URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

13. Oktober 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Nicht mehrwertsteuerpflichtige Umsätze – Zu Unrecht in Rechnung gestellte und entrichtete Mehrwertsteuer – Liquidation des Dienstleistungserbringers – Weigerung der Steuerverwaltung, dem Leistungsempfänger die rechtsgrundlos gezahlte Mehrwertsteuer zu erstatten – Grundsätze der Effektivität, der Steuerneutralität und der Nichtdiskriminierung“

In der Rechtssache C‑397/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) mit Entscheidung vom 25. Mai 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Juni 2021, in dem Verfahren

HUMDA Magyar Autó-Motorsport Fejlesztési Ügynökség Zrt.

gegen

Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen (Berichterstatter) und J. Passer,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der HUMDA Magyar Autó-Motorsport Fejlesztési Ügynökség Zrt., vertreten durch Gy. Hajdu, Ügyvéd,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Talabér-Ritz und V. Uher als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der HUMDA Magyar Autó-Motorsport Fejlesztési Ügynökség Zrt. (im Folgenden: Humda) und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Direktion für Rechtsbehelfsangelegenheiten der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: Rechtsbehelfsdirektion) betreffend die ablehnende Entscheidung der Rechtsbehelfsdirektion über den Antrag von Humda, ihr die Mehrwertsteuer zu erstatten, die ihr irrtümlich für einen in Ungarn nicht mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz, der ein in einem anderen Mitgliedstaat belegenes Grundstück betraf, in Rechnung gestellt worden war.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“

4

In Art. 168 Buchst. a dieser Richtlinie heißt es:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)

die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden“.

5

Art. 183 der Richtlinie lautet:

„Übersteigt der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der für einen Steuerzeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder nach den von ihnen festgeleg[t]en Einzelheiten erstatten.

Die Mitgliedstaaten können jedoch festlegen, dass geringfügige Überschüsse weder vorgetragen noch erstattet werden.“

Ungarisches Recht

6

In § 2 Buchst. a des Általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII. törvény (Gesetz Nr. CXXVII von 2007 über die allgemeine Umsatzsteuer) (Magyar Közlöny 2007/155 [XI. 16.]) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung heißt es:

„Aufgrund dieses Gesetzes sind Steuern zu zahlen:

a)

für die durch den Steuerpflichtigen – in dieser Eigenschaft – im Inland und gegen Entgelt durchgeführte Lieferung von Gegenständen und Erbringung von Dienstleistungen“.

7

§ 39 dieses Gesetzes sieht vor:

„(1)   Bei unmittelbar mit Grundstücken verbundenen Dienstleistungen ist der Erfüllungsort der Ort, an dem das Grundstück belegen ist.

(2)   Zu den in Absatz 1 erwähnten, unmittelbar mit Grundstücken verbundenen Dienstleistungen gehören insbesondere Dienstleistungen von Immobilienmaklern und ‑sachverständigen, Dienstleistungen der gewerblichen Beherbergung, Übertragung von Rechten an der Nutzung von Immobilien sowie Dienstleistungen zur Vorbereitung oder Koordinierung der Ausführung von Bauleistungen.“

8

§ 64 Abs. 3 des Adózás rendjéről szóló 2017. évi CL. törvény (Gesetz Nr. CL von 2017 über die Besteuerungsordnung, im Folgenden: Besteuerungsordnung) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:

„Abweichend von Absatz 1 ist die allgemeine Umsatzsteuer, deren Erstattung beantragt wurde, unter der Voraussetzung, dass der Steuerzahler seinen Anweisungsanspruch nicht in der die Liquidation (vereinfachte Liquidation) oder die Abwicklung (vereinfachte Abwicklung) abschließenden Steuererklärung geltend macht, innerhalb von 45 Tagen ab dem Tag des Eingangs der Erklärung anzuweisen, wenn der zurückzuerstattende Steuerbetrag eine Million [ungarische Forint (HUF) (ca. 2500 Euro)] überschreitet, frühestens jedoch innerhalb von 30 Tagen ab Fälligkeit, sofern der Steuerzahler den Betrag – einschließlich Steuer – des in der Rechnung ausgewiesenen Gegenwerts für jeden Umsatz – dessen Erzielung durch Rechnung(en) belegt ist, auf deren Grundlage er im Veranlagungszeitraum sein Recht auf Vorsteuerabzug ausübt –, der die Rechtsgrundlage für die Abwälzung der Steuer bildet, bis zum Tag der Einreichung der Erklärung in voller Höhe gezahlt hat oder seine Steuerschuld auf andere Weise erloschen ist, und der Steuerzahler in der Steuererklärung angibt, dass diese Voraussetzung erfüllt ist. Wird gegenüber einem Steuerzahler, über den ein Liquidationsverfahren eröffnet wurde, während dieser Frist im Zusammenhang mit der beantragten Haushaltszuwendung eine Steuerprüfung eingeleitet oder durchgeführt, ist die Frist für die Anweisung der Haushaltszuwendung ab der Bestandskraft des Bescheids über die Prüfungsergebnisse zu berechnen. Für die Anwendung dieser Bestimmung gilt der Gegenwert als gezahlt, wenn er lediglich aufgrund einer im Vertrag vorher vereinbarten Erfüllungsgarantie zurückbehalten wird.“

9

§ 65 Abs. 1 der Besteuerungsordnung sieht vor:

„Führt die Steuerbehörde die Anweisung verspätet durch, zahlt sie für jeden Tag des Verzugs in Höhe des Säumniszuschlags Zinsen. Trotz der verspäteten Anweisung stehen keine Zinsen zu, wenn der Anspruch (Anmeldung) von mehr als 30 % des beanspruchten (angemeldeten) Betrags unberechtigt ist oder ein Versäumnis des Steuerzahlers oder der auskunftspflichtigen Person die Auszahlung verhindert.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10

Die Rechtsvorgängerin von Humda beauftragte die „BHA“ Bíró Hűtéstechnikai és Acélszerkezetgyártó Ipari Kft. (im Folgenden: BHA) mit der Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen des Projekts zur Errichtung des ungarischen Pavillons bei der Weltausstellung von 2015 in Mailand (Italien) (im Folgenden: streitige Erbringung von Dienstleistungen). Für diese Dienstleistungen stellte BHA neun Rechnungen einschließlich Mehrwertsteuer in Höhe von insgesamt 486620000 HUF (etwa 1230500 Euro) aus. Diese Rechnungen wurden von der Rechtsvorgängerin von Humda bezahlt, und die in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer wurde von BHA an die ungarische Steuerverwaltung abgeführt. Diese stellte bei einer Prüfung fest, dass nach den ungarischen Rechtsvorschriften für die fragliche Mehrwertsteuer in Ungarn keine Steuerschuld bestanden habe, da sich die streitige Erbringung von Dienstleistungen auf ein in Italien belegenes Grundstück bezogen habe. Folglich sei die fragliche Mehrwertsteuer irrtümlich in Rechnung gestellt worden.

11

Zur Wiedererlangung des rechtsgrundlos gezahlten Mehrwertsteuerbetrags stellte Humda bei der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Észak-Budapesti Adó- és Vámigazgatóság (Steuer- und Zollverwaltung Budapest-Nord der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer in Höhe von 126248760 HUF (etwa 320000 Euro) zuzüglich Zinsen. Humda machte geltend, sie sei zwar berechtigt, vom Rechnungsaussteller – der anschließend seine Angaben gegenüber der zuständigen Steuerbehörde berichtigen müsste – die Erstattung dieses Betrags auf dem Zivilrechtsweg zu verlangen, jedoch habe sie im vorliegenden Fall feststellen müssen, dass über BHA ein Liquidationsverfahren eröffnet worden sei und ihre Forderung nach Auskunft des Liquidators von BHA uneinbringlich sei.

12

Nachdem ihr Antrag und das anschließend bei der Rechtsbehelfsdirektion eingelegte Rechtsmittel zurückgewiesen worden waren, erhob Humda Klage beim vorlegenden Gericht, dem Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn), und beantragte im Wesentlichen die Abänderung oder Aufhebung der Entscheidung der Rechtsbehelfsdirektion. Dieser Klageantrag beruht nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen im Wesentlichen auf den Urteilen des Gerichtshofs vom 26. April 2017, Farkas (C‑564/15, EU:C:2017:302), und vom 11. April 2019, PORR Építési Kft. (C‑691/17, EU:C:2019:327).

