliedstaaten festgelegt werden, wie die Verarbeitungsvorgänge und Verarbeitungsverfahren bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch Gerichte und andere Justizbehörden im Einzelnen auszusehen haben. Damit die Unabhängigkeit der Justiz bei der Ausübung ihrer gerichtlichen Aufgaben einschließlich ihrer Beschlussfassung unangetastet bleibt, sollten die Aufsichtsbehörden nicht für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch Gerichte im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit zuständig sein. Mit der Aufsicht über diese Datenverarbeitungsvorgänge sollten besondere Stellen im Justizsystem des Mitgliedstaats betraut werden können, die insbesondere die Einhaltung der Vorschriften dieser Verordnung sicherstellen, Richter und Staatsanwälte besser für ihre Pflichten aus dieser Verordnung sensibilisieren und Beschwerden in Bezug auf derartige Datenverarbeitungsvorgänge bearbeiten sollten.

(39)

… [D]ie bestimmten Zwecke, zu denen die personenbezogenen Daten verarbeitet werden, [sollten] eindeutig und rechtmäßig sein und zum Zeitpunkt der Erhebung der personenbezogenen Daten feststehen. Die personenbezogenen Daten sollten für die Zwecke, zu denen sie verarbeitet werden, angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke ihrer Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein. … Personenbezogene Daten sollten nur verarbeitet werden dürfen, wenn der Zweck der Verarbeitung nicht in zumutbarer Weise durch andere Mittel erreicht werden kann. …

(51)

Personenbezogene Daten, die ihrem Wesen nach hinsichtlich der Grundrechte und Grundfreiheiten besonders sensibel sind, verdienen einen besonderen Schutz, da im Zusammenhang mit ihrer Verarbeitung erhebliche Risiken für die Grundrechte und Grundfreiheiten auftreten können. … Derartige personenbezogene Daten sollten nicht verarbeitet werden, es sei denn, die Verarbeitung ist in den in dieser Verordnung dargelegten besonderen Fällen zulässig, wobei zu berücksichtigen ist, dass im Recht der Mitgliedstaaten besondere Datenschutzbestimmungen festgelegt sein können, um die Anwendung der Bestimmungen dieser Verordnung anzupassen, damit die Einhaltung einer rechtlichen Verpflichtung oder die Wahrnehmung einer Aufgabe im öffentlichen Interesse oder die Ausübung öffentlicher Gewalt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde, möglich ist. Zusätzlich zu den speziellen Anforderungen an eine derartige Verarbeitung sollten die allgemeinen Grundsätze und andere Bestimmungen dieser Verordnung, insbesondere hinsichtlich der Bedingungen für eine rechtmäßige Verarbeitung, gelten. Ausnahmen von dem allgemeinen Verbot der Verarbeitung dieser besonderen Kategorien personenbezogener Daten sollten ausdrücklich vorgesehen werden, unter anderem bei ausdrücklicher Einwilligung der betroffenen Person oder bei bestimmten Notwendigkeiten, insbesondere wenn die Verarbeitung im Rahmen rechtmäßiger Tätigkeiten bestimmter Vereinigungen oder Stiftungen vorgenommen wird, die sich für die Ausübung von Grundfreiheiten einsetzen.“

11

Art. 1 („Gegenstand und Ziele“) Abs. 2 DSGVO bestimmt:

„Diese Verordnung schützt die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen und insbesondere deren Recht auf Schutz personenbezogener Daten.“

12

Art. 2 („Sachlicher Anwendungsbereich“) DSGVO bestimmt:

„(1)   Diese Verordnung gilt für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen.

(2)   Diese Verordnung findet keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten

a)

im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt,

b)

durch die Mitgliedstaaten im Rahmen von Tätigkeiten, die in den Anwendungsbereich von Titel V Kapitel 2 EUV fallen,

…“

13

In Art. 4 („Begriffsbestimmungen“) DSGVO heißt es:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:

1.

‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person (im Folgenden ‚betroffene Person‘) beziehen; als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser natürlichen Person sind, identifiziert werden kann;

2.

‚Verarbeitung‘ jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung;

7.

‚Verantwortlicher‘ die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet; sind die Zwecke und Mittel dieser Verarbeitung durch das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten vorgegeben, so kann der Verantwortliche beziehungsweise können die bestimmten Kriterien seiner Benennung nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten vorgesehen werden;

…“

14

Art. 6 („Rechtmäßigkeit der Verarbeitung“) DSGVO sieht in den Abs. 1 und 3 vor:

„(1)   Die Verarbeitung ist nur rechtmäßig, wenn mindestens eine der nachstehenden Bedingungen erfüllt ist:

c)

die Verarbeitung ist zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich, der der Verantwortliche unterliegt;

e)

die Verarbeitung ist für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde;

(3)   Die Rechtsgrundlage für die Verarbeitungen gemäß Absatz 1 Buchstaben c und e wird festgelegt durch

a)

Unionsrecht oder

b)

das Recht der Mitgliedstaaten, dem der Verantwortliche unterliegt.

Der Zweck der Verarbeitung muss in dieser Rechtsgrundlage festgelegt oder hinsichtlich der Verarbeitung gemäß Absatz 1 Buchstabe e für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich sein, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde. … Das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten müssen ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen.“

15

Art. 9 („Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten“) Abs. 1 und 2 DSGVO bestimmt:

„(1)   Die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung einer natürlichen Person ist untersagt.

(2)   Absatz 1 gilt nicht in folgenden Fällen:

g)

die Verarbeitung ist auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich,

…“

Polnisches Recht

Verfassung

16

In Art. 45 Abs. 1 der Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej (Verfassung der Republik Polen, im Folgenden: Verfassung) heißt es:

„Jedermann hat das Recht auf gerechte und öffentliche Verhandlung der Sache ohne unbegründete Verzögerung vor dem zuständigen, unabhängigen, unparteiischen Gericht.“

17

Nach Art. 179 der Verfassung werden die Richter vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen, im Folgenden: KRS) auf unbestimmte Zeit ernannt.

18

Art. 186 Abs. 1 der Verfassung sieht vor:

„Die [KRS] schützt die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter.“

19

Art. 187 der Verfassung bestimmt:

„1.   Die [KRS] besteht aus:

1)

dem Ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], dem Justizminister, dem Präsidenten des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht, Polen)] und einer vom Präsidenten der Republik ernannten Person,

2)

fünfzehn Mitgliedern, die aus der Mitte der Richter des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungs- und der Militärgerichte gewählt worden sind,

3)

vier Mitgliedern, die vom Sejm [(Erste Kammer des Parlaments, Polen)] aus der Mitte der Abgeordneten gewählt worden sind, und zwei Mitgliedern, die vom Senat aus der Mitte der Senatoren gewählt worden sind.

3.   Die Amtszeit der gewählten Mitglieder der [KRS] beträgt vier Jahre.

4.   Die Ordnung, den Umfang der Tätigkeit und die Arbeitsweise der [KRS] sowie die Wahl ihrer Mitglieder regelt ein Gesetz.“

Geändertes Gesetz über das Oberste Gericht

20

Mit dem Gesetz über das Oberste Gericht wurden innerhalb des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zwei neue Kammern geschaffen, nämlich zum einen die Disziplinarkammer und zum anderen die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten.

21

Durch das Änderungsgesetz, das am 14. Februar 2020 in Kraft trat, wurde das Gesetz über das Oberste Gericht insbesondere wie folgt geändert: Eingefügt wurden neue §§ 2 bis 6 in Art. 26, eine neue Nr. 1a in Art. 27 § 1, ein neuer § 3 in Art. 45 sowie neue §§ 2 bis 5 in Art. 82, und geändert wurden Art. 29 und Art. 72 § 1 des Gesetzes.

22

In Art. 26 §§ 2 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht heißt es:

„§ 2.   Die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ist zuständig für Anträge oder Erklärungen betreffend die Ablehnung eines Richters oder die Bestimmung des Gerichts, bei dem ein Verfahren geführt werden soll, mit denen die fehlende Unabhängigkeit des Gerichts oder des Richters gerügt wird. Das mit der Sache befasste Gericht übermittelt dem Präsidenten der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten unverzüglich den Antrag, damit dieser nach den in gesonderten Vorschriften festgelegten Regeln weiter behandelt wird. Durch die Übermittlung des Antrags an den Präsidenten der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten wird das laufende Verfahren nicht ausgesetzt.

§ 3.   Der Antrag nach § 2 wird nicht geprüft, wenn er die Feststellung und die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung betrifft.

§ 4.   Die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ist für Klagen zuständig, die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit rechtskräftiger Entscheidungen des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], der ordentlichen Gerichte, der Militärgerichte und der Verwaltungsgerichte einschließlich des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] gerichtet sind, wenn die Rechtswidrigkeit darin besteht, dass der Status der zur Ausübung des Richteramts berufenen Person in Frage gestellt wird, die in der Sache entschieden hat.

§ 5.   Für das Verfahren in den Sachen nach § 4 gelten die Bestimmungen über die Feststellung der Rechtswidrigkeit rechtskräftiger Entscheidungen entsprechend, und in Strafsachen die Bestimmungen über die Wiederaufnahme eines durch eine rechtskräftige Entscheidung abgeschlossenen Gerichtsverfahrens. Es ist nicht erforderlich, dass ein durch den Erlass der Entscheidung, die Gegenstand der Klage ist, verursachter Schaden vorliegt oder glaubhaft gemacht wird.

§ 6.   Eine Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer rechtskräftigen Entscheidung nach § 4 kann bei der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten … ohne Befassung des Gerichts, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, erhoben werden, und zwar auch dann, wenn eine Partei die ihr zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe, einschließlich des außerordentlichen Rechtsbehelfs beim Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], nicht ausgeschöpft hat.“

23

Art. 27 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor:

„Die Disziplinarkammer ist zuständig für:

1)

Disziplinarsachen,

a)

die Richter des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] betreffen,

b)

die vom Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] im Zusammenhang mit Disziplinarverfahren geprüft werden, die auf der Grundlage folgender Gesetze betrieben werden:

[Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit],

1a)

Sachen betreffend die Zustimmung dazu, dass Richter, Gerichtsassessoren [(Richter auf Probe)], Staatsanwälte und Staatsanwaltsassessoren [(Staatsanwälte auf Probe)] strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder in Untersuchungshaft genommen werden;

2)

arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Sachen, die Richter des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] betreffen;

3)

Sachen betreffend die Versetzung eines Richters des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] in den Ruhestand.“

24

Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor:

„§ 2.   Im Rahmen der Tätigkeiten des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] oder seiner Organe darf die Legitimität der [Gerichte], der Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden.

§ 3.   Der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] oder ein anderes Organ der Staatsgewalt darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder der sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen.“

25

Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht bestimmt:

„Die Erklärung nach Art. 88a des [geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit] ist von den Richtern des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] gegenüber dem Ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] und vom Ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] gegenüber der [KRS] abzugeben.“

26

Art. 72 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor:

„Ein Richter des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] kann für Fehlverhalten im Amt (Disziplinarvergehen) disziplinarisch belangt werden, u. a. für:

1)

die offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften;

2)

Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren können;

3)

Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird.“

27

Nach Art. 73 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht ist die Disziplinarkammer das Disziplinargericht erster und zweiter Instanz für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht).

28

Art. 82 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht bestimmt:

„§ 1.   Hat der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] bei der Prüfung einer Kassationsbeschwerde oder eines anderen Rechtsbehelfs ernste Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Rechtsvorschriften, auf deren Grundlage die betreffende Entscheidung erlassen wurde, so kann er das Verfahren aussetzen und einem aus sieben Richtern dieses Gerichts bestehenden Spruchkörper eine Rechtsfrage vorlegen.

§ 2.   Prüft der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] eine Sache, in der sich eine Rechtsfrage stellt, die die Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts betrifft, so setzt er die Entscheidung aus und legt diese Frage einem Spruchkörper vor, der aus sämtlichen Mitgliedern der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten besteht.

§ 3.   Hat der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] bei der Prüfung eines Antrags nach Art. 26 § 2 ernste Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Rechtsvorschriften, auf deren Grundlage die Entscheidung zu ergehen hat, so kann er das Verfahren aussetzen und einem aus sämtlichen Mitgliedern der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten bestehenden Spruchkörper eine Rechtsfrage vorlegen.

§ 4.   Beim Erlass eines Beschlusses nach § 2 oder § 3 ist die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten nicht an einen Beschluss eines anderen Spruchkörpers des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] gebunden, auch wenn dieser Beschluss die Wirkung eines Rechtsgrundsatzes hat.

§ 5.   Ein von sämtlichen Mitgliedern der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten auf der Grundlage von § 2 oder § 3 erlassener Beschluss ist für alle Spruchkörper des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] verbindlich. Eine Abweichung von einem Beschluss, der die Wirkung eines Rechtsgrundsatzes hat, erfordert eine erneute Entscheidung durch einen Beschluss des Plenums des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] in Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln der Richter jeder der Kammern. Art. 88 findet keine Anwendung.“

Geändertes Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit

29

Durch das Änderungsgesetz wurde das Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit insbesondere wie folgt geändert: Eingefügt wurden neue Art. 42a und 88a, ein neuer § 4 in Art. 55, neue Nrn. 2 und 3 in Art. 107 sowie ein neuer § 2a in Art. 110 des Gesetzes.

30

Art. 42a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit bestimmt:

„§ 1.   Im Rahmen der Tätigkeiten der Gerichte oder der Organe der Gerichte darf die Legitimität der [Gerichte], der Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden.

§ 2.   Ein ordentliches Gericht oder ein anderes Organ der Staatsgewalt darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder der sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen.“

31

Art. 55 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit bestimmt:

„§ 1.   Ein Richter eines ordentlichen Gerichts ist eine Person, die vom Präsidenten der Republik in dieses Amt ernannt wurde und ihm gegenüber einen Eid geleistet hat.

§ 2.   Die Richter der ordentlichen Gerichte werden in die folgenden Ämter ernannt:

1)

Richter am Sąd Rejonowy [(Rayongericht)];

2)

Richter am Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)];

3)

Richter am Sąd Apelacyjny [(Berufungsgericht)].

§ 3.   Bei der Ernennung einer Person in das Richteramt bestimmt der Präsident der Republik ihren Dienstort (Amtssitz). In den in Art. 75 vorgesehenen Fällen und nach den dort bestimmten Modalitäten kann der Dienstort ohne Änderung der dienstlichen Stellung geändert werden.

§ 4.   Ein Richter kann über alle Sachen an seinem Dienstort und in den gesetzlich vorgesehenen Fällen in anderen Gerichten entscheiden (Zuständigkeit des Richters). Die Vorschriften über die Zuweisung von Sachen sowie über die Bestimmung und Änderung der Spruchkörper beschränken nicht die Zuständigkeit des Richters und können keine Grundlage für die Feststellung sein, dass ein Spruchkörper im Widerspruch zu Rechtsvorschriften steht, dass ein Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt ist oder dass eine Person an der Entscheidung beteiligt war, die dazu nicht befugt oder zuständig ist.“

32

Art. 80 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit bestimmt:

„§ 1.   Ein Richter darf ohne Zustimmung des zuständigen Disziplinargerichts weder festgenommen noch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Diese Bestimmung betrifft nicht die Festnahme eines Richters auf frischer Tat, wenn diese Festnahme unerlässlich ist, um die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens zu gewährleisten. Bis zum Erlass des Beschlusses, mit dem die Zustimmung dazu gegeben wird, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, dürfen nur Maßnahmen getroffen werden, die keinen Aufschub dulden.

§ 2c.   Das Disziplinargericht erlässt einen Beschluss, mit dem die Zustimmung dazu gegeben wird, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, wenn der hinreichend begründete Verdacht besteht, dass er eine Straftat begangen hat. Der Beschluss enthält die Entscheidung über die Zustimmung dazu, dass der betreffende Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, und die Begründung dafür.

§ 2d.   Das Disziplinargericht prüft einen Antrag auf Zustimmung dazu, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, innerhalb von 14 Tagen nach seinem Eingang.

…“

33

Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit lautet:

„§ 1.   Ein Richter ist verpflichtet, eine schriftliche Erklärung mit folgenden Angaben abzugeben:

1)

seine Mitgliedschaft in einer Vereinigung, u. a. einem Verein, einschließlich des Namens und des eingetragenen Sitzes der Vereinigung, der dort eingenommenen Positionen und des Zeitraums der Mitgliedschaft;

2)

die in einem Organ einer Stiftung ohne Gewinnzweck eingenommene Position, einschließlich des Namens und des eingetragenen Sitzes der Stiftung und des Zeitraums, in dem diese Position eingenommen wurde;

3)

seine Mitgliedschaft in einer politischen Partei vor seiner Ernennung auf die Stelle eines Richters sowie seine Mitgliedschaft in einer politischen Partei während seiner Amtszeit vor dem 29. Dezember 1989, einschließlich des Namens der Partei, der eingenommenen Positionen und des Zeitraums der Mitgliedschaft.

§ 2.   Die Erklärungen nach § 1 sind von Richtern gegenüber dem Präsidenten des zuständigen Sąd Apelacyjny [(Berufungsgericht)] und von den Präsidenten der Sądy Apelacyjne [(Berufungsgerichte)] gegenüber dem Justizminister abzugeben.

§ 3.   Die Erklärungen nach § 1 sind binnen 30 Tagen ab dem Amtsantritt des Richters und binnen 30 Tagen ab dem Eintritt oder dem Wegfall der in § 1 bezeichneten Umstände abzugeben.

§ 4.   Die in den Erklärungen nach § 1 enthaltenen Angaben sind öffentlich und werden nicht später als 30 Tage nach der Abgabe der Erklärung gegenüber der zuständigen Stelle in dem in der Ustawa o dostępie do informacji publicznej [(Gesetz über den Zugang zu öffentlichen Informationen) vom 6. September 2001 (Dz. U. Nr. 112, Pos. 1198)] bezeichneten Biuletyn Informacji Publicznej [(Bulletin für öffentliche Informationen)] veröffentlicht.“

34

Art. 107 § 1 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit bestimmt:

„Ein Richter kann für Fehlverhalten im Amt (Disziplinarvergehen) disziplinarisch belangt werden, u. a. für:

1)

die offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften;

2)

Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren können;

3)

Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird;

…“

35

In Art. 110 § 2a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit heißt es:

„… In den Sachen nach … Art. 80 … entscheidet im ersten Rechtszug der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit einem Richter der Disziplinarkammer und im zweiten Rechtszug der Sąd Najwyższy [(Oberste Gericht)] in der Besetzung mit drei Richtern der Disziplinarkammer.“

36

In Art. 129 §§ 1 bis 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit heißt es:

„§ 1.   Das Disziplinargericht kann einen Richter, gegen den ein Disziplinar- oder Entmündigungsverfahren eingeleitet wurde, von seinen Diensttätigkeiten suspendieren; dies gilt auch dann, wenn es mit einem Beschluss seine Zustimmung dazu gibt, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird.

§ 2.   Wenn das Disziplinargericht mit einem Beschluss seine Zustimmung dazu gibt, dass ein Richter wegen einer vorsätzlichen Straftat, die von Amts wegen verfolgt wird, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, suspendiert es diesen Richter von Amts wegen von seinen Diensttätigkeiten.

§ 3.   Suspendiert das Disziplinargericht einen Richter von seinen Diensttätigkeiten, kürzt es für die Zeit der Suspendierung den Betrag seiner Vergütung um 25 bis 50 %; dies gilt nicht für Personen, gegen die ein Entmündigungsverfahren eingeleitet wurde.“

Geändertes Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit

37

Durch das Änderungsgesetz wurde das Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit insbesondere wie folgt geändert: Eingefügt wurden in Art. 5 neue §§ 1a und 1b sowie in Art. 8 ein neuer § 2, und geändert wurden Art. 29 § 1 und Art. 49 § 1 des Gesetzes.

38

Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit bestimmt:

„§ 1a.   Im Rahmen der Tätigkeiten eines Verwaltungsgerichts oder seiner Organe darf die Legitimität der [Gerichte], der Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden.

§ 1b.   Ein Verwaltungsgericht oder ein anderes Organ der Staatsgewalt darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder der sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen.“

39

Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit bestimmt:

„Die Erklärung nach Art. 88a des [geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit] ist von den Richtern eines Wojewódzki Sąd Administracyjny [(Woiwodschaftsverwaltungsgericht)] gegenüber dem zuständigen Präsidenten eines Woiwodschaftsverwaltungsgerichts, vom Präsidenten eines Woiwodschaftsverwaltungsgerichts und von den Richtern des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] gegenüber dem Präsidenten des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] und vom Präsidenten des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] gegenüber der [KRS] abzugeben.“

40

Nach Art. 29 § 1 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit gelten die in Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit vorgesehenen Disziplinartatbestände auch für die Richter der Verwaltungsgerichte.

41

Nach Art. 49 § 1 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit gelten die in Art. 72 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht vorgesehenen Disziplinartatbestände auch für die Richter des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)].

Übergangsbestimmungen im Änderungsgesetz

42

Nach Art. 8 des Änderungsgesetzes gilt Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit auch für Sachen, die vor dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes eingeleitet oder abgeschlossen wurden.

43

Art. 10 des Änderungsgesetzes sieht vor:

„§ 1.   Die Bestimmungen des [Gesetzes über das Oberste Gericht] in der Fassung des vorliegenden Gesetzes finden auch auf Sachen Anwendung, die der Prüfung durch die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten unterliegen und vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingeleitet und nicht durch eine rechtskräftige Entscheidung, einschließlich eines Beschlusses, abgeschlossen worden sind.

§ 2.   Das Gericht, bei dem eine Sache nach § 1 anhängig ist, verweist diese unverzüglich, spätestens sieben Tage nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes, an die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, die die zuvor vorgenommenen Handlungen aufheben kann, soweit sie der weiteren Prüfung der Sache im Einklang mit dem Gesetz entgegenstehen.

§ 3.   Gerichtliche Handlungen und Handlungen der Parteien oder Verfahrensbeteiligten in Verfahren in den in § 1 genannten Sachen, die nach dem Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzes unter Verstoß gegen § 2 vorgenommen werden, haben keine verfahrensrechtlichen Wirkungen.“

Vorverfahren

44

Am 29. April 2020 richtete die Kommission, die der Ansicht war, dass die Republik Polen durch den Erlass des Änderungsgesetzes in mehrfacher Hinsicht gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta, dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und Art. 267 AEUV sowie Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta, Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 DSGVO verstoßen habe, ein Mahnschreiben an diesen Mitgliedstaat. Die Republik Polen antwortete darauf mit Schreiben vom 29. Juni 2020, in dem sie jeden Verstoß gegen das Unionsrecht bestritt.

45

Am 30. Oktober 2020 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie daran festhielt, dass die durch das Änderungsgesetz eingeführte Regelung gegen die in der vorstehenden Randnummer genannten Bestimmungen des Unionsrechts verstoße. Sie forderte die Republik Polen daher auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen zweier Monate nach ihrem Erhalt nachzukommen.

46

In Anbetracht der zunehmenden Zahl der bei der Disziplinarkammer anhängigen Verfahren wegen Anträgen auf Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter stellte die Kommission den polnischen Behörden am 1. November 2020 mehrere Fragen, die diese am 13. November 2020 beantworteten.

47

Am 3. Dezember 2020 übersandte die Kommission der Republik Polen ein ergänzendes Mahnschreiben, in dem sie beanstandete, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen habe, dass sie der Disziplinarkammer, deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet seien, auf der Grundlage von Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht die Zuständigkeit für die Entscheidung in Sachen, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirkten, zugewiesen habe.

48

Mit Schreiben vom 30. Dezember 2020 antwortete die Republik Polen auf die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission vom 30. Oktober 2020 und stellte das Vorliegen der gerügten Vertragsverletzungen in Abrede.

49

Mit Schreiben vom 4. Januar 2021 antwortete die Republik Polen auf das ergänzende Mahnschreiben vom 3. Dezember 2020 und machte geltend, dass die darin erhobenen Rügen der Kommission ebenfalls unbegründet seien.

50

Am 27. Januar 2021 übersandte die Kommission der Republik Polen eine ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie die Rügen aufrechterhielt, die sie in ihrem ergänzenden Mahnschreiben erhoben hatte. Sie forderte die Republik Polen daher auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der ergänzenden mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen eines Monats nach ihrem Erhalt nachzukommen.

51

Mit Schreiben vom 26. Februar 2021 antwortete die Republik Polen auf die ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme und wies die darin von der Kommission erhobenen Rügen zurück.

52

Vor diesem Hintergrund hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.

Verfahren vor dem Gerichtshof

53

Mit gesondertem Schriftsatz, der am 1. April 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die Kommission einen Antrag auf einstweilige Anordnungen nach Art. 279 AEUV gestellt.

54

Mit Beschluss vom 14. Juli 2021, Kommission/Polen (C‑204/21 R, EU:C:2021:593), hat die Vizepräsidentin des Gerichtshofs diesem Antrag bis zur Verkündung des vorliegenden Urteils stattgegeben und der Republik Polen im Wesentlichen aufgegeben, sowohl die Anwendung der nationalen Bestimmungen, die im ersten bis vierten Gedankenstrich der Klageanträge der Kommission, wie sie in Rn. 1 des vorliegenden Urteils wiedergeben sind, genannt werden, als auch die Wirkungen der Entscheidungen der Disziplinarkammer über die Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Richter oder zu seiner Festnahme auszusetzen.

55

Mit am 16. August 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangenem Schriftsatz hat die Republik Polen beantragt, diesen Beschluss wieder aufzuheben. Dieser Antrag wurde mit Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 6. Oktober 2021, Polen/Kommission (C‑204/21 R, EU:C:2021:834), zurückgewiesen.

56

Mit am 7. September 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangenem Schriftsatz hat die Kommission einen neuen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Verurteilung der Republik Polen zur Zahlung eines täglichen Zwangsgelds gestellt. Mit Beschluss vom 27. Oktober 2021, Kommission/Polen (C‑204/21 R, EU:C:2021:878), hat der Vizepräsident des Gerichtshofs die Republik Polen verurteilt, an die Kommission ein Zwangsgeld in Höhe von 1000000 Euro pro Tag zu zahlen, und zwar ab dem Tag der Zustellung dieses Beschlusses bis zu dem Tag, an dem die Republik Polen ihren Verpflichtungen aus dem in Rn. 54 des vorliegenden Urteils genannten Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs nachkommt, oder andernfalls bis zum Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils. Mit Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 21. April 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern) (C‑204/21 R-RAP, EU:C:2023:334), ist der Betrag des Zwangsgelds ab dem Tag der Unterzeichnung dieses Beschlusses auf 500000 Euro pro Tag herabgesetzt worden.

57

Mit Beschlüssen vom 30. September 2021 hat der Präsident des Gerichtshofs das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, das Königreich der Niederlande, die Republik Finnland und das Königreich Schweden als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen.

Zur Klage

58

Die Klage der Kommission umfasst fünf Rügen. Mit der ersten bis dritten Rüge beanstandet die Kommission Verstöße gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie gegen Art. 267 AEUV, wobei die erste und die zweite Rüge außerdem auf die Feststellung eines Verstoßes gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts gerichtet sind. Mit der vierten Rüge wird ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV geltend gemacht. Die fünfte Rüge betrifft einen Verstoß gegen Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie gegen Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO.

59

Die Republik Polen stellt alle ihr insoweit vorgeworfenen Verstöße in Abrede und beantragt die Abweisung der Klage der Kommission.

