URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

10. März 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Einwanderungspolitik – Richtlinie 2008/115/EG – Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Art. 16 Abs. 1 – Unmittelbare Wirkung – Spezielle Hafteinrichtung – Begriff – Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt – Voraussetzungen – Art. 18 – Notlage – Begriff – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz“

In der Rechtssache C‑519/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Hannover (Deutschland) mit Entscheidung vom 12. Oktober 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Oktober 2020, in dem Verfahren gegen

K,

Beteiligter:

Landkreis Gifhorn,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan, der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe in Wahrnehmung der Aufgaben einer Richterin der Fünften Kammer, des Präsidenten der Vierten Kammer C. Lycourgos (Berichterstatter) sowie der Richter I. Jarukaitis und M. Ilešič,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. September 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von K, vertreten durch Rechtsanwalt P. Fahlbusch und Rechtsanwältin B. Böhlo,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und H. Leupold als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. November 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 und Art. 18 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

2

Es ergeht im Rahmen eines Abschiebungsverfahrens gegen K über die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftnahme in der Justizvollzugsanstalt Hannover, Abteilung Langenhagen (Deutschland).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 3, 13 und 16 der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„(3)

Das Ministerkomitee des Europarates hat am 4. Mai 2005‚20 Leitlinien zur Frage der erzwungenen Rückkehr‘ angenommen.

(13)

Der Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele ausdrücklich den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Wirksamkeit unterliegen. Für den Fall einer Rückführung sollten Mindestverhaltensregeln aufgestellt werden; dabei ist die Entscheidung 2004/573/EG des Rates vom 29. April 2004 betreffend die Organisation von Sammelflügen zur Rückführung von Drittstaatsangehörigen, die individuellen Rückführungsmaßnahmen unterliegen, aus dem Hoheitsgebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten [(ABl. 2004, L 261, S. 8)] zu berücksichtigen. Die Mitgliedstaaten sollten über verschiedene Möglichkeiten verfügen, Rückführungen zu überwachen.

(16)

Das Mittel der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung sollte nur begrenzt zum Einsatz kommen und sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegen. Eine Inhaftnahme ist nur gerechtfertigt, um die Rückkehr vorzubereiten oder die Abschiebung durchzuführen und wenn weniger intensive Zwangsmaßnahmen ihren Zweck nicht erfüllen.“

4

Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)

Fluchtgefahr besteht oder

b)

die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.“

5

Art. 16 der Richtlinie bestimmt:

„(1)   Die Inhaftierung erfolgt grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Sind in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so werden in Haft genommene Drittstaatsangehörige gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht.

(2)   In Haft genommenen Drittstaatsangehörigen wird auf Wunsch gestattet, zu gegebener Zeit mit Rechtsvertretern, Familienangehörigen und den zuständigen Konsularbehörden Kontakt aufzunehmen.

(3)   Besondere Aufmerksamkeit gilt der Situation schutzbedürftiger Personen. Medizinische Notfallversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten wird gewährt.

(4)   Einschlägig tätigen zuständigen nationalen und internationalen Organisationen sowie nicht-staatlichen Organisationen wird ermöglicht, in Absatz 1 genannte Hafteinrichtungen zu besuchen, soweit diese Einrichtungen für die Inhaftnahme von Drittstaatsangehörigen gemäß diesem Kapitel genutzt werden. Solche Besuche können von einer Genehmigung abhängig gemacht werden.

(5)   In Haft genommene Drittstaatsangehörige müssen systematisch Informationen erhalten, in denen die in der Einrichtung geltenden Regeln erläutert und ihre Rechte und Pflichten dargelegt werden. Diese Information schließt eine Unterrichtung über ihren nach einzelstaatlichem Recht geltenden Anspruch auf Kontaktaufnahme mit den in Absatz 4 genannten Organisationen und Stellen ein.“

6

Art. 17 der Richtlinie lautet:

„(1)   Bei unbegleiteten Minderjährigen und Familien mit Minderjährigen wird Haft nur im äußersten Falle und für die kürzestmögliche angemessene Dauer eingesetzt.

(2)   Bis zur Abschiebung in Haft genommene Familien müssen eine gesonderte Unterbringung erhalten, die ein angemessenes Maß an Privatsphäre gewährleistet.

(3)   In Haft genommene Minderjährige müssen die Gelegenheit zu Freizeitbeschäftigungen einschließlich altersgerechter Spiel- und Erholungsmöglichkeiten und, je nach Dauer ihres Aufenthalts, Zugang zur Bildung erhalten.

(4)   Unbegleitete Minderjährige müssen so weit wie möglich in Einrichtungen untergebracht werden, die personell und materiell zur Berücksichtigung ihrer altersgemäßen Bedürfnisse in der Lage sind.

(5)   Dem Wohl des Kindes ist im Zusammenhang mit der Abschiebehaft bei Minderjährigen Vorrang einzuräumen.“

7

In Art. 18 („Notlagen“) der Richtlinie heißt es:

„(1)   Führt eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen eines Mitgliedstaats oder seines Verwaltungs- oder Justizpersonals, so kann der betreffende Mitgliedstaat, solange diese außergewöhnliche Situation anhält, die für die gerichtliche Überprüfung festgelegten Fristen über die in Artikel 15 Absatz 2 Unterabsatz 3 genannten Fristen hinaus verlängern und dringliche Maßnahmen in Bezug auf die Haftbedingungen ergreifen, die von den Haftbedingungen nach den Artikeln 16 Absatz 1 und 17 Absatz 2 abweichen.

(2)   Ein Mitgliedstaat, der auf diese außergewöhnlichen Maßnahmen zurückgreift, setzt die Kommission davon in Kenntnis. Er unterrichtet die Kommission ebenfalls, sobald die Gründe für die Anwendung dieser außergewöhnlichen Maßnahmen nicht mehr vorliegen.

(3)   Dieser Artikel ist nicht so auszulegen, als gestatte er den Mitgliedstaaten eine Abweichung von ihrer allgemeinen Verpflichtung, alle geeigneten – sowohl allgemeinen als auch besonderen – Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass sie ihren aus dieser Richtlinie hervorgehenden Verpflichtungen nachkommen.“

Deutsches Recht

8

§ 62a Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2008 I S. 162) lautete in seiner vom 29. Juli 2017 bis zum 20. August 2019 anwendbaren Fassung (im Folgenden: AufenthaltsG):

„Die Abschiebungshaft wird grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen. Sind spezielle Hafteinrichtungen im Bundesgebiet nicht vorhanden oder geht von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit aus, kann sie in sonstigen Haftanstalten vollzogen werden; die Abschiebungsgefangenen sind in diesem Fall getrennt von Strafgefangenen unterzubringen.“

9

Art. 1 Nr. 22 des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl. 2019 I S. 1294, im Folgenden: Gesetz vom 15. August 2019) sieht vor:

„§ 62a Absatz 1 [AufenhaltsG] wird wie folgt gefasst:

‚Abschiebungsgefangene sind getrennt von Strafgefangenen unterzubringen. Werden mehrere Angehörige einer Familie inhaftiert, so sind diese getrennt von den übrigen Abschiebungsgefangenen unterzubringen. Ihnen ist ein angemessenes Maß an Privatsphäre zu gewährleisten.‘“

10

Art. 6 dieses Gesetzes bestimmt:

„Weitere Änderung des Aufenthaltsgesetzes zum 1. Juli 2022

§62a Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes … wird wie folgt gefasst:

‚Die Abschiebungshaft wird grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen. Sind spezielle Hafteinrichtungen im Bundesgebiet nicht vorhanden oder geht von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit aus, kann sie in sonstigen Haftanstalten vollzogen werden; die Abschiebungsgefangenen sind in diesem Fall getrennt von Strafgefangenen unterzubringen. Werden mehrere Angehörige einer Familie inhaftiert, so sind diese getrennt von den übrigen Abschiebungsgefangenen unterzubringen. Ihnen ist ein angemessenes Maß an Privatsphäre zu gewährleisten.‘“

11

In Art. 8 des Gesetzes vom 15. August 2019 heißt es:

„Inkrafttreten

(1) Dieses Gesetz tritt vorbehaltlich des Absatzes 2 am Tag nach der Verkündung in Kraft.