13

Nach Ansicht der Rechtsbehelfsdirektion sind diese Urteile nicht einschlägig, da im vorliegenden Fall die streitige Erbringung von Dienstleistungen nicht im ungarischen Hoheitsgebiet stattgefunden und Humda kein Recht auf Vorsteuerabzug verschafft habe. Im Übrigen habe Humda ihr Recht auf Vorsteuerabzug nicht ausüben wollen. In den von dieser Gesellschaft angeführten Urteilen habe sich der Gerichtshof zur rechtsgrundlosen Zahlung der Mehrwertsteuer durch Dienstleistungsempfänger an Dienstleistungserbringer aufgrund von Rechnungen geäußert, die fälschlicherweise gemäß der gewöhnlichen Mehrwertsteuerregelung ausgestellt worden seien, obwohl der betreffende Umsatz dem Reverse-Charge-Verfahren (Verlagerung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger) unterlegen habe. Die Rechtsbehelfsdirektion macht geltend, dass die streitige Erbringung von Dienstleistungen nicht in den Anwendungsbereich der ungarischen Mehrwertsteuervorschriften falle und daher die von Humda beantragte Erstattung nicht erfolgen könne.

14

Das vorlegende Gericht fragt sich angesichts der genannten Urteile, ob die anwendbaren nationalen Bestimmungen und die nationale Verwaltungspraxis mit der Mehrwertsteuerrichtlinie, insbesondere mit den Grundsätzen der Effektivität und der Neutralität der Mehrwertsteuer sowie dem Diskriminierungsverbot vereinbar sind. Im vorliegenden Fall sei die Wiedererlangung der rechtsgrundlos entrichteten Mehrwertsteuer auf dem Zivilrechtsweg unmöglich oder übermäßig schwierig, da erstens über BHA zwischenzeitlich ein Liquidationsverfahren eröffnet worden sei, zweitens der Liquidator von BHA erklärt habe, dass es ihm nicht möglich sei, die seinerzeit von BHA ausgestellte Rechnung zu ändern, drittens BHA die Erstattung der rechtsgrundlos gezahlten Steuer nicht beantragt habe, viertens Humda dennoch einen Zivilrechtsstreit gegen die ungarische Steuerbehörde eingeleitet habe, fünftens unbestreitbar sei, dass die Mehrwertsteuer an den Fiskus abgeführt worden sei und sechstens keinerlei Betrugsverdacht bestehe.

15

Ferner fragt sich das vorlegende Gericht, ob die ungarische Steuerverwaltung Humda Verzugszinsen auf den Erstattungsbetrag zu zahlen habe, sofern diese einen Erstattungsantrag unmittelbar an sie richten könne, und, wenn ja, welche Fristen hierfür zu berücksichtigen seien.

16

Unter diesen Umständen hat der Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie und damit zusammenhängend die Grundsätze, insbesondere die Grundsätze der Effektivität und der Steuerneutralität, dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung und einer darauf aufbauenden nationalen Praxis entgegenstehen, nach der in einer Situation, in der ein Steuerpflichtiger über einen mehrwertsteuerbefreiten Umsatz irrtümlich eine Rechnung mit Mehrwertsteuer ausstellt, der Rechnungsempfänger diese Mehrwertsteuer an den Rechnungsaussteller zahlt und der Rechnungsaussteller diese nachweisbar an den Fiskus abführt, die mitgliedstaatliche Steuerbehörde diese Mehrwertsteuer weder an den Rechnungsaussteller noch an den Rechnungsempfänger erstattet?

2.

Sind in dem Fall, dass die vorstehende Frage vom Gerichtshof bejaht wird, die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie und damit zusammenhängend die Grundsätze, insbesondere die Grundsätze der Effektivität, der Steuerneutralität und des Diskriminierungsverbots, dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die es in dem in der vorstehenden Frage beschriebenen Fall in keiner Weise ermöglicht, dass sich der Rechnungsempfänger mit seinem Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer unmittelbar an die mitgliedstaatliche Steuerbehörde wenden kann, oder dies nur dann ermöglicht, wenn die Wiedererlangung des dem in Rede stehenden Mehrwertsteuerbetrag entsprechenden Betrags auf dem Zivilrechtsweg unmöglich oder übermäßig schwierig ist, insbesondere dann, wenn inzwischen eine Liquidation des Rechnungsausstellers durchgeführt wird?