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs, zur Rechtsstaatlichkeit und zur richterlichen Unabhängigkeit sowie zum Vorrang des Unionsrechts

60

In ihrer Gegenerwiderung beruft sich die Republik Polen auf das Urteil vom 14. Juli 2021 (Rechtssache P 7/20) des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen), in dem jenes Gericht zum einen auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 5 Abs. 1 EUV und insbesondere unter Zugrundelegung des unionsrechtlichen Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung und der Verpflichtung der Union zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten festgestellt habe, dass Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV in Verbindung mit Art. 279 AEUV in seiner Auslegung durch den Gerichtshof im Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen (C‑791/19 R, EU:C:2020:277), mit mehreren Bestimmungen der Verfassung unvereinbar sei. Zum anderen habe das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) festgestellt, dass der Gerichtshof ultra vires entschieden habe, als er in diesem Beschluss einstweilige Anordnungen in Bezug auf die Organisation und die Zuständigkeit der polnischen Gerichte und das vor ihnen zu befolgende Verfahren getroffen habe und der Republik Polen dadurch Verpflichtungen auferlegt habe. Folglich seien diese Anordnungen nicht von den in Art. 91 Abs. 1 bis 3 der Verfassung genannten Grundsätzen des Vorrangs und der unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts gedeckt. Im Urteil vom 14. Juli 2021 habe das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) außerdem festgestellt, dass im Fall eines Konflikts zwischen seinen Entscheidungen und den Entscheidungen des Gerichtshofs das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) in Grundsatzsachen, die die polnische Verfassungsordnung beträfen, das „letzte Wort“ haben müsse.

61

Die Republik Polen möchte insoweit im Wesentlichen, wie ihrer Gegenerwiderung zu entnehmen ist, sowohl das Vorliegen der von der Kommission in ihrer Klage beanstandeten Vertragsverletzungen, insbesondere derjenigen, die Verstöße gegen Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts betreffen, als auch die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Entscheidung über diese Klage bestreiten. Aus dem Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 14. Juli 2021 gehe nämlich hervor, dass der Gerichtshof, wenn er den Rügen der Kommission stattgeben sollte, seine eigenen Zuständigkeiten und die Zuständigkeiten der Union überschreiten würde. Sollte den Rügen stattgegeben werden, würde dadurch zum einen unter Missachtung des unionsrechtlichen Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung die ausschließliche Zuständigkeit der Republik Polen im Bereich der Organisation der Justiz untergraben und zum anderen die nationale Identität der Republik Polen, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck komme, unter Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 EUV verletzt.

62

Hierzu ist indessen zunächst festzustellen, dass die Kontrolle der Einhaltung der Erfordernisse von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV durch die Mitgliedstaaten in vollem Umfang in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt, insbesondere wenn der Gerichtshof, wie im vorliegenden Fall, mit einer von der Kommission nach Art. 258 AEUV erhobenen Vertragsverletzungsklage befasst ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 161 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63

Was die Tragweite dieser Bestimmungen betrifft, fällt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten, u. a. die Errichtung, die Besetzung, die Zuständigkeiten und die Arbeitsweise der nationalen Gerichte sowie die Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung von Richtern oder über ihren Status und ihre Amtsausübung, zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch haben diese bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus den Art. 2 und 19 EUV, ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 56, 60 bis 62 und 95 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64

Gemäß Art. 2 EUV gründet sich die Union auf Werte, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind, und nach Art. 49 EUV stellt die Achtung dieser Werte für den Beitritt jedes europäischen Staates, der Mitglied der Union werden möchte, eine Vorbedingung dar (Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 124 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65

Um der Union beitreten zu können, musste die Republik Polen im Übrigen den von den Beitrittskandidaten zu erfüllenden Kriterien genügen, wie sie vom Europäischen Rat von Kopenhagen vom 21. und 22. Juni 1993 festgelegt worden waren. Diese Kriterien erfordern u. a., dass der Beitrittskandidat „über stabile Institutionen verfügt, die die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschenrechte, die Wahrung der Rechte von Minderheiten und ihren Schutz gewährleisten“ (Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 104).

66

Wie der Gerichtshof wiederholt hervorgehoben hat, besteht die Union aus Staaten, die die in Art. 2 EUV genannten Werte von sich aus und freiwillig übernommen haben, diese achten und sich für deren Förderung einsetzen. Das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere ihren Gerichten beruht im Übrigen auf der grundlegenden Prämisse, dass die Mitgliedstaaten diese gemeinsamen Werte teilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

67

Art. 2 EUV stellt daher keine bloße Aufzählung politischer Leitlinien oder Absichten dar, sondern enthält Werte, die der Union als Rechtsgemeinschaft schlechthin ihr Gepräge geben, wobei sich diese Werte in Grundsätzen niederschlagen, die rechtlich verbindliche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten beinhalten (Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 232).

68

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich insbesondere, dass die Achtung der in Art. 2 EUV verankerten Werte durch einen Mitgliedstaat eine Voraussetzung für den Genuss aller Rechte ist, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergeben. Die Achtung dieser Werte kann nämlich nicht auf eine Verpflichtung reduziert werden, der ein Beitrittskandidat im Hinblick auf seinen Beitritt zur Union unterläge und der er danach wieder entsagen könnte (Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 126 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69

Art. 19 EUV wiederum konkretisiert den Wert der in Art. 2 EUV proklamierten Rechtsstaatlichkeit (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 32). Was speziell Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV betrifft, ist es gemäß dieser Vorschrift Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet. Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in der genannten Bestimmung die Rede ist, ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 EMRK und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

70

Um sicherzustellen, dass Einrichtungen, die zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können, in der Lage sind, einen solchen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtungen gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

71

Der Gerichtshof hat ferner in seiner Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass die Garantien für den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, und insbesondere diejenigen, die für den Begriff und die Zusammensetzung des Gerichts bestimmend sind, den Grundpfeiler des Rechts auf ein faires Verfahren bilden (Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 126 und die dort angeführte Rechtsprechung).

72

Unter diesen Umständen kann nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass die Erfordernisse, die sich als Voraussetzungen sowohl für den Unionsbeitritt als auch für die Teilnahme an der Union aus der Achtung von Werten und Grundsätzen wie der Rechtsstaatlichkeit, dem wirksamen Rechtsschutz und der richterlichen Unabhängigkeit ableiten, wie sie in Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verankert sind, die nationale Identität eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV beeinträchtigen können. Folglich kann Art. 4 Abs. 2 EUV, der unter Berücksichtigung der ihm gleichrangigen Bestimmungen von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV auszulegen ist, die Mitgliedstaaten nicht von der Verpflichtung zur Einhaltung der sich aus diesen Vorschriften ergebenden Erfordernisse befreien.

73

Der Gerichtshof hat insoweit festgestellt, dass, auch wenn die Union, wie es in Art. 4 Abs. 2 EUV heißt, die nationale Identität der Mitgliedstaaten achtet, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt, so dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit über einen gewissen Gestaltungsspielraum verfügen, daraus keineswegs folgt, dass die genannte Ergebnispflicht von einem Mitgliedstaat zum anderen variieren kann. Wenngleich die Mitgliedstaaten unterschiedliche nationale Identitäten haben, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommen und von der Union geachtet werden, schließen sie sich nämlich einem Verständnis von „Rechtsstaatlichkeit“ an, das sie im Sinne eines ihren eigenen Verfassungstraditionen gemeinsamen Wertes teilen und zu dessen dauerhafter Beachtung sie sich verpflichtet haben (Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 233 und 234).

74

Folglich müssen die Mitgliedstaaten bei der Wahl ihres jeweiligen verfassungsrechtlichen Modells insbesondere das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte beachten, das sich aus Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). Sie müssen somit insbesondere dafür Sorge tragen, dass sie jeden nach Maßgabe des Wertes der Rechtsstaatlichkeit eintretenden Rückschritt in ihren Rechtsvorschriften über die Organisation der Justiz vermeiden, indem sie davon absehen, Regeln zu erlassen, die die richterliche Unabhängigkeit untergraben würden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 162).

75

Darüber hinaus hat der Gerichtshof im Urteil vom 15. Juli 1964, Costa (6/64, EU:C:1964:66, S. 1269 bis 1271), festgestellt, dass die Schaffung einer eigenen Rechtsordnung durch den EWG-Vertrag, die von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommen wurde, zur Folge hat, dass die Mitgliedstaaten weder gegen diese Rechtsordnung nachträgliche einseitige Maßnahmen geltend machen können noch dem aus dem EWG-Vertrag hervorgegangenen Recht Vorschriften des nationalen Rechts gleich welcher Art entgegensetzen können. Andernfalls würde diesem Recht sein Gemeinschaftscharakter aberkannt und die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt. Außerdem hat der Gerichtshof betont, dass es eine Gefahr für die Verwirklichung der Ziele des EWG-Vertrags bedeuten würde und eine nach diesem Vertrag verbotene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zur Folge hätte, wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung haben könnte (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

76

Diese wesentlichen Merkmale der Rechtsordnung der Union und die Bedeutung der ihr geschuldeten Achtung wurden im Übrigen durch die vorbehaltlose Ratifizierung der Verträge zur Änderung des EWG-Vertrags und insbesondere des Vertrags von Lissabon bestätigt, wie insbesondere die Erklärung Nr. 17 zum Vorrang belegt, die der Schlussakte der Regierungskonferenz, die den am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat, beigefügt ist (ABl. 2012, C 326, S. 346). Gleiches gilt für die Rechtsprechung des Gerichtshofs nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 49 und 50 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

77

Gemäß dieser ständigen Rechtsprechung kann nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Rechts beruft, auch wenn sie Verfassungsrang haben. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Wirkungen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts nämlich für alle Einrichtungen eines Mitgliedstaats verbindlich, ohne dass dem insbesondere die innerstaatlichen Bestimmungen, auch wenn sie Verfassungsrang haben, entgegenstehen könnten (Urteile vom 17. Dezember 1970, Internationale Handelsgesellschaft, 11/70, EU:C:1970:114, Rn. 3, und vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Einhaltung dieser Verpflichtung ist insbesondere erforderlich, um die Achtung der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen sicherzustellen, und ist Ausdruck des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

78

Der Gerichtshof hat indessen entschieden, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – ausgelegt im Licht von Art. 47 der Charta –, der den Mitgliedstaaten eine klare und präzise und an keine Bedingung geknüpfte Ergebnispflicht auferlegt, insbesondere in Bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufenen Gerichte sowie das Erfordernis, dass diese Gerichte zuvor durch Gesetz errichtet wurden, eine unmittelbare Wirkung hat, die bedeutet, dass jede nationale Bestimmung, Rechtsprechung oder Praxis, die mit diesen unionsrechtlichen Bestimmungen in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof unvereinbar ist, unangewendet bleiben muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 158 und 159 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 162 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 58 und 59 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

79

Da der Gerichtshof die ausschließliche Zuständigkeit für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts hat, ist es schließlich seine Sache, in Ausübung dieser Zuständigkeit die Tragweite des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts im Hinblick auf die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts zu präzisieren, so dass diese Tragweite weder von einer Auslegung von Bestimmungen des nationalen Rechts noch von einer Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts durch ein nationales Gericht, die nicht der Auslegung durch den Gerichtshof entspricht, abhängen darf (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich obliegt es gegebenenfalls dem betreffenden nationalen Gericht, seine eigene Rechtsprechung abzuändern, wenn sie mit dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof nicht vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. April 2016, DI, C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 33 und 34, sowie vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 60).

80

Nach alledem ist festzustellen, dass entgegen dem Vorbringen der Republik Polen weder die in Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 5 Abs. 1 EUV genannten Grundsätze noch die Rechtsprechung eines nationalen Verfassungsgerichts wie die oben in Rn. 60 angeführte verhindern können, dass die von der Kommission im Rahmen ihrer Klage beanstandeten nationalen Bestimmungen Gegenstand einer Kontrolle durch den Gerichtshof sein können, insbesondere im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts.

Zum Fortbestand des Streitgegenstands

81

In der mündlichen Verhandlung hat die Republik Polen vorgetragen, dass vor Kurzem die Ustawa o zmianie ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 9. Juni 2022 (Dz. U., Pos. 1259) erlassen worden sei, die am 15. Juli 2022 in Kraft getreten sei und insbesondere die Abschaffung der von der Kommission in der vierten Rüge beanstandeten Disziplinarkammer zum Gegenstand habe. Durch dieses Gesetz sei außerdem der bisherige Wortlaut der nationalen Bestimmungen, die den Gegenstand der ersten und der dritten Rüge bildeten, präzisiert und dadurch geändert worden. Vor diesem Hintergrund macht die Republik Polen geltend, dass die Fortsetzung des Verfahrens in Bezug auf die erste, die dritte und die vierte Rüge nicht gerechtfertigt sei.

82

Insoweit genügt jedoch der Hinweis, dass das Vorliegen einer Vertragsverletzung nach ständiger Rechtsprechung anhand der Situation zu beurteilen ist, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden war, und später eingetretene Veränderungen vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden können (Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

83

Im vorliegenden Fall steht fest, dass zu den Zeitpunkten, an denen die Fristen abliefen, die die Kommission in der mit Gründen versehenen Stellungnahme und der ergänzenden mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt hatte, alle von der Kommission mit ihrer Klage beanstandeten nationalen Bestimmungen weiterhin in Kraft waren. Folglich muss der Gerichtshof über alle Rügen entscheiden, die im Rahmen der Klage geltend gemacht werden.

Zur vierten Rüge

Vorbringen der Parteien

84

Mit der vierten Rüge, die als Erstes zu prüfen ist, macht die Kommission einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV geltend, da die Republik Polen gegen ihre Verpflichtung verstoßen habe, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer zu gewährleisten, obwohl diese als „Gericht“ Teil des polnischen Justizsystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne der genannten Vorschrift sei und ihr die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung in bestimmten Sachen betreffend den Status und die Amtsausübung von Richtern übertragen worden sei, was die Unabhängigkeit der Richter beeinträchtigen könne.

85

In ihrer Klageschrift beruft sich die Kommission insoweit auf das Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, im Folgenden: Urteil A. K. u. a., EU:C:2019:982), sowie das Urteil vom 5. Dezember 2019 (III PO 7/18) und die Beschlüsse vom 15. Januar 2020 (III PO 8/18 und III PO 9/18) des Sąd Najwyższy (Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych) (Oberstes Gericht [Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen], Polen), des vorlegenden Gerichts in den Rechtssachen, in denen das Urteil A. K. u. a. ergangen ist. Aus diesen Gerichtsentscheidungen ergebe sich, dass eine Gesamtwürdigung, die insbesondere den Kontext und die Umstände, unter denen die Disziplinarkammer geschaffen worden sei, ihre Zusammensetzung, das Verfahren für die Ernennung ihrer Mitglieder und die Beteiligung der neu zusammengesetzten KRS in diesem Zusammenhang sowie bestimmte Eigenschaften und spezielle Befugnisse der Disziplinarkammer berücksichtige, geeignet sei, bei den Rechtssubjekten berechtigte Zweifel im Hinblick auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Kammer hervorzurufen.

86

Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht könne die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), insbesondere gegenüber ungerechtfertigtem Druck von außen, und somit das Recht der Einzelnen auf einen wirksamen Rechtsbehelf in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen nicht gewährleisten, da der Disziplinarkammer zum einen die Zuständigkeit übertragen werde, der Einleitung von Strafverfahren gegen Richter oder Assessoren sowie ihrer etwaigen Festnahme und Inhaftierung zuzustimmen und in solchen Fällen über ihre Suspendierung und die Kürzung ihrer Bezüge zu entscheiden, und sie zum anderen die Zuständigkeit für die Entscheidung von arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen, die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beträfen, und Sachen über die Versetzung von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in den Ruhestand erhalte.

87

In ihrer Erwiderung weist die Kommission darauf hin, dass in der Zwischenzeit die Stichhaltigkeit der vierten Rüge durch die Erkenntnisse aus dem Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), bestätigt worden sei. Zudem habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 22. Juli 2021, Reczkowicz/Polen (CE:ECHR:2021:0722JUD004344719), festgestellt, dass die Disziplinarkammer kein auf Gesetz beruhendes Gericht im Sinne von Art. 6 EMRK sei.

88

Zur Verteidigung trägt die Republik Polen vor, dass sowohl das Verfahren zur Ernennung der Mitglieder der Disziplinarkammer als auch die anderen Garantien, die diesen Mitgliedern nach ihrer Ernennung zustünden, die Unabhängigkeit der Disziplinarkammer gewährleisten könnten.

89

Zum einen seien nämlich die Voraussetzungen, die Bewerber für das Amt eines Richters am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) erfüllen müssten, im nationalen Recht erschöpfend festgelegt. Das Ernennungsverfahren bestehe nach Veröffentlichung einer öffentlichen Ausschreibung aus einer von der KRS durchgeführten Auswahl, auf deren Grundlage die KRS einen Vorschlag zur Ernennung der ausgewählten Bewerber mache. Das Verfahren führe zum Ernennungsakt durch den Präsidenten der Republik, der nicht verpflichtet sei, dem Vorschlag der KRS zu folgen. Was die neue Zusammensetzung der KRS betreffe, deren Verfassungsmäßigkeit das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) bestätigt habe, so unterscheide sie sich kaum von der Zusammensetzung der in anderen Mitgliedstaaten bestehenden Landesjustizräte. Die Beteiligung der Legislative an der Ernennung der Mitglieder der KRS stärke zudem deren demokratische Legitimierung, und die neue Zusammensetzung habe es ermöglicht, eine bessere Repräsentativität der polnischen Richterschaft zu gewährleisten.

90

Zum anderen stünden den Mitgliedern der Disziplinarkammer nach ihrer Ernennung Garantien zu, die u. a. die unbefristete Dauer ihrer Amtszeit, ihre Unabsetzbarkeit, ihre Immunität, ihre Verpflichtung, unpolitisch zu bleiben, sowie verschiedene berufliche Unvereinbarkeiten und eine besonders hohe Vergütung beträfen.

Würdigung durch den Gerichtshof

91

Wie oben in den Rn. 69 bis 71 dargelegt, sind die Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verpflichtet, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet, insbesondere indem sie dafür sorgen, dass Einrichtungen, die als Gerichte dazu berufen sind, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung dieses Rechts zu entscheiden, den Anforderungen gerecht werden, die die Wahrung dieses Rechts gewährleisten, darunter das Erfordernis der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieser Einrichtungen.

92

Es steht jedoch fest, dass sowohl der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und insbesondere die zu ihm gehörende Disziplinarkammer als auch die polnischen ordentlichen Gerichte oder Verwaltungsgerichte als „Gerichte“, die von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erfasst sind, zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts berufen sein können, so dass diese Gerichte den Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz gerecht werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:59, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

93

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt die nach dem Unionsrecht erforderliche Gewähr für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im Übrigen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der betreffenden Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:59, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

94

Hierzu sind die Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die für die Rechtsverhältnisse der Richter und die Ausübung des Richteramts geltenden Vorschriften müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, auszuschließen und damit dem Eindruck vorzubeugen, dass diese Richter nicht unabhängig und unparteiisch seien, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Einzelnen schaffen muss (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:59, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

95

Was im Einzelnen die Vorschriften der Disziplinarordnung für Richter betrifft, ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Anforderung der Unabhängigkeit, die sich aus dem Unionsrecht und insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt, verlangt, dass die Disziplinarordnung die erforderlichen Garantien aufweist, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass sie als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird. Insoweit bilden Regeln, die insbesondere festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen und welche Sanktionen konkret anwendbar sind, die die Einschaltung einer unabhängigen Einrichtung gemäß einem Verfahren vorsehen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstellt, und die die Möglichkeit festschreiben, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten, eine Reihe von Garantien, die wesentlich sind, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:59, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

96

Gleiches muss grundsätzlich entsprechend für andere Regeln gelten, die die Rechtsverhältnisse der Richter und die Ausübung des Richteramts betreffen, wie Regeln zur Aufhebung ihrer strafrechtlichen Immunität, wenn diese Immunität, wie im vorliegenden Fall, im betreffenden nationalen Recht vorgesehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 213).

97

Wie der Generalanwalt in Nr. 206 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, kann die Anwendung solcher Regeln nämlich schwerwiegende Auswirkungen sowohl auf die Laufbahn der Richter als auch auf ihre Lebensumstände haben. Dies gilt sicherlich auch für Regeln wie diejenigen, mit deren Anwendung oder Kontrolle gemäß Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht die Disziplinarkammer betraut ist, soweit die Anwendung eine Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen die betreffenden Richter, ihre Festnahme und Untersuchungshaft sowie ihre Suspendierung und die Kürzung ihrer Bezüge zur Folge haben kann.

98

Ebenso verhält es sich mit Entscheidungen über wesentliche Aspekte der für diese Richter geltenden arbeits- oder sozialversicherungsrechtlichen Regelungen, wie ihre Rechte betreffend Bezüge, Urlaub oder Arbeitsschutz oder ihre etwaige vorzeitige Versetzung in den Ruhestand, insbesondere aus medizinischen Gründen.

99

Insoweit muss die Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats Garantien beinhalten, die geeignet sind, jegliche Gefahr zu verhindern, dass solche Maßnahmen als System zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen oder als Instrument zur Ausübung von Druck auf Richter und zur Einschüchterung von Richtern eingesetzt werden und damit u. a. der Eindruck erweckt werden könnte, dass diese Richter nicht unabhängig und unparteiisch sind, und das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a.,C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 216).

100

Dafür müssen, wie oben in Rn. 95 zu den Vorschriften der Disziplinarordnung für Richter dargelegt, die Entscheidungen, mit denen der Einleitung von Strafverfahren gegen die betreffenden Richter, ihrer Festnahme und Inhaftierung sowie ihrer Suspendierung und der Kürzung ihrer Bezüge zugestimmt wird, und die Entscheidungen zu wesentlichen Aspekten der für diese Richter geltenden arbeits‑, sozialversicherungs- oder ruhestandsrechtlichen Regelungen von einer Einrichtung erlassen oder überprüft werden, die ihrerseits die Garantien eines wirksamen Rechtsschutzes erfüllt, zu denen die Unabhängigkeit zählt (vgl. entsprechend Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:59, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).

101

Die bloße Aussicht für Richter, Gefahr zu laufen, dass die Zustimmung zu einem gegen sie einzuleitenden Strafverfahren bei einer Einrichtung beantragt und erlangt wird, deren Unabhängigkeit nicht gewährleistet ist, kann ihre eigene Unabhängigkeit beeinträchtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:59, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung). Gleiches gilt für die Gefahr, dass eine solche Einrichtung über ihre etwaige Suspendierung von ihrem Amt und eine Kürzung ihrer Bezüge, ihre vorzeitige Versetzung in den Ruhestand oder andere wesentliche Aspekte der für sie geltenden arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Regelung entscheidet.

102

Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Anbetracht aller in den Rn. 89 bis 110 des Urteils vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), dargelegten Umstände und Erwägungen, auf die Bezug zu nehmen ist, in Rn. 112 jenes Urteils entschieden hat, dass eine Gesamtschau des besonderen Kontexts und der objektiven Bedingungen, unter denen die Disziplinarkammer geschaffen wurde, ihrer Merkmale sowie der Art und Weise der Ernennung ihrer Mitglieder geeignet ist, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an ihrer Unempfänglichkeit für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und daher dazu führen kann, dass sie nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.

103

Unter diesen Umständen ist der vierten Rüge stattzugeben.

Zur dritten Rüge

Vorbringen der Parteien

104

Die dritte Rüge, die als Zweites zu prüfen ist, besteht aus zwei Teilen.

105

Mit dem ersten Teil dieser Rüge macht die Kommission geltend, die Bestimmungen von Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, die zum einen Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren könnten, und zum anderen Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt werde, als Disziplinarvergehen von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und Richtern der ordentlichen Gerichte einstuften, seien nicht mit dem Unionsrecht vereinbar. Die Kommission weist insoweit darauf hin, dass, wie Art. 29 § 1 und Art. 49 § 1 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu entnehmen sei, die Bestimmungen von Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit auch für die Richter der Verwaltungsgerichte gälten.

106

Nach Auffassung der Kommission verstoßen diese nationalen Vorschriften als Erstes gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta, da sie darauf gerichtet seien, alle betreffenden Richter unter Androhung von Disziplinarstrafen, die bis zu ihrer Abberufung gehen könnten, an der Vornahme von Beurteilungen zu hindern, zu denen sie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verpflichtet seien und die die Frage beträfen, ob in Rechtssachen, in denen es um Rechte des Einzelnen aus dem Unionsrecht gehe, das Recht des Einzelnen, seinen Fall von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht untersuchen zu lassen, garantiert werden könne oder nicht verletzt worden sei.

107

Ein Disziplinarvergehen müsse immer klar und präzise definiert sein, doch werde diese Anforderung durch die in Art. 72 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 107 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit enthaltenen Formulierungen – nämlich: die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung „unmöglich machen“ oder „wesentlich erschweren können“ – nicht erfüllt.

108

Diese Formulierungen erlaubten es z. B., das Vorliegen eines Vergehens im Sinne dieser nationalen Bestimmungen festzustellen, wenn ein Justizorgan, statt die Prüfung eines Ablehnungsabtrags der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten vorzulegen, wie dies Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht verlange, selbst prüfe, ob der betreffende Richter unabhängig sei, und unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dem Ergebnis komme, dass dem nicht so sei.

109

Gleiches gelte für den Fall, dass ein nationales Gericht unter Einhaltung seiner Verpflichtungen aus dem Urteil A. K. u. a. im Hinblick auf ein anderes Gericht, das über eine Rechtssache zu entscheiden habe, die Kriterien anwende, die der Gerichtshof in den Rn. 132 bis 154 jenes Urteils aufgestellt habe, und unter Berücksichtigung dieser Kriterien beschließe, zum einen die Anwendung der nationalen Bestimmung, die das andere Gericht für zuständig erkläre, aufgrund seiner fehlenden Unabhängigkeit auszuschließen und zum anderen die betreffende Rechtssache an ein drittes Gericht zu verweisen, das die Gewähr für Unabhängigkeit biete. Ein solches gerichtliches Vorgehen könne nämlich als Handlung oder Unterlassung, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren könne, im Sinne der beanstandeten nationalen Bestimmungen angesehen werden.

110

Die von Art. 72 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit erfassten Handlungen könnten insbesondere nicht nur das Infragestellen der Gültigkeit der Ernennung eines Richters betreffen, sondern ganz allgemein jede negative Beurteilung des ordnungsgemäßen Ablaufs des Verfahrens zur Ernennung eines Richters im Rahmen der Überprüfung, ob die Anforderungen der Union in Bezug auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht gewahrt seien. So könne z. B. vom Vorliegen des betreffenden Vergehens ausgegangen werden, wenn ein im zweiten Rechtszug entscheidendes Gericht feststelle, dass das erstinstanzliche Gericht aufgrund der Modalitäten der Ernennung der in diesem Gericht entscheidenden Richter kein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstelle, und deshalb die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts aufhebe.

111

Insoweit sei u. a. den Rn. 133 und 134 des Urteils A. K. u. a. zu entnehmen, dass sich jedes nationale Gericht im Rahmen der ihm obliegenden, oben in Rn. 109 beschriebenen Prüfung insbesondere vergewissern können müsse, dass die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass der Entscheidungen zur Ernennung von Richtern des Gerichts, dessen Unabhängigkeit in Frage gestellt werde, so beschaffen seien, dass sie bei den Rechtsunterworfenen, seien die betreffenden Richter erst einmal ernannt, keine berechtigten Zweifel an deren Unempfänglichkeit für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen könnten. Schon allein die Vornahme einer solchen Prüfung könne jedoch auf der Grundlage der beanstandeten nationalen Bestimmungen disziplinarisch geahndet werden.

112

Zudem sei der Begründung des Gesetzesentwurfs, der zum Erlass des Änderungsgesetzes geführt habe, zu entnehmen, dass die damit neu eingeführten Disziplinarvergehen primär das Ziel gehabt hätten, die Judikative und die Verfassungsorgane des Staates davor zu schützen, von den eigenen Einrichtungen in Frage gestellt zu werden.

113

Überdies beträfen die neuen Disziplinarvergehen den Inhalt von Gerichtsentscheidungen, obwohl sich das Erfordernis der Unabhängigkeit von Richtern nicht damit vereinbaren lasse, dass die Gefahr bestehe, dass die für sie geltende Disziplinarordnung zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen verwendet werde.