(2) Artikel 6 tritt am 1. Juli 2022 in Kraft.“

12

In der Begründung des Entwurfs zum Gesetz vom 15. August 2019 wurde u. a. ausgeführt:

„Durch die Änderung des § 62a Absatz 1 sind Abschiebungshaftgefangene vorübergehend nach Maßgabe des Artikels 18 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie nicht mehr in speziellen Hafteinrichtungen unterzubringen. Demnach kann Abschiebungshaft in sämtlichen Hafteinrichtungen vorübergehend und mit bis zu 500 Haftplätzen in Justizvollzugsanstalten vollzogen werden. Eine getrennte Unterbringung der Abschiebungsgefangenen von Strafgefangenen innerhalb von Haftanstalten ist weiterhin vorgeschrieben. Zudem gilt die bisherige Maßgabe zur Unterbringung von mehreren Angehörigen einer Familie nach § 62a Absatz 1 Satz 3 und 4 sowie die Vorgaben der Artikel 16 und 17 der Richtlinie … 2008/115. Auch die Prüfung und Entscheidung, ob eine Unterbringung in einer Haftanstalt in einem konkreten Einzelfall beispielsweise bei vulnerablen Gruppen zumutbar beziehungsweise zulässig ist, muss weiterhin erfolgen. Es ist vorgesehen, dass die Justizbehörden der Länder bis zu 500 Haftplätze für Abschiebungshaftgefangene bereitstellen, damit in Zusammenschau mit dem vorgesehenen Aufwuchs von Abschiebungshaftplätzen in den Haftanstalten der Länder insgesamt circa 1000 Abschiebungshaftplätze zur Verfügung stehen. … Artikel 18 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie eröffnet für Notlagen die Möglichkeit, vom Trennungsgebot nach Artikel 16 Absatz 1 sowie von der Vorgabe des Artikels 17 Absatz 2, nach der Familien gesonderte Unterbringung erhalten müssen, abzuweichen. … Die Voraussetzung für die Abweichungsmöglichkeit nach Artikel 18 Absatz 1 ist, dass eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen oder des Verwaltungs- oder Justizpersonals führt. Diese Voraussetzung ist für Deutschland erfüllt. In Deutschland besteht nur eine Kapazität von bundesweit etwa 487 (Stand 27. März 2019) Abschiebungshaftplätzen. Aufgrund des Missverhältnisses von vollziehbar Ausreisepflichtigen und Abschiebungshaftplätzen ist diese bestehende Kapazität deutlich überlastet. Diese Überlastung ist in der Praxis ein wesentlicher Engpass, der der Durchsetzung der vollziehbaren Ausreisepflicht entgegensteht. Die bestehenden Abschiebungshaftplätze werden bereits bundesweit durch Koordination der Länder bestmöglich genutzt. Zur Verbesserung der Vermittlung von Abschiebungshaftplätzen dient auch das im Jahr 2017 eingerichtete Gemeinsame Zentrum zur Unterstützung der Rückkehr (ZUR). Die Vermittlungsquote von Haftplätzen bundesweit aus dem ZUR liegt im unteren zweistelligen Prozentbereich. Damit können in der Praxis trotz Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen zahlreiche Haftanträge nicht gestellt werden. Die Überlastung der Kapazitäten war auch unvorhersehbar. Nachdem die Zahl der neu-ankommenden Schutzsuchenden vor 2015 über Jahre gesunken war, hatten die Länder entsprechend des zu diesem Zeitpunkt geringeren Bedarfs Kapazitäten an Abschiebungshaftplätzen in den Jahren zuvor nach unten angepasst. Mit der veränderten Situation im Jahr 2015 und dem sprunghaften Anstieg der Zahl der Schutzsuchenden waren Bund und Länder primär verpflichtet, Kapazitäten für die Versorgung der Menschen aufzubauen. Diese Verpflichtung ergibt sich unter anderem aus europäischem Recht, insbesondere der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahmerichtlinie) [(ABl. 2013, L 180, S. 96)] sowie der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit internationalem Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikations-Richtlinie) [(ABl. 2011, L 337, S. 9)] und darüber hinaus aus der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention). Die Versorgung der neuankommenden Menschen in dieser Situation hatte Vorrang vor dem Ausbau der Haftkapazitäten, mit dem Zweck, zu einem späteren Zeitpunkt (nach Abschluss des Asyl- und Rechtsmittelverfahrens) die Regelanforderungen der Rückführungsrichtlinie erfüllen zu können. Denn Sinn und Zweck der Ausnahmeregelung des Artikels 18 [dieser Richtlinie] ist gerade, in dieser Situation den Behörden die Möglichkeit zu geben, die Versorgung der Neuankommenden prioritär zu bearbeiten, ohne absehbar Rechtspflichten in der Zukunft zu verletzen. … Nach Beendigung der Ausnahmesituation haben die Länder den Ausbau der Haftkapazitäten unmittelbar begonnen und bereits eine Steigerung der Zahl auf bundesweit 487 (Stand 27. März 2019) Haftplätze erreicht. Entsprechend des üblichen Zeitaufwandes, der für Bauvorhaben beziehungsweise die Errichtung von Abschiebungshaftanstalten besteht, ist eine vollständige Anpassung der Zahl der Abschiebungshaftplätze an den gegenwärtigen Bedarf noch nicht erreicht. Eine den Bedarf deckende Zahl an Abschiebungshaftplätzen ist aufgrund der eingeleiteten Maßnahmen zum 30. Juni 2022 zu erwarten. Bis zu diesem Zeitpunkt liegt ein Anhalten der außergewöhnlichen Situation vor, so dass § 62a Absatz 1 bis zu diesem Zeitpunkt außer Kraft zu setzen ist. Danach tritt wieder die derzeit geltende Rechtslage ein.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

13

K, ein pakistanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 9. Oktober 2015 in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland ein. Sein Asylantrag wurde am 24. Mai 2017 als offensichtlich unbegründet abgelehnt.

14

Die danach ihm gegenüber ergangene Abschiebungsandrohung ist seit dem 7. Juni 2017 vollziehbar.

15

Am 11. August 2020 wurde K in einem Reisebus auf der Route Berlin-Brüssel festgenommen. Das Amtsgericht Meppen (Deutschland) ordnete am gleichen Tag Abschiebehaft bis einschließlich zum 25. September 2020 an, und er wurde in der Justizvollzugsanstalt Hannover, Abteilung Langenhagen, in Haft genommen.

16

Am 24. September 2020 beantragte der Landkreis Gifhorn (Deutschland) beim Amtsgericht Hannover (Deutschland) eine Verlängerung der Abschiebehaft bis zum 12. November 2020. In seinem Antrag führte der Landkreis Gifhorn aus, es sei vorgesehen, K weiter in der Justizvollzugsanstalt Hannover, Abteilung Langenhagen, in Haft zu behalten.

17

Nach Anhörung von K ordnete das Amtsgericht Hannover mit Beschluss vom 25. September 2020 Abschiebehaft in dieser Abteilung bis zum 12. November 2020 an.

18

Am 28. September 2020 legte K bei demselben Gericht Beschwerde gegen diesen Beschluss ein und wurde im Rahmen dieses neuen Verfahrens am 7. Oktober 2020 angehört.

19

Das vorlegende Gericht, das seine Zuständigkeit für eine Entscheidung über die von K eingelegte Beschwerde nur in Bezug auf dessen Inhaftierung zwischen dem 25. September und dem 2. Oktober 2020 als gegeben ansieht, führt erstens aus, dass die Abteilung Langenhagen im Mai 2000 eröffnet worden sei und von einer im Justizvollzugsdienst tätigen Beamtin geleitet werde. Die Justizvollzugsanstalt Hannover, an die die Abteilung administrativ angebunden sei, verfüge über insgesamt etwa 600 Haftplätze und werde von einem Anstaltsleiter geleitet, der auch die Verantwortung für die Abteilung Langenhagen trage. Die Justizvollzugsanstalt Hannover insgesamt werde durch das Justizministerium beaufsichtigt.