3.

Ist in dem Fall, dass die vorstehende Frage vom Gerichtshof bejaht wird, die Steuerbehörde eines Mitgliedstaats verpflichtet, über die zu erstattende Mehrwertsteuer hinaus Zinsen zu zahlen, und, wenn ja, für welchen Zeitraum gilt diese Verpflichtung, und gelten dafür die allgemeinen Bestimmungen über die Mehrwertsteuererstattung?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten und zur zweiten Frage

17

Mit seinen ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht der Grundsätze der Effektivität und der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin auszulegen ist, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein Steuerpflichtiger, dem ein anderer Steuerpflichtiger eine Dienstleistung erbracht hat, die Erstattung der Mehrwertsteuer, die dieser Dienstleistungserbringer ihm zu Unrecht in Rechnung gestellt und an den Fiskus abgeführt hat, nicht unmittelbar von der Steuerverwaltung verlangen kann, obwohl die Wiedererlangung des fraglichen Betrags vom Dienstleistungserbringer unmöglich oder übermäßig schwierig ist, weil über diesen ein Liquidationsverfahren eröffnet wurde.

18

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer, der im Mittelpunkt des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems steht, durch den Mechanismus des Rechts auf Vorsteuerabzug gewährleistet wird, mit dem der Unternehmer vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeiten geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden soll und das auf diese Weise die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis gewährleistet, sofern diese Tätigkeiten selbst grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2021, Tribunal Económico Administrativo Regional de Galicia, C‑521/19, EU:C:2021:527, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zwar geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen nicht ausdrücklich hervor, dass Humda für die irrtümlich in Rechnung gestellte und entrichtete Mehrwertsteuer ein Recht auf Vorsteuerabzug zustand. Da sich das vorlegende Gericht in seinen ersten beiden Fragen jedoch auf den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer bezieht, ist vorbehaltlich der Überprüfung durch dieses Gericht davon auszugehen, dass Humda oder deren Rechtsvorgängerin für diese Mehrwertsteuer ein Recht auf Vorsteuerabzug hatte.

19

Ausgehend von dieser Prämisse ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung, da die Mehrwertsteuerrichtlinie keine Bestimmung über die Berichtigung zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer durch den Rechnungsaussteller enthält, grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen eine solche Mehrwertsteuer berichtigt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken, C‑35/05, EU:C:2007:167, Rn. 38, sowie vom 2. Juli 2020, Terracult, C‑835/18, EU:C:2020:520, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20

Es ist Aufgabe der Mitgliedstaaten, zur Gewährleistung der Neutralität der Mehrwertsteuer in ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung die Möglichkeit vorzusehen, jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer zu berichtigen, wenn der Rechnungsaussteller seinen guten Glauben nachweist (Urteil vom 2. Juli 2020, Terracult, C‑835/18, EU:C:2020:520, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21

Zudem ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass ein nationales System, in dem zum einen der Dienstleistungserbringer, der die Mehrwertsteuer irrtümlich an die Steuerbehörden abgeführt hat, deren Erstattung verlangen kann und zum anderen der Dienstleistungsempfänger gegen diesen Dienstleistungserbringer eine zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung einer nicht geschuldeten Leistung erheben kann, die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivität beachtet. Denn ein solches System ermöglicht es dem Dienstleistungsempfänger, der mit der irrtümlich in Rechnung gestellten Steuer belastet war, die rechtsgrundlos gezahlten Beträge erstattet zu bekommen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken, C‑35/05, EU:C:2007:167, Rn. 39).