114

Die Kommission macht als Zweites geltend, dass die oben in Rn. 105 genannten nationalen Bestimmungen auch gegen Art. 267 AEUV verstießen. Angesichts der Formulierung dieser nationalen Bestimmungen könne nämlich allein der Umstand, dass ein nationales Gericht ein anhängiges Verfahren aussetze und dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz vorlege, weil es z. B. Zweifel hege, ob die einem nationalen Gericht oder einem Verfassungsorgan wie der KRS übertragene Zuständigkeit oder die Umstände, unter denen die Ernennung eines Richters erfolgt sei, mit diesen Anforderungen vereinbar seien, als Disziplinarvergehen eingestuft werden.

115

Mit dem zweiten Teil der dritten Rüge macht die Kommission geltend, die Einführung eines durch die „offensichtliche und grobe“ Missachtung von Rechtsvorschriften gekennzeichneten Disziplinarvergehens in Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht begegne den Einwänden, die sie in gleicher Weise im Kontext der von ihr in der Rechtssache Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596) erhobenen Vertragsverletzungsklage im Hinblick auf die gleichlautende Bestimmung in Art. 107 § 1 Nr. 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit erhoben habe. Ein derart vage formuliertes Vergehen, zudem in dem von der Kommission in ihrer Vertragsverletzungsklage beschriebenen Kontext der vermehrten Disziplinarmaßnahmen gegen Richter und der Vervielfachung des Drucks der Exekutive auf die Tätigkeiten der Disziplinarspruchkörper, berge die Gefahr, dass Art. 72 § 1 Nr. 1 für die Zwecke der politischen Kontrolle und Lähmung der Rechtsprechungstätigkeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberster Gerichtshof) eingesetzt werde.

116

In ihrer Erwiderung macht die Kommission geltend, die Erkenntnisse aus dem Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), hätten zwischenzeitlich die Stichhaltigkeit der dritten Rüge voll und ganz bestätigt.

117

In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission schließlich vorgetragen, der Kontext, in dem das Änderungsgesetz erlassen worden sei, in großer Eile und knapp einen Monat nach der Verkündung des Urteils A. K. u. a., in dem es um die Beurteilung der Unabhängigkeit der Disziplinarkammer und der KRS gegangen sei, bestätige, dass die mit der dritten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen ebenso wie die von ihr mit der ersten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen in Wirklichkeit dazu gedient hätten, die polnischen Richter davon abzuhalten, die Erkenntnisse aus dem Urteil A. K. u. a. und aus dem zwischenzeitlich ergangenen Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798), anzuwenden.

118

Aus diesen Urteilen gehe nämlich hervor, dass die Kontrolle des Verfahrens zur Ernennung von Richtern sowie die Prüfung, die in diesem Zusammenhang sicherstellen solle, dass es sich bei der KRS um eine unabhängige Einrichtung handle, sich als erforderlich erweisen könnten, um zu gewährleisten, dass die betreffenden Richter oder das Gericht, dem sie angehörten, unabhängig und zuvor durch Gesetz errichtet worden seien. Eine solche Kontrolle und Prüfung würden jedoch durch die beanstandeten nationalen Bestimmungen verhindert, da diese es ermöglichten, jedes Infragestellen der Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder der Legitimität eines Verfassungsorgans disziplinarisch zu ahnden.

119

Zur Verteidigung trägt die Republik Polen vor, die Kommission komme ihrer Beweispflicht nicht nach und äußere bloße Vermutungen hinsichtlich der beanstandeten nationalen Bestimmungen, indem sie Auslegungen dieser Bestimmungen vertrete, die mit ihrem Wortlaut und ihrer Zielsetzung unvereinbar seien, und keinen Beweis für eine Praxis der polnischen Behörden oder Gerichte erbringe, die diese Auslegungen stützen könne.

120

Erstens könnten nämlich die korrekte Anwendung des Unionsrechts durch ein nationales Gericht, insbesondere in Bezug auf die Unabhängigkeit von Richtern oder die Eigenschaft als ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht, oder die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof keine Handlung oder Unterlassung darstellen, die das Funktionieren der Justiz unmöglich machen oder wesentlich erschweren könne, da der Tatbestand des fraglichen Disziplinarvergehens ganz im Gegenteil gerade dem Ziel diene, zu gewährleisten, dass die Richter ihren Verpflichtungen nachkämen und kein Verhalten an den Tag legten, das mit der Würde ihres Amts unvereinbar sei.

121

Was zweitens Disziplinarvergehen betreffe, die mit dem Infragestellen des Mandats oder Dienstverhältnisses eines Richters zusammenhingen, so könnten diese nicht darauf beruhen, dass ein Richter prüfe, ob das Recht eines Rechtsunterworfenen auf wirksamen Rechtsschutz gewahrt sei, oder dass der Richter im Fall einer etwaigen Verletzung dieses Rechts die gesetzlich vorgesehenen Konsequenzen ziehe, wie die Ablehnung eines Richters, die Verweisung einer Rechtssache an ein anderes Gericht, das die Gewähr für Unabhängigkeit biete, oder die Aufhebung einer Gerichtsentscheidung. Ebenso wenig könnten diese Disziplinarvergehen darauf beruhen, dass Fragen zur richterlichen Unabhängigkeit dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt würden, wie im Übrigen verschiedene Vorabentscheidungsersuchen belegten, die einen solchen Gegenstand hätten und kürzlich von polnischen Gerichten vorgelegt worden seien, ohne dass aus diesem Grund Disziplinarverfahren eingeleitet worden seien.

122

In Wirklichkeit handle es sich bei den unter die beanstandeten nationalen Bestimmungen fallenden Disziplinarvergehen ausschließlich um das Infragestellen der Ernennung eines Richters oder der Wirkungen dieser Ernennung im Rahmen von Verfahren, die in der Verfassung nicht vorgesehen seien, was zudem mit den Erfordernissen der Unabsetzbarkeit von Richtern und der Stabilität ihres Dienstverhältnisses im Einklang stehe.

123

Drittens sei das Disziplinarvergehen, das eine „offensichtliche und grobe“ Missachtung von Rechtsvorschriften betreffe, nur deshalb in Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht aufgenommen worden, um die Fälle, in denen Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) disziplinarisch belangt würden, mit den Fällen in Einklang zu bringen, die für Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit gälten und in Art. 107 § 1 Nr. 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit vorgesehen seien, so dass diesen beiden Bestimmungen die gleiche Tragweite beizumessen sei. Art. 107 § 1 Nr. 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit werde jedoch nach gefestigter Rechtsprechung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sehr eng ausgelegt, und nach dieser Auslegung sei es ausgeschlossen, dass dieses Disziplinarvergehen auf dem Inhalt von Gerichtsentscheidungen beruhen könne, in denen das Gesetz ausgelegt werde. Insbesondere könne der Umstand, dass ein nationales Gericht den Verpflichtungen nachkomme, die ihm das Unionsrecht auferlege, einschließlich der Verpflichtung, einer Partei das Recht auf wirksamen Rechtsschutz im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta zu gewährleisten, oder dass ein nationales Gericht dem Gerichtshof eine Frage zur Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen vorlege, per definitionem keine offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften im Sinne von Art. 72 § 1 Nr. 1 darstellen.

124

Schließlich ist die Republik Polen der Auffassung, dass sich die dritte und die zweite Rüge widersprächen, da es nicht möglich sei, einerseits geltend zu machen, dass das nationale Recht es den Richtern der nationalen Gerichte unter Androhung von Disziplinarstrafen verbiete, das etwaige Vorliegen von Verstößen gegen das Recht auf einen wirksamen Rechtsschutz zu prüfen, und andererseits zu behaupten, dass die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über Klagegründe habe, die sich auf solche Verstöße stützten.

Würdigung durch den Gerichtshof

– Einleitende Erwägungen

125

Vorab ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Disziplinarordnung für Richter zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, dass aber jeder Mitgliedstaat bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht beachten muss. Somit muss die Republik Polen, um den Rechtsunterworfenen den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlichen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten, sicherstellen, dass die von ihr eingeführte Disziplinarordnung für nationale Richter geeignet ist, die Unabhängigkeit der Gerichte zu wahren, die, wie die ordentlichen Gerichte, die Verwaltungsgerichte und der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 136 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte insbesondere gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

126

In Bezug auf Verhaltensweisen, die als Disziplinarvergehen von Richtern eingestuft werden können, hat der Gerichtshof zwar festgestellt, dass die Wahrung dieser Unabhängigkeit nicht dazu führen darf, dass völlig ausgeschlossen ist, dass die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit eines Richters in bestimmten, ganz außergewöhnlichen Fällen durch von ihm erlassene Gerichtsentscheidungen ausgelöst werden kann. Die Anforderung der Unabhängigkeit ist nämlich ganz sicher nicht dazu gedacht, etwaige schwerwiegende und völlig unentschuldbare Verhaltensweisen von Richtern zu billigen wie z. B. die vorsätzliche und böswillige oder besonders grob fahrlässige Missachtung von Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts, deren Einhaltung sie gewährleisten sollen, Willkür oder Rechtsverweigerung, wenn sie als diejenigen, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind, über Streitigkeiten zu entscheiden haben, die ihnen von Rechtssuchenden vorgelegt werden (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 137).

127

Der Gerichtshof hat jedoch auch entschieden, dass es für die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit und um auf diese Weise zu verhindern, dass die Disziplinarordnung entgegen ihrem legitimen Zweck zur politischen Kontrolle von Gerichtsentscheidungen eingesetzt werden kann, von grundlegender Bedeutung ist, dass die Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit eines Richters wegen einer Gerichtsentscheidung auf ganz außergewöhnliche Fälle wie die in der vorstehenden Randnummer genannten beschränkt bleibt und dabei durch objektive und überprüfbare Kriterien, die sich aus Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege ergeben, sowie durch Garantien beschränkt ist, die darauf abzielen, jegliche Gefahr eines Drucks von außen bezüglich des Inhalts von Gerichtsentscheidungen zu vermeiden. Zu diesem Zweck müssen insbesondere Regeln vorgesehen werden, die die Verhaltensweisen, die die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit von Richtern begründen können, hinreichend klar und präzise definieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 138 bis 140 und die dort angeführte Rechtsprechung).

128

Zum anderen ist auch zu berücksichtigen, dass die Verträge – wie der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entnehmen ist –, um sicherzustellen, dass die besonderen Merkmale und die Autonomie der Rechtsordnung der Union erhalten bleiben, ein Gerichtssystem geschaffen haben, das zur Gewährleistung der Kohärenz und der Einheitlichkeit bei der Auslegung des Unionsrechts dient. Insoweit überträgt Art. 19 EUV, mit dem, wie oben in Rn. 69 dargelegt, der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 39 und 40 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 108 die dort angeführte Rechtsprechung).

129

Wie die Kommission ausführt, hat der Gerichtshof insoweit festgestellt, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren und insbesondere die Garantien für den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, die dieses Grundrecht kennzeichnen, u. a. implizieren, dass jedes Gericht überprüfen muss, ob es in Anbetracht seiner Zusammensetzung ein solches Gericht ist, wenn insoweit ein ernsthafter Zweifel besteht, und dass diese Überprüfung im Hinblick auf das Vertrauen, das die Gerichte einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtssuchenden wecken müssen, erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 57).

130

Allgemein ist insoweit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entnehmen, dass die nationalen Gerichte unter bestimmten Umständen gezwungen sein können, zu überprüfen, ob die Anforderungen erfüllt sind, die sich aus dem Grundrecht auf einen wirksamen gerichtlichen Schutz im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta ergeben, insbesondere die Anforderungen in Bezug auf den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht (vgl. z. B. Urteile A. K. u. a., Rn. 153, 154, 164 und 166, vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 139, 149, 165 und 166, sowie vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a., C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 74 und 87).

131

Folglich steht insbesondere fest, dass ein nationales Gericht unter bestimmten Umständen prüfen können muss, ob eine Vorschriftswidrigkeit des Verfahrens zur Ernennung eines Richters zu einer Verletzung dieses Grundrechts führen konnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 130 und 131, 152 bis 154 und 159).

132

Vor diesem Hintergrund kann der Umstand, dass ein nationales Gericht die ihm durch die Verträge übertragenen Aufgaben wahrnimmt und dadurch den Verpflichtungen nachkommt, die ihm nach den Verträgen obliegen, indem es Bestimmungen wie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta Wirkung verleiht, per definitionem nicht als Disziplinarvergehen der diesem Gericht angehörenden Richter eingestuft werden, ohne dass damit automatisch gegen die unionsrechtlichen Bestimmungen verstoßen wird.

– Zum ersten Teil der dritten Rüge

133

Mit dem ersten Teil der dritten Rüge beantragt die Kommission, festzustellen, dass die Republik Polen durch den Erlass und die Aufrechterhaltung der Bestimmungen in Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit gegen ihre Verpflichtungen aus zum einen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta und zum anderen Art. 267 AEUV verstoßen hat.

134

Wie dem Wortlaut der nationalen Bestimmungen zu entnehmen ist, stufen sie „Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren können“, sowie „Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird“, als Disziplinarvergehen von Richtern der ordentlichen Gerichte und des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ein. Zudem geht aus Art. 29 § 1 und Art. 49 § 1 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit hervor, dass diese Disziplinarvergehen auch für Richter an Verwaltungsgerichten gelten.

135

Was zum einen den geltend gemachten Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta betrifft, ist als Erstes festzustellen, dass entgegen dem Vorbringen der Republik Polen der Wortlaut der beanstandeten nationalen Bestimmungen nicht den Schluss zulässt, dass sich die genannten Disziplinarvergehen ausschließlich auf Rechtsprechungshandlungen beziehen, die eine Entscheidung über die Gültigkeit der Ernennung eines Richters zum Gegenstand haben.

136

Die Bezugnahmen dieser nationalen Bestimmungen auf „Handlungen oder Unterlassungen“, die das „Funktionieren“ eines „Organs der Rechtsprechung“„unmöglich machen oder wesentlich erschweren“ können, und auf „Handlungen“, mit denen das Bestehen eines „Dienstverhältnisses eines Richters“, die „Wirksamkeit“ der Ernennung eines Richters oder die „Legitimität eines Verfassungsorgans“„in Frage gestellt wird“, können nämlich dazu führen, dass eine ziemlich große Bandbreite an Handlungen oder Unterlassungen, insbesondere richterlicher Art, angesichts ihres Inhalts oder ihrer Wirkungen als „Disziplinarvergehen“ der betreffenden Richter eingestuft werden kann, ohne dass die oben genannte, von der Republik Polen vertretene einschränkende Auslegung dieser nationalen Bestimmungen auf den vom polnischen Gesetzgeber gewählten Wortlaut gestützt werden kann.

137

Wie der Generalanwalt im Wesentlichen in den Nrn. 181 und 183 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sind diese Formulierungen derart weit gefasst und ungenau, dass sie insbesondere in Fällen, in denen die betreffenden Richter prüfen und entscheiden, ob sie selbst oder das Gericht, dem sie angehören, oder andere Richter oder die Gerichte, denen diese angehören, den Anforderungen gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta genügen, zur Anwendung der beanstandeten nationalen Bestimmungen und zur Einleitung von Disziplinarverfahren gegen die betreffenden Richter führen können.

138

Zudem können die nationalen Bestimmungen, da sie nicht hinreichend klar und präzise formuliert sind, auch nicht gewährleisten, dass die Verantwortlichkeit der betreffenden Richter für die von ihnen zu erlassenden Gerichtsentscheidungen strikt auf ganz außergewöhnliche Fälle wie die oben in Rn. 126 genannten beschränkt bleibt.

139

Als Zweites sind außerdem, wie die Kommission geltend macht, die besonderen Umstände und der spezielle Kontext des Erlasses der genannten nationalen Bestimmungen zu berücksichtigen, da sie dazu beitragen können, die Tragweite dieser Bestimmungen zu verdeutlichen.

140

In diesem Zusammenhang darf insbesondere nicht außer Acht gelassen werden, dass der Wortlaut, dem der polnische Gesetzgeber bei dem in großer Eile und auf der Grundlage eines der Ersten Kammer des Parlaments am 12. Dezember 2019 vorgelegten Gesetzesentwurfs vorgenommenen Erlass des Änderungsgesetzes vom 20. Dezember 2019, mit dem die beanstandeten nationalen Bestimmungen in das Gesetz über das Oberste Gericht, das Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit und das Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgenommen wurden, den Vorzug gab, offensichtlich und konkret an eine Reihe von Fragen anknüpft, die verschiedene polnische Gerichte in Bezug auf die Vereinbarkeit mehrerer unlängst vorgenommener, die Organisation der Justiz in Polen betreffender Gesetzesänderungen mit dem Unionsrecht und speziell mit den Anforderungen gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta gestellt hatten.

141

Erstens ergab sich insoweit eindeutig aus dem kurz vor Erlass des Änderungsgesetzes verkündeten Urteil A. K. u. a., insbesondere aus dessen Rn. 134, 139 und 149 sowie dem Urteilstenor, dass das vorlegende Gericht in den verbundenen Rechtssachen, in denen jenes Urteil ergangen ist, und, angesichts der Wirkung erga omnes der gemäß Art. 267 AEUV ergangenen Auslegungsurteile des Gerichtshofs (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juni 1987, X, 14/86, EU:C:1987:275, Rn. 12 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung), alle anderen nationalen Gerichte, die später über entsprechende Rechtssachen zu entscheiden haben, nach dem Unionsrecht verpflichtet sein könnten, zum einen zu entscheiden, ob eine Einrichtung wie die Disziplinarkammer geeignet ist, über Rechtssachen zu entscheiden, die dem Unionsrecht unterliegen, und dabei die Umstände zu berücksichtigen, unter denen die Ernennung der Mitglieder der Disziplinarkammer erfolgte, und zum anderen über die Unabhängigkeit der KRS als Einrichtung, die am Verfahren zur Ernennung von Richtern zu beteiligen ist, zu entscheiden.

142

Dadurch könnten jedoch die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden haben, verpflichtet sein, Handlungen vorzunehmen, die „das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung“, wie der Disziplinarkammer, „unmöglich machen oder wesentlich erschweren können“ und mit denen „die Wirksamkeit der Ernennung“ von Richtern der Disziplinarkammer oder „die Legitimität eines Verfassungsorgans“, wie der KRS, „in Frage gestellt wird“ und die somit unter die nationalen Bestimmungen fallen können, die die Kommission im ersten Teil der dritten Rüge beanstandet.

143

Im Übrigen ist in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen, dass der Sąd Najwyższy (Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych) (Oberstes Gericht [Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen]) in seinem Urteil vom 5. Dezember 2019 (III PO 7/18) auf der Grundlage der sich aus dem Urteil A. K. u. a. ergebenden Erkenntnisse selbst festgestellt hatte, dass die KRS in ihrer neuen Zusammensetzung kein von der polnischen Legislative und Exekutive unabhängiges Organ sei und die Disziplinarkammer kein Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta, Art. 6 EMRK und Art. 45 Abs. 1 der Verfassung sei.

144

Zweitens war der Gerichtshof zum Zeitpunkt des Erlasses der beanstandeten nationalen Bestimmungen zudem im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens mit mehreren Fragen zur Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV befasst, die polnische Gerichte vorgelegt hatten und die insbesondere die Frage betrafen, ob diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass

es sich bei einem Gericht, das mit einer Person besetzt ist, die unter eklatanter Verletzung der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats über die Ernennung von Richtern in das Richteramt berufen wurde, nicht um ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht handelt (Rechtssache C‑487/19, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung]);

ein nationales Gericht in einem Verfahren über die Feststellung des Nichtbestehens eines Dienstverhältnisses eines Richters entscheiden kann, dass kein Richter ist, wer in einer mit dem Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes nicht im Einklang stehenden Art und Weise in das Richteramt berufen wurde (Rechtssache C‑508/19, Prokurator Generalny u. a. [Disziplinarkammer des Obersten Gerichts – Ernennung]);

die Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, insbesondere die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, verletzt sind, wenn ein Strafverfahren in der Weise gestaltet ist, dass ein Richter, der einem Gericht angehört, das eine Hierarchieebene tiefer liegt, vom Justizminister abgeordnet werden kann, um in einem Spruchkörper mitzuwirken, der über eine bestimmte Rechtssache zu entscheiden hat, wobei die Kriterien, die der Abordnungsentscheidung zugrunde liegen, unbekannt sind, die Abordnungsentscheidung nicht Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle sein kann und der Justizminister befugt ist, die Abordnung jederzeit zu widerrufen (verbundene Rechtssachen C‑748/19 bis C‑754/19, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a.).

145

Ihrem Inhalt nach waren die damals auf diese verschiedenen Fragen zu erwartenden Antworten jedoch offensichtlich geeignet, die vorlegenden Gerichte, die den Gerichtshof in den betreffenden Sachen angerufen hatten, und darüber hinaus alle anderen nationalen Gerichte, die künftig über entsprechende Rechtssachen zu entscheiden haben, zu veranlassen, gegebenenfalls Handlungen vorzunehmen, die als Handlungen angesehen werden können, die im Sinne der beanstandeten nationalen Bestimmungen entweder „die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters“ oder „das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters“„in Frage [stellen]“ oder „das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung … wesentlich erschweren“ und somit von diesen Bestimmungen erfasst sein können.

146

Drittens hat der Gerichtshof in einem der Urteile, die zum Zeitpunkt des Erlasses der nationalen Bestimmungen ausstanden, nämlich im Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798), festgestellt, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht, das mit einem Ablehnungsantrag im Zusammenhang mit einem Rechtsbehelf befasst ist, mit dem ein Richter, der in einem Gericht tätig ist, das Unionsrecht auslegen und anwenden kann, eine Entscheidung anficht, durch die er ohne seine Zustimmung versetzt wurde, einen Beschluss als nicht existent anzusehen hat, mit dem ein letztinstanzlich und in Einzelrichterbesetzung entscheidender Spruchkörper diesen Rechtsbehelf zurückgewiesen hat, wenn eine solche Folge in Anbetracht der in Rede stehenden Verfahrenslage unerlässlich ist, um den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten, und wenn sich aus der Gesamtheit der Bedingungen und Umstände, unter denen das Verfahren zur Ernennung dieses Einzelrichters stattgefunden hat, ergibt, dass die Ernennung unter offensichtlicher Verletzung der Grundregeln erfolgt ist, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit des betroffenen Justizsystems sind, und dass die Integrität des Ergebnisses dieses Ernennungsverfahrens dadurch gefährdet ist, dass bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betreffenden Richters geweckt werden, so dass der genannte Beschluss nicht als von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlassen angesehen werden kann.

147

Es ist jedoch offensichtlich, dass aufgrund der Vornahme der insoweit erforderlichen Prüfung und der gegebenenfalls aus den vorgenannten Gründen erfolgenden Nichtanwendung eines Beschlusses wie desjenigen, der im Ausgangsverfahren in der Rechtssache C‑487/19 in Rede stand, die Gefahr besteht, dass den Richtern, die dem vorlegenden Gericht in dieser Rechtssache angehören, ebenso wie allen Richtern, die künftig eine solche Prüfung vorzunehmen und eine solche Entscheidung zu erlassen haben, vorgeworfen wird, dadurch im Sinne der beanstandeten nationalen Bestimmungen „die Wirksamkeit der Ernennung des Richters“, der den Beschluss erlassen hat, „in Frage gestellt“ zu haben oder eine Handlung vorgenommen zu haben, die „das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren“ kann.

148

Zudem hat der Gerichtshof in einem anderen Urteil, das zum Zeitpunkt des Erlasses der nationalen Bestimmungen ausstand, nämlich im Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931), festgestellt, wie dem Urteilstenor zu entnehmen ist, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) dahin auszulegen sind, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen der Justizminister eines Mitgliedstaats einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbestimmte Dauer an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann.

149

Es ist jedoch auch hier offensichtlich, dass die Richter des vorlegenden Gerichts in den Rechtssachen, in denen das Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931), erging, und alle Richter, die künftig über entsprechende Sachverhalte entscheiden müssen, ebenfalls Gefahr laufen, dass ihnen, weil sie die Konsequenzen aus jenem Urteil zu ziehen haben, angelastet wird, Handlungen vorgenommen zu haben, die im Sinne der beanstandeten nationalen Bestimmungen „das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren können“, und dass mit dieser Begründung Disziplinarverfahren gegen sie eingeleitet werden.

150

Was als Drittes den Umstand betrifft, dass die in den nationalen Bestimmungen genannten Disziplinarvergehen der Republik Polen zufolge nur Handlungen erfassen, die bereits nach nationalen verfassungsrechtlichen Bestimmungen in der Auslegung durch das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) verboten seien, ist dieser Umstand, wie der oben in den Rn. 75 bis 79 angeführten Rechtsprechung zu entnehmen ist, selbst wenn er erwiesen wäre, für die Beurteilung der von den Mitgliedstaaten einzuhaltenden Anforderungen gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nicht relevant.

151

Überdies kann in dem Fall, dass ein nationales Gericht infolge von Urteilen des Gerichtshofs zu der Auffassung gelangen sollte, dass die Rechtsprechung eines Verfassungsgerichts nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, der Umstand, dass das nationale Gericht diese Rechtsprechung gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unangewendet lässt, nicht seine disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit auslösen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 260).

152

Aus alledem ergibt sich, dass die Gefahr, dass die oben in Rn. 133 genannten nationalen Bestimmungen Gegenstand einer Auslegung werden, die es möglich macht, dass die Disziplinarordnung für Richter und insbesondere die in ihr vorgesehenen Sanktionen dafür eingesetzt werden, die betreffenden nationalen Gerichte an bestimmten Feststellungen oder Beurteilungen zu hindern, die sie jedoch gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta vorzunehmen haben, und dadurch die von diesen Gerichten erwarteten Gerichtsentscheidungen zu beeinflussen und somit die Unabhängigkeit der Richter dieser Gerichte zu untergraben, im vorliegenden Fall nachgewiesen ist und somit in beiderlei Hinsicht ein Verstoß gegen die unionsrechtlichen Bestimmungen vorliegt.

153

Was zum anderen den beanstandeten Verstoß gegen Art. 267 AEUV betrifft, führen die oben in den Rn. 135 bis 149 angestellten Erwägungen ebenfalls zu der Feststellung, dass die Richter der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungsgerichte und des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die dem Gerichtshof ein Ersuchen um Vorabentscheidung über Fragen zur Auslegung der Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Gerichten sowie zum Begriff „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta vorlegen, wie die dem Gerichtshof im Rahmen der oben in den Rn. 141 und 144 genannten Vorabentscheidungssachen vorgelegten Fragen, Gefahr laufen, aufgrund des Umstands, dass sie diese Fragen vorgelegt und ihren Zweifeln, die zur Vorlage der Fragen geführt haben, Ausdruck verliehen haben, beschuldigt zu werden, die Vergehen gemäß den beanstandeten nationalen Bestimmungen begangen zu haben.

154

Die nationalen Bestimmungen sind nämlich, wie oben in den Rn. 135 bis 138 dargelegt, derart weit gefasst und ungenau, dass sich nicht ausschließen lässt, dass solche Zweifel und Fragen so verstanden werden, dass mit ihnen im Sinne der genannten Bestimmungen „das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird“, oder sie dazu beigetragen haben, „das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich [zu] machen oder wesentlich [zu] erschweren“.

155

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verleiht Art. 267 AEUV den nationalen Gerichten jedoch ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen nach der Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen aufwirft, deren Beantwortung für die Entscheidung des ihnen unterbreiteten Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 223 und die dort angeführte Rechtsprechung).

156

Zudem wird bei Gerichten wie dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) oder dem Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht), deren Entscheidungen selbst nicht mehr im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, aus dieser Befugnis, vorbehaltlich der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannten Ausnahmen, eine Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege der Vorabentscheidung (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 224 und die dort angeführte Rechtsprechung).

157

Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung kann eine Vorschrift des nationalen Rechts ein nationales Gericht nicht daran hindern, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen oder dieser Pflicht nachzukommen, denn diese sind dem durch Art. 267 AEUV geschaffenen System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof und den durch diese Bestimmung den nationalen Gerichten zugewiesenen Aufgaben des zur Anwendung des Unionsrechts berufenen Richters inhärent (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 225 und die dort angeführte Rechtsprechung).