20

Das vorlegende Gericht weist auch darauf hin, dass die Belegungskapazität der Abteilung Langenhagen, die ursprünglich bei maximal 171 Haftplätzen für Abschiebungsgefangene gelegen habe, deutlich reduziert worden sei. Gegenwärtig könnten 48 Abschiebungsgefangene untergebracht werden. Der Komplex sei mit einem hohen Maschendrahtzaun umzäunt und umfasse drei etwa gleich große zweigeschossige Gebäude mit vergitterten Fenstern sowie ein weiteres kleines Gebäude und eine Kfz-Schleuse, die als Eingang für Besucher und Anstaltspersonal sowie für Ein- und Ausfahrten von Fahrzeugen verwendet werde.

21

In dem ersten dieser drei Gebäude würden männliche Abschiebungsgefangene aus Drittstaaten untergebracht. Im zweiten Gebäude würden weibliche und je nach Belegung männliche Abschiebungsgefangene aus Drittstaaten aufgenommen. Für die so Inhaftierten sei ein täglicher Besuch, mehrstündiger Aufenthalt im Freien, Internetzugang und Besitz eines Mobiltelefons möglich. Ein Verschluss der Unterkunftsräume erfolge nicht, und die Räume würden nur einzeln belegt. Auf Wunsch könne allerdings eine Gemeinschaftsunterbringung erfolgen. Auf den Fluren befänden sich Gemeinschaftsduschräume und Toiletten, die ganztägig frei zugänglich seien.

22

Das dritte Gebäude, das seit 2013 vorübergehend geschlossen gewesen sei, sei jedenfalls seit Erlass des Beschlusses vom 25. September 2020 und bis zum 2. Oktober 2020 für die Inhaftierung von Strafgefangenen genutzt worden, die eine Ersatzfreiheitsstrafe oder eine kurze Freiheitsstrafe von bis zu drei Monaten verbüßten. Von der Justizvollzugsanstalt sei auf eine Trennung der Abschiebungsgefangenen von diesen Gefangenen geachtet worden. Zwischen den mit Abschiebungsgefangenen belegten Gebäuden und den mit Strafgefangenen belegten Gebäuden habe kein direkter Zugang bestanden.

23

Das vorlegende Gericht bezweifelt, dass die Abteilung Langenhagen während dieses Zeitraums eine „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 darstellte, da in dieser Abteilung neben Abschiebungsgefangenen auch Strafgefangene untergebracht gewesen seien und eine räumliche und organisatorische Trennung nicht sichergestellt gewesen sei. Die Häuser der Abteilung hätten sich nämlich in unmittelbarer Nähe zueinander befunden und seien – insbesondere für das Personal der Justizvollzugsanstalt – nur durch einen gemeinsamen Eingangsbereich erreichbar gewesen.

24

Auch wenn die Abschiebehaftabteilung Langenhagen eine eigene Leiterin habe, so sei dort sowohl für Strafgefangene und für Abschiebungsgefangene dasselbe Justizvollzugspersonal eingesetzt worden.

25

Zweitens geht das vorlegende Gericht davon aus, dass die Änderung von § 62a Abs. 1 AufenthaltsG durch das Gesetz vom 15. August 2019, die bis zum 1. Juli 2022 eine Ausnahme von der sich aus Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 ergebenden Pflicht zulasse, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige in speziellen Hafteinrichtungen in Haft zu nehmen, gegen Unionsrecht verstößt.

26

Obgleich sich der deutsche Gesetzgeber für die Abweichung von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie zwar auf das Vorliegen einer Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 berufen habe, sei unabhängig von der Frage, ob zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes vom 15. August 2019 die von diesem Art. 18 verlangten Voraussetzungen vorgelegen hätten, jedenfalls festzustellen, dass diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllt seien. Auch wenn sich die speziellen Hafteinrichtungen wegen des Abstandsbedarfs aufgrund der Covid-19-Pandemie möglicherweise einer hohen Belastung ausgesetzt sähen, stehe diese Belastung jedoch nicht – wie von Art. 18 Abs. 1 verlangt werde – im Zusammenhang mit einer außergewöhnlich großen Zahl von Drittstaatsangehörigen. Der deutsche Gesetzgeber habe zudem weder Angaben zur Auslastung der Hafteinrichtungen gemacht, noch die erwartete Zahl vollziehbar ausreisepflichtiger Drittstaatsangehöriger oder die Zahl illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger genannt, bei denen Haftgründe gegeben sein könnten.

27

Unter diesen Umständen wirft das vorlegende Gericht zunächst die Frage auf, ob ein nationales Gericht das Vorliegen einer Notlage im Sinne von Art. 18 in jedem Verfahren über die Anordnung von Abschiebehaft selbst feststellen muss oder ob es im Gegenteil die Feststellung des nationalen Gesetzgebers ohne eigene Prüfung im Einzelfall hinnehmen muss.

28

Falls das die Haft anordnende Gericht sich selbst von einer Notlage im Sinne von Art. 18 überzeugen müsste, vertritt das vorlegende Gericht die Auffassung, dass zu prüfen sei, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 von ihm verlange, das Gesetz vom 15. August 2019 unangewendet zu lassen, soweit eine solche Notlage nicht dargetan sei.

29

Soweit diese Frage zu bejahen sei, sei noch zu prüfen, ob eine lediglich organisatorische Eingliederung der Hafteinrichtung in die Justizverwaltung für die Annahme ausreiche, dass die Einrichtung nicht als „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 der Richtlinie 2008/115 angesehen werden könne, und soweit die Frage zu verneinen sei, ob eine Einstufung als „spezielle Hafteinrichtung“ aufgrund des Umstands ausgeschlossen sei, dass eines der Gebäude der Einrichtung für die Inhaftierung von Strafgefangenen verwendet werde.

30

Unter diesen Umständen hat das Amtsgericht Hannover beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Unionsrecht, insbesondere Art. 18 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2008/115, dahin gehend auszulegen, dass ein nationales Gericht, das über die Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung entscheidet, in jedem Einzelfall die Voraussetzungen der Vorschrift, insbesondere, dass die außergewöhnliche Situation noch anhält, überprüfen muss, wenn der nationale Gesetzgeber unter Berufung auf Art. 18 Abs. 1 im nationalen Recht von den Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 1 abgewichen ist?

2.

Ist Unionsrecht, insbesondere Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, dahin gehend auszulegen, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, welche vorübergehend bis zum 1. Juli 2022 die Unterbringung von Abschiebungsgefangenen in einer Justizvollzugsanstalt erlaubt, obwohl spezielle Hafteinrichtungen in dem Mitgliedstaat vorhanden sind und keine Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dies zwingend erfordert?

3.

Ist Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin gehend auszulegen, dass eine „spezielle Hafteinrichtung“ für die Inhaftierung von Abschiebungsgefangenen allein schon deshalb nicht vorliegt, wenn:

die „spezielle Hafteinrichtung“ mittelbar demselben Regierungsmitglied wie Hafteinrichtungen für Strafgefangene, nämlich der Justizministerin, untersteht,

die „spezielle Hafteinrichtung“ als Abteilung einer Justizvollzugsanstalt organisiert ist und damit zwar eine eigene Leiterin hat, aber als eine von mehreren Abteilungen der Justizvollzugsanstalt insgesamt der Leitung der Justizvollzugsanstalt untersteht?

4.