22

Wird die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig schwierig, insbesondere im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Dienstleistungserbringers, gebieten die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivität, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel vorsehen, die es dem Dienstleistungsempfänger ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte und bezahlte Steuer erstattet zu bekommen, insbesondere indem er seinen Erstattungsantrag unmittelbar an die Steuerbehörden richtet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken, C‑35/05, EU:C:2007:167, Rn. 41, und vom 11. April 2019, PORR Építési Kft., C‑691/17, EU:C:2019:327, Rn. 48).

23

Der Gerichtshof hat daraus abgeleitet, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen müssen, die es dem Dienstleistungsempfänger ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen, damit der Grundsatz der Effektivität gewahrt wird (Urteil vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken, C‑35/05, EU:C:2007:167, Rn. 41).

24

Vorbehaltlich der in Rn. 18 des vorliegenden Urteils dargelegten einleitenden Erwägungen ist diese Rechtsprechung auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens übertragbar. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht nämlich zum einen hervor, dass sich die streitige Erbringung von Dienstleistungen auf ein Grundstück bezog, das in einem anderen Mitgliedstaat als dem belegen war, in dem die Mehrwertsteuer irrtümlich entrichtet wurde. In der Rechtssache, in der das Urteil vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken (C‑35/05, EU:C:2007:167), ergangen ist, waren die Dienstleistungen im betreffenden Mitgliedstaat ebenfalls nicht mehrwertsteuerpflichtig, weil sie in einem anderen Mitgliedstaat erbracht worden waren. Zum anderen geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass im vorliegenden Fall weder Missbrauch noch Betrug vorlag, da der Dienstleistungsempfänger und der Dienstleistungserbringer beide gutgläubig waren. Folglich gilt für das Ausgangsverfahren wie für die Rechtssache, in der das soeben genannte Urteil ergangen ist, dass keine Gefahr eines Steuerausfalls besteht und es für den Dienstleistungsempfänger unmöglich oder übermäßig schwierig ist, vom Dienstleistungserbringer die rechtsgrundlos gezahlte Mehrwertsteuer erstattet zu bekommen, da über diesen zwischenzeitlich ein Liquidationsverfahren eröffnet wurde.

25

Entgegen dem Vorbringen der ungarischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen kann die Übertragbarkeit der auf das Urteil vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken (C‑35/05, EU:C:2007:167), zurückgehenden Rechtsprechung auf die vorliegende Rechtssache nicht mit der Begründung in Frage gestellt werden, dass der Ausgangsrechtsstreit nicht das Recht des Dienstleistungsempfängers auf Vorsteuerabzug betreffe. Der Gerichtshof hat nämlich in jenem Urteil keine solche Differenzierung vorgenommen, sondern eine allgemein gehaltene Aussage getroffen. Zudem ging es in jenem Urteil wie im vorliegenden Fall um eine Leistung, die im Mitgliedstaat, in dem diese Steuer in Rechnung gestellt worden war und an dessen Haushalt sie entrichtet worden war, nicht der Mehrwertsteuer unterlag.

26

Allerdings ist hinzuzufügen, dass die Mitgliedstaaten das Recht haben, Strafen vorzusehen, um die Steuerpflichtigen zur Einhaltung der von ihnen zu beachtenden formellen Anforderungen anzuhalten, und damit das ordnungsgemäße Funktionieren des Mehrwertsteuersystems zu gewährleisten. So könnte einem Steuerpflichtigen, dessen Antrag auf Erstattung der rechtsgrundlos entrichteten Mehrwertsteuer auf seine eigene Nachlässigkeit zurückzuführen ist, eine Geldbuße auferlegt werden (Urteil vom 2. Juli 2020, Terracult, C‑835/18, EU:C:2020:520, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Insoweit hat der Gerichtshof klargestellt, dass im Fall der Feststellung einer Nachlässigkeit des Steuerpflichtigen, die den nationalen Gerichten obliegt, der betreffende Mitgliedstaat Mittel anwenden muss, die es erlauben, das mit der nationalen Regelung verfolgte Ziel wirksam zu erreichen, dabei aber die Grundsätze des Unionsrechts, wie den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer, möglichst wenig beeinträchtigen. Aufgrund des Stellenwerts dieses Grundsatzes im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem erscheint eine Strafe, die einer absoluten Verwehrung des Rechts auf Erstattung der fälschlich in Rechnung gestellten und entrichteten Mehrwertsteuer entspricht, unangemessen (Urteil vom 2. Juli 2020, Terracult, C‑835/18, EU:C:2020:520, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen durchaus ein Ziel ist, das von der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt und gefördert wird. Dementsprechend hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist. Daher haben die nationalen Behörden und Gerichte die Inanspruchnahme des Rechts auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten und entrichteten Mehrwertsteuer zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Juli 2016, Astone, C‑332/15, EU:C:2016:614, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29

Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht jedoch hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung, wie sie von der ungarischen Steuerverwaltung angewandt wird, letztlich darauf hinausläuft, dem Dienstleistungsempfänger unter den in der ersten Frage beschriebenen Umständen die Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten und gezahlten Mehrwertsteuer zu verweigern, ohne dass eine Gefahr von Betrug oder Missbrauch seitens der betroffenen Steuerpflichtigen vorläge. Folglich ist diese Regelung, vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen, unverhältnismäßig.

30

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht der Grundsätze der Effektivität und der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin auszulegen ist, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein Steuerpflichtiger, dem ein anderer Steuerpflichtiger eine Dienstleistung erbracht hat, die Erstattung der Mehrwertsteuer, die dieser Dienstleistungserbringer ihm zu Unrecht in Rechnung gestellt und an den Fiskus abgeführt hat, nicht unmittelbar von der Steuerverwaltung verlangen kann, obwohl die Wiedererlangung des fraglichen Betrags vom Dienstleistungserbringer unmöglich oder übermäßig schwierig ist, weil über diesen ein Liquidationsverfahren eröffnet wurde, und obwohl diesen beiden Steuerpflichtigen weder Betrug noch Missbrauch vorgeworfen kann, so dass für den betreffenden Mitgliedstaat keine Gefahr eines Steuerausfalls besteht.

Zur dritten Frage

31

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass in dem Fall, dass ein Steuerpflichtiger, dem ein anderer Steuerpflichtiger eine Dienstleistung erbracht hat, die Erstattung der Mehrwertsteuer, die dieser Dienstleistungserbringer ihm zu Unrecht in Rechnung gestellt und an den Fiskus abgeführt hat, unmittelbar von der Steuerverwaltung verlangen kann, die Steuerverwaltung verpflichtet ist, Zinsen auf den fraglichen Betrag zu zahlen, und, wenn ja, für welchen Zeitraum und nach welchen Modalitäten.

32

Was die Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, dass der Einzelne, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht Steuern erhoben hat, Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer, sondern auch der Beträge hat, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind. Darunter fallen auch die Einbußen aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Geldbeträgen infolge der vorzeitigen Fälligkeit der Steuer. Folglich ergibt sich der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuerbeträge zuzüglich Zinsen zu erstatten, aus dem Unionsrecht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 25 und 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Ferner kommt es in Ermangelung einer Regelung der Union der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zu, die Bedingungen für die Zahlung solcher Zinsen, insbesondere den Zinssatz und die Berechnungsmethode für die Zinsen (einfache Verzinsung oder Zahlung von Zinseszinsen), festzulegen. Diese Bedingungen müssen den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität entsprechen, d. h. sie dürfen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Forderungen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (Urteil vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Die ungarische Steuerverwaltung hat im Ausgangsverfahren die Zahlung der fraglichen Mehrwertsteuer jedoch nicht unter Verstoß gegen das Unionsrecht, sondern gemäß Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie verlangt, der bestimmt, dass „[d]ie Mehrwertsteuer … von jeder Person geschuldet [wird], die diese Steuer in einer Rechnung ausweist“, so dass eine irrtümlich in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer geschuldet wird. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird die in einer Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer nämlich vom Aussteller dieser Rechnung geschuldet, auch wenn jeder tatsächlich steuerpflichtige Umsatz fehlt (Urteil vom 8. Mai 2019, EN.SA., C‑712/17, EU:C:2019:374, Rn. 26).

35

Daher kann im vorliegenden Fall nicht davon ausgegangen werden, dass die Mehrwertsteuer „unter Verstoß gegen das Unionsrecht“ im Sinne des Urteils vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a. (C‑591/10, EU:C:2012:478), erhoben wurde. Aus diesem Urteil lassen sich also keine Erkenntnisse darüber gewinnen, inwieweit die Steuerverwaltung in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens Zinsen zahlen muss.