158

Außerdem beschneidet eine nationale Vorschrift, die insbesondere die Gefahr birgt, dass ein nationaler Richter lieber darauf verzichtet, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, die den nationalen Gerichten nach Art. 267 AEUV zuerkannten Befugnisse und hemmt als Folge die Effizienz dieses Systems der Zusammenarbeit (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 226 und die dort angeführte Rechtsprechung).

159

Nationale Bestimmungen, nach denen gegen nationale Richter ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden kann, weil sie ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet haben, können daher nicht zugelassen werden. Die bloße Aussicht darauf, dass aufgrund eines solchen Ersuchens oder der Entscheidung, dieses nach seiner Vorlage aufrechtzuerhalten, gegebenenfalls ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden könnte, ist nämlich geeignet, die tatsächliche Wahrnehmung der in Rn. 157 des vorliegenden Urteils genannten Befugnisse und Aufgaben durch die betreffenden nationalen Richter zu beeinträchtigen (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 227 und die dort angeführte Rechtsprechung).

160

Insoweit war der Gerichtshof zudem in mehreren Urteilen veranlasst, darauf hinzuweisen, dass Vorermittlungen vor der etwaigen Einleitung von Disziplinarverfahren wegen Entscheidungen, mit denen polnische Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit den Gerichtshof um Vorabentscheidung u. a. zur Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ersucht hatten, in der Tat bereits stattgefunden haben (vgl. Urteile vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 231).

161

Aus alledem folgt, dass die Gefahr, dass die von der Kommission im ersten Teil der dritten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen Gegenstand einer Auslegung sein können, die es möglich macht, dass die Disziplinarordnung dafür verwendet wird, nationale Richter zu sanktionieren, weil sie dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt haben oder ein solches Ersuchen aufrechterhalten haben, ebenfalls nachgewiesen ist und die nationalen Bestimmungen somit gegen Art. 267 AEUV verstoßen.

162

Zurückzuweisen ist schließlich das oben in Rn. 124 angeführte Vorbringen der Republik Polen, zwischen der dritten und der zweiten Rüge bestehe ein Widerspruch. Insoweit genügt nämlich der Hinweis, dass mit der zweiten Rüge beanstandet wird, dass die Prüfung bestimmter Rechtsfragen der ausschließlichen Zuständigkeit der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten unterliegt, während die dritte Rüge die Vereinbarkeit von Bestimmungen zur Einstufung bestimmter Verhaltensweisen als Disziplinarvergehen von Richtern der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungsgerichte und des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), einschließlich der Richter der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, mit dem Unionsrecht betrifft.

163

Nach alledem ist festzustellen, dass Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit sowohl gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta als auch gegen Art. 267 AEUV verstoßen, so dass dem ersten Teil der dritten Rüge der Kommission stattzugeben ist.

– Zum zweiten Teil der dritten Rüge

164

Vorab ist festzustellen, dass, wie die Kommission zu Recht geltend macht, Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, der die „offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften“ als Disziplinarvergehen von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) einstuft, insoweit eine Formulierung verwendet, die mit der Formulierung identisch ist, die bereits in Art. 107 § 1 Nr. 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit vor seiner Änderung durch das Änderungsgesetz enthalten war und der zufolge ein solcher Verstoß ebenfalls als Disziplinarvergehen der Richter dieser Gerichte eingestuft wurde.

165

Wie jedoch Rn. 157 und Nr. 1 zweiter Gedankenstrich des Tenors des Urteils vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), das im Laufe des vorliegenden Verfahrens verkündet wurde, zu entnehmen ist, hat der Gerichtshof zu der in Art. 107 § 1 Nr. 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit enthaltenen Vorschrift festgestellt, dass es angesichts aller in den Rn. 134 bis 156 des Urteils dargelegten Erwägungen erwiesen ist, dass in dem besonderen Kontext, der sich aus den jüngsten Reformen der Justiz und der für die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit geltenden Disziplinarordnung in Polen ergibt, die in dieser Bestimmung enthaltene Definition des Begriffs „Disziplinarvergehen“ nicht verhindern kann, dass die Disziplinarordnung dazu eingesetzt wird, um bei diesen Richtern, die zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufen sind, Druck und eine abschreckende Wirkung zu erzeugen, die den Inhalt ihrer Entscheidungen beeinflussen können. In Rn. 157 hat der Gerichtshof daher den Schluss gezogen, dass Art. 107 § 1 Nr. 1 somit die Unabhängigkeit der Richter der ordentlichen Gerichte beeinträchtigt und gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstößt.

166

Unter diesen Umständen ist aus Gründen, die im Wesentlichen mit den in den Rn. 134 bis 156 des Urteils vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), dargelegten Gründen identisch sind, auf die verwiesen wird, festzustellen, dass Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht auch gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstößt. Diese nationale Bestimmung beeinträchtigt nämlich die Unabhängigkeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die, wie oben in Rn. 92 dargelegt, ebenfalls zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufen sind, da die genannte nationale Bestimmung nicht verhindern kann, dass die für diese Richter geltende Disziplinarordnung eingesetzt wird, um Druck und eine abschreckende Wirkung zu erzeugen, die den Inhalt ihrer Entscheidungen beeinflussen können, insbesondere der Entscheidungen über die Anforderungen, die sich aus dem Recht auf einen wirksamen Rechtsschutz in Bezug auf das Vorliegen unabhängiger, unparteiischer und zuvor durch Gesetz errichteter Gerichte ergeben.

167

Zudem hat der Gerichtshof im Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), auch festgestellt, wie Rn. 234 und Nr. 2 des Tenors jenes Urteils zu entnehmen ist, dass aufgrund des Bestehens des in Art. 107 § 1 Nr. 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und aus den in den Rn. 222 bis 233 jenes Urteils dargelegten Gründen die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen hatte, dass sie es zuließ, dass das Recht der Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden, durch die Möglichkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens eingeschränkt wird.

168

Insoweit ist aus Gründen, die im Wesentlichen mit der in den Rn. 222 bis 233 des Urteils vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), enthaltenen Begründung identisch sind, auf die verwiesen wird, festzustellen, dass die Republik Polen dadurch, dass sie Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht erlassen und aufrechterhalten und es somit zugelassen hat, dass die Verpflichtung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden, durch die Möglichkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen die Richter dieses nationalen Gerichts eingeschränkt wird, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 267 AEUV verstoßen hat.

169

Folglich ist der zweite Teil der dritten Rüge ebenfalls begründet und der dritten Rüge insgesamt stattzugeben.

Zur ersten Rüge

Vorbringen der Parteien

170

Mit ihrer ersten Rüge, die als Drittes zu prüfen ist, macht die Kommission geltend, dass Art. 42a §§ 1 und 2 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 26 § 3 und Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 8 des Änderungsgesetzes gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta, den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und Art. 267 AEUV verstoßen.

171

Ziel dieser nationalen Bestimmungen sei es, den nationalen Gerichten, auf die sie Anwendung fänden, zu verbieten, von Amts wegen oder auf Antrag einer Partei die – ihnen obliegende – Prüfung der Frage vorzunehmen, ob das Recht des Einzelnen, seinen Fall von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht untersuchen zu lassen, in Fällen, die Rechte des Einzelnen aus dem Unionsrecht beträfen, garantiert werden könne oder nicht, verletzt worden sei, indem sie prüften, ob ihre eigene Zusammensetzung oder die Zusammensetzung eines anderen Gerichts, z. B. eines Spruchkörpers niederer Ordnung, die Anforderungen erfülle, die mit einer solchen Garantie verbunden seien. Diese Prüfung müsse sich nämlich insbesondere auf die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung der Richter der betreffenden Gerichte erstrecken oder es ermöglichen, die Legitimität dieser Gerichte und ihrer Mitglieder zu beurteilen, was die beanstandeten nationalen Bestimmungen zu verhindern suchten.

172

Indem sich die Republik Polen auf den Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern und das verfassungsrechtliche Verbot, die Ernennung von Richtern für ungültig zu erklären, berufe, verwechsle sie die Verpflichtung, eine solche nach Unionsrecht gebotene gerichtliche Überprüfung zuzulassen, mit den Folgen einer nach dieser gerichtlichen Überprüfung eventuell vorzunehmenden Feststellung, dass die Anforderungen nicht erfüllt seien, die sich aus dem Recht auf Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht ergäben. Diese Folgen, die von dem mit der Entscheidung befassten nationalen Gericht unter Zugrundelegung des anwendbaren nationalen Rechts und unter Berücksichtigung der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts und der notwendigen Abwägung zwischen den Anforderungen aus der Anwendung des Grundsatzes der Rechtssicherheit und den Anforderungen im Zusammenhang mit der Einhaltung des anwendbaren Rechts zu bestimmen seien, müssten nicht zwangsläufig zur Aufhebung des fraglichen Ernennungsakts oder zur Abberufung des betreffenden Richters führen. Im Allgemeinen würden die Folgen zudem im Rahmen einer zweitinstanzlichen gerichtlichen Prüfung festgelegt, die ein Urteil oder einen anderen Rechtsakt als den Akt zur Ernennung auf die Stelle eines Richters zum Gegenstand habe.

173

Im Fall der Feststellung einer Verletzung des Grundrechts der Rechtsunterworfenen auf wirksamen gerichtlichen Schutz verlangten der Grundsatz des Vorrangs und der Wirksamkeit des Unionsrechts außerdem, dass die betreffenden nationalen Vorschriften unangewendet blieben, wenn dies aufgrund der oben genannten Abwägung geboten sei.

174

Zur Verteidigung trägt die Republik Polen vor, die Kommission sei ihrer Beweispflicht nicht nachgekommen, da sie ihre Behauptungen in Bezug auf etwaige Verstöße gegen Art. 267 AEUV und den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts nicht substantiiert habe. Jedenfalls beträfen die beanstandeten nationalen Bestimmungen weder die Vorlage von Vorabentscheidungsfragen durch die nationalen Gerichte noch Normenkonflikte, in deren Kontext dieser Grundsatz gegebenenfalls Anwendung finden müsse. Zudem habe die Kommission auch nicht dargelegt, inwiefern eine der beanstandeten nationalen Bestimmungen, nämlich Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstoßen könne.

175

Was die anderen geltend gemachten Verstöße gegen die beiden zuletzt genannten unionsrechtlichen Bestimmungen betreffe, werde durch die Verpflichtung eines nationalen Gerichts, die Einhaltung der mit diesen Bestimmungen verbundenen Garantien zu prüfen, um sicherzustellen, dass keine Unregelmäßigkeiten beim Verfahren zur Ernennung eines Richters das Recht einer Partei auf ein durch Gesetz errichtetes Gericht in einer bestimmten Rechtssache verletzt hätten, nicht impliziert, dass jedem Rechtsunterworfenen das Recht zuerkannt werde, die Amtsenthebung eines Richters zu verlangen, oder jedes nationale Gericht befugt sei, in jedem beliebigen Verfahren die Ernennung eines Richters und den Fortbestand ihrer Wirkung ohne rechtliche Grundlage in Frage zu stellen. Jede andere Auslegung habe zudem einen Verstoß gegen die Grundsätze der Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit von Richtern zur Folge.

176

Wie sich aus ihrer wörtlichen, kontextbezogenen, teleologischen und systematischen Auslegung ergebe – und entgegen der ihnen von der Kommission fälschlicherweise zugeschriebenen Bedeutung –, stünden Art. 42a §§ 1 und 2 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 26 § 3 und Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sowie Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit der Einhaltung der nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta erforderlichen Garantien nicht entgegen.

177

Als Erstes seien diese nationalen Bestimmungen nur wegen der ernsthaften Bedrohung der Sicherheit der Rechtsverhältnisse und der Justiz eingeführt worden, die damit zusammenhänge, dass in jüngster Zeit vermehrt versucht worden sei, das Bestehen des richterlichen Mandats in Frage zu stellen. Insoweit habe der polnische Gesetzgeber nur das Ziel verfolgt, die Einhaltung des bestehenden nationalen Rechts sicherzustellen. Gemäß der Verfassung und der ständigen Rechtsprechung der Verfassungs- und Verwaltungsgerichte sei nämlich seit jeher ausgeschlossen gewesen, dass die Gültigkeit oder Wirksamkeit der Ernennung eines Richters Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle sein könne.

178

Als Zweites seien die genannten nationalen Bestimmungen im Licht der Bestimmungen, die innerhalb der Normenhierarchie einen höheren Rang einnähmen, d. h. Art. 45 der Verfassung, Art. 6 EMRK und die entsprechenden unionsrechtlichen Bestimmungen, und im Einklang mit ihnen auszulegen.

179

Als Drittes sei die wirksame, unionsrechtlich gebotene Kontrolle der Garantien im Zusammenhang mit dem Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht durch die Anwendung verschiedener anderer nationaler Bestimmungen in vollem Umfang gewährleistet. Dies gelte erstens für die Art. 48 bis 54 der Ustawa – Kodeks postepowania cywilnego (Gesetz über die Zivilprozessordnung, im Folgenden: Zivilprozessordnung), die Art. 40 bis 44 der Ustawa – Kodeks postępowania karnego (Gesetz über die Strafprozessordnung) und die Art. 18 bis 24 der Ustawa – Prawo o postępowaniu przed sądami administracyjnymi (Gesetz über die Verwaltungsgerichtsordnung), wonach die Ablehnung von Richtern beantragt werden könne, wenn Zweifel hinsichtlich ihrer Unparteilichkeit und Unabhängigkeit bestünden. Zweitens sei durch Art. 200 § 14 der Zivilprozessordnung, wonach die nationalen Gerichte von Amts wegen zu prüfen hätten, ob sie zuständig seien, und bei fehlender Zuständigkeit die Rechtssache an das zuständige Gericht verweisen müssten, garantiert, dass ein Rechtsunterworfener, der Zweifel daran habe, dass ein Gericht in der Lage sei, sein Recht auf ein solches Gericht zu gewährleisten, die Möglichkeit habe, zu beantragen, dass die betreffende Rechtssache im Einklang mit den Erkenntnissen aus dem Urteil A. K. u. a. an ein anderes Gericht verwiesen werde. Drittens müsse, wenn das Gericht, das entschieden habe, nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen sei, das mit einem Rechtsmittel befasste Gericht höherer Ordnung das Verfahren von Amts wegen aufheben und das fragliche Urteil gemäß Art. 379 § 4 der Zivilprozessordnung, Art. 439 § 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung bzw. Art. 183 § 2 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung aufheben.

180

Außerdem verkenne die Kommission die Tragweite von Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und somit von Art. 8 des Änderungsgesetzes, der die Anwendung von Art. 55 § 4 auf anhängige Rechtssachen vorsehe. Nach Art. 55 § 4 sei es nämlich keineswegs untersagt, zu prüfen, ob ein Gericht ordnungsgemäß zusammengesetzt sei, insbesondere im Rahmen eines Ablehnungsantrags oder zwecks Überprüfung, ob sich die Zusammensetzung negativ auf den Ausgang des betreffenden Rechtsstreits ausgewirkt habe. In Wirklichkeit handle es sich bei Art. 55 § 4 nur um die Kodifizierung der ständigen Rechtsprechung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), wonach der Umstand, dass eine Rechtssache von einem Spruchkörper unter Verletzung der Bestimmungen „im Verordnungsrang“ über die Zuweisung von Rechtssachen an Richter und die Bestimmung von Spruchkörpern geprüft worden sei, keinen Gesichtspunkt zwingenden Rechts darstelle, der in jedem Fall zur Feststellung der Ungültigkeit des betreffenden Verfahrens führe, und auch keinen Fall darstelle, in dem ein außerordentlicher Rechtsbehelf eingelegt werden könne.

181

Schließlich macht die Republik Polen in einer ähnlichen Formulierung wie der oben in Rn. 124 angeführten geltend, dass sich die erste und die zweite Rüge widersprächen, da es nicht möglich sei, einerseits geltend zu machen, dass das nationale Recht es den Richtern der nationalen Gerichte verbiete, das etwaige Vorliegen von Verstößen gegen das Recht auf einen wirksamen Rechtsschutz zu prüfen, und andererseits zu behaupten, dass die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über Klagegründe habe, die sich auf solche Verstöße stützten.

182

In ihrer Erwiderung trägt die Kommission u. a. in Bezug auf den beanstandeten Verstoß gegen Art. 267 AEUV vor, sie habe in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgestellt, was im Übrigen offensichtlich sei, dass nämlich die beanstandeten nationalen Bestimmungen dadurch, dass sie es den nationalen Gerichten untersagten, zu prüfen, ob ein Gericht oder ein Richter bestimmte, sich aus dem Unionsrecht ergebende Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz erfülle, die nationalen Gerichte automatisch daran hinderten, mit dem Gerichtshof hierzu in einen Vorabentscheidungsdialog zu treten. Der beanstandete Verstoß gegen Art. 267 AEUV sei außerdem in der Klageschrift im Rahmen der zweiten Rüge detailliert dargelegt worden. Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht habe den gleichen Regelungsgehalt wie Art. 29 § 3 dieses Gesetzes und Art. 42a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, so dass für alle diese Bestimmungen die gleiche juristische Argumentation gelte, ohne dass sie in der Begründung der Klageschrift dargelegt werden müsse.

183

Was den beanstandeten Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts betreffe, sei es nach den oben in Rn. 176 genannten nationalen Bestimmungen verboten, die Rechtmäßigkeit der Ernennung sowie „der sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung“„festzustellen“ oder zu „beurteilen“ – ohne dass auf den betreffenden Ernennungsakt Bezug genommen werde –, so dass nach diesem Wortlaut die Beurteilung der Befugnis eines Richters, in einer bestimmten Rechtssache zu entscheiden, verboten sei. Diese Auslegung ergebe sich auch aus Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, wonach ein Antrag nach Art. 26 § 2 nicht die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung betreffen dürfe.

184

Zu Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit macht die Kommission geltend, diese nationale Bestimmung erfasse nicht den Fall eines Verstoßes gegen Vorschriften über die Zuweisung von Sachen sowie über die Bestimmung und Änderung der Spruchkörper, so dass das auf einen solchen Verstoß gestützte Vorbringen der Republik Polen irrelevant sei.

185

In ihrer Gegenerwiderung trägt die Republik Polen in Bezug auf die beanstandeten Verstöße gegen Art. 267 AEUV und den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts vor, die Kommission dürfe sich weder auf angeblich „offensichtliche“ Umstände berufen, da insoweit jegliche Vermutung ausgeschlossen sei, noch darauf, dass ein in der Klageschrift nicht enthaltenes Vorbringen in der mit Gründen versehenen Stellungnahme aufgeführt sei. Was Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betreffe, sei die Kommission verpflichtet gewesen, ihre Rügen zu substantiieren, da nicht erwartet werden könne, dass die beklagte Partei errate, dass Argumente, die in der Klageschrift zu anderen nationalen Bestimmungen vorgetragen worden seien, auch diese Rügen stützen könnten.

186

Dem zweiten Satz von Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und insbesondere der darin verwendeten Formulierung „können keine Grundlage … sein“ sei nicht zu entnehmen, dass die Einhaltung der Bestimmungen im Verordnungsrang über die Zuweisung von Sachen sowie über die Bestimmung oder Änderung der Spruchkörper alle anderen etwaigen Verfahrensfehler heilen könne, die zu einer Entscheidung führen könnten, die das Recht des Einzelnen auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht verletze.

187

In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission neben den oben in den Rn. 117 und 118 dargelegten Erwägungen erklärt, dass Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit z. B. die nationalen Gerichte daran hindern könne, die Konsequenzen aus Rn. 176 des Urteils vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), und aus dem Tenor des Urteils vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931), zu ziehen.

Würdigung durch den Gerichtshof

– Zur Zulässigkeit

188

Als Erstes ist zum behaupteten Verstoß gegen Art. 267 AEUV darauf hinzuweisen, dass nach Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs und seiner dazu ergangenen Rechtsprechung die Klageschrift den Streitgegenstand, die vorgebrachten Klagegründe und Argumente sowie eine kurze Darstellung dieser Klagegründe enthalten muss. Diese Darstellung muss hinreichend klar und deutlich sein, um dem Beklagten die Vorbereitung seines Verteidigungsvorbringens und dem Gerichtshof die Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe zu ermöglichen. Folglich müssen sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die eine Klage gestützt wird, zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben, und die Anträge in der Klageschrift müssen eindeutig formuliert sein, damit der Gerichtshof nicht ultra petita entscheidet oder eine Rüge übergeht (Urteil vom 19. September 2017, Kommission/Irland [Zulassungssteuer], C‑552/15, EU:C:2017:698, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

189

Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass eine nach Art. 258 AEUV erhobene Klage eine zusammenhängende und genaue Darstellung der Rügen enthalten muss, damit der Mitgliedstaat und der Gerichtshof die Tragweite des gerügten Verstoßes gegen das Unionsrecht richtig erfassen können, was notwendig ist, damit der betreffende Staat sich sachgerecht verteidigen und der Gerichtshof überprüfen kann, ob die behauptete Vertragsverletzung vorliegt (Urteil vom 8. März 2022, Kommission/Vereinigtes Königreich [Bekämpfung von Betrug durch Unterbewertung], C‑213/19, EU:C:2022:167, Rn. 133 und die dort angeführte Rechtsprechung).

190

Insbesondere muss die Klage der Kommission eine zusammenhängende und detaillierte Darlegung der Gründe enthalten, aus denen diese zu der Überzeugung gelangt ist, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen eine der ihm nach Unionsrecht obliegenden Verpflichtungen verstoßen hat (Urteil vom 31. Oktober 2019, Kommission/Niederlande, C‑395/17, EU:C:2019:918, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

191

Im vorliegenden Fall wird Art. 267 AEUV zwar u. a. in dem die erste Rüge betreffenden Klageantrag erwähnt, doch enthalten die Ausführungen in der Klageschrift im Rahmen der kurzen Darstellung dieser Rüge und das damit verbundene Vorbringen der Kommission überhaupt keinen Hinweis auf diesen Artikel und seine etwaige Verletzung und erst recht keine genauere Begründung, inwiefern die mit dieser Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen geeignet sein sollen, gegen den genannten Artikel zu verstoßen.

192

Unter diesen Umständen ist im Einklang mit den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 128 seiner Schlussanträge festzustellen, dass die Klageschrift in Bezug auf den mit der ersten Rüge beanstandeten Verstoß gegen Art. 267 AEUV nicht den oben in den Rn. 188 bis 190 genannten Anforderungen entspricht. Diese Unregelmäßigkeit der verfahrenseinleitenden Handlung kann weder dadurch geheilt werden, dass die Kommission den beanstandeten Verstoß – bezogen auf die erste Rüge – in der mit Gründen versehenen Stellungnahme substantiiert hat, noch dadurch, dass ein entsprechender Verstoß gegen Art. 267 AEUV Gegenstand einer Argumentation war, die andere Rügen in der Klageschrift in Bezug auf andere nationale Bestimmungen als die mit der ersten Rüge beanstandeten betraf. In Bezug auf die erste Rüge erlaubt die Klageschrift nämlich keine zusammenhängende, klare und genaue Eingrenzung der Art. 267 AEUV betreffenden Streitigkeit, die dem Gerichtshof im vorliegenden Fall im Anschluss an das Vorverfahren vorgelegt wurde.

193

Was als Zweites den beanstandeten Verstoß gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts betrifft, nimmt die Kommission in ihren Ausführungen zur ersten Rüge in der Klageschrift auf diesen Grundsatz Bezug und macht insbesondere in Rn. 75 der Klageschrift geltend, dass die beanstandeten nationalen Bestimmungen, da sie es polnischen Gerichten in den von diesen Bestimmungen erfassten Fällen verwehrten, darüber zu entscheiden, ob die Erfordernisse nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta erfüllt seien, diese Gerichte auch daran hindern könnten, im Einklang mit dem genannten Grundsatz Handlungen vorzunehmen, die sich als notwendig erweisen könnten, um die tatsächliche Einhaltung dieser Erfordernisse in solchen Fällen zu gewährleisten.

194

Was als Drittes Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betrifft, ist es zwar, wie die Republik Polen zu Recht vorträgt, zutreffend, dass, obwohl diese nationale Bestimmung in dem Klageantrag genannt wird, der die erste Rüge betrifft, das in der Klageschrift enthaltene Vorbringen zur ersten Rüge keine konkreten Ausführungen zu dieser Vorschrift enthält.

195

Wie die Kommission jedoch geltend macht, beschränkt sich Art. 26 § 3, wonach die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten keine Anträge auf Feststellung oder Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung prüfen kann, im Wesentlichen darauf, den Inhalt von Art. 29 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht zu wiederholen, nämlich dass es dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), insbesondere der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, untersagt ist, die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder der sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung festzustellen oder zu beurteilen.

196

Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass sich die Kritikpunkte, die die Kommission im Hinblick auf Art. 29 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht geäußert hat, automatisch auch auf Art. 26 § 3 dieses Gesetzes beziehen und dadurch die zuletzt genannte Vorschrift erfassen. Somit war es nicht notwendig, dass die Kommission eine besondere Erläuterung zu der zuletzt genannten nationalen Bestimmung gibt, so dass das Fehlen einer solchen Erläuterung die Verteidigungsrechte der Republik Polen nicht beeinträchtigen konnte.

197

Nach alledem ist die erste Rüge der Kommission in Bezug auf den beanstandeten Verstoß gegen Art. 267 AEUV unzulässig und im Übrigen zulässig.

– Zur Begründetheit

198

Was zunächst Art. 42a §§ 1 und 2 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit betrifft, ist dem Wortlaut der ersten beiden nationalen Bestimmungen zu entnehmen, dass zum einen „[i]m Rahmen der Tätigkeiten“ der verschiedenen in Rede stehenden Gerichte „oder [ihrer] Organe“„die Legitimität der [Gerichte], der Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden [darf]“ und zum anderen diese Gerichte „die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder der sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen [dürfen]“. Nach Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht ist es ausgeschlossen, dass die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, nachdem ihr ein Antrag betreffend die Ablehnung eines Richters oder die Bestimmung des Gerichts, bei dem ein Verfahren geführt werden soll, mit dem gegebenenfalls die fehlende Unabhängigkeit des betreffenden Gerichts oder Richters gerügt wird, von einem anderen Gericht übersandt wurde, diesen Antrag prüft, wenn er „die Feststellung und die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung betrifft“.

199

Insoweit ist als Erstes festzustellen, dass, wie im Wesentlichen oben in den Rn. 135 bis 137 in Bezug auf die von der Kommission mit der dritten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen dargelegt, der Wortlaut der von der ersten Rüge erfassten nationalen Bestimmungen entgegen dem Vorbringen der Republik Polen nicht den Schluss zulässt, dass sich die darin ausgesprochenen Verbote ausschließlich auf Rechtsprechungshandlungen beziehen, die eine Entscheidung über die Gültigkeit der Ernennung eines Richters zum Gegenstand haben.

200

Zum einen verbieten es die zuletzt genannten nationalen Bestimmungen nämlich nicht nur, die „Rechtmäßigkeit“ sowohl der „Ernennung“ selbst als auch der „sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung“„fest[zu]stellen“, sondern auch, sie zu „beurteilen“. Zum anderen verbieten es diese Bestimmungen mit einer noch weiter gefassten Formulierung auch, dass die „Legitimität“ der „Gerichte“ und der „Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts“„in Frage gestellt werden“.

201

Da diese Formulierungen relativ weit gefasst und ungenau sind, können sie offensichtlich dazu führen, dass eine große Bandbreite an Handlungen oder Verhaltensweisen der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungsgerichte und des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und ihrer Organe aufgrund ihres Inhalts oder ihrer Wirkungen von den aufgestellten Verboten erfasst sein können. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Gerichte im Einklang mit den ihnen obliegenden und oben in den Rn. 128 bis 131 genannten Verpflichtungen unter bestimmten Umständen prüfen müssen, ob sie selbst oder die Richter, die ihnen angehören, oder andere Richter oder Gerichte, die über das Unionsrecht betreffende Rechtssachen zu entscheiden haben oder entschieden haben, die Erfordernisse gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta in Bezug auf Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und vorherige Errichtung durch Gesetz erfüllen.