Falls die Frage 3 mit Nein beantwortet wird:

Ist Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin gehend auszulegen, dass eine Unterbringung in einer „speziellen Hafteinrichtung“ für Abschiebungsgefangene vorliegt, wenn eine Justizvollzugsanstalt eine spezielle Abteilung für ein Abschiebungsgefängnis einrichtet, diese Abteilung ein spezielles Gelände mit drei Gebäuden innerhalb der Umzäunung für Abschiebungsgefangene betreibt und von diesen drei Gebäuden ein Gebäude vorübergehend ausschließlich mit Strafgefangenen belegt wird, die Ersatzfreiheitsstrafen oder kurze Freiheitsstrafen verbüßen, wobei von der Justizvollzugsanstalt auf eine Trennung der Abschiebungsgefangenen und Strafgefangenen geachtet wird, insbesondere jedes Haus über eigene Einrichtungen (eigene Kleiderkammer, eigene Krankenstation, eigener Sportraum) verfügt und der Hof/Außenbereich zwar von allen Häusern sichtbar ist, aber für jedes Haus ein eigener, mit Maschendrahtzaun umzäunter Bereich für die Gefangenen besteht und so zwischen den Häusern kein direkter Zugang besteht?

Verfahren vor dem Gerichtshof

31

Am 18. November 2020 hat der Präsident des Gerichtshofs entschieden, die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs mit Vorrang zu behandeln.

Zu den Vorlagefragen

Zur dritten und zur vierten Frage

32

Mit seiner dritten und seiner vierten Frage, die an erster Stelle und zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass eine spezielle Abteilung einer Justizvollzugsanstalt, die zum einen, obwohl sie über einen eigenen Leiter verfügt, der Leitung der Anstalt untersteht und der Aufsicht des für Justizvollzugsanstalten zuständigen Ministeriums unterliegt, und in der zum anderen in speziellen Gebäuden, die über eine eigene Ausstattung verfügen und von den übrigen Gebäuden der Einrichtung, in denen Strafgefangene inhaftiert sind, getrennt sind, Drittstaatsangehörige in Abschiebehaft gehalten werden, als „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann.

33

Zur Beantwortung dieser Frage ist in einem ersten Schritt der Begriff „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 der Richtlinie 2008/115 auszulegen. Hierzu ist festzustellen, dass weder in Art. 16 noch in irgendeiner anderen Bestimmung der Richtlinie 2008/115 definiert wird, was unter diesem Begriff zu verstehen ist. Folglich ist er entsprechend dem Sinn der Worte, aus denen er gebildet ist, nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen. Dabei ist zu berücksichtigen, in welchem Zusammenhang diese Worte verwendet werden und welche Ziele mit der Regelung verfolgt werden, zu der sie gehören (Urteil vom 1. Oktober 2020, Staatssecretaris van Financiën [Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für Aphrodisiaka], C‑331/19, EU:C:2020:786, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie den Grundsatz aufstellt, dass die Inhaftierung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zur Sicherung der Abschiebung in speziellen Hafteinrichtungen erfolgt (Urteil vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main, C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Folglich sollen es spezielle Hafteinrichtungen im Sinne dieser Bestimmung den Mitgliedstaaten ermöglichen, eine Entscheidung zu vollstrecken, mit der die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen im Sinne von Art. 15 der Richtlinie angeordnet wird, d. h. eine Zwangsmaßnahme, mit der der betreffenden Person ihre Bewegungsfreiheit entzogen und sie von der übrigen Bevölkerung isoliert wird, indem sie dazu gezwungen wird, sich ständig in einem eingegrenzten, geschlossenen Bereich aufzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 223 und 225).

36

Aus dem Wortlaut von Art. 16 Abs. 1 ergibt sich auch, dass sich spezielle Hafteinrichtungen von gewöhnlichen Haftanstalten unterscheiden, was impliziert, dass die Haftbedingungen in diesen Einrichtungen gewisse Besonderheiten gegenüber normalen Bedingungen der Vollstreckung von Freiheitsstrafen in gewöhnlichen Haftanstalten aufweisen müssen.

37

Zweitens ist festzustellen, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ausdrücklich bestimmt, dass die Haft eines in dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, bei dem keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, nur in Betracht kommt, um die Rückkehr dieser Person vorzubereiten und/oder ihre Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn Fluchtgefahr besteht oder die Person die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgeht oder behindert. Die Mitgliedstaaten dürfen der betreffenden Person folglich nur dann durch Inhaftnahme die Freiheit entziehen, wenn die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung mittels Abschiebung durch das Verhalten des Betroffenen gefährdet zu werden droht, was für den konkreten Einzelfall zu beurteilen ist (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 268 und 269 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Daraus ergibt sich, dass die zur Abschiebung angeordnete Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, wie der Generalanwalt in Nr. 104 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nur zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens dient und keinerlei auf Bestrafung gerichtete Zielsetzung verfolgt.

39

Drittens ist darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2008/115 eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik unter vollständiger Wahrung der Grundrechte und der Würde der betroffenen Personen eingeführt werden soll (Urteil vom 14. Januar 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Rückkehr eines unbegleiteten Minderjährigen], C‑441/19, EU:C:2021:9, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Hierzu ist insbesondere hervorzuheben, dass jede angeordnete Inhaftnahme, die unter die Richtlinie 2008/115 fällt, in den Bestimmungen ihres Kapitels IV streng geregelt ist, damit zum einen die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele und zum anderen die Wahrung der Grundrechte der betreffenden Drittstaatsangehörigen gewährleistet sind (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 274 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Somit dürfen nach dem Kapitel IV der Richtlinie 2008/115 getroffene Inhaftierungsmaßnahmen insbesondere nicht gegen das Recht auf Freiheit – wie es in Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) garantiert wird – der Drittstaatsangehörigen verstoßen, gegen die solche Maßnahmen verhängt werden.

42

Hierzu ist daran zu erinnern, dass gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta die Rechte der Charta, soweit sie den durch die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in dieser Konvention verliehen werden, wobei aber klargestellt wird, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewähren kann. Bei der Auslegung von Art. 6 der Charta ist somit Art. 5 EMRK als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 37).

43

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verlangt Art. 5 Abs. 1 EMRK, dass „der Ort der Unterbringung und ihre Bedingungen angemessen sein [müssen]“ und dass „zwischen dem Grund für die zulässige [Freiheitsentziehung] und dem Ort und den Umständen der Unterbringung eine Beziehung bestehen [muss]“, wobei der Umstand zu berücksichtigen ist, dass eine solche Unterbringung auf Personen Anwendung finden kann, „die gegebenenfalls keine anderen Straftaten als die in Verbindung mit dem Aufenthalt stehenden begangen haben“ (EGMR, 13. Dezember 2011, Kanagaratnam u. a./Belgien, CE:ECHR:2011:1213JUD001529709, § 84, und EGMR, 28. Februar 2019, H. A. u. a./Griechenland, CE:ECHR:2019:0228JUD001995116, § 196).

44

Viertens ist darauf hinzuweisen, dass der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 auf die „Leitlinien zur Frage der erzwungenen Rückkehr“ verweist, die das Ministerkomitee des Europarats angenommen hat. Gemäß der zehnten Leitlinie sollten in Abschiebehaft genommene Drittstaatsangehörige „normalerweise so kurz wie möglich in speziell diesem Zweck gewidmeten Räumlichkeiten untergebracht werden, die materielle Bedingungen und eine Regelung bieten, die ihrem rechtlichen Status angemessen sind und mit Personal ausgestattet sind, das die erforderlichen Qualifikationen besitzt“.

45

Aus den Rn. 34 bis 44 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass eine „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 durch eine Gestaltung und Ausstattung ihrer Räumlichkeiten sowie durch Organisations- und Funktionsmodalitäten gekennzeichnet ist, die dazu geeignet sind, den dort untergebrachten illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zu zwingen, sich ständig in einem eingegrenzten, geschlossenen Bereich aufzuhalten, gleichzeitig aber diese Zwangsmaßnahme auf das beschränken, was für die wirksame Vorbereitung seiner Abschiebung unbedingt erforderlich ist. Folglich müssen die in einer solchen Einrichtung geltenden Haftbedingungen so gestaltet sein, dass mit ihnen so weit wie möglich verhindert wird, dass die Unterbringung des Drittstaatsangehörigen einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkommt, wie sie für eine Strafhaft kennzeichnend ist.