36

Da aber, wie sich aus der Antwort auf die ersten beiden Fragen ergibt, die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, eine Möglichkeit vorzusehen, die Mehrwertsteuer, die einem vorsteuerabzugsberechtigten Steuerpflichtigen irrtümlich in Rechnung gestellt und von ihm entrichtet wurde, zu berichtigen oder zu erstatten, insbesondere wenn für den betreffenden Mitgliedstaat keine Gefahr eines Steuerausfalls besteht, und da sich eine solche Erstattung einer Mehrwertsteuerforderung ihrem Wesen nach mit einem „Mehrwertsteuerüberschuss“ im Sinne von Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie vergleichen lässt, ist in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens diese Bestimmung heranzuziehen.

37

Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität – auch wenn Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie weder eine Pflicht zur Zahlung von Zinsen auf den zu erstattenden Vorsteuerüberschuss vorsieht noch angibt, ab wann solche Zinsen zu zahlen sind – verlangt, dass die finanziellen Verluste, die dadurch entstehen, dass ein Vorsteuerüberschuss nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet wird, durch die Zahlung von Verzugszinsen ausgeglichen werden (Urteil vom 12. Mai 2021, technoRent International u. a., C‑844/19, EU:C:2021:378, Rn. 40).

38

In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Erstattung der durch den Dienstleistungserbringer irrtümlich in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer aufgrund der Tatsache, dass über diesen ein Liquidationsverfahren eröffnet wurde, unmöglich oder übermäßig schwierig ist, erleidet der steuerpflichtige Dienstleistungsempfänger, der eine nicht geschuldete Mehrwertsteuer entrichtet hat, bis zur Erstattung dieser Mehrwertsteuer aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit des dieser Steuer entsprechenden Betrags einen finanziellen Schaden. Erstattet die Steuerverwaltung unter solchen Umständen diese rechtsgrundlos gezahlte Mehrwertsteuer nicht innerhalb einer angemessenen Frist, nachdem der Steuerpflichtige einen entsprechenden Antrag mit der Begründung gestellt hat, dass die Wiedererlangung des rechtsgrundlos an den Dienstleistungserbringer gezahlten Betrags unmöglich oder übermäßig schwierig sei, so begründet dies einen Verstoß gegen den Grundsatz der Steuerneutralität.

39

Bezüglich der Modalitäten der Festsetzung von Zinsen im Fall der Erstattung zu Unrecht in Rechnung gestellter und entrichteter Mehrwertsteuer ergibt sich aus Rn. 33 des vorliegenden Urteils, dass diese Modalitäten mangels einer entsprechenden Bestimmung der Mehrwertsteuerrichtlinie in den Bereich der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten fallen, die durch die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität begrenzt ist.

40

Was den Grundsatz der Effektivität anbelangt, der allein im vorliegenden Fall relevant ist, so verlangt dieser, dass nationale Vorschriften, insbesondere über die Berechnung etwaig geschuldeter Zinsen, nicht dazu führen, dass dem Steuerpflichtigen eine angemessene Entschädigung für die Einbußen vorenthalten wird, die durch eine nicht innerhalb einer angemessenen Frist erfolgende Erstattung der Mehrwertsteuer entstanden sind. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob dies unter Berücksichtigung aller Umstände des Ausgangsverfahrens der Fall ist.

41

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sowohl die nationalen Verwaltungsbehörden als auch die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden haben, gehalten sind, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen (Urteil vom 12. Mai 2021, technoRent International u. a., C‑844/19, EU:C:2021:378, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung), und zwar gegebenenfalls durch eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts.