202

Als Zweites ist festzustellen, dass der vom polnischen Gesetzgeber verwendete Wortlaut, wie oben in Rn. 140 zu den von der Kommission mit der dritten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen dargelegt, eng mit einer Reihe von Fragen verbunden ist, die verschiedene polnische Gerichte in Bezug auf die Vereinbarkeit mehrerer kürzlich vorgenommener, die Organisation der Justiz in Polen betreffender Gesetzesänderungen mit dem Unionsrecht und speziell mit den Anforderungen gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta gestellt hatten.

203

Das Änderungsgesetz und die mit der ersten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen wurden nämlich in großer Eile in dem oben in den Rn. 141 bis 145 beschriebenen Kontext erlassen, der u. a. gekennzeichnet ist durch Entwicklungen der jüngsten, aus dem Urteil A. K. u. a. hervorgegangenen Rechtsprechung zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und speziell der Unabhängigkeit der Justiz in Polen sowie durch mehrere damals beim Gerichtshof anhängige Vorabentscheidungsersuchen, die ein ähnliches Problem betrafen.

204

Insoweit ist insbesondere den Rn. 134, 139 und 149 sowie dem Tenor des Urteils A. K. u. a. zu entnehmen, dass die Erkenntnisse aus diesem Urteil – ebenso wie die aus der oben in Rn. 143 angeführten nationalen Rechtsprechung, die im Licht des Urteils A. K. u. a. entwickelt wurde – die Vereinbarkeit der Befugnisse der Disziplinarkammer, u. a. angesichts der Modalitäten für die Ernennung der Mitglieder dieser Kammer und der fehlenden Unabhängigkeit sowohl der Disziplinarkammer als auch der am Ernennungsverfahren beteiligten KRS, mit dem Unionsrecht betreffen.

205

Insbesondere ging, wie oben in Rn. 141 dargelegt, aus dem Urteil A. K. u. a. eindeutig hervor, dass die nationalen Gerichte, die über entsprechende Rechtssachen zu befinden haben, nach dem Unionsrecht verpflichtet sein könnten, zum einen zu entscheiden, ob eine Einrichtung wie die Disziplinarkammer geeignet ist, über Rechtssachen zu entscheiden, die dem Unionsrecht unterliegen, und dabei die Umstände zu berücksichtigen, unter denen die Ernennung der Mitglieder der Disziplinarkammer erfolgte, und zum anderen die Unabhängigkeit der KRS zu prüfen und bei fehlender Unabhängigkeit über die Auswirkungen der Beteiligung dieser Einrichtung am Verfahren zur Ernennung von Richtern der Disziplinarkammer zu entscheiden.

206

Es war jedoch offensichtlich, dass die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit Vorschriften des Unionsrechts anzuwenden haben, dadurch verpflichtet sein könnten, Handlungen vorzunehmen, die als geeignet angesehen werden könnten, die „Legitimität der [Gerichte]“, wie der Disziplinarkammer, oder der „Verfassungsorgane des Staates und der Organe … zum Schutz des Rechts“, wie der KRS, „in Frage [zu stellen]“, indem sie außerdem bei dieser Gelegenheit „Beurteilungen“ der „Rechtmäßigkeit“ der „Ernennung“ von Richtern der Disziplinarkammer und ihrer „Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung“ im Sinne der von der Kommission mit der ersten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen vornehmen.

207

Die oben in Rn. 144 erwähnten Vorlagefragen, mit denen der Gerichtshof zum Zeitpunkt des Erlasses der beanstandeten nationalen Bestimmungen befasst war, betrafen zum einen die etwaige Unvereinbarkeit neuer nationaler Vorschriften, auf deren Grundlage kurz zuvor Personen zu Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ernannt worden waren, mit dem Unionsrecht und die möglichen Auswirkungen einer solchen Unvereinbarkeit auf die von den betreffenden Richtern vorgenommenen Rechtsprechungshandlungen. Zum anderen betrafen diese Vorlagefragen die etwaige Unvereinbarkeit nationaler Vorschriften, die den Erlass von Ministerentscheidungen zur Abordnung von Richtern an andere Gerichte als ihr Ursprungsgericht ermöglichten, mit Unionsrecht.

208

Je nach ihrem Inhalt konnten die damals vom Gerichtshof erwarteten Antworten auf diese Vorlagefragen die nationalen Gerichte dazu veranlassen, gegebenenfalls „Beurteilungen“ der „Rechtmäßigkeit“ der „Ernennung“ von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) oder ihrer „Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung“ abzugeben oder Handlungen vorzunehmen, die als Handlungen angesehen werden könnten, die die „Legitimität der [Gerichte]“, insbesondere der Gerichte, an die die Richter abgeordnet wurden, „in Frage [stellen]“.

209

Zudem ist den oben in den Rn. 146 und 148 genannten Urteilen zu entnehmen, dass die Antworten des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen, deren Inhalt oben in Rn. 207 aufgeführt ist, die Gefahr bestätigt haben, dass Handlungen oder Beurteilungen, die den nationalen Gerichten unter bestimmten Umständen nach Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta obliegen, in der Tat von den Verboten in den mit der ersten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen erfasst werden.

210

Das oben in Rn. 175 erwähnte Vorbringen der Republik Polen kann die vorstehende Analyse nicht in Frage stellen. Aus dieser folgt nämlich nicht, dass jedes nationale Gericht befugt sein sollte, von Amts wegen oder auf Antrag eines Rechtsunterworfenen im Rahmen eines beliebigen Verfahrens die Ernennung eines Richters, sein Dienstverhältnis oder die Ausübung seiner richterlichen Entscheidungsbefugnis in Frage zu stellen, nachdem es gegebenenfalls den Gerichtshof um Auslegung im Wege der Vorabentscheidung ersucht hat.

211

Insoweit hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 22. März 2022, Prokurator Generalny u. a. (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑508/19, EU:C:2022:201, Rn. 70, 71 und 81 bis 83), ein Vorabentscheidungsersuchen, das im Rahmen einer Anfechtung der Gültigkeit der Ernennung eines Richters des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vor dem vorlegenden Gericht erging, für unzulässig erklärt, nachdem er insbesondere festgestellt hatte, dass die mit dem Vorabentscheidungsersuchen vorgelegten Fragen ihrem Wesen nach ein anderes Verfahren als den Ausgangsrechtsstreit betrafen und eine Klage wie die im Ausgangsverfahren erhobene darauf gerichtet ist, eine Art Nichtigerklärung erga omnes der Ernennung des betreffenden Richters zum Richter an diesem Gericht zu erwirken, obwohl das nationale Recht es nicht sämtlichen Einzelnen gestattet – und nie gestattet hat –, die Ernennung von Richtern mit einer direkten Klage auf Nichtig- oder Ungültigerklärung einer solchen Ernennung anzufechten.

212

Als Drittes ist zum Vorbringen der Republik Polen, die anderen nationalen Vorschriften ließen eine Einhaltung der Erfordernisse von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta zu, erstens festzustellen, dass sich in Bezug auf die oben in Rn. 179 genannten nationalen Bestimmungen über die Ablehnung von Richtern zum einen aus Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht ergibt, dass die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung im Rahmen eines Ablehnungsverfahrens nicht zulässig ist.

213

Wie zum anderen dem Wortlaut der nationalen Bestimmungen über die Ablehnung von Richtern, auf die sich die Republik Polen berufen hat und die sie auf Ersuchen des Gerichtshofs vorgelegt hat, zu entnehmen ist, scheint sich die Kontrolle, zu der diese nationalen Bestimmungen berechtigen, nur auf einen Teil der Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit ergeben, und speziell auf die mit dem internen Aspekt dieses Grundsatzes verbundenen Anforderungen zu beziehen, die sich mit dem Konzept der „Unabhängigkeit“ überschneiden und darauf gerichtet sind, dass die Richter den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnen. Dagegen scheinen die nationalen Bestimmungen ihrem Wortlaut nach keine Kontrolle anderer Aspekte dieser Anforderungen zu erlauben, insbesondere derjenigen, die mit dem externen Aspekt des genannten Grundsatzes verbunden sind und sich u. a. auf den Schutz der betreffenden Einrichtung vor Interventionen oder Druck von außen oder auf das Erfordernis, dass die Einrichtung zuvor durch Gesetz errichtet wurde, beziehen.

214

In der mündlichen Verhandlung hat die Republik Polen hierzu im Übrigen erklärt, den jüngsten Urteilen des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) zufolge seien nach diesen nationalen Bestimmungen u. a. keine Anträge oder Erklärungen zulässig, mit denen die Vorschriftswidrigkeit der Ernennung eines Richters oder ein anderer Umstand im Zusammenhang mit dem Verfahren zur Ernennung eines Richters gerügt werde.

215

Was zweitens die anderen nationalen Mechanismen betrifft, auf die sich die Republik Polen beruft und die ebenfalls oben in Rn. 179 genannt sind, d. h. diejenigen im Zusammenhang mit der Verweisung einer Rechtssache an das zuständige Gericht und der Kontrolle durch die Gerichte höherer Ordnung, ist festzustellen, dass, wie oben in den Rn. 200 und 201 dargelegt, die mit der ersten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen weit und ungenau formuliert sind, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie ebenfalls geeignet sind, diese Mechanismen zu lähmen.

216

Die in diesen nationalen Bestimmungen aufgestellten Verbote sind nämlich auch auf Gerichte anwendbar, vor denen sich die Frage stellt, ob die Rechtssache nach Art. 200 § 14 der Zivilprozessordnung an ein anderes Gericht verwiesen wird, und scheinen daher geeignet zu sein, die Gerichte an einer solchen Verweisung zu hindern, z. B. wenn dies unter den im Urteil A. K. u. a. genannten Bedingungen implizieren würde, dass die Vereinbarkeit mit den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen an die Unabhängigkeit und somit die Legitimität des Gerichts, das die betreffende Rechtssache normalerweise prüfen müsste, in Frage gestellt wird oder in diesem Kontext die Legitimität eines Verfassungsorgans wie der KRS in Frage gestellt wird.

217

Angesichts ihrer weiten und ungenauen Formulierung sind die beanstandeten nationalen Bestimmungen außerdem auch geeignet, ein Gericht höherer Ordnung, das mit der Prüfung der Entscheidung eines Gerichts niederer Ordnung befasst ist, daran zu hindern, die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder die sich aus der Ernennung ergebende Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung zu beurteilen oder die Legitimität der Gerichte und Gerichtshöfe in Zweifel zu ziehen, und zwar sowohl bei Entscheidungen über die eigene Zusammensetzung oder Legitimität als zweitinstanzliches Gericht als auch bei entsprechenden Entscheidungen in Bezug auf das Gericht niederer Ordnung.

218

Als Viertes ist das oben in Rn. 181 aufgeführte Vorbringen der Republik Polen, wonach zwischen der ersten und der zweiten Rüge ein Widerspruch bestehen soll, ebenfalls zurückzuweisen. Insoweit genügt nämlich der Hinweis, dass mit der zweiten Rüge beanstandet wird, dass die Prüfung bestimmter Fragen der ausschließlichen Zuständigkeit der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten unterliegt, während die erste Rüge die Vereinbarkeit von Vorschriften, die bestimmte Verbote aufstellen, die für ordentliche Gerichte, Verwaltungsgerichte und den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), einschließlich der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, gelten, mit dem Unionsrecht betrifft.

219

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die oben in Rn. 198 genannten nationalen Bestimmungen gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstoßen.

220

Sodann ist, was Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 8 des Änderungsgesetzes betrifft, wonach Art. 55 § 4 auf Sachen anwendbar ist, die vor dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes eingeleitet oder abgeschlossen wurden, insbesondere dem Wortlaut von Art. 55 § 4 Satz 2 zu entnehmen, dass „[d]ie Vorschriften über die Zuweisung von Sachen sowie über die Bestimmung und Änderung der Spruchkörper … keine Grundlage für die Feststellung sein [können], … dass ein Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt ist oder dass eine Person an der Entscheidung beteiligt war, die dazu nicht befugt oder zuständig ist“.

221

Ebenso wie die oben in den Rn. 133 und 198 genannten nationalen Bestimmungen wurde auch Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit erst vor sehr kurzer Zeit in dem speziellen Kontext, der oben in den Rn. 140 bis 145 beschrieben ist, durch das Änderungsgesetz in die polnische Rechtsordnung aufgenommen.

222

Insoweit ist konkret darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zu dem Zeitpunkt, als diese nationale Bestimmung erlassen wurde, u. a. in den verbundenen Rechtssachen, in denen zwischenzeitlich das Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931), ergangen ist, mit den Vorabentscheidungsersuchen befasst war, die im dritten Gedankenstrich der Rn. 144 des vorliegenden Urteils genannt sind.

223

In jenem Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen der Justizminister eines Mitgliedstaats einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbestimmte Dauer an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann.

224

Darüber hinaus war der Gerichtshof bei Erlass von Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit in der Rechtssache C‑791/19 auch mit einer Vertragsverletzungsklage befasst, die die Kommission gegen die Republik Polen erhoben hatte und mit der u. a. die Feststellung begehrt wurde, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hatte, dass sie dem Präsidenten der Disziplinarkammer das Recht eingeräumt hatte, in Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit betreffenden Sachen das zuständige Disziplinargericht erster Instanz nach seinem Ermessen zu bestimmen.

225

In dem zwischenzeitlich ergangenen Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), hat der Gerichtshof in den Rn. 164 bis 177 dieser Rüge stattgegeben und festgestellt, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hatte, dass sie dem Präsidenten der Disziplinarkammer ein solches Ermessen eingeräumt und somit nicht gewährleistet hatte, dass Disziplinarsachen von einem „durch Gesetz errichteten“ Gericht entschieden werden.

226

Insofern ist offensichtlich, dass sich die nationalen Gerichte, wenn sie die Konsequenzen aus den oben in den Rn. 222 und 225 genannten Urteilen des Gerichtshofs zu ziehen haben, veranlasst sehen können, nationale Bestimmungen wie die in jenen Urteilen in Rede stehenden, die die „Bestimmung“ oder „Änderung der Spruchkörper“ betreffen, zu prüfen oder sie als „Grundlage“ heranzuziehen, um in einem konkreten Fall festzustellen, dass ein nationales Gericht aufgrund der Anwendung dieser nationalen Bestimmungen und ihrer Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht „nicht ordnungsgemäß besetzt ist“ oder „eine Person an der Entscheidung beteiligt war, die dazu nicht befugt oder zuständig ist“. Dadurch wäre das Vorgehen der betreffenden nationalen Gerichte von den Verboten erfasst, die in Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit aufgeführt sind. Diese Verbote sind im Übrigen von allgemeinerer Geltung, ungeachtet etwaiger Einwände Einzelner, mit denen geltend gemacht wird, dass die nationalen Bestimmungen über die Zuweisung von Sachen oder die Bestimmung oder Änderung von Spruchkörpern oder die Anwendung dieser Bestimmungen mit den unionsrechtlichen Anforderungen an das Recht auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht unvereinbar seien.

227

Nach alledem ist festzustellen, dass Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und folglich Art. 8 des Änderungsgesetzes ebenfalls gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta verstoßen.

228

Was den beanstandeten Verstoß gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts betrifft, so verpflichtet dieser Grundsatz ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen. Insbesondere muss es jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, EU:C:1978:49, Rn. 24, sowie vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

229

Nach ständiger Rechtsprechung kommt Art. 47 der Charta eine solche unmittelbare Wirkung zu (vgl. u. a. Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung), und dies gilt auch, wie oben in Rn. 78 dargelegt, für Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV.

230

Somit sind die oben in den Rn. 198 und 220 genannten nationalen Bestimmungen dadurch, dass sie aufgrund der in ihnen aufgestellten Verbote geeignet sind, zu verhindern, dass die betreffenden polnischen Gerichte bestimmte Vorschriften unangewendet lassen, die als unvereinbar mit unionsrechtlichen Bestimmungen mit unmittelbarer Wirkung angesehen werden, auch geeignet, gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zu verstoßen.

231

Nach alledem ist der ersten Rüge stattzugeben, soweit mit ihr Verstöße gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts geltend gemacht werden.

Zur zweiten Rüge

Vorbringen der Parteien

232

Mit ihrer zweiten Rüge, die als Viertes zu prüfen ist, vertritt die Kommission im Wesentlichen die Auffassung, dass Fragen zur Unabhängigkeit eines Gerichts oder Richters „Querschnittsfragen“ seien, die jedes nationale Gericht, das mit einer Sache mit unionsrechtlichem Bezug befasst sei, einschließlich in limine litis und in erster Instanz, im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta prüfen müsse und zu denen es den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV ersuchen können müsse, um später erforderlichenfalls im Einklang mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts alle nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen, die mit diesen unionsrechtlichen Bestimmungen in der Auslegung durch den Gerichtshof unvereinbar seien. Diese Fragen seien keine besonderen Rechtsfragen eines speziellen Rechtsgebiets, das der ausschließlichen Zuständigkeit eines angeblich spezialisierten Gerichts unterliegen könne.

233

Die Republik Polen habe dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus diesen unionsrechtlichen Bestimmungen und dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen, dass sie erstens der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten gemäß Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht eine ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über Fragen zur Ablehnung von Richtern und zur Bestimmung des zuständigen Gerichts für die Entscheidung einer Rechtssache, in der die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder Richters gerügt werde, übertragen habe und das mit einer Rechtssache betreffend diese Fragen befasste Gericht verpflichtet habe, die Fragen an diese Kammer zu verweisen, obwohl sie nicht für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig sei.

234

Der polnische Gesetzgeber habe dadurch außerdem die mit einem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichte daran hindern wollen, zu prüfen, gegebenenfalls durch Befragung des Gerichtshofs, ob das Justizorgan, das über den Rechtsstreit zu entscheiden habe, den unionsrechtlichen Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit genüge, und in Ermangelung einer solchen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ihrer vom Gerichtshof im Urteil A. K. u. a. hervorgehobenen Verpflichtung nachzukommen, die nationale Bestimmung unangewendet zu lassen, die die Zuständigkeit für die Entscheidung eines solchen Rechtsstreits diesem Justizorgan vorbehalte. Mit der insoweit beanstandeten nationalen Bestimmung werde zudem das Ziel verfolgt, die nationalen Gerichte daran zu hindern, aus eigener Initiative oder auf Antrag einer Verfahrenspartei zu prüfen, ob ein Richter, der diesen Anforderungen nicht genüge, abgelehnt werden müsse, oder den Gerichtshof hierzu zu befragen.

235

Zweitens verstoße auch Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht gegen die oben in Rn. 232 genannten Bestimmungen und den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts. Da nämlich zum einen die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten für die Entscheidung über Rechtsfragen in beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) anhängigen Sachen, die die Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts beträfen, ausschließlich zuständig sei, zum anderen diese Kammer beim Erlass eines entsprechenden Beschlusses an keine andere Entscheidung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gebunden sei und schließlich die Beschlüsse dieser Kammer für alle anderen Spruchkörper des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) verbindlich seien, würden die Spruchkörper der anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) durch die nationalen Bestimmungen daran gehindert, über diese Rechtsfragen zu entscheiden und den Gerichtshof hierzu zu befragen.

236

Drittens würden diese Bestimmungen und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts durch Art. 26 §§ 4 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht verletzt, wonach die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten für Klagen betreffend die Feststellung der Rechtswidrigkeit rechtskräftiger Entscheidungen aller polnischen Gerichte, sowohl der ordentlichen Gerichtsbarkeit als auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit, einschließlich der anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), ausschließlich zuständig sei, wenn die Rechtswidrigkeit darin bestehe, dass der Status der zur Ausübung des Richteramts berufenen Person, die in der Sache entschieden habe, in Frage gestellt werde, wobei solche Klagen unabhängig davon erhoben werden könnten, ob die betreffende Partei alle anderen verfügbaren Rechtsbehelfe ausgeschöpft habe. Die nationalen Bestimmungen verhinderten nämlich, dass die anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) über diese Fragen entschieden und dem Gerichtshof hierzu etwaige Fragen zur Vorabentscheidung vorlegten.

237

Viertens würden die oben in Rn. 232 genannten Bestimmungen und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts außerdem durch die Übergangsbestimmungen von Art. 10 des Änderungsgesetzes verletzt, wonach erstens die polnischen Gerichte, einschließlich der anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die Rechtssachen, die am 14. Februar 2020 anhängig seien und Fragen beträfen, die nunmehr in die ausschließliche Zuständigkeit der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten fielen, bis zum 21. Februar 2020 an diese Kammer zu verweisen hätten, zweitens die Kammer in diesem Fall die zuvor von dem nicht mehr zuständigen Gericht vorgenommenen Handlungen aufheben könne, was auch ein etwaiges Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof umfassen könne, und drittens Handlungen, die in diesen Rechtssachen nach dem 14. Februar 2020 vorgenommen würden, wie ein etwaiges Vorabentscheidungsersuchen, unwirksam seien.

238

Zur Verteidigung trägt die Republik Polen als Erstes vor, die Kommission lege das Urteil A. K. u. a. falsch aus. Aus diesem Urteil ergebe sich nämlich nur, dass, wenn eine Partei geltend mache, dass die Prüfung ihrer Sache durch das normalerweise zuständige Gericht zu einem Verstoß gegen Art. 47 der Charta führe, das mit der Sache befasste Gericht über diesen Einwand entscheiden könne und, falls er begründet sei, die Sache an ein anderes Gericht verweisen könne, das die erforderliche Gewähr für Unabhängigkeit biete und nach dem Gesetz zuständig wäre, wenn es keine Bestimmungen gäbe, die die Zuständigkeit dem Gericht vorbehielten, das eine solche Gewähr nicht biete.

239

Dagegen lasse sich dem Urteil A. K. u. a. nicht entnehmen, dass alle nationalen Gerichte befugt seien, über diese Art von Rechtssachen zu entscheiden. Überdies missachte die Kommission mit ihrem Vorbringen die Anforderung in Bezug auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht, die es ausschließe, dass die Bestimmung des zuständigen Gerichts dem Ermessen der Justizorgane anheimgestellt werde. Im Urteil A. K. u. a. habe der Gerichtshof insoweit den betreffenden vorlegenden Gerichten nicht die Befugnis eingeräumt, Handlungen ohne Rechtsgrundlage vorzunehmen, sondern sie ermächtigt, die betreffenden Rechtssachen gemäß Art. 200 § 14 der Zivilprozessordnung an ein anderes Gericht zu verweisen, dessen Zuständigkeit auf einem Rechtsakt des Parlaments beruhe. Die einzige Verpflichtung, die den Mitgliedstaaten insoweit obliege, bestehe gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV darin, dass Rechtssachen, die eine Verbindung zum Unionsrecht aufwiesen, vor Gerichte zu bringen seien, die die nach dieser Vorschrift erforderliche Gewähr bieten könnten.

240

Außerdem stehe der vom Urteil A. K. u. a. erfasste Fall in keinem Zusammenhang mit den beanstandeten nationalen Bestimmungen, da sich diese auf die Stellung eines Gerichts bezögen, das mit einem Ablehnungsantrag, einer Rechtsfrage zur Unabhängigkeit eines Gerichts oder Zweifeln an der Rechtmäßigkeit eines rechtskräftigen Urteils befasst sei.

241

Was als Zweites konkret den Inhalt der beanstandeten nationalen Bestimmungen betrifft, macht die Republik Polen erstens zu Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht geltend, die Prüfung eines Ablehnungsantrags sei nach polnischem Recht nie in die Zuständigkeit des betreffenden Richters oder Gerichts gefallen, sondern habe bislang entweder von einem anderen Spruchkörper des gleichen Gerichts oder von einem Gericht höherer Ordnung vorgenommen werden müssen. Folglich entziehe diese nationale Bestimmung den Richtern oder Gerichten, vor denen eine solche inzidente Frage aufgeworfen werde, keine von ihnen bislang ausgeübte Zuständigkeit. Sie sehe lediglich vor, dass, wenn die zur Begründung der Ablehnung bestimmter Richter vorgetragenen Rügen deren Unabhängigkeit beträfen, diese Frage nunmehr an die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten zu verweisen sei. Jedoch stehe es den Mitgliedstaaten weiterhin frei, das für die entsprechenden Rechtssachen zuständige Gericht zu bestimmen, und das Unionsrecht verlange lediglich, dass das für solche Rechtssachen zuständige Gericht die nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderliche Gewähr biete.

242

Was zweitens Art. 26 §§ 4 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betreffe, handle es sich bei der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines rechtskräftigen Urteils nicht um eine „inzidente“ Frage, die in limine litis im Rahmen eines anderen Verfahrens geprüft werden könne. Vielmehr setze diese Feststellung die Erhebung eines außerordentlichen Rechtsbehelfs voraus, der per definitionem nur im Fall der Verkündung eines rechtskräftigen Urteils eingelegt werden könne, und zwar bei dem gesetzlich zuständigen Gericht, das sich zwangsläufig von dem Gericht unterscheiden müsse, das dieses Urteil erlassen habe. Zudem verstärkten die nationalen Bestimmungen die den Parteien zugutekommenden Verfahrensgarantien, da sie vorsähen, dass eine bestimmte Art von Rechtsbehelf vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in einer Kammer geprüft werde, die auf Fragen zur Unabhängigkeit der Justiz spezialisiert sei.

243

Drittens macht die Republik Polen zu Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht geltend, dass nach Art. 1 Nr. 1 Buchst. a dieses Gesetzes der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zuständig sei für den Erlass von Beschlüssen zu Rechtsfragen in Bezug auf alle Sachen, die in seine Zuständigkeit fielen. Insoweit beruhe die zweite Rüge ausschließlich auf dem angeblichen Erfordernis, dass solche Rechtsfragen, wenn sie die Unabhängigkeit der Justiz beträfen, von den Gerichten zu entscheiden seien, vor denen diese Fragen aufgeworfen würden. Das Bestehen eines solchen Erfordernisses habe die Kommission jedoch in keiner Weise belegt. Im Übrigen bestehe das Ziel des Verfahrens im Zusammenhang mit der Entscheidung einer Rechtsfrage gerade darin, bei Vorliegen einer komplexen Fragestellung, die Anlass zu unterschiedlichen Auslegungen geben könne, einem Gericht, dem die betreffende Frage gestellt werde, zu ermöglichen, die Frage einem spezialisierten Spruchkörper höherer Ordnung vorzulegen, um die benötigten Hinweise zu erhalten und im Interesse der Rechtssicherheit erhebliche und anhaltende Divergenzen in der Rechtsprechung zu vermeiden. Außerdem verpflichte dieser Mechanismus die betreffenden Gerichte nicht, eine Entscheidung zu einer Rechtsfrage zu beantragen, sondern räume ihnen die entsprechende Möglichkeit ein, und eine solche Entscheidung betreffe ausschließlich die Auslegung und nicht die Anwendung des Rechts, da die Rechtsanwendung weiterhin in die Zuständigkeit des Gerichts falle, bei dem der betreffende Rechtsstreit anhängig sei.

244

Viertens seien die Übergangsbestimmungen in Art. 10 des Änderungsgesetzes nicht mehr in Kraft, und sie hätten es jedenfalls nur erlaubt, im Einklang mit dem Anspruch auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht sicherzustellen, dass die nicht mehr zuständigen Gerichte die betreffenden Rechtssachen an das nunmehr zuständige Gericht übertrügen.

245

Als Drittes vertritt die Republik Polen die Auffassung, dass die beanstandeten nationalen Bestimmungen die Befugnis der polnischen Gerichte, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, nicht beschränkten, soweit sie im Rahmen ihrer territorialen und sachlichen Zuständigkeit handelten. Darüber hinaus sei die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, da sie in letzter Instanz entscheide, dazu verpflichtet, dem Gerichtshof immer dann, wenn sie Zweifel in Bezug auf die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV hege, ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, was in der Praxis zu einem Ansteigen der Fälle führe, in denen die Verpflichtung bestehen könne, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, und somit die Wirksamkeit der Ausübung der Rechte aus Art. 47 der Charta erhöhe.