46

Die Bedingungen der Unterbringung müssen außerdem so ausgestaltet sein, dass sowohl die von der Charta garantierten Grundrechte als auch die in Art. 16 Abs. 2 bis 5 und Art. 17 der Richtlinie 2008/115 verankerten Rechte beachtet werden.

47

In einem zweiten Schritt ist festzustellen, dass der Gerichtshof im Rahmen von Art. 267 AEUV nicht befugt ist, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden. Es ist daher Aufgabe des vorlegenden Gerichts, die für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erforderlichen rechtlichen Qualifizierungen vorzunehmen. Dagegen hat der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht alle erforderlichen Hinweise zu geben, um es bei dieser Beurteilung zu leiten (Urteil vom 3. Juli 2019, UniCredit Leasing, C‑242/18, EU:C:2019:558, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48

Vor diesem Hintergrund ist darauf hinzuweisen, dass dem vorlegenden Gericht unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Aspekte und nach deren Gesamtwürdigung die Feststellung obliegt, ob Ort und Bedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Inhaftnahme in ihrer Gesamtheit betrachtet für eine nach Art. 15 der Richtlinie 2008/115 angeordnete Inhaftnahme geeignet sind.

49

Hierzu ist erstens festzustellen, dass mehrere maßgebliche Aspekte, die die von diesem Gericht vorzunehmende Gesamtwürdigung leiten können, insbesondere in der zehnten und der elften der vom Ministerkomitee des Europarats angenommenen Leitlinien zur erzwungenen Rückkehr enthalten sind, auf die der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie Bezug nimmt.

50

Wie der Generalanwalt in Nr. 124 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, reicht zweitens der bloße Umstand, dass eine Hafteinrichtung, die über ihre eigene Leitungsstruktur verfügt, administrativ an eine Behörde angebunden ist, die auch Zuständigkeiten im Hinblick auf Justizvollzugsanstalten innehat, nicht aus, um dieser Einrichtung eine Einstufung als „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 zu versagen. Eine solche rein administrative Anbindung ist nämlich insoweit grundsätzlich unerheblich. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn an eine entsprechende Anbindung bestimmte Haftbedingungen geknüpft wären.

51

Drittens sind in Abschiebehaft genommene Drittstaatsangehörige, wenn ein Mitgliedstaat sie nicht in speziellen Hafteinrichtungen unterbringen kann und sie in gewöhnlichen Haftanstalten unterbringen muss, gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 von gewöhnlichen Strafgefangenen gesondert unterzubringen.

52

Folglich reicht die bloße Trennung von illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen und gewöhnlichen Strafgefangenen innerhalb ein und derselben Haftanstalt nicht aus, um davon ausgehen zu können, dass der Teil dieser Anstalt, in dem die Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft untergebracht sind, eine „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 darstellt.

53

Die Einstufung einer solchen Einrichtung als „spezielle Hafteinrichtung“ ist aber, sofern eine solche Trennung tatsächlich sichergestellt ist, nicht automatisch deshalb ausgeschlossen, weil – wie im vorliegenden Fall – ein separater Teil eines Komplexes, in dem Drittstaatsangehörige in Abschiebehaft untergebracht sind, der Inhaftierung von verurteilten Straftätern dient.

54

Auch wenn eine solche Konstellation sicherlich mit in die Würdigung des vorlegenden Gerichts einfließen muss, hat dieses nämlich auch der Ausstattung der speziell zur Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen bestimmten Räumlichkeiten, den Regelungen über deren Haftbedingungen sowie der besonderen Qualifikation und den Aufgaben des Personals, das für die Einrichtung, in der diese Inhaftierung erfolgt, zuständig ist, besondere Aufmerksamkeit zu widmen und festzustellen, ob sich der Zwang, dem die betreffenden Drittstaatsangehörigen ausgesetzt sind, in Anbetracht all dieser Umstände auf das Maß beschränkt, das unbedingt erforderlich ist, um ein wirksames Rückkehrverfahren zu gewährleisten, und es so weit wie möglich vermeidet, dass die Unterbringung einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkommt, wie sie für eine Strafhaft kennzeichnend ist.

55

Unter diesem Blickwinkel stellt der Umstand, dass die nationalen Regelungen über die Strafvollstreckung – und sei es auch nur entsprechend – auf die Unterbringung von Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft anwendbar sind, ein gewichtiges Indiz dafür dar, dass eine solche Unterbringung nicht in einer „speziellen Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 stattfindet.

56

Umgekehrt stellt die Tatsache, dass zumindest der größte Teil des mit der Betreuung von Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft betrauten Personals sowie die Hauptverantwortlichen für das Funktionieren der Einrichtung, in der die Inhaftierung stattfindet, über eine besondere Ausbildung für eine solche Betreuung verfügen, einen Anhaltspunkt dar, der für eine Einstufung der Einrichtung als „spezielle Hafteinrichtung“ spricht. Dies gilt auch für den Umstand, dass das Personal in unmittelbarem Kontakt mit den Drittstaatsangehörigen ausschließlich der Einrichtung zugeordnet ist, in der ihre Unterbringung erfolgt, und nicht gleichzeitig einer Einrichtung, die zur Inhaftierung von Strafgefangenen dient.

57

Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass eine spezielle Abteilung einer Justizvollzugsanstalt, die zum einen, obwohl sie über einen eigenen Leiter verfügt, der Leitung der Anstalt untersteht und der Aufsicht des für Justizvollzugsanstalten zuständigen Ministeriums unterliegt, und in der zum anderen in speziellen Gebäuden, die über eine eigene Ausstattung verfügen und von den übrigen Gebäuden der Einrichtung, in denen Strafgefangene inhaftiert sind, getrennt sind, Drittstaatsangehörige in Abschiebehaft gehalten werden, als „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, sofern die Bedingungen der Unterbringung dieser Drittstaatsangehörigen so weit wie möglich verhindern, dass diese Unterbringung einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkommt, und sie so ausgestaltet sind, dass sowohl die von der Charta garantierten Grundrechte als auch die in Art. 16 Abs. 2 bis 5 und Art. 17 der Richtlinie verankerten Rechte beachtet werden.

Zur ersten Frage

58

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht und insbesondere Art. 18 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht, das über die Anordnung der Inhaftnahme oder die Haftverlängerung eines Drittstaatsangehörigen für die Zwecke der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu entscheiden hat, prüfen können muss, ob die Voraussetzungen eingehalten sind, unter die Art. 18 die Möglichkeit für einen Mitgliedstaat stellt, diesen Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu inhaftieren.

59

Zunächst ist festzustellen, dass Inhaftnahme und Haftverlängerung vergleichbar sind, weil dem betreffenden Drittstaatsangehörigen durch beide zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder zur Durchführung seiner Abschiebung die Freiheit entzogen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2014, Mahdi, C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 44).

60

Sodann ist darauf hinzuweisen, dass es Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 einem Mitgliedstaat ermöglicht, dringliche Maßnahmen in Bezug auf die Haftbedingungen eines Drittstaatsangehörigen zu ergreifen, die von den Haftbedingungen nach Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie abweichen, wenn eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhergesehenen Überlastung der Kapazitäten seiner Hafteinrichtungen führt, und zwar solange diese außergewöhnliche Situation anhält. In Art. 18 Abs. 3 wird noch präzisiert, dass Art. 18 Abs. 1 den Mitgliedstaaten keine Abweichung von ihrer allgemeinen Verpflichtung gestattet, alle geeigneten – sowohl allgemeinen als auch besonderen – Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass sie ihren aus der Richtlinie 2008/115 hervorgehenden Verpflichtungen nachkommen.

61

Daraus ergibt sich, dass ein Mitgliedstaat, der Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erlässt, in Anwendung von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie verpflichtet bleibt, die übrigen Regelungen – außer den in Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen – zu beachten, die den Rahmen für die Inhaftnahme und die Haftverlängerung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen bilden.