42

Nach der Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts obliegt es dem nationalen Gericht, das gesamte nationale Recht zu berücksichtigen, um zu beurteilen, inwieweit es so angewandt werden kann, dass kein dem Unionsrecht widersprechendes Ergebnis erzielt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Mai 2021, technoRent International u. a., C‑844/19, EU:C:2021:378, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Allerdings bestehen für den Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmte Grenzen. Die Verpflichtung eines nationalen Gerichts, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts den Inhalt des Unionsrechts heranzuziehen, ist nämlich durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze – zu denen auch der Grundsatz der Rechtssicherheit gehört – begrenzt und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (Urteil vom 12. Mai 2021, technoRent International u. a., C‑844/19, EU:C:2021:378, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Im vorliegenden Fall wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob es möglich ist, unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts, gegebenenfalls auch unter analoger Anwendung seiner Bestimmungen, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten.

45

Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin auszulegen ist, dass in dem Fall, dass ein Steuerpflichtiger, dem ein anderer Steuerpflichtiger eine Dienstleistung erbracht hat, die Erstattung der Mehrwertsteuer, die dieser Dienstleistungserbringer ihm zu Unrecht in Rechnung gestellt und an den Fiskus abgeführt hat, unmittelbar von der Steuerverwaltung verlangen kann, die Steuerverwaltung verpflichtet ist, Zinsen auf den fraglichen Betrag zu zahlen, wenn sie diese Erstattung nicht innerhalb angemessener Frist nach entsprechender Aufforderung vorgenommen hat. Die Modalitäten der Festsetzung von Zinsen auf diesen Betrag fallen in den Bereich der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, die durch die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität begrenzt ist, wobei die nationalen Vorschriften – insbesondere über die Berechnung der gegebenenfalls geschuldeten Zinsen – aber nicht dazu führen dürfen, dass dem Steuerpflichtigen eine angemessene Entschädigung für die Einbußen vorenthalten wird, die durch die verspätete Erstattung dieses Betrags entstanden sind. Dem vorlegenden Gericht obliegt es, alles in seiner Zuständigkeit Liegende zu tun, um die volle Wirksamkeit von Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie durch eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts zu gewährleisten.

Kosten

46

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist im Licht der Grundsätze der Effektivität und der Neutralität der Mehrwertsteuer

dahin auszulegen, dass

sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein Steuerpflichtiger, dem ein anderer Steuerpflichtiger eine Dienstleistung erbracht hat, die Erstattung der Mehrwertsteuer, die dieser Dienstleistungserbringer ihm zu Unrecht in Rechnung gestellt und an den Fiskus abgeführt hat, nicht unmittelbar von der Steuerverwaltung verlangen kann, obwohl die Wiedererlangung des fraglichen Betrags vom Dienstleistungserbringer unmöglich oder übermäßig schwierig ist, weil über diesen ein Liquidationsverfahren eröffnet wurde, und obwohl diesen beiden Steuerpflichtigen weder Betrug noch Missbrauch vorgeworfen kann, so dass für den betreffenden Mitgliedstaat keine Gefahr eines Steuerausfalls besteht.

 

2.

Art. 183 der Richtlinie 2006/112 ist im Licht des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer

dahin auszulegen, dass

in dem Fall, dass ein Steuerpflichtiger, dem ein anderer Steuerpflichtiger eine Dienstleistung erbracht hat, die Erstattung der Mehrwertsteuer, die dieser Dienstleistungserbringer ihm zu Unrecht in Rechnung gestellt und an den Fiskus abgeführt hat, unmittelbar von der Steuerverwaltung verlangen kann, die Steuerverwaltung verpflichtet ist, Zinsen auf den fraglichen Betrag zu zahlen, wenn sie diese Erstattung nicht innerhalb angemessener Frist nach entsprechender Aufforderung vorgenommen hat. Die Modalitäten der Festsetzung von Zinsen auf diesen Betrag fallen in den Bereich der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, die durch die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität begrenzt ist, wobei die nationalen Vorschriften – insbesondere über die Berechnung der gegebenenfalls geschuldeten Zinsen – aber nicht dazu führen dürfen, dass dem Steuerpflichtigen eine angemessene Entschädigung für die Einbußen vorenthalten wird, die durch die verspätete Erstattung dieses Betrags entstanden sind. Dem vorlegenden Gericht obliegt es, alles in seiner Zuständigkeit Liegende zu tun, um die volle Wirksamkeit von Art. 183 der Richtlinie 2006/112 durch eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts zu gewährleisten.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.