246

Zudem ermächtigten die Übergangsbestimmungen in Art. 10 des Änderungsgesetzes die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten nicht, ein Vorabentscheidungsersuchen zurückzuziehen. Vielmehr sei die Kammer im Fall von Zweifeln hinsichtlich der Auslegung von Unionsrecht verpflichtet, die zuvor vorgelegten Fragen zu bestätigen oder selbst Fragen vorzulegen. Des Weiteren ließen die Übergangsbestimmungen die Aufhebung früherer Handlungen nur zu, wenn diese verhinderten, dass die betreffende Rechtssache „im Einklang mit dem Gesetz“ geprüft werde, was bei einem Vorabentscheidungsersuchen per definitionem nicht der Fall sein könne. Ebenso wenig untersagten die Übergangsbestimmungen es den nationalen Gerichten, die zur Verweisung der bei ihnen anhängigen Rechtssachen verpflichtet seien, Vorlagefragen zu stellen, wie im Übrigen zahlreiche Vorlagefragen zum Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit belegten, die dem Gerichtshof in letzter Zeit unterbreitet worden seien.

247

Als Viertes habe die Kommission die zweite Rüge in Bezug auf einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts nicht untermauert, und die beanstandeten nationalen Bestimmungen beträfen keine Normenkonflikte, in deren Kontext dieser Grundsatz Anwendung finden müsse.

248

In ihrer Erwiderung trägt die Kommission vor, mit der zweiten Rüge werde im Wesentlichen beanstandet, dass die ausschließliche Zuständigkeit für die Prüfung der Einhaltung der in Rede stehenden unionsrechtlichen Anforderungen den bisher zuständigen verschiedenen nationalen Gerichten oder Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) entzogen und ohne besondere, berechtigte Gründe auf eine neue gerichtliche Kammer übertragen werde, die nicht als spezialisiertes Gericht angesehen werden könne. Zum einen gehörten der neuen gerichtlichen Kammer nämlich nur 20 der 10000 Richter der Republik Polen an, so dass das Recht des Einzelnen auf gerichtlichen Schutz und die Wirksamkeit des Unionsrechts erheblich geschwächt seien, während nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs alle nationalen Gerichte die unionsrechtlichen Vorschriften zur richterlichen Unabhängigkeit so weit wie möglich anwenden müssten. Zum anderen stelle sich, da alle Mitglieder der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten auf Vorschlag der KRS in deren neuer Zusammensetzung ernannt worden seien, d. h. unter Umständen, die sehr häufig genau diejenigen seien, die mit Ablehnungsanträgen wegen fehlender richterlicher Unabhängigkeit geltend gemacht würden, die Frage der unparteiischen Würdigung solcher Fragen durch diese Kammer.

249

Zu Art. 267 AEUV macht die Kommission geltend, angesichts insbesondere der Justizreformen, die zum Erlass der beanstandeten nationalen Bestimmungen geführt hätten, und der wiederholten Maßnahmen, die die polnischen Behörden ergriffen hätten, um das reibungslose Funktionieren des in diesem Artikel vorgesehenen Vorabentscheidungsmechanismus zu verhindern, sei offensichtlich, dass die nationalen Bestimmungen den nationalen Gerichten, die bislang für die Prüfung der in jeder Rechtssache potenziell relevanten „Querschnittsfrage“ der richterlichen Unabhängigkeit zuständig gewesen seien, auf künstliche Weise die sachliche Zuständigkeit entzogen hätten, und zwar um die nationalen Gerichte unter Verstoß gegen Art. 267 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 3 EUV der Möglichkeit zu berauben, dem Gerichtshof in diesem Bereich Fragen vorzulegen.

250

Außerdem verstießen nationale Vorschriften, die, wie vorliegend, zur Folge hätten, dass ein nationaler Richter davon absehe, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, gegen die Befugnisse der nationalen Gerichte aus Art. 267 AEUV. Das Vorbringen, wonach die praktische Wirksamkeit dieses Artikels durch die Übertragung der sachlichen Zuständigkeit auf ein Gericht, gegen dessen Entscheidungen kein Rechtsbehelf eingelegt werden könne, verstärkt werde, verkenne die Systematik dieser Vorschrift, die nämlich vorsehe, dass Gerichte niederer Ordnung die Möglichkeit hätten, den Gerichtshof zu befragen.

251

Was den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts betreffe, habe die Kommission sowohl in der mit Gründen versehenen Stellungnahme als auch in der Klageschrift hervorgehoben, dass die ausschließliche Zuständigkeit der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten in den drei betreffenden Kategorien von Rechtssachen die polnischen Gerichte daran hindere, die nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen, auf deren Grundlage die Zuständigkeit für Entscheidungen in unter das Unionsrecht fallenden Rechtssachen Gerichten und Richtern übertragen werde, die den unionsrechtlichen Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit nicht genügten.

252

In ihrer Gegenerwiderung macht die Republik Polen geltend, die Kommission erhebe in ihrer Erwiderung „neue Rügen“, wenn sie beanstande, dass die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, die seit 2018 existiere und bei der die Bedingungen für die Ernennung ihrer Mitglieder gut bekannt seien, nicht unabhängig und unparteiisch sei. Da sich diese Rügen jedoch nicht auf Umstände bezögen, die nach der Einleitung des Verfahrens zutage getreten seien, und die Ausführungen der Kommission zur angeblich fehlenden Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nur der Stützung der vierten Rüge dienten, die sich ausschließlich auf die Disziplinarkammer beziehe, seien die genannten Rügen verspätet und gemäß Art. 127 Abs. 1 der Verfahrensordnung zurückzuweisen.

253

Jedenfalls seien die „neuen Rügen“ unbegründet. Der bloße Umstand, dass die Richter der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ebenso wie alle anderen polnischen Richter unter Einbindung einer Einrichtung wie der KRS ernannt würden, sei nämlich nicht geeignet, eine Abhängigkeit dieser Richter von der Politik zu schaffen. Außerdem bringe die Rechtsprechung dieser Kammer ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in vollem Maße zum Ausdruck.

254

Zudem verkenne die Kommission die Tragweite von Art. 26 §§ 4 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, wenn sie behaupte, dass diese nationale Vorschrift den anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) die Zuständigkeit für Klagen betreffend die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer rechtskräftigen Entscheidung entziehe, wenn die Rechtswidrigkeit darin bestehe, dass der Status der zur Ausübung des Richteramts berufenen Person in Frage gestellt werde. Die Zuständigkeit dieser verschiedenen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sei nämlich in den Art. 23 bis 25 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht festgelegt, wonach die Zuständigkeit für Zivilsachen der Zivilkammer, die Zuständigkeit für Strafsachen der Strafkammer und die Zuständigkeit für u. a. arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Sachen der Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen vorbehalten sei. Die genannten sachlichen Zuständigkeiten stünden jedoch in keinem Zusammenhang mit Rechtssachen, in denen das Bestehen des Amts eines Richters in Frage gestellt werde, da diese Frage der ausschließlichen Zuständigkeit der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten unterliege.

255

Jedenfalls habe die Kommission nicht nachgewiesen, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dazu verpflichte, sicherzustellen, dass Klagen auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer rechtskräftigen Entscheidung von allen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) geprüft würden, oder dass das Unionsrecht auf der Grundlage der früheren nationalen Bestimmungen wirksam angewandt worden sei und dies nun aufgrund der beanstandeten nationalen Bestimmungen nicht mehr der Fall sei.

256

Was Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betreffe, sei das Vorbringen der Kommission, bei der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten handle es sich nicht um ein spezialisiertes Gericht, willkürlich, da sich diese Kammer aus erfahrenen Juristen zusammensetze, die mindestens über einen postdoktoralen Abschluss in Rechtswissenschaften verfügten.

257

Schließlich würden weder sachlich zuständige noch unzuständige Gerichte durch die beanstandeten nationalen Bestimmungen daran gehindert, den Gerichtshof mit Vorlagefragen zu befassen, und die Kommission habe auch nicht dargelegt, inwiefern die nationalen Bestimmungen die nationalen Richter davon abhielten, Vorlagefragen zu stellen, oder sie zu einer Rücknahme solcher Fragen veranlassen könnten.

Würdigung durch den Gerichtshof

– Zur Zulässigkeit

258

Ergänzend zu den oben in den Rn. 188 bis 190 genannten Grundsätzen ist es auch ständige Rechtsprechung, dass das von der Kommission im Rahmen eines nach Art. 258 AEUV eingeleiteten Verfahrens an den betreffenden Mitgliedstaat gerichtete Mahnschreiben sowie ihre anschließende mit Gründen versehene Stellungnahme den Streitgegenstand abgrenzen, so dass dieser nicht mehr erweitert werden kann. Denn die Möglichkeit zur Äußerung stellt für diesen Mitgliedstaat auch dann, wenn er meint, davon nicht Gebrauch machen zu sollen, eine vom AEU-Vertrag gewollte wesentliche Garantie dar, deren Beachtung ein substanzielles Formerfordernis für den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens auf Feststellung der Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats ist. Die mit Gründen versehene Stellungnahme und die Klage der Kommission müssen daher auf dieselben Rügen gestützt werden wie das Mahnschreiben, mit dem das Vorverfahren eingeleitet wird (Urteil vom 22. September 2016, Kommission/Tschechische Republik, C‑525/14, EU:C:2016:714, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

259

Das Vorverfahren soll nämlich dem betreffenden Mitgliedstaat Gelegenheit geben, seinen unionsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen und sich gegen die Rügen der Kommission wirksam zu verteidigen. Der ordnungsgemäße Ablauf dieses Verfahrens ist eine vom AEU-Vertrag vorgeschriebene wesentliche Garantie, nicht nur für den Schutz der Rechte des betreffenden Mitgliedstaats, sondern auch dafür, dass ein etwaiges streitiges Verfahren einen eindeutig festgelegten Streitgegenstand hat (Urteil vom 8. März 2022, Kommission/Vereinigtes Königreich [Bekämpfung von Betrug durch Unterbewertung], C‑213/19, EU:C:2022:167, Rn. 131 und die dort angeführte Rechtsprechung).

260

Wie die Republik Polen jedoch zu Recht geltend macht, hat die Kommission im vorliegenden Fall weder im Vorverfahren noch in der Klageschrift vorgetragen, dass die von ihr mit der zweiten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen aufgrund der Zusammensetzung der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, der diese nationalen Bestimmungen eine ausschließliche Zuständigkeit übertragen, und insbesondere aufgrund einer möglicherweise fehlenden Unparteilichkeit, die die Kammer bei der Ausübung dieser Zuständigkeit angesichts der Modalitäten für die Ernennung ihrer Mitglieder beeinträchtigen könnte, gegen Unionsrecht verstießen, obwohl der Kommission die Zusammensetzung und die Modalitäten für die Ernennung bekannt waren.

261

Da die Kommission diese Erwägungen erst in der Erwiderung vorbringt, beruft sie sich insoweit auf neue Argumente, die geeignet sind, die Tragweite der zweiten Rüge, wie sie bis dahin formuliert war, wesentlich zu verändern.

262

Da diese Argumente somit verspätet und unter Verstoß gegen die oben in den Rn. 258 und 259 genannten Anforderungen vorgebracht wurden, sind sie unzulässig und folglich zurückzuweisen.

– Zur Begründetheit

263

Als Erstes ist festzustellen, dass nach den oben in den Rn. 63 bis 74 genannten Grundsätzen die Verteilung oder Neuorganisation der gerichtlichen Zuständigkeiten in einem Mitgliedstaat zwar grundsätzlich unter die den Mitgliedstaaten durch Art. 4 Abs. 2 EUV garantierte Freiheit fällt (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Dezember 2016, Remondis, C‑51/15, EU:C:2016:985, Rn. 47), doch gilt dies nur unter dem Vorbehalt, dass die Verteilung oder Neuorganisation die Einhaltung des in Art. 2 EUV verankerten Wertes der Rechtsstaatlichkeit und die sich insoweit aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Anforderungen nicht beeinträchtigt, darunter das Erfordernis, dass die Gerichte, die Unionsrecht auszulegen und anzuwenden haben, unabhängig und unparteiisch sind und zuvor durch Gesetz errichtet wurden.

264

Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zwar wiederholt anerkannt hat, dass ein Mitgliedstaat bei der Ausübung seiner Befugnis in Bezug auf die Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten in seinem Hoheitsgebiet unter bestimmten Umständen veranlasst sein kann, einer einzigen Stelle oder mehreren dezentralisierten Stellen die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung bestimmter, unter das Unionsrecht fallender Sachfragen zu übertragen.

265

Der Gerichtshof hat insoweit u. a. festgestellt, dass der Umstand, dass eine bestimmte materielle Streitigkeit der ausschließlichen Zuständigkeit eines einzigen Gerichts unterliegt, gegebenenfalls dazu führen kann, dass dieses Gericht eine besondere Fachkompetenz erwirbt und die durchschnittliche Verfahrensdauer auf diese Weise begrenzt wird oder eine einheitliche Praxis im gesamten Staatsgebiet gewährleistet wird und somit zur Rechtssicherheit beigetragen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting‑04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 56). Ferner hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Bestimmung überörtlicher Gerichte, von denen es weniger gibt als von den örtlichen Gerichten und die gegenüber diesen höherrangig sind und über mehr einschlägige Fachkompetenz verfügen, geeignet sein kann, eine homogenere Rechtsprechung mit einer Spezialisierung auf das betreffende Gebiet des materiellen Unionsrechts und einen wirksameren Schutz der mit diesem Rechtsgebiet verbundenen Rechte der Einzelnen zu begünstigen (Urteil vom 12. Februar 2015, Baczó und Vizsnyiczai, C‑567/13, EU:C:2015:88, Rn. 46 und 58).

266

Zwar ist es demnach Sache der einzelnen Mitgliedstaaten, im Rahmen ihres innerstaatlichen Rechts die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, doch sind die Mitgliedstaaten für den wirksamen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich. Dabei dürfen nach gefestigter Rechtsprechung die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, insbesondere nicht die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, und dieses Erfordernis gilt auch für die Bestimmung der Gerichte, die für die Entscheidung über auf diese Rechte gestützte Klagen zuständig sind. Ein Verstoß gegen die genannte Anforderung auf dieser Ebene ist nämlich – ebenso wie deren Nichtbeachtung auf der Ebene der Festlegung der Verfahrensmodalitäten – geeignet, den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes zu beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. April 2008, Impact, C‑268/06, EU:C:2008:223, Rn. 44 bis 48, vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting‑04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 35 bis 37 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 22 und 23).

267

Im vorliegenden Fall wird von der Kommission jedoch in der Klage nicht behauptet und erst recht nicht bewiesen, dass die Bündelung von Zuständigkeiten, die die beanstandeten nationalen Bestimmungen zugunsten der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten vornehmen, zu Verfahrensnachteilen führen kann, die als solche geeignet sind, die Wirksamkeit der durch die Rechtsordnung der Union verliehenen Rechte zu beeinträchtigen, indem sie die Ausübung dieser Rechte durch den Einzelnen praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.

268

Allerdings ist als Drittes festzustellen, dass im Unterschied zu den mit materiellrechtlichen Unionsbestimmungen verbundenen Zuständigkeiten, um die es u. a. in den Rechtssachen ging, die den oben in den Rn. 265 und 266 genannten Urteilen zugrunde lagen, die von der Kommission mit der zweiten Rüge beanstandete Neuorganisation und Bündelung der gerichtlichen Zuständigkeiten bestimmte Anforderungen betrifft, die sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta ergeben, d. h. aus Bestimmungen, die sowohl verfassungs- als auch verfahrensrechtlicher Natur sind und deren Einhaltung außerdem übergreifend in allen sachlichen Anwendungsbereichen des Unionsrechts und vor allen nationalen Gerichten, die mit in diese Bereiche fallenden Rechtssachen befasst sind, garantiert sein muss.

269

Wie nämlich oben in Rn. 69 hervorgehoben worden ist, wird mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV der in Art. 2 EUV verankerte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert und den Mitgliedstaaten insoweit die Verpflichtung auferlegt, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf wirksamen Rechtsschutz in allen vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet, wobei der Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, der jetzt in Art. 47 der Charta verankert ist.

270

Die beiden zuletzt genannten unionsrechtlichen Bestimmungen sowie dieser allgemeine Grundsatz sind eng mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verknüpft. Die Umsetzung des zuletzt genannten Grundsatzes durch die nationalen Gerichte trägt nämlich zum wirksamen Schutz der den Einzelnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte bei (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2010, Winner Wetten, C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 53 bis 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

271

Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, dem ebenfalls Verfassungsrang zukommt, verlangt nach der oben in Rn. 228 angeführten ständigen Rechtsprechung, dass die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden haben, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge tragen, indem sie erforderlichenfalls jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen, ohne die vorherige Beseitigung dieser nationalen Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren zu beantragen oder abzuwarten.

272

Der Gerichtshof hat insoweit festgestellt, dass jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs‑, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis, die dadurch zu einer Abschwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führen würde, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, unmittelbar zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften beiseite zu lassen, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der unmittelbar geltenden Normen des Unionsrechts bilden, mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen unvereinbar ist (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

273

Der Gerichtshof hat klargestellt, dass dies dann der Fall wäre, wenn bei einem Widerspruch zwischen einer unionsrechtlichen Bestimmung und einem nationalen Gesetz die Lösung dieses Normenkonflikts einem über ein eigenes Ermessen verfügenden anderen Organ als dem Gericht, das für die Anwendung des Unionsrechts zu sorgen hat, vorbehalten wäre (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung), selbst wenn das daraus resultierende Hindernis für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts nur vorübergehender Art wäre (Urteil vom 8. September 2010, Winner Wetten, C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

274

Wie oben in Rn. 128 dargelegt, haben die Verträge, um sicherzustellen, dass die besonderen Merkmale und die Autonomie der Rechtsordnung der Union erhalten bleiben, ein Gerichtssystem geschaffen, das zur Gewährleistung der Kohärenz und der Einheitlichkeit bei der Auslegung des Unionsrechts dient, und in diesem Zusammenhang ist es Sache der nationalen Gerichte und des Gerichtshofs, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den wirksamen Schutz der Rechte zu gewährleisten, die den Einzelnen aus ihm erwachsen.

275

Des Weiteren besteht nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das Schlüsselelement des insoweit geschaffenen Gerichtssystems in dem in Art. 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren, das durch die Einführung eines Dialogs von Gericht zu Gericht zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gewährleisten soll und damit die Sicherstellung seiner Kohärenz, seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts ermöglicht (Urteil vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

276

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof u. a. festgestellt, wie oben in den Rn. 129 bis 131 dargelegt, dass das Grundrecht auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht impliziert, dass jedes nationale Gericht, das Unionsrecht anzuwenden hat, überprüfen muss, ob es in Anbetracht seiner Zusammensetzung ein solches Gericht ist, wenn insoweit ein ernsthafter Zweifel besteht, da diese Überprüfung im Hinblick auf das Vertrauen, das die Gerichte einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtssuchenden wecken müssen, erforderlich ist, oder dass ein nationales Gericht unter bestimmten Umständen prüfen können muss, ob eine Vorschriftswidrigkeit des Verfahrens zur Ernennung eines Richters zu einer Verletzung dieses Grundrechts führen konnte.

277

Allerdings kann es gerechtfertigt sein, dass ein Richter, der sich nicht selbst abgelehnt hat und Gegenstand eines Ablehnungsantrags ist, den eine Verfahrenspartei aufgrund eines bei diesem Richter potenziell vorliegenden Interessenkonflikts gestellt hat, nicht an der Entscheidung teilnimmt, mit der über den Antrag entschieden wird, und dass die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Antrag – wie dies für Polen vor dem Inkrafttreten der beanstandeten nationalen Bestimmungen zutraf – je nach Fall entweder einem anderen Spruchkörper des betreffenden Gerichts oder dem nächsthöheren Gericht übertragen wird. Ebenso kann es mit einer geordneten Rechtspflege vereinbar sein, dass Konflikte, die zwischen verschiedenen Gerichten in Bezug auf die sachliche oder räumliche Zuständigkeit auftreten können, von einer dritten Stelle entschieden werden.

278

Dagegen sind die oben in Rn. 276 genannten Verpflichtungen dergestalt, dass sie es ausschließen, dass die Kontrolle der Einhaltung und die anschließende Anwendung der Erfordernisse von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta, so wie sie vom Gerichtshof ausgelegt werden, durch die nationalen Gerichte im Rahmen einer Neuorganisation der gerichtlichen Zuständigkeiten, wie sie von der Kommission in der zweiten Rüge beanstandet wird, allgemein und unterschiedslos einer einzigen nationalen Stelle unterliegen, und dies erst recht, wenn diese Stelle aufgrund des nationalen Rechts bestimmte Gesichtspunkte nicht prüfen kann, die mit den genannten Erfordernissen verbunden sind.

279

Ferner kann den Erwägungen, auf die der Gerichtshof in seiner oben in Rn. 265 angeführten Rechtsprechung Bezug nimmt und die den potenziellen Vorteilen einer Spezialisierung in Bezug auf Rechtsprechung, Fachkompetenz und Begrenzung der durchschnittlichen Verfahrensdauer oder einheitliche Rechtsanwendung Rechnung tragen, kein Vorrang gegenüber den Erfordernissen des Grundsatzes des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes zukommen, dessen Einhaltung jedes nationale Gericht unabhängig von der Instanz oder sachlichen Zuständigkeit per definitionem für die Zwecke des konkret bei ihm anhängigen Rechtsstreits garantieren können muss, gegebenenfalls im Dialog mit dem Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV.

280

Vorliegend ist jedoch zum einen festzustellen, dass die von der Kommission mit der zweiten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen dazu dienen, einer einzigen Stelle, und zwar einer bestimmten Kammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die allgemeine Kontrolle der mit diesem Grundsatz verbundenen Anforderungen an die Unabhängigkeit aller Gerichte und Richter sowohl der ordentlichen Gerichtsbarkeit als auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit vorzubehalten und es auszuschließen, dass diese Kontrolle von einem der anderen Gerichte, und damit einschließlich der anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) ausgeübt werden kann, wodurch den bislang zuständigen nationalen Gerichten die Zuständigkeiten genommen werden, die verschiedenen Arten der Kontrolle dieser Anforderungen auszuüben und insoweit die Erkenntnisse aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs unmittelbar anzuwenden.

281

Wie nämlich erstens Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht zu entnehmen ist, wurde der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über „Anträge oder Erklärungen“ betreffend die „Ablehnung“ eines Richters oder die „Bestimmung des Gerichts“, bei dem ein Verfahren geführt werden soll, mit dem „die fehlende Unabhängigkeit des Gerichts oder des Richters gerügt wird“, übertragen, wobei diese Anträge oder Erklärungen der Kammer unverzüglich von jedem anderen mit einer Sache befassten Gericht zu übermitteln sind, auch dann, wenn die Sache dem Grunde nach in einen vom Unionsrecht erfassten Bereich fällt.

282

Zweitens bestimmt Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, dass die als Plenum entscheidende Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ebenfalls über eine ausschließliche Zuständigkeit verfügt, wenn sich bei der Prüfung einer Kassationsbeschwerde oder eines anderen vor dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), einschließlich der anderen Kammern dieses Gerichts, anhängigen Rechtsbehelfs „eine Rechtsfrage stellt, die die Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts betrifft“. Für diesen Fall sieht Art. 82 § 2 des Gesetzes nämlich vor, dass der mit der betreffenden Rechtssache befasste Spruchkörper des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) „die Entscheidung aus[setzt]“ und „diese Frage [der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten] vor[legt]“, wobei darauf hingewiesen wird, dass ein auf dieser Grundlage erlassener Beschluss der Kammer „für alle Spruchkörper des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] verbindlich“ ist.

283

Drittens hat nach Art. 26 §§ 4 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten die ausschließliche Zuständigkeit für „Klagen …, die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit rechtskräftiger Entscheidungen des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], der ordentlichen Gerichte, der Militärgerichte und der Verwaltungsgerichte einschließlich des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] gerichtet sind, wenn die Rechtswidrigkeit darin besteht, dass der Status der zur Ausübung des Richteramts berufenen Person in Frage gestellt wird, die in der Sache entschieden hat“.

284

Die weite Formulierung von Art. 26 §§ 4 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht scheint es der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten zu erlauben, eine nachträgliche Kontrolle aller rechtskräftigen Entscheidungen sämtlicher anderer polnischer Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit vorzunehmen, einschließlich rechtskräftiger Entscheidungen der anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht), sobald der Status einer zur Ausübung des Richteramts berufenen Person, die in einem beliebigen Stadium über die betreffende Rechtssache zu entscheiden hat, in Frage gestellt wird.

285

Zum anderen wurden die mit der zweiten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen in großer Eile und in dem oben in den Rn. 140 bis 145 beschriebenen Kontext gleichzeitig mit den anderen von der Kommission im Rahmen der ersten und der dritten Rüge beanstandeten Bestimmungen durch das Änderungsgesetz in das Gesetz über das Oberste Gericht aufgenommen. Wie jedoch den Feststellungen des Gerichtshofs im Rahmen der Prüfung der ersten und der dritten Rüge zu entnehmen ist, wird diesen Rügen insbesondere deshalb stattgegeben, weil die beanstandeten nationalen Bestimmungen aufgrund der in ihnen enthaltenen Verbote und Disziplinarvergehen im Hinblick auf Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und sämtlicher Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit geeignet sind, diese Richter daran zu hindern, bestimmte Feststellungen und Beurteilungen vorzunehmen, zu denen sie jedoch unter gewissen Umständen nach dem Unionsrecht im Hinblick auf die Erfordernisse von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta verpflichtet sind.

286

In einem solchen Kontext kann der Umstand, dass der nationale Gesetzgeber die geltenden gerichtlichen Zuständigkeiten neu organisiert und einer einzigen nationalen Stelle die Zuständigkeit für die Prüfung der Einhaltung bestimmter wesentlicher Anforderungen überträgt, die sich aus dem Grundrecht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta ergeben, obwohl es je nach den Umständen vor jedem nationalen Gericht erforderlich werden kann, eine solche Prüfung vorzunehmen, in Verbindung mit der Einführung der oben genannten Verbote und Disziplinarvergehen dazu beitragen, dass die Wirksamkeit der Kontrolle der Wahrung dieses Grundrechts noch weiter abgeschwächt wird, obwohl das Unionsrecht alle nationalen Gerichte mit dieser Kontrolle betraut. Dies gilt umso mehr, als – wie oben in Rn. 198 dargelegt – diese Stelle im vorliegenden Fall keinen Antrag prüfen kann, der ihr von einem nationalen Gericht übermittelt wird und der „die Feststellung und die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung“ betrifft.

287

Außerdem verstoßen die von der Kommission mit der zweiten Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen auch gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, indem sie unterschiedslos alle anderen Gerichte, unabhängig von der Instanz oder dem Verfahrensstadium, in dem diese zu entscheiden haben, und obwohl sie möglicherweise mit Sachen befasst sind, die die Anwendung materiellrechtlicher Unionsbestimmungen betreffen, daran hindern, unverzüglich das zu tun, was erforderlich ist, um das Recht der betroffenen Rechtssubjekte auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten, indem sie gegebenenfalls nationale Vorschriften unangewendet lassen, die nicht mit den Anforderungen vereinbar sind, die sich aus diesem Recht ergeben.

288

Was schließlich Art. 10 des Änderungsgesetzes betrifft, genügt die Feststellung, dass diese Vorschrift, da sie im Wesentlichen der Klarstellung dient, in welchem Umfang und wie die ausschließliche Zuständigkeit, die der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten durch die oben in den Rn. 281 bis 283 genannten nationalen Bestimmungen übertragen wird, in Bezug auf Rechtssachen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Änderungsgesetzes anhängig waren, auszuüben ist, untrennbar mit diesen anderen Bestimmungen verbunden ist und somit aus den gleichen Gründen – entsprechend den Ausführungen oben in den Rn. 268 bis 287 – sowohl gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta als auch gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstößt.