62

Schließlich ist zu betonen, dass bei einer Entscheidung, mit der die Inhaftnahme oder die Haftverlängerung des betreffenden Drittstaatsangehörigen angeordnet wird, insoweit strenge Garantien, nämlich insbesondere der Schutz vor Willkür, einzuhalten sind, als diese Entscheidung sein in Art. 6 der Charta verankertes Recht auf Freiheit verletzen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 40). Ein solcher Schutz impliziert aber u. a., dass eine Inhaftierung nur unter Beachtung allgemeiner und abstrakter Regeln, die deren Voraussetzungen und Modalitäten festlegen, angeordnet oder verlängert werden kann.

63

Es liefe zudem dem Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta garantierten Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zuwider, wenn kein Gericht prüfen dürfte, ob eine Entscheidung über die Anordnung von Abschiebehaft gemäß der Richtlinie 2008/115 im Einklang mit den Rechten und Freiheiten steht, die das Unionsrecht einem in einem Mitgliedstaat illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen garantiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 290).

64

Daraus ergibt sich, dass ein Gericht, wenn es im Rahmen seiner Zuständigkeiten auf Grundlage von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zur Umsetzung von Art. 18 der Richtlinie 2008/115 über die Anordnung zu befinden hat, einen Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt in Haft zu nehmen oder die Inhaftierung dieses Drittstaatsangehörigen in einer solchen Haftanstalt zu verlängern, in der Lage sein muss, vor seiner Entscheidung eine Prüfung der Vereinbarkeit solcher Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht vorzunehmen und folglich zu kontrollieren, ob sie mit dem von Art. 18 Erlaubten in Einklang stehen (vgl. entsprechend Urteil vom 28. Januar 2021, Spetsializirana prokuratura [Erklärung der Rechte], C‑649/19, EU:C:2021:75, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65

Hierzu muss dieses Gericht über alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände befinden können, die für die Feststellung relevant sind, ob – über den eigentlichen Grundsatz der Inhaftnahme des betreffenden Drittstaatsangehörigen hinaus – die abweichenden Modalitäten, unter denen sie vollstreckt wird, nach Art. 18 der Richtlinie 2008/115 gerechtfertigt sind. Das Gericht muss somit in der Lage sein, sowohl die tatsächlichen Umstände und Beweise, die von der die Inhaftnahme in einer gewöhnlichen Haftanstalt beantragenden Verwaltungsbehörde angeführt werden, als auch jede etwaige Stellungnahme des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen. Außerdem muss es ihm möglich sein, jeden anderen für seine Entscheidung relevanten Umstand zu ermitteln, falls es dies für erforderlich hält. Folglich können die Befugnisse des Gerichts keinesfalls auf die von der betreffenden Verwaltungsbehörde angeführten Umstände und Beweise beschränkt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juni 2014, Mahdi, C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 62).

66

Schließlich vermag, entgegen dem Vorbringen der deutschen Regierung, die Pflicht des betreffenden Mitgliedstaats, nach Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 die Kommission sowohl darüber in Kenntnis zu setzen, dass er auf die von Art. 18 Abs. 1 gestatteten außergewöhnlichen Maßnahmen zurückgreift, als auch darüber, dass die Gründe für die Anwendung dieser Maßnahmen nicht mehr vorliegen, an dieser Schlussfolgerung nichts zu ändern. Dieses einfache Notifizierungsverfahren steht nämlich keiner gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haftmaßnahmen gleich, die auf Grundlage der zuletzt genannten Bestimmung angeordnet werden können.

67

Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 18 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeiten über die Anordnung der Inhaftnahme oder der Haftverlängerung eines Drittstaatsangehörigen für die Zwecke der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu entscheiden hat, prüfen können muss, ob die Voraussetzungen eingehalten sind, unter die Art. 18 die Möglichkeit für einen Mitgliedstaat stellt, diesen Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu inhaftieren.

Zur zweiten Frage

68

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die es erlauben, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige für ihre Abschiebung getrennt von Strafgefangenen vorübergehend in gewöhnlichen Haftanstalten unterzubringen, unangewendet lassen darf, wenn die Voraussetzungen, die Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie für die Vereinbarkeit solcher Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht aufstellt, nicht oder nicht mehr erfüllt sind.

69

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten von dem in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 aufgestellten Grundsatz, nach dem Drittstaatsangehörige in speziellen Hafteinrichtungen in Abschiebehaft unterzubringen sind, sowohl gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 2 als auch gemäß Art. 18 der Richtlinie abweichen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main, C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 36 und 39).

70

Zur Beantwortung der zweiten Vorlagefrage und unabhängig von dem Umstand, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften nach Art. 18 der Richtlinie 2008/115 erlassen wurden, sind daher die Voraussetzungen, unter denen ein Mitgliedstaat von der Pflicht abweichen darf, eine Abschiebehaftmaßnahme in einer speziellen Hafteinrichtung zu vollstrecken, nicht nur anhand dieses Art. 18, sondern auch anhand von Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 zu bestimmen, bevor geprüft wird, ob ein Gericht eines Mitgliedstaats dessen Rechtsvorschriften, die es gestatten, Drittstaatsangehörige zur Abschiebung vorübergehend und getrennt von gewöhnlichen Strafgefangenen in gewöhnlichen Haftanstalten in Haft zu nehmen, unangewendet lassen darf, wenn keine dieser beiden Bestimmungen anwendbar ist.

71

Als Erstes ist zu Art. 18 der Richtlinie 2008/115 zunächst darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung, soweit sie den Mitgliedstaaten eine Abweichung von bestimmten in der Richtlinie aufgestellten Grundsätzen gestattet, wenn in ihrem Hoheitsgebiet eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten ihrer speziellen Hafteinrichtungen führt, eng auszulegen ist.

72

Hierzu ist aber festzustellen, dass die bloße Anwesenheit einer außergewöhnlich großen Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nicht für den Nachweis genügt, dass die von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 aufgestellten Voraussetzungen erfüllt sind. Gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie kann nämlich nur ein Teil dieser Drittstaatsangehörigen in Abschiebungshaft genommen werden und folglich zu einer unvorhergesehenen Überlastung der Kapazitäten der speziellen Hafteinrichtungen des betreffenden Mitgliedstaats führen.

73

Dass ein Mitgliedstaat von der ihm in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 eröffneten Möglichkeit zur Abweichung Gebrauch macht, impliziert daher, dass dieser Mitgliedstaat nachweisen kann, dass die Zahl der in Abschiebehaft genommenen Drittstaatsangehörigen derartig hoch ist, dass sie zu einer unvorhergesehenen Überlastung der Kapazitäten der speziellen Hafteinrichtungen in seinem gesamten Hoheitsgebiet führt.

74

Insoweit ist erstens zur besonderen Voraussetzung der Schwere der Belastung, der die Hafteinrichtungen des betreffenden Mitgliedstaats ausgesetzt sein müssen, festzustellen, dass – wie der Generalanwalt sinngemäß in Nr. 59 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 nicht verlangt, dass die Kapazitäten dieser speziellen Hafteinrichtungen dauerhaft und vollständig ausgelastet sind, sondern lediglich, dass die Kapazitäten strukturell nahe an der Auslastung sind.

75

Der Umstand, dass sich einige Sprachfassungen dieser Bestimmung, wie die deutsche Sprachfassung, auf eine „Überlastung“ dieser Einrichtungen beziehen, ändert nichts an dieser Feststellung. Andere Sprachfassungen der Bestimmung, wie die Fassungen in französischer und in niederländischer Sprache (lourde und zwaar worden belast), beschränken sich nämlich darauf, von einer „schweren“ Belastung zu sprechen, oder, wie die Fassungen in spanischer, in italienischer und in litauischer Sprache (importante, notevole und didelė), von einer „bedeutenden“, „erheblichen“ oder „großen“ Belastung.