289

Nach alledem ist der zweiten Rüge stattzugeben, soweit mit ihr ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts geltend gemacht wird.

290

Zu Art. 267 AEUV ist festzustellen, dass allein der Umstand, dass einer einzigen Stelle, d. h. vorliegend der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, die ausschließliche Zuständigkeit übertragen wird, bestimmte Fragen zur Anwendung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta zu entscheiden, geeignet ist, die anderen Gerichte, denen insoweit jegliche interne Zuständigkeit, selbst über diese Fragen zu entscheiden, genommen wird, daran zu hindern oder zumindest davon abzuhalten, dem Gerichtshof insoweit Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, was, wie den oben in den Rn. 155 bis 158 genannten Grundsätzen zu entnehmen ist, gegen Art. 267 AEUV verstößt.

291

Was im Übrigen den allgemeinen Kontext betrifft, in dem das Änderungsgesetz und die beanstandeten nationalen Bestimmungen erlassen wurden, ist außerdem festzustellen, dass, wie die Kommission geltend macht und den Hinweisen in mehreren kürzlich ergangenen Urteilen des Gerichtshofs zu entnehmen ist, sich die Versuche der polnischen Behörden, die nationalen Gerichte davon abzuhalten oder daran zu hindern, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zur Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta im Zusammenhang mit den jüngsten Gesetzesreformen betreffend die Justiz in Polen zu ersuchen, in der letzten Zeit vervielfacht haben (vgl. u. a. Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 99 bis 106 und die dort angeführte Rechtsprechung).

292

Nach alledem ist der zweiten Rüge stattzugeben.

Zur fünften Rüge

Vorbringen der Parteien

293

Mit der fünften Rüge macht die Kommission geltend, dass Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit gegen Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO verstießen.

294

Soweit diese nationalen Bestimmungen die Richter der verschiedenen betroffenen Gerichte verpflichteten, eine schriftliche Erklärung zu ihrer etwaigen Mitgliedschaft in einer Vereinigung, einer Stiftung ohne Gewinnzweck oder einer politischen Partei sowie zu den dort ausgeübten Funktionen abzugeben, und die Veröffentlichung dieser Informationen im Biuletyn Informacji Publicznej vorschrieben, beinhalte dies eine Verarbeitung personenbezogener Daten, da die Informationen eindeutig identifizierte natürliche Personen beträfen, die sich in der privaten Sphäre betätigten.

295

Zudem falle die Erhebung und Veröffentlichung dieser personenbezogenen Daten nicht unter die Organisation der Justiz, und jedenfalls ließen sich diese Maßnahmen nicht aufgrund des etwaigen funktionalen Zusammenhangs zwischen den genannten Daten und der Ausübung des Richteramts vom Anwendungsbereich der DSGVO ausschließen. Die Maßnahmen dienten nämlich dazu, die berufliche Laufbahn von Richtern sowie die Ausübung ihrer Ämter zu beeinflussen und könnten ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen, obwohl deren Schutz nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu garantieren sei, wenn diese Richter Unionsrecht anzuwenden und auszulegen hätten.

296

Da es sich außerdem bei den fraglichen personenbezogenen Daten um solche handle, die die politischen Meinungen oder weltanschaulichen Überzeugungen der betreffenden Richter offenbaren könnten, fielen sie in die Kategorien der sensiblen Daten, für die die in Art. 9 Abs. 1 DSGVO enthaltene Regelung gelte, die in Bezug auf diese Daten ein Verarbeitungsverbot und verstärkten Schutz vorsehe.

297

Selbst wenn man jedoch annehme, dass die Ziele, die der Begründung zu dem Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit zugrunde liegenden Gesetzesentwurf zu entnehmen seien und in der Wahrung der politischen Neutralität und Unparteilichkeit der Richter sowie des Vertrauens in deren Unparteilichkeit und im Schutz der Würde des Richteramts bestünden, als legitim angesehen werden könnten, seien die fraglichen Verpflichtungen, eine Erklärung abzugeben und zu veröffentlichen, indes nicht notwendig, um diese Ziele zu erreichen. Die mit den Verpflichtungen verbundenen Eingriffe in das Recht der Betroffenen auf Achtung ihres Privatlebens und Schutz ihrer personenbezogenen Daten seien daher nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar und verstießen somit gegen die Anforderungen der verschiedenen oben in Rn. 293 genannten unionsrechtlichen Bestimmungen.

298

Die Maßnahmen seien nämlich nicht eng auf das begrenzt, was für das Erreichen der genannten Ziele erforderlich sei, da insoweit weniger restriktive Mittel verfügbar seien, wie die Verfahren zur Ablehnung von Richtern und das Ermöglichen eines Zugriffs von Einrichtungen, die die Einhaltung berufsrechtlicher Anforderungen zu gewährleisten hätten oder mit der Besetzung der Mitglieder von Spruchkörpern betraut seien, auf Informationen zu bestimmten Tätigkeiten, die Richter außerhalb ihrer Ämter ausübten und die in einer bestimmten Rechtssache zu Interessenkonflikten der Richter führen könnten. Mit diesen weniger einschneidenden Maßnahmen ließe sich zudem vermeiden, dass die so erhobenen Informationen zu anderen Zwecken als den vorgeblichen verwendet würden, wie z. B. zur Ausübung von Druck von außen auf Richter zwecks Beeinträchtigung ihrer Unabhängigkeit oder in der Absicht, zum einen durch das Hervorrufen öffentlichen Misstrauens ihrem beruflichen Ansehen und ihrer Autorität zu schaden und zum anderen durch Diskriminierungen ihre berufliche Entwicklung zu beeinträchtigen.

299

Außerdem sei die frühere Zugehörigkeit einer Person zu einer politischen Partei Teil ihres Privatlebens vor ihrer Ernennung zum Richter und könne sich auf ihre aktuelle Tätigkeit nicht unmittelbar auswirken. Dies gelte insbesondere für die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei vor dem 29. Dezember 1989, da die Einholung solcher Informationen keinerlei Relevanz für die Beurteilung der Unparteilichkeit eines Richters in Rechtssachen habe, mit denen er über 30 Jahre später befasst sei. Somit seien die obligatorische Angabe und Veröffentlichung solcher personenbezogenen Daten auch nicht geeignet, die im vorliegenden Fall angeblich verfolgten Ziele zu erreichen.

300

Die fraglichen nationalen Maßnahmen kämen in Wirklichkeit einem Mechanismus zur Überwachung von Richtern gleich, dessen plötzliche Einführung durch keinen konkreten Bedarf gerechtfertigt sei, da die unpolitische und unparteiische Haltung bereits seit Langem insbesondere durch Art. 178 der Verfassung gewährleistet sei, der diese unpolitische Haltung vorsehe, sowie durch den Eid, wonach Richter zu versichern hätten, „unparteiisch“ Recht zu sprechen, und die den Richtern gemäß den Art. 66 und 82 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit obliegende Verpflichtung, jegliche Handlungen zu unterlassen, die „das Vertrauen in ihre Unparteilichkeit untergraben“ könnten.

301

Zur Verteidigung trägt die Republik Polen zunächst vor, die DSGVO finde nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO keine Anwendung auf die fraglichen Verarbeitungen personenbezogener Daten, da sie im Rahmen einer Tätigkeit vorgenommen würden, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle, nämlich Organisation der Justiz und Rechtspflege, die mit den betreffenden Informationen in „unmittelbarem Zusammenhang“ stünden, da sie die Ausübung des Richteramts beträfen.

302

Sodann trägt die Republik Polen vor, dass, selbst wenn man annehme, dass die DSGVO im vorliegenden Fall anwendbar sei, den beanstandeten nationalen Bestimmungen das legitime Ziel zugrunde liege, die Unparteilichkeit und politische Neutralität der Richter zu fördern, indem die Rechtsunterworfenen von dem etwaigen Vorliegen von Ablehnungsgründen, die von ihnen in einer bestimmten Rechtssache geltend gemacht werden könnten, in Kenntnis gesetzt würden, und dass die nationalen Bestimmungen im Hinblick auf dieses Ziel verhältnismäßig seien.

303

Erstens könne sich nämlich eine ehemalige Parteizugehörigkeit – auch vor dem 29. Dezember 1989 und in einem historischen Kontext der Politisierung der Justiz – auf die aktuelle und künftige Rechtsprechungstätigkeit des betreffenden Richters auswirken.

304

Zweitens habe die Kommission ihr Vorbringen, wonach die beanstandeten nationalen Bestimmungen das berufliche Ansehen der Richter und deren Unabhängigkeit beeinträchtigen könnten sowie die Gefahr der Diskriminierung im Rahmen ihrer beruflichen Laufbahn in sich bärgen oder zu solchen Zwecken genutzt werden könnten, in keiner Weise belegt. Insbesondere habe die Bereitstellung der betreffenden Informationen weder Auswirkungen auf die Zuständigkeit des Richters, Recht zu sprechen, noch auf die Verteilung von Rechtssachen innerhalb seines Gerichts noch auf die Entwicklung seiner beruflichen Laufbahn. Ebenso wenig werde durch die Bereitstellung der Informationen die Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit des betreffenden Richters in den bei ihm anhängigen Rechtssachen beeinträchtigt, und es werde auch keine automatische Ablehnung des Richters im Rahmen dieser Rechtssachen ausgelöst. Die Kommission habe zudem keinen konkreten Fall dargetan, in dem solche Informationen so verwendet worden seien, wie von ihr behauptet.

305

Drittens könne das mit den beanstandeten nationalen Bestimmungen verfolgte Ziel nicht durch weniger restriktive Mittel erreicht werden, da die Rechtsunterworfenen ohne Zugang zu den betreffenden Informationen keine Kenntnis von etwaigen Ablehnungsgründen in Bezug auf die Richter erlangen könnten, die über eine sie betreffende Rechtssache zu entscheiden hätten.

306

Außerdem seien die betreffenden Daten nicht von den in Art. 9 Abs. 1 DSGVO genannten Kategorien erfasst, da die beanstandeten nationalen Bestimmungen nicht darauf gerichtet seien, dass ein Richter Informationen zu seinen politischen Meinungen oder weltanschaulichen Überzeugungen übermittle. Im Übrigen enthielten die nationalen Bestimmungen keine Aufzählung der zu nennenden Arten von Zugehörigkeit, und somit sei von Fall zu Fall zu entscheiden, ob eine Erklärungspflicht Anwendung finde, und dabei seien u. a. die Grenzen zu beachten, die für Eingriffe in das Privatleben gälten, insbesondere Art. 53 Abs. 7 der Verfassung, wonach es den staatlichen Stellen verboten sei, die Offenlegung der „Weltanschauung“, der Überzeugungen und der Religion einer Person zu verlangen. Jedenfalls erfüllten die genannten nationalen Bestimmungen aus den von der Republik Polen zuvor dargelegten Gründen auch die in Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO genannte Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit.

307

Schließlich macht die Republik Polen geltend, die Kommission versuche, die ihr obliegende Beweislast umzukehren, indem sie behaupte, dass es nur deshalb, weil diese nationalen Bestimmungen vorher nicht existiert hätten, der Republik Polen obliege, den Sachverhalt darzulegen, der den Erlass und die Verhältnismäßigkeit dieser nationalen Bestimmungen rechtfertige.

Würdigung durch den Gerichtshof

– Einleitende Erwägungen

308

Einleitend ist als Erstes festzustellen, dass die Kommission mit der fünften Rüge geltend macht, die Republik Polen habe durch den Erlass von Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit gegen ihre Verpflichtungen sowohl aus Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO als auch aus Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta verstoßen.

309

Unter diesen Umständen obliegt es dem Gerichtshof, über die verschiedenen von der Kommission beanstandeten Vertragsverletzungen zu entscheiden (vgl. entsprechend Urteile vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn [Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen], C‑235/17, EU:C:2019:432, Rn. 131, und vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 143).

310

Was als Zweites die nationalen Bestimmungen betrifft, die die Kommission mit der fünften Rüge beanstandet, ist zum einen festzustellen, dass sie die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), der ordentlichen Gerichte und der Verwaltungsgerichte verpflichten, je nach dem Gericht, dem sie angehören, und ihrer Position innerhalb dieses Gerichts eine Erklärung abzugeben, die in der Mehrzahl der Fälle an den Präsidenten eines ordentlichen Gerichts oder eines Verwaltungsgerichts und in Ausnahmefällen, sofern es sich um die Präsidenten eines Sąd Apelacyjny (Berufungsgericht), den ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) oder den Präsidenten des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) handelt, entweder an die KRS oder an den Justizminister zu richten ist. Gemäß den nationalen Bestimmungen müssen diese verschiedenen nationalen Stellen die in den Erklärungen enthaltenen Informationen anschließend innerhalb von 30 Tagen auf der Website des Biuletyn Informacji Publicznej veröffentlichen.

311

Da die Erhebung der Informationen von der Kommission insoweit beanstandet wird, als sie für die Zwecke der Veröffentlichung im Internet erfolgt, sind diese beiden Vorgänge gemeinsam im Hinblick auf die unionsrechtlichen Vorschriften zu untersuchen, deren Verletzung die Kommission im vorliegenden Fall geltend macht.

312

Zum anderen ist festzustellen, dass, wie den beanstandeten nationalen Bestimmungen und konkret dem Wortlaut von Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit zu entnehmen ist, auf den wiederum Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit verweisen, die Informationen, die zur Veröffentlichung im Internet übermittelt werden, dreierlei Art sind. Diese Informationen betreffen nämlich erstens die Mitgliedschaft des betreffenden Richters in einer Vereinigung, einschließlich Namen und Sitz der Vereinigung, der eingenommenen Positionen und des Zeitraums der Mitgliedschaft, zweitens die von dem Richter eingenommenen Positionen in einer Stiftung ohne Gewinnzweck, einschließlich Namen und Sitz der Stiftung und des Zeitraums, in dem die Positionen eingenommen wurden, und drittens die Mitgliedschaft des Richters in einer politischen Partei vor seiner Ernennung auf die Stelle eines Richters sowie seine Mitgliedschaft in einer politischen Partei während seiner Amtszeit vor dem 29. Dezember 1989, einschließlich des Namens der Partei, der eingenommenen Positionen und des Zeitraums der Mitgliedschaft in der Partei.

– Zur Anwendbarkeit der DSGVO

313

Da die Republik Polen geltend macht, dass die DSGVO nicht auf die beanstandeten nationalen Bestimmungen anwendbar sei, ist vorab festzustellen, dass die DSGVO gemäß ihrem Art. 2 Abs. 1 für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nicht automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten gilt, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen.

314

Gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO findet diese Verordnung jedoch keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten „im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt“.

315

Insoweit ist als Erstes festzustellen, dass weder der Umstand, dass die den beanstandeten nationalen Bestimmungen unterliegenden Informationen Richter betreffen, noch die Tatsache, dass die Informationen einen gewissen Zusammenhang mit der Ausübung ihrer Ämter aufweisen können, als solche geeignet sind, die nationalen Bestimmungen aus dem Anwendungsbereich der DSGVO auszunehmen.

316

Da die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO vorgesehene Ausnahme zur Unanwendbarkeit der von der DSGVO vorgesehenen Regelung zum Schutz personenbezogener Daten führt und damit von dem ihr zugrunde liegenden Ziel, den Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – wie das durch Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie das durch Art. 8 der Charta garantierte Recht auf Schutz personenbezogener Daten – sicherzustellen, abweicht, muss diese Ausnahme wie die anderen in Art. 2 Abs. 2 vorgesehenen Ausnahmen von der Anwendbarkeit eng ausgelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Februar 2019, Buivids, C‑345/17, EU:C:2019:122, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

317

Der Gerichtshof hat insoweit festgestellt, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO im Licht ihres 16. Erwägungsgrundes und von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b DSGVO sowie Art. 3 Abs. 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31), an den Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b DSGVO teilweise anknüpft, so zu verstehen ist, dass mit ihm vom Anwendungsbereich der DSGVO allein Verarbeitungen personenbezogener Daten ausgenommen werden sollen, die von staatlichen Stellen im Rahmen einer Tätigkeit, die der Wahrung der nationalen Sicherheit dient, oder einer Tätigkeit, die derselben Kategorie zugeordnet werden kann, vorgenommen werden, so dass der bloße Umstand, dass eine Tätigkeit eine spezifische Tätigkeit des Staates oder einer Behörde ist, nicht dafür ausreicht, dass diese Ausnahme automatisch für diese Tätigkeit gilt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 63 bis 66 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 20. Oktober 2022, Koalitsia Demokratichna Bulgaria – Obedinenie, C‑306/21, EU:C:2022:813, Rn. 36 bis 39).

318

Die auf die Wahrung der nationalen Sicherheit abzielenden Tätigkeiten, auf die Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO abstellt, umfassen insbesondere solche, die den Schutz der grundlegenden Funktionen des Staates und der grundlegenden Interessen der Gesellschaft bezwecken (Urteile vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 67, und vom 20. Oktober 2022, Koalitsia Demokratichna Bulgaria – Obedinenie, C‑306/21, EU:C:2022:813, Rn. 40).

319

Zwar fällt die Sicherstellung einer geordneten Rechtspflege in den Mitgliedstaaten und insbesondere der Erlass von Vorschriften zu den Rechtsverhältnissen der Richter und zur Ausübung des Richteramts in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch können die Vorgänge, die in den von der Kommission mit der fünften Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen geregelt sind, nicht als Teil einer Tätigkeit angesehen werden, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO fällt, wie eine auf die Wahrung der nationalen Sicherheit abzielende Tätigkeit.

320

Insoweit ist dem 20. Erwägungsgrund der DSGVO ausdrücklich zu entnehmen, dass diese Verordnung u. a. für die Tätigkeiten der Gerichte und anderer Justizbehörden gilt, vorbehaltlich bestimmter Modifikationen, die die Verordnung für den Fall, dass die Gerichte und andere Justizbehörden im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit handeln, vorsieht oder erlaubt.

321

Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass zwar, wie oben in Rn. 312 dargelegt, die beanstandeten nationalen Bestimmungen vorsehen, dass die Erhebung der betreffenden Informationen und ihre Veröffentlichung im Internet grundsätzlich den Präsidenten entweder der ordentlichen Gerichte oder der Verwaltungsgerichte und in Ausnahmefällen der KRS oder dem Justizminister obliegen, doch sind diese Vorgänge nicht Teil der justiziellen Tätigkeit der betreffenden Stellen, so dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO nicht auf diese Vorgänge anwendbar ist.

322

Als Zweites bezeichnet gemäß Art. 4 Nr. 1 DSGVO der Ausdruck „personenbezogene Daten“„alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person … beziehen“. Art. 4 Nr. 2 DSGVO wiederum definiert den Begriff „Verarbeitung“ als „jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten“ und führt als Beispiel für solche Vorgänge u. a. „das Erheben, das Erfassen, … die … Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung“ der Daten an.

323

Im vorliegenden Fall ist jedoch zum einen festzustellen, dass die Informationen, die obligatorisch offenzulegen und im Internet zu veröffentlichen sind, identifizierte oder identifizierbare natürliche Personen betreffen und somit vom Begriff „personenbezogene Daten“ im Sinne von Art. 4 Nr. 1 DSGVO erfasst sind. Die Informationen beziehen sich nämlich auf namentlich identifizierte Personen und betreffen ihre Mitgliedschaft in Vereinigungen, Stiftungen ohne Gewinnzweck und politischen Parteien sowie die Positionen, die sie dort einnehmen oder eingenommen haben. Der geltend gemachte Umstand, dass die Informationen im Kontext der beruflichen Tätigkeit der erklärungspflichtigen Person stünden, ändert nichts an dieser Einstufung (Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

324

Zum anderen setzen nationale Bestimmungen, mit denen, wie vorliegend, die Offenlegung der in Rede stehenden Informationen und ihre Veröffentlichung im Internet vorgeschrieben wird, Vorgänge voraus, die aus dem Erheben, Erfassen und Verbreiten dieser Informationen bestehen, d. h. eine Vorgangsreihe, die eine „Verarbeitung“ personenbezogener Daten im Sinne von Art. 4 Nr. 2 DSGVO darstellt (vgl. zur Veröffentlichung personenbezogener Daten im Internet Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

325

Nach alledem ist festzustellen, dass die beanstandeten nationalen Bestimmungen dem Anwendungsbereich der DSGVO unterliegen und folglich mit den Bestimmungen dieser Verordnung vereinbar sein müssen, deren Verletzung die Kommission im vorliegenden Fall geltend macht.

– Zur Anwendbarkeit von Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta

326

Nach ihrem Art. 51 Abs. 1 gilt die Charta für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union.

327

Im vorliegenden Fall ist den oben in den Rn. 313 bis 325 angestellten Erwägungen zu entnehmen, dass die beanstandeten nationalen Bestimmungen die Verarbeitung personenbezogener Daten voraussetzen und dem Anwendungsbereich der DSGVO unterliegen. Somit war die Republik Polen bei Erlass der nationalen Bestimmungen insbesondere verpflichtet, die DSGVO umzusetzen.

328

Da die personenbezogenen Daten zudem Informationen zu identifizierten natürlichen Personen beinhalten, berührt der Zugang von allen Mitgliedern der Öffentlichkeit das durch Art. 7 der Charta garantierte Grundrecht der Betroffenen auf Achtung des Privatlebens, ohne dass es in diesem Zusammenhang relevant wäre, dass die Informationen berufliche Tätigkeiten betreffen können. Außerdem stellt die öffentliche Zugänglichmachung dieser Daten eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 8 der Charta dar (vgl. entsprechend Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

329

Somit stellt die Zurverfügungstellung dieser personenbezogenen Daten an Dritte unabhängig von der späteren Verwendung der übermittelten Informationen einen Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte dar. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die betreffenden Informationen über das Privatleben als sensibel anzusehen sind oder ob die Betroffenen durch den Vorgang irgendwelche Nachteile erlitten haben (vgl. entsprechend Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

330

Nach alledem sind Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta im vorliegenden Fall anwendbar und müssen die beanstandeten nationalen Bestimmungen mit diesen Artikeln im Einklang stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 103).

– Zum Vorwurf eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO sowie Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta

331

Hinzuweisen ist vorab zum einen auf den engen Zusammenhang zwischen der DSGVO und den Bestimmungen von Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta, in deren Licht die Verordnung auszulegen ist.

332

Zudem ist Art. 1 Abs. 2 DSGVO in Verbindung mit den Erwägungsgründen 4 und 10 der DSGVO zu entnehmen, dass diese Verordnung u. a. zum Ziel hat, ein hohes Niveau des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu gewährleisten; dieses Schutzrecht wird auch in Art. 8 der Charta anerkannt und steht in engem Zusammenhang mit dem in Art. 7 der Charta verankerten Recht auf Achtung des Privatlebens (Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 61). Wie der Generalanwalt in Nr. 235 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, gilt eine Verarbeitung personenbezogener Daten, soweit die Bedingungen für ihre rechtmäßige Verarbeitung nach der genannten Verordnung erfüllt sind, grundsätzlich auch als den in den Art. 7 und 8 der Charta festgelegten Anforderungen entsprechend (vgl. entsprechend Urteil vom 27. September 2017, Puškár, C‑73/16, EU:C:2017:725, Rn. 102).

333

Wie zum anderen aus dem Vorbringen zur Stützung der fünften Rüge hervorgeht, zweifelt die Kommission an, dass mit den beanstandeten nationalen Bestimmungen tatsächlich die von der Republik Polen angeführten Ziele verfolgt werden, und macht geltend, dass die mit den nationalen Bestimmungen verbundenen Eingriffe in die Grundrechte auf Schutz personenbezogener Daten und der Privatsphäre jedenfalls nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar seien, der sich aus den verschiedenen unionsrechtlichen Bestimmungen ergebe, deren Verletzung sie beanstandet. Da die Kommission nicht geltend gemacht hat, dass die genannten nationalen Bestimmungen andere sich aus diesen unionsrechtlichen Vorschriften ergebende Anforderungen nicht einhalten, muss sich der Gerichtshof auf die Prüfung der so formulierten Rüge der Kommission beschränken und diese nationalen Bestimmungen somit ausschließlich hinsichtlich ihrer Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die von der Republik Polen angeführten Ziele untersuchen.

334

Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen und gegen andere Grundrechte abgewogen werden müssen. Somit können Einschränkungen vorgesehen werden, sofern sie gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt der Grundrechte sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Nach diesem Grundsatz dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Sie müssen sich auf das absolut Notwendige beschränken, und die den Eingriff enthaltende Regelung muss klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung der betreffenden Maßnahme vorsehen (Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).

335

Was zweitens Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 DSGVO betrifft, enthält diese Vorschrift eine erschöpfende und abschließende Liste der Fälle, in denen eine Verarbeitung personenbezogener Daten als rechtmäßig angesehen werden kann. Daher muss eine Verarbeitung unter einen der in dieser Bestimmung vorgesehenen Fälle subsumierbar sein, um als rechtmäßig angesehen werden zu können (Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

336

Gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c DSGVO ist eine Verarbeitung von Daten rechtmäßig, wenn sie zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich ist, der der Verantwortliche unterliegt. Gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e DSGVO ist eine Verarbeitung auch rechtmäßig, wenn die Verarbeitung für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde.

337

Art. 6 Abs. 3 DSGVO stellt in Bezug auf diese beiden Fälle der Rechtmäßigkeit klar, dass die Verarbeitung auf dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten, dem der Verantwortliche unterliegt, beruhen muss und dass die betreffende Rechtsgrundlage ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen muss. Da diese Anforderungen Ausfluss der Vorgaben sind, die sich aus Art. 52 Abs. 1 der Charta ergeben, sind sie im Licht der letztgenannten Bestimmung auszulegen (Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 69).

338

Im vorliegenden Fall besteht, wie oben in Rn. 310 dargelegt, das Ziel der beanstandeten nationalen Bestimmungen darin, die betreffenden Richter zu verpflichten, je nach dem Gericht, dem sie angehören, und ihrer Position innerhalb dieses Gerichts eine Erklärung abzugeben, die in der Mehrzahl der Fälle an die Gerichtspräsidenten entweder der ordentlichen Gerichtsbarkeit oder der Verwaltungsgerichtsbarkeit und in Ausnahmefällen an die KRS oder an den Justizminister zu richten ist, damit diese Stellen die in der Erklärung enthaltenen Informationen im Biuletyn Informacji Publicznej veröffentlichen.

339

Da die diesen Stellen obliegende Verpflichtung zur Erhebung, Erfassung und Online-Veröffentlichung auf den oben in Rn. 310 genannten Bestimmungen beruht, ist davon auszugehen, dass die Verarbeitung der fraglichen personenbezogenen Daten zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich ist, der die jeweilige Stelle als Verantwortliche unterliegt. Somit fällt diese Datenverarbeitung unter den in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c DSGVO genannten Fall (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 71).

340

Was den in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e DSGVO genannten Fall der rechtmäßigen Datenverarbeitung betrifft, trägt die Verfolgung des Ziels der Unparteilichkeit von Richtern, das u. a. in der Begründung zu dem Gesetz zur Änderung der von der Kommission mit der fünften Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen genannt wird, dazu bei, die ordnungsgemäße Ausübung des richterlichen Amtes sicherzustellen, die eine im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e DSGVO ist.

341

Drittens untersagt Art. 9 Abs. 1 DSGVO u. a. die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen politische Meinungen oder religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen einer natürlichen Person hervorgehen. Gemäß der Überschrift von Art. 9 handelt es sich um „besondere Kategorien personenbezogener Daten“, wobei diese Daten im zehnten Erwägungsgrund der DSGVO auch als „sensible Daten“ bezeichnet werden.

342

Art. 9 Abs. 2 DSGVO enthält einige Ausnahmen von diesem Verbot. Gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO gilt das Verbot u. a. dann nicht, wenn die fragliche Verarbeitung auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich ist.