76

Nach ständiger Rechtsprechung kann jedoch eine rein wörtliche Auslegung einer oder mehrerer Sprachfassungen eines Unionsrechtsakts unter Ausschluss der anderen Sprachfassungen nicht ausschlaggebend sein, da die einheitliche Anwendung der Unionsvorschriften es gebietet, sie u. a. im Licht aller Sprachfassungen auszulegen. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Unionstexts voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (Urteil vom 27. September 2017, Nintendo, C‑24/16 und C‑25/16, EU:C:2017:724, Rn. 72).

77

Insoweit ist Art. 18 der Richtlinie 2008/115, wie in Rn. 71 des vorliegenden Urteils festgestellt, zwar eng auszulegen, wobei diese Auslegung allerdings mit den von diesem Artikel verfolgten Zielen in Einklang stehen muss und ihm nicht seine Wirkung nehmen darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. September 2014, Fastweb, C‑19/13, EU:C:2014:2194, Rn. 40). Die Möglichkeit, von bestimmten Vorschriften der Richtlinie 2008/115 abzuweichen, die deren Art. 18 den Mitgliedstaaten einräumt, um die Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens trotz der Notlage sicherzustellen, mit der sie konfrontiert sind, bliebe jedoch weitestgehend wirkungslos, wenn ein Mitgliedstaat allein deshalb daran gehindert wäre, Rechtsvorschriften zu erlassen, mit denen für einen bestimmten Zeitraum die Unterbringung von Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft in einer gewöhnlichen Haftanstalt ermöglicht wird, weil in diesem Zeitraum in bestimmten speziellen Hafteinrichtungen in seinem Hoheitsgebiet Plätze – wenn auch nur für kurze Zeit und in sehr geringer Menge – frei wären oder frei werden könnten.

78

Daher darf ein Mitgliedstaat nach Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 Rechtsvorschriften erlassen, die eine Unterbringung in Abschiebehaft in gewöhnlichen Haftanstalten auch dann gestatten, wenn nicht ausgeschlossen ist, dass in dem Zeitraum, in dem dieser Mitgliedstaat auf diese Möglichkeit zurückgreift, in bestimmten speziellen Hafteinrichtungen in seinem Hoheitsgebiet vorübergehend Plätze verfügbar sind.

79

Zweitens ist zur besonderen Voraussetzung der Unvorhersehbarkeit der Belastung, der die Kapazitäten der Hafteinrichtungen des betreffenden Mitgliedstaats ausgesetzt sein müssen, darauf hinzuweisen, dass die Maßnahmen, die von Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 abweichen und von einem Mitgliedstaat gemäß Art. 18 Abs. 1 und 2 der Richtlinie erlassen werden können, nach Art. 18 Notfallmaßnahmen außergewöhnlicher Art sind. Der Gerichtshof hat zudem entschieden, dass die nationalen Behörden, die die zur Umsetzung von Art. 16 der Richtlinie 2008/115 erlassenen nationalen Rechtsvorschriften anzuwenden haben, grundsätzlich in der Lage sein müssen, die Haft in speziellen Hafteinrichtungen zu vollziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juli 2014, Bero und Bouzalmate, C‑473/13 und C‑514/13, EU:C:2014:2095, Rn. 29).

80

Der betreffende Mitgliedstaat muss daher nachweisen können, dass ihm zu dem Zeitpunkt, zu dem er die abweichenden Maßnahmen erlassen hat, vernünftigerweise nicht vorgehalten werden konnte, die schwere Belastung nicht besser vorhergesehen zu haben, die die Zahl an in Haft zu nehmenden Drittstaatsangehörigen zu diesem Zeitpunkt den speziellen Hafteinrichtungen in seinem Hoheitsgebiet aufbürdet, oder zumindest, dass ihm vernünftigerweise nicht vorgehalten werden kann, zu diesem Zeitpunkt keine ausreichenden strukturellen Maßnahmen getroffen zu haben, um eine solche Belastung der Kapazitäten der speziellen Hafteinrichtungen abzumildern.

81

Somit kann sich ein Mitgliedstaat insbesondere dann nicht auf Art. 18 der Richtlinie 2008/115 berufen, wenn die schwere Belastung seiner speziellen Hafteinrichtungen nicht die Folge eines unerwarteten Anstiegs der Zahl der in Haft zu nehmenden Drittstaatsangehörigen ist, sondern lediglich durch die Reduzierung der in speziellen Hafteinrichtungen verfügbaren Plätze oder durch mangelnde Voraussicht der nationalen Behörden verursacht wird.

82

Drittens muss der Mitgliedstaat auch darlegen können, dass eine schwere Belastung im Sinne der Rn. 74 des vorliegenden Urteils während des gesamten Zeitraums fortbesteht, in dem er sich auf Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 stützt, um von dem in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie aufgestellten Grundsatz abzuweichen. Aus Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie geht nämlich unmissverständlich hervor, dass derartige Maßnahmen ihre Wirkungen verlieren müssen, sobald die in dieser Bestimmung beschriebene Notlage nicht mehr besteht.

83

Der Mitgliedstaat muss außerdem während des gesamten Zeitraums, in dem er Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 anwendet, nachweisen können, dass es ihm noch nicht möglich war, hinreichende strukturelle Maßnahmen zu ergreifen, um die schwere Belastung der Kapazitäten der speziellen Hafteinrichtungen abzumildern.

84

Art. 18 der Richtlinie 2008/115 gestattet daher einem Mitgliedstaat die Beibehaltung von Rechtsvorschriften, die es vorübergehend ermöglichen, Drittstaatsangehörige in gewöhnlichen Haftanstalten in Abschiebehaft zu nehmen, soweit von diesem Mitgliedstaat vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, dass er die schwere, aufgrund der außergewöhnlich großen Zahl von Drittstaatsangehörigen, gegen die Abschiebehaft angeordnet wurde, unerwartet aufgetretene und weiterhin andauernde Belastung der Kapazitäten aller seiner speziellen Hafteinrichtungen abstellt.

85

Die Einhaltung dieser Voraussetzungen kann es erforderlich machen, dass die zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats gesetzlich verpflichtet werden, das Fortbestehen einer solchen Notlage regelmäßig zu überprüfen, zumindest dann, wenn die von diesem Mitgliedstaat nach Art. 18 der Richtlinie 2008/115 erlassenen Rechtsvorschriften ihre Wirkung nicht nur über einen kurzen, gegebenenfalls verlängerbaren Zeitraum entfalten sollen.

86

Viertens ist darauf hinzuweisen, dass ein Mitgliedstaat, wie in Rn. 61 des vorliegenden Urteils ausgeführt, auf der Grundlage von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 einem illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen keine anderen Rechte entziehen darf als die, die ihm in Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie zuerkannt werden.

87

Wie ihre Erwägungsgründe 13 und 16 bestätigen, macht die Richtlinie 2008/115 den Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen und insbesondere auf Inhaftierungsmaßnahmen von der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hinsichtlich der eingesetzten Mittel und der angestrebten Ziele abhängig.

88

Somit müssen die nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung von Art. 18 vorsehen, dass die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt nur angeordnet oder verlängert werden darf, nachdem in jedem Einzelfall zum einen überprüft wurde, ob gegenwärtig kein Platz in einer der speziellen Hafteinrichtungen verfügbar ist, und zum anderen, ob keine weniger intensive Zwangsmaßnahme in Betracht kommt.

89

Ein Mitgliedstaat, der Art. 18 der Richtlinie anwendet, bleibt zudem nach Art. 16 Abs. 3 und Art. 17 Abs. 3 bis 5 der Richtlinie verpflichtet, der Situation inhaftierter schutzbedürftiger Personen und speziell der Situation Minderjähriger, deren Wohl Vorrang einzuräumen ist, besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

90

Daher darf ein schutzbedürftiger Drittstaatsangehöriger, wie der Generalanwalt sinngemäß in Nr. 70 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht nach Art. 18 der Richtlinie 2008/115 in einer gewöhnlichen Haftanstalt in Abschiebehaft genommen werden, wenn eine solche Inhaftierung mit der Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse, die sich aus seiner Situation der Schutzbedürftigkeit ergeben, unvereinbar ist.

91

Der betreffende Mitgliedstaat muss schließlich, wenn er von der ihm in Art. 18 der Richtlinie 2008/115 eingeräumten Möglichkeit Gebrauch macht, auch die in der Charta, insbesondere ihrem Art. 6, verankerten Grundrechte beachten. Dieser Mitgliedstaat muss folglich – im Einklang mit den Feststellungen in den Rn. 41 bis 43 des vorliegenden Urteils – sicherstellen, dass sich die Haftbedingungen von in gewöhnlichen Haftanstalten in Abschiebehaft untergebrachten Drittstaatsangehörigen so weit wie möglich von den Haftbedingungen der dort inhaftierten Strafgefangenen unterscheiden. Hierbei ist u. a. wichtig, dass der betreffende Mitgliedstaat darauf achtet, dass ein Kontakt zwischen diesen Drittstaatsangehörigen und Strafgefangenen so weit wie möglich vermieden wird.

92

Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 ausnahmsweise und über die in deren Art. 18 Abs. 1 ausdrücklich genannten Fälle hinaus illegal aufhältige Drittstaatsangehörige, soweit sie von gewöhnlichen Strafgefangenen getrennt sind, zur Sicherung der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt unterbringen dürfen, wenn diese Mitgliedstaaten die Inhaftierung in speziellen Hafteinrichtungen aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht sicherstellen und dadurch die mit der Richtlinie verfolgten Ziele nicht einhalten können (Urteil vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main, C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 39).

93

Der Gerichtshof hat somit entschieden, dass eine solche, eng auszulegende Bestimmung insbesondere die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Sicherung der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt erlaubt, wenn von ihm eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft oder für die innere oder äußere Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats ausgeht, soweit dieser Drittstaatsangehörige von Strafgefangenen getrennt wird (Urteil vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main, C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 31 und 48).

94

In gleicher Weise könnte eine vollständige, plötzliche und momentane Auslastung der Kapazitäten sämtlicher spezieller Hafteinrichtungen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, die sich von der in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 genannten unvorhersehbaren Überlastung unterscheidet, ebenfalls dazu führen, dass es für diesen Mitgliedstaat unmöglich wäre, die mit der Richtlinie 2008/115 verfolgten Ziele zu beachten und dabei gleichzeitig sicherzustellen, dass alle Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft in speziellen Hafteinrichtungen untergebracht werden.

95

Dies wäre der Fall, wenn ein Mitgliedstaat mit einer Auslastung seiner speziellen Hafteinrichtungen, wie sie in der vorstehenden Randnummer beschrieben ist, konfrontiert wäre und keine weniger intensive Zwangsmaßnahme als die Unterbringung eines bestimmten Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft ausreichen würde, um in Bezug auf diesen Drittstaatsangehörigen die Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens zu gewährleisten.

96

Bei einer solchen Fallgestaltung ist davon auszugehen, dass Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 grundsätzlich eine vorübergehende, von Strafgefangenen getrennte Unterbringung dieses Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt gestattet.

97

Unter Berücksichtigung des Umstands, dass dieser Bestimmung eine Auslegung zu geben ist, die gleichzeitig eng, aber auch mit dem Anwendungsbereich von Art. 18 der Richtlinie 2008/115 vereinbar ist, darf eine Unterbringung in einer gewöhnlichen Haftanstalt in einer Situation wie der in Rn. 95 des vorliegenden Urteils geschilderten gleichwohl zunächst nur für eine kurze Dauer angeordnet werden, die einige Tage nicht überschreiten darf und nur dem Zweck dient, dem betreffenden Mitgliedstaat die Möglichkeit zu geben, dringlich Maßnahmen zu ergreifen, um gegenüber dem Betroffenen sicherzustellen, dass seine Inhaftierung schnellstmöglich in einer spezialisierten Hafteinrichtung fortgeführt wird. Eine solche Unterbringung ist außerdem dann nicht mehr nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie gerechtfertigt, wenn die Auslastung der speziellen Hafteinrichtungen im betreffenden Mitgliedstaat über einige Tage hinaus fortbesteht oder sich systematisch und in kurzen Abständen wiederholt.

98

Es ist ferner darauf hinzuweisen, dass eine solche Unterbringung in einer gewöhnlichen Haftanstalt sowohl die von der Charta garantierten Grundrechte als auch die in Art. 16 Abs. 2 bis 5 und in Art. 17 der Richtlinie 2008/115 verankerten Rechte beachten muss.

99

Als Drittes ist hervorzuheben, dass Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die die Unterbringung eines Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft in einer gewöhnlichen Haftanstalt erlauben, obgleich die Voraussetzungen, unter die Art. 16 Abs. 1 Satz 2 und Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 eine solche Möglichkeit stellen, nicht erfüllt sind, gegen das Recht von zur Abschiebung in Haft genommenen Drittstaatsangehörigen aus Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie verstoßen, nur in speziellen Hafteinrichtungen untergebracht zu werden.

100

Die zuletzt genannte Bestimmung ist zum einen unbedingt und hinreichend genau, um unmittelbare Wirkung zu haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2011, El Dridi, C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 47).

101

Zum anderen ist nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht, sofern es eine nationale Regelung nicht den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend auslegen kann, als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet, eine nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat, entgegensteht, unangewendet zu lassen (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 139).

102

Soweit es nationale Rechtsvorschriften wie die in Rn. 99 des vorliegenden Urteils genannten nicht unionsrechtskonform auslegen kann, muss daher jedes nationale Gericht im Rahmen seiner Zuständigkeit die Anwendung solcher Rechtsvorschriften in dem ihm vorliegenden Rechtsstreit ablehnen.

103

Nach alledem ist Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die es erlauben, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige für ihre Abschiebung getrennt von Strafgefangenen vorübergehend in gewöhnlichen Haftanstalten unterzubringen, unangewendet lassen muss, wenn die Voraussetzungen, die Art. 18 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie für die Vereinbarkeit solcher Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht aufstellen, nicht oder nicht mehr erfüllt sind.

Kosten

104

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass eine spezielle Abteilung einer Justizvollzugsanstalt, die zum einen, obwohl sie über einen eigenen Leiter verfügt, der Leitung der Anstalt untersteht und der Aufsicht des für Justizvollzugsanstalten zuständigen Ministeriums unterliegt, und in der zum anderen in speziellen Gebäuden, die über eine eigene Ausstattung verfügen und von den übrigen Gebäuden der Einrichtung, in denen Strafgefangene inhaftiert sind, getrennt sind, Drittstaatsangehörige in Abschiebehaft gehalten werden, als „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, sofern die Bedingungen der Unterbringung dieser Drittstaatsangehörigen so weit wie möglich verhindern, dass diese Unterbringung einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkommt, und sie so ausgestaltet sind, dass sowohl die von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Rechte als auch die in Art. 16 Abs. 2 bis 5 und Art. 17 der Richtlinie verankerten Rechte beachtet werden.

 

2.

Art. 18 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeiten über die Anordnung der Inhaftnahme oder die Haftverlängerung eines Drittstaatsangehörigen für die Zwecke der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu entscheiden hat, prüfen können muss, ob die Voraussetzungen eingehalten sind, unter die Art. 18 die Möglichkeit für einen Mitgliedstaat stellt, diesen Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu inhaftieren.

 

3.

Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die es erlauben, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige für ihre Abschiebung getrennt von Strafgefangenen vorübergehend in gewöhnlichen Haftanstalten unterzubringen, unangewendet lassen muss, wenn die Voraussetzungen, die Art. 18 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie für die Vereinbarkeit solcher Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht aufstellen, nicht oder nicht mehr erfüllt sind.

 

Regan

Jürimäe

Lycourgos

Jarukaitis

Ilešič

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. März 2022.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Der Präsident

K. Lenaerts


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.