343

Dem Wortlaut von Art. 9 DSGVO ist zu entnehmen, dass das darin enthaltene Verbot vorbehaltlich der in der DSGVO vorgesehenen Ausnahmen für jede Art der Verarbeitung der in dieser Bestimmung genannten besonderen Datenkategorien und für sämtliche Verantwortliche gilt, die solche Verarbeitungen vornehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. September 2019, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 42).

344

Um festzustellen, ob die beanstandeten nationalen Bestimmungen vom Anwendungsbereich von Art. 9 DSGVO erfasst sind, ist vorab darauf hinzuweisen, dass diese Vorschrift für Verarbeitungen gilt, die sich nicht nur auf ihrem Wesen nach sensible Daten beziehen, sondern auch auf Daten, aus denen sich mittels eines Denkvorgangs der Ableitung oder des Abgleichs indirekt sensible Informationen ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 123).

345

Wie der Gerichtshof außerdem festgestellt hat, spricht für eine weite Auslegung des Begriffs „sensible Daten“ auch das oben in Rn. 316 genannte Ziel der DSGVO, das darin besteht, ein hohes Niveau des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen – insbesondere ihres Privatlebens – bei der Verarbeitung sie betreffender personenbezogener Daten zu gewährleisten. Diese Auslegung steht auch im Einklang mit dem Zweck von Art. 9 Abs. 1 DSGVO, der darin besteht, einen erhöhten Schutz vor Datenverarbeitungen zu gewährleisten, die, wie sich aus dem 51. Erwägungsgrund der DSGVO ergibt, aufgrund der besonderen Sensibilität der betreffenden Daten einen besonders schweren Eingriff in die durch die Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten darstellen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 125 und 126 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

346

Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der Erhebung und Online-Veröffentlichung von Informationen zur früheren „Mitgliedschaft“ eines Richters in einer „politischen Partei“ und zu den in der Partei eingenommenen „Positionen“ im Sinne von Art. 88a § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit um Verarbeitungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 DSGVO, aus denen die politischen Meinungen des Betroffenen hervorgehen können.

347

Was Informationen zur früheren oder derzeitigen „Mitgliedschaft“ eines Richters in einer „Vereinigung“ und zu den dort eingenommenen „Positionen“ oder zu seinen in einer „Stiftung ohne Gewinnzweck“ früher oder derzeit eingenommenen „Positionen“ im Sinne von Art. 88a § 1 Nrn. 1 und 2 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit betrifft, ist im Einklang mit den Ausführungen des Generalanwalts in den Nrn. 244 und 245 seiner Schlussanträge festzustellen, dass es angesichts der sehr weiten und ungenauen Formulierung des polnischen Gesetzgebers je nach der konkreten Art der betreffenden Vereinigungen und Stiftungen möglich ist, dass im Sinne von Art. 9 Abs. 1 DSGVO aus der Erhebung und Online-Veröffentlichung solcher Informationen die religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen der Betroffenen hervorgehen, wie die Kommission geltend macht.

348

Folglich müssen die beanstandeten nationalen Bestimmungen, um nicht unter das Verbot nach Art. 9 Abs. 1 DSGVO zu fallen, einem der in Art. 9 Abs. 2 DSGVO aufgeführten Fälle entsprechen und die dort genannten Voraussetzungen erfüllen, d. h. vorliegend die Voraussetzungen von Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO.

349

Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist nun, da die beanstandeten nationalen Bestimmungen in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e und Art. 9 Abs. 1 DSGVO sowie Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta fallen, ihre etwaige Rechtfertigung im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 und Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO sowie Art. 52 Abs. 1 der Charta zu prüfen.

350

Insoweit ist den Rn. 334, 337 und 342 des vorliegenden Urteils zu entnehmen, dass die beanstandeten nationalen Bestimmungen als Rechtsgrundlage der in Rede stehenden Verarbeitung personenbezogener Daten nur dann den Anforderungen genügen, die sich aus Art. 52 Abs. 1 der Charta, Art. 6 Abs. 3 und Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO ergeben, wenn die Verarbeitung u. a. ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgt und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 73).

351

Im vorliegenden Fall macht die Kommission in der Klageschrift geltend, der Begründung zu dem Gesetzesentwurf, der Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit zugrunde liege, sei zu entnehmen, dass der Entwurf von dem Willen getragen gewesen sei, die politische Neutralität und Unparteilichkeit der Richter und das Vertrauen der Öffentlichkeit in deren Unparteilichkeit zu wahren und letztlich die Würde des Richteramts zu schützen.

352

In ihrem Verteidigungsvorbringen hat sich die Republik Polen zur Rechtfertigung des Erlasses der beanstandeten nationalen Bestimmungen auf das Ziel bezogen, das in der Stärkung der politischen Neutralität und der Unparteilichkeit der Richter und dem Vertrauen der Rechtsunterworfenen in diese Unparteilichkeit bestehe, und darauf hingewiesen, dass im vorliegenden Fall die nationalen Bestimmungen konkret darauf gerichtet seien, es den Rechtsunterworfenen zu ermöglichen, sich über die früheren politischen Aktivitäten der betreffenden Richter zu informieren, wenn diese Aktivitäten geeignet seien, Zweifel an der Objektivität eines Richters in einer bestimmten Rechtssache aufkommen zu lassen und aus diesem Grund zu seiner etwaigen Ablehnung führen könnten.

353

Insoweit ist vorab festzustellen, dass das von der Republik Polen angeführte Ziel, soweit es darin besteht, die politische Neutralität und Unparteilichkeit der Richter zu gewährleisten und der Gefahr entgegenzuwirken, dass die Richter bei der Ausübung ihres Amtes von Erwägungen im Zusammenhang mit privaten oder politischen Interessen beeinflusst werden, unbestreitbar im öffentlichen Interesse liegt, wie oben in Rn. 340 dargelegt, und folglich legitim ist (vgl. entsprechend Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 75 und 76). Gleiches gilt für das Ziel, das Vertrauen der Rechtsunterworfenen in das Vorhandensein dieser Unparteilichkeit zu stärken.

354

Wie der Gerichtshof nämlich wiederholt hervorgehoben hat, gehört das Erfordernis der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, zum Wesensgehalt des Grundrechts auf wirksamen Rechtsschutz und auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311‚ Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).

355

Nach ständiger Rechtsprechung setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung eines Justizorgans und die Gründe für die Abberufung seiner Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieses Justizorgans für äußere Faktoren und an seiner Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235‚ Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie oben in Rn. 95 dargelegt, müssen diese Regeln es insbesondere ermöglichen, die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, auszuschließen und damit dem Eindruck vorzubeugen, dass diese Richter nicht unabhängig und unparteiisch seien, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Einzelnen schaffen muss.

356

Daraus ergibt sich, dass das Ziel, das die Republik Polen laut ihren Angaben im vorliegenden Fall verfolgen wollte, als solches einer von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta oder einem im öffentlichen Interesse liegenden Ziel und somit einem legitimen Zweck im Sinne von Art. 6 Abs. 3 DSGVO entspricht, wobei ein solches im öffentlichen Interesse liegendes Ziel außerdem als „erheblich“ im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO eingestuft werden kann.

357

Folglich lässt das betreffende Ziel gemäß diesen unionsrechtlichen Bestimmungen Einschränkungen der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte zu, vorausgesetzt, dass sie diesem Ziel tatsächlich entsprechen und in einem angemessenen Verhältnis zu ihm stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 81).

358

Nach ständiger Rechtsprechung verlangt die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen, aus denen sich ein Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte ergibt, dass nicht nur die Anforderungen an die Geeignetheit und Erforderlichkeit, sondern auch die Anforderung an die Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahmen im Hinblick auf das verfolgte Ziel erfüllt sein müssen (Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

359

Insbesondere beschränken sich die Ausnahmen vom Schutz personenbezogener Daten und dessen Einschränkungen auf das absolut Erforderliche, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Erreichung der verfolgten legitimen Ziele zur Verfügung stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist. Außerdem kann eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung nicht verfolgt werden, ohne dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie mit den von der fraglichen Maßnahme betroffenen Grundrechten in Einklang gebracht werden muss, indem eine ausgewogene Gewichtung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung und der fraglichen Rechte vorgenommen wird, damit die durch diese Maßnahme bedingten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen. Daher ist die Möglichkeit, eine Einschränkung der durch die Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte zu rechtfertigen, zu beurteilen, indem die Schwere des mit einer solchen Einschränkung verbundenen Eingriffs bestimmt und geprüft wird, ob die mit ihr verfolgte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht (Urteile vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

360

Ebenso wird im 39. Erwägungsgrund der DSGVO insbesondere hervorgehoben, dass die Anforderung der Erforderlichkeit erfüllt ist, wenn das verfolgte, dem Gemeinwohl dienende Ziel nicht in zumutbarer Weise ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden kann, die weniger stark in die Grundrechte der betroffenen Personen, insbesondere die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Rechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten, eingreifen, wobei sich die Ausnahmen und Einschränkungen hinsichtlich des Grundsatzes des Schutzes solcher Daten auf das absolut Notwendige beschränken müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung).

361

Unter diesen Umständen ist erstens zu prüfen, ob die beanstandeten nationalen Bestimmungen, sofern damit tatsächlich das von der Republik Polen geltend gemachte, dem Gemeinwohl dienende Ziel verfolgt wird, für die Erreichung dieses Ziels geeignet sind. Gegebenenfalls ist zweitens zu untersuchen, ob der sich aus den nationalen Bestimmungen ergebende Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte in dem Sinne auf das absolut Notwendige beschränkt ist, dass dieses Ziel nicht in zumutbarer Weise ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden kann, die diese Grundrechte weniger beeinträchtigen, und drittens, ob dieser Eingriff nicht außer Verhältnis zu dem Ziel steht, was insbesondere eine Gewichtung der Bedeutung des Ziels und der Schwere dieses Eingriffs impliziert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 66).

362

Was als Erstes die Frage betrifft, ob die Veröffentlichung der mit den fraglichen Erklärungen erhobenen Informationen im Biuletyn Informacji Publicznej geeignet ist, das im vorliegenden Fall geltend gemachte, dem Gemeinwohl dienende Ziel zu erreichen, hat die Republik Polen nicht klar und konkret dargelegt, inwiefern die obligatorische Online-Veröffentlichung von Informationen zur Mitgliedschaft einer Person in einer politischen Partei vor ihrer Ernennung auf die Stelle eines Richters und während der Ausübung ihres Amtes vor dem 29. Dezember 1989 geeignet sein soll, gegenwärtig dazu beizutragen, das Recht von Rechtsunterworfenen, ihren Fall von einem das Erfordernis der Unparteilichkeit erfüllenden Gericht untersuchen zu lassen, und ihr Vertrauen in diese Unparteilichkeit zu stärken.

363

Der Gerichtshof hat bereits allgemein festgestellt, dass die Umstände, unter denen es in einem Zeitraum, in dem das nicht demokratische Regime der Volksrepublik Polen bestand, zur erstmaligen Ernennung eines Richters kam, für sich genommen nicht als geeignet angesehen werden können, bei den Einzelnen berechtigte und ernsthafte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieses Richters bei der Ausübung seiner späteren richterlichen Tätigkeiten zu wecken (Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 82 bis 84 und 107).

364

Im Übrigen berechtigt der Erlass der von der Kommission mit der fünften Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen, die sich wie die mit der ersten und der dritten Rüge beanstandeten Bestimmungen im Änderungsgesetz befinden, das in großer Eile und unter den oben in den Rn. 141 bis 145 und 291 beschriebenen Umständen verabschiedet wurde, zu der von der Kommission vertretenen Annahme, dass diese Bestimmungen, soweit sie Informationen zur Mitgliedschaft von Richtern in einer politischen Partei vor ihrer Ernennung und während der Ausübung ihres Amtes vor dem 29. Dezember 1989 betreffen, in Wirklichkeit erlassen wurden, um dem beruflichen Ansehen der betreffenden Richter und dem Bild, das die Rechtsunterworfenen von ihnen haben, zu schaden oder sie gar zu stigmatisieren und somit die Entwicklung ihrer beruflichen Laufbahn zu behindern.

365

Aus alledem ergibt sich, dass die beanstandeten nationalen Bestimmungen, soweit sie sich auf diese Informationen beziehen und die Verpflichtung beinhalten, den Namen der betreffenden politischen Partei, die bei ihr eingenommenen Positionen und den Zeitraum der Mitgliedschaft, d. h. personenbezogene Daten, die darüber hinaus „sensibel“ im Sinne von Art. 9 DSGVO sind, anzugeben, selbst wenn man annimmt, dass diese Bestimmungen tatsächlich auf das vorliegend geltend gemachte legitime Ziel gerichtet waren, jedenfalls nicht geeignet sind, dieses Ziel zu erreichen.

366

Die Feststellungen in den Rn. 362 bis 365 des vorliegenden Urteils genügen, um auszuschließen, dass die beanstandeten nationalen Bestimmungen, soweit sie die Erhebung und Online-Veröffentlichung von Informationen zur Mitgliedschaft einer Person in einer politischen Partei vor ihrer Ernennung auf die Stelle eines Richters und während der Ausübung ihres Amtes vor dem 29. Dezember 1989 betreffen, den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der in Art. 52 Abs. 1 der Charta sowie in Art. 6 Abs. 3 und Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO verankert ist, genügen können. Soweit die genannten nationalen Bestimmungen diese Informationen betreffen, verstoßen sie folglich sowohl gegen Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO als auch gegen Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta.

367

Was dagegen die anderen Informationen betrifft, die den beanstandeten nationalen Bestimmungen unterliegen, d. h. Angaben zu einer derzeitigen oder früheren Mitgliedschaft in einer Vereinigung und zu derzeit oder früher eingenommenen Positionen in der betreffenden Vereinigung oder in einer Stiftung ohne Gewinnzweck, kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die Veröffentlichung dieser Informationen im Internet dazu beiträgt, etwaige Interessenkonflikte, die die Amtsausübung der betreffenden Richter bei der Bearbeitung von Einzelfällen beeinflussen könnten, aufzudecken, um auf eine unparteiische Amtsausübung hinzuwirken und dadurch das Vertrauen der Rechtsunterworfenen in das Handeln der Justiz zu stärken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 83).

368

Somit ist als Zweites zu prüfen, ob das von der Republik Polen geltend gemachte Ziel in zumutbarer Weise ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden könnte, die weniger stark in die Rechte der betreffenden Richter auf Schutz ihrer Privatsphäre und ihrer personenbezogenen Daten eingreifen, und ob der fragliche Eingriff nicht außer Verhältnis zu dem Ziel steht, was insbesondere eine Gewichtung der Bedeutung des Ziels und der Schwere dieses Eingriffs impliziert.

369

Bei dieser Prüfung sind alle dem betreffenden Mitgliedstaat eigenen rechtlichen und tatsächlichen Aspekte zu berücksichtigen, wie etwa das Bestehen anderweitiger Maßnahmen zur Gewährleistung der Unparteilichkeit und zur Verhütung von Interessenkonflikten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 86).

370

Insoweit bestehen zwar, wie die Kommission geltend macht und wie oben in Rn. 300 dargelegt, bereits verschiedene nationale Bestimmungen, die dazu dienen, die Unparteilichkeit der Richter in Polen zu festigen und zu gewährleisten, doch lässt sich daraus nicht ableiten, dass Maßnahmen, die diese Unparteilichkeit, einschließlich des Eindrucks der Unparteilichkeit, und das Vertrauen der Rechtsunterworfenen in die Unparteilichkeit noch verstärken sollen, als über das für diese Zwecke erforderliche Maß hinausgehend anzusehen sind.

371

Zudem ist die Bereitstellung der fraglichen Informationen zugunsten der Stellen, die über etwaige Interessenkonflikte zu entscheiden haben oder diese verhindern sollen, wie die Kommission vorschlägt, nicht zwangsläufig geeignet, die Rechtsunterworfenen in die Lage zu versetzen, selbst Kenntnis von diesen Informationen zu erlangen und das etwaige Vorliegen sich daraus ergebender Interessenkonflikte zu erkennen und sich gegebenenfalls auf diese Informationen zu berufen, um einen Antrag auf Ablehnung eines zur Entscheidung über eine bestimmte Rechtssache berufenen Richters zu stellen. Ebenso kann die Veröffentlichung dieser Informationen im Internet es den betreffenden Rechtsunterworfenen grundsätzlich ermöglichen, diese Informationen völlig transparent zu erhalten, ohne aus eigener Initiative Erkundigungen über die Personen einholen zu müssen, die über Streitigkeiten zu entscheiden haben, bei denen sie Partei sind. Eine solche Transparenz kann gleichzeitig zur Stärkung des Vertrauens der Rechtsunterworfenen in die Justiz beitragen.

372

Zum einen ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich die betreffenden personenbezogenen Daten im vorliegenden Fall u. a. auf Zeiträume beziehen, die vor dem Zeitpunkt liegen, an dem ein Richter die nach den beanstandeten nationalen Bestimmungen erforderliche Erklärung abzugeben hat, und zwar unabhängig davon, wie lange die jeweiligen Zeiträume zurückliegen. Da noch nicht einmal eine zeitliche Begrenzung in Bezug auf die insoweit betroffenen früheren Zeiträume gegeben ist, kann vernünftigerweise nicht davon ausgegangen werden, dass sich die fraglichen Maßnahmen, soweit sie sich auf diese früheren Zeiträume beziehen, auf das beschränken, was unbedingt erforderlich ist, um das Recht der Rechtsunterworfenen, in einer bestimmten Rechtssache ihren Fall von einem das Erfordernis der Unparteilichkeit erfüllenden Gericht untersuchen zu lassen, und ihr Vertrauen in diese Unparteilichkeit zu stärken.

373

Zum anderen ist außerdem angesichts der oben in Rn. 359 angeführten Rechtsprechung bei der Beurteilung der von der Kommission in Frage gestellten Verhältnismäßigkeit der Datenverarbeitung die Schwere des durch diese Verarbeitung bewirkten Eingriffs in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten zu bewerten und zu prüfen, ob die Bedeutung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung, die mit dieser Verarbeitung verfolgt wird, im Verhältnis zu dieser Schwere steht.

374

Bei der Beurteilung der Schwere des Eingriffs ist insbesondere der Art der in Rede stehenden personenbezogenen Daten Rechnung zu tragen, vor allem der möglicherweise sensiblen Natur dieser Daten, sowie der Art und den konkreten Modalitäten ihrer Verarbeitung, insbesondere der Zahl der Personen, die Zugang zu diesen Daten haben, und den Zugangsmodalitäten (Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie oben in Rn. 369 dargelegt, sind zu diesem Zweck auch alle dem betreffenden Mitgliedstaat eigenen rechtlichen und tatsächlichen Aspekte zu berücksichtigen.

375

Im vorliegenden Fall ist erstens festzustellen, dass die Veröffentlichung der fraglichen namensbezogenen Informationen im Internet je nach dem Gegenstand der betreffenden Vereinigungen oder Stiftungen ohne Gewinnzweck geeignet ist, Informationen über bestimmte sensible Aspekte des Privatlebens der betroffenen Richter zu offenbaren, u. a. ihre religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen, so dass diese Informationen, wie oben ausgeführt, von Art. 9 Abs. 1 DSGVO erfasst sind.

376

Zweitens führt die fragliche Verarbeitung der personenbezogenen Daten dazu, dass diese Angaben im Internet öffentlich und somit einer potenziell unbegrenzten Zahl von Personen zugänglich gemacht werden, so dass durch diese Verarbeitung Personen, die sich aus Gründen, die nicht mit dem geltend gemachten, dem Gemeinwohl dienenden Ziel zusammenhängen, die Unparteilichkeit von Richtern zu gewährleisten und bei ihnen vorliegende Interessenkonflikte zu vermeiden, über die persönliche Situation der erklärungspflichtigen Person Kenntnis verschaffen wollen, ungehindert auf diese Angaben zugreifen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

377

Drittens ist auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass, wie die Kommission geltend macht und oben in Rn. 364 hervorgehoben wird, in dem speziellen, dem betreffenden Mitgliedstaat eigenen Kontext, in dem die beanstandeten nationalen Bestimmungen erlassen wurden, die Veröffentlichung der fraglichen personenbezogenen Daten im Internet die betreffenden Richter z. B. der Gefahr einer unzulässigen Stigmatisierung durch ungerechtfertigte Beeinträchtigung ihrer Wahrnehmung sowohl durch die einzelnen ihrer Gerichtsbarkeit unterstehenden Personen als auch durch die allgemeine Öffentlichkeit sowie der Gefahr einer unzulässigen Behinderung ihrer beruflichen Entwicklung aussetzen kann.

378

Folglich ist eine Verarbeitung personenbezogener Daten wie die von den beanstandeten nationalen Bestimmungen vorgesehene als besonders schwerer Eingriff in die durch Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta garantierten Grundrechte der betreffenden Personen auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten anzusehen.

379

Die Schwere des Eingriffs ist mit der Bedeutung des geltend gemachten, dem Gemeinwohl dienenden Ziels abzuwägen, die Unparteilichkeit von Richtern, einschließlich des Eindrucks der Unparteilichkeit, zu gewährleisten und bei ihnen Interessenkonflikte zu vermeiden und gleichzeitig die Transparenz zu erhöhen und das Vertrauen der Rechtsunterworfenen in die Unparteilichkeit zu festigen.

380

Zu diesem Zweck sind u. a. die konkreten Ausprägungen und das Ausmaß der Gefahr, die auf diese Weise bekämpft werden soll, und die mit den beanstandeten nationalen Bestimmungen tatsächlich verfolgten Ziele zu berücksichtigen, insbesondere im Hinblick auf den Kontext, in dem die Bestimmungen erlassen wurden, so dass das Ergebnis der Abwägung zwischen diesen Zielen einerseits und dem Recht der betroffenen Personen auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten andererseits nicht unbedingt für alle Mitgliedstaaten gleich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 110 und die dort angeführte Rechtsprechung).

381

Im vorliegenden Fall ist angesichts des bereits dargelegten allgemeinen und besonderen nationalen Kontexts, in dem die beanstandeten nationalen Bestimmungen ergingen, und der besonders schweren Auswirkungen, die diese nationalen Bestimmungen auf die betreffenden Richter haben können, das Ergebnis der Abwägung zwischen dem Eingriff, der sich aus der Veröffentlichung der betreffenden personenbezogenen Daten im Internet ergibt, und dem geltend gemachten, dem Gemeinwohl dienenden Ziel nicht ausgewogen.

382

Verglichen mit dem status quo ante, der sich aus dem nationalen Rechtsrahmen, wie er zuvor bestand, ergibt, stellt die Veröffentlichung der betreffenden personenbezogenen Daten im Internet nämlich einen potenziell erheblichen Eingriff in die durch Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta garantierten Grundrechte dar, ohne dass dieser Eingriff im vorliegenden Fall durch die etwaigen Vorteile gerechtfertigt werden kann, die damit in Bezug auf die Vermeidung von Interessenkonflikten bei Richtern und das gesteigerte Vertrauen in deren Unparteilichkeit erzielt werden könnten.

383

Zudem ist jeder Richter gemäß den allgemein für die Rechtsverhältnisse der Richter und die Ausübung des Richteramts geltenden Vorschriften verpflichtet, sich in einem Verfahren selbst abzulehnen, in dem ein Umstand, wie z. B. seine derzeitige oder frühere Mitgliedschaft in einer Vereinigung oder derzeit oder früher eingenommene Positionen in dieser Vereinigung oder in einer Stiftung ohne Gewinnzweck, berechtigterweise Zweifel an seiner Unparteilichkeit begründen könnte.

384

Im Licht der vorstehenden Ausführungen verstoßen die beanstandeten Bestimmungen sowohl gegen Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO als auch gegen Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta, auch soweit sie sich auf die Erhebung und Online-Veröffentlichung personenbezogener Daten zur derzeitigen oder früheren Mitgliedschaft in einer Vereinigung und zu derzeit oder früher eingenommenen Positionen in der betreffenden Vereinigung oder in einer Stiftung ohne Gewinnzweck beziehen.

385

Unter diesen Umständen ist der fünften Rüge insgesamt stattzugeben, soweit sie sich auf den Verstoß gegen diese Bestimmungen des Unionsrechts bezieht.

386

Nach alledem ist festzustellen, dass

die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, dass sie die Disziplinarkammer, deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet sind, ermächtigt hat, in Sachen zu entscheiden, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirken, etwa zum einen in Sachen betreffend die Zustimmung dazu, dass Richter und Assessoren strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder festgenommen werden, und zum anderen in arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen betreffend die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sowie Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand;

die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie aus Art. 267 AEUV verstoßen hat, dass sie Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 1 bis 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht erlassen und beibehalten hat, wonach die Prüfung, ob die Anforderungen der Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht erfüllt sind, als Disziplinarvergehen gewertet werden kann;

die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen hat, dass sie Art. 42a §§ 1 und 2 sowie Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 26 § 3 und Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie Art. 8 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach allen nationalen Gerichten die Prüfung, ob die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen in Bezug auf die Gewährleistung eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts erfüllt sind, untersagt ist;

die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie aus Art. 267 AEUV und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen hat, dass sie Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sowie Art. 10 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach für die Prüfung von Rügen und Rechtsfragen betreffend die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters ausschließlich die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten zuständig ist;

die Republik Polen dadurch das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, wie sie in Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO niedergelegt sind, verletzt hat, dass sie Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit erlassen und beibehalten hat.

387

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen, d. h. soweit die Kommission mit ihrer ersten Rüge die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 267 AEUV begehrt.

Kosten

388

Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Republik Polen mit ihrem Vorbringen im Wesentlichen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten einschließlich der Kosten der Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aufzuerlegen.

389

Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, das Königreich der Niederlande, die Republik Finnland und das Königreich Schweden ihre eigenen Kosten.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Republik Polen hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen, dass sie die Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen), deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet sind, ermächtigt hat, in Sachen zu entscheiden, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirken, etwa zum einen in Sachen betreffend die Zustimmung dazu, dass Richter und Assessoren strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder festgenommen werden, und zum anderen in arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen betreffend die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sowie Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand.

 

2.

Die Republik Polen hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und aus Art. 267 AEUV verstoßen, dass sie Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 in der durch die Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung und Art. 72 § 1 Nrn. 1 bis 3 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 in der durch das Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung erlassen und beibehalten hat, wonach die Prüfung, ob die Anforderungen der Europäischen Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht erfüllt sind, als Disziplinarvergehen gewertet werden kann.

 

3.

Die Republik Polen hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen, dass sie Art. 42a §§ 1 und 2 sowie Art. 55 § 4 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit in der durch das vorgenannte Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung, Art. 26 § 3 und Art. 29 §§ 2 und 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der durch das Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung, Art. 5 §§ 1a und 1b der Ustawa – Prawo o ustroju sądów administracyjnych (Gesetz über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit) vom 25. Juli 2002 in der durch das Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung sowie Art. 8 des zuletzt genannten Gesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach allen nationalen Gerichten die Prüfung, ob die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen in Bezug auf die Gewährleistung eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts erfüllt sind, untersagt ist.

 

4.

Die Republik Polen hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie aus Art. 267 AEUV und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen, dass sie Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie Art. 82 §§ 2 bis 5 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der durch das vorgenannte Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung sowie Art. 10 des zuletzt genannten Gesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach für die Prüfung von Rügen und Rechtsfragen betreffend die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters ausschließlich die Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) zuständig ist.

 

5.

Die Republik Polen hat dadurch das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, wie sie in Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) niedergelegt sind, verletzt, dass sie Art. 88a des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit in der durch das vorgenannte Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung, Art. 45 § 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der durch das Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung und Art. 8 § 2 des Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der durch das Gesetz vom 20. Dezember 2019 geänderten Fassung erlassen und beibehalten hat.

 

6.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

 

7.

Die Republik Polen trägt neben ihren eigenen Kosten die der Europäischen Kommission entstandenen Kosten einschließlich der Kosten der Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes.

 

8.

Das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, das Königreich der Niederlande, die Republik Finnland und das Königreich Schweden tragen ihre eigenen Kosten.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.

( i ) Die vorliegende Sprachfassung ist in Rn. 100 gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.