URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

10. Juni 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz – Richtlinie 2011/95/EU – Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz – Art. 15 Buchst. c – Begriff ‚ernsthafte individuelle Bedrohung‘ des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts – Nationale Regelung, die die Anforderung einer Mindestzahl ziviler Opfer (Tote und Verletzte) in der betroffenen Region vorsieht“

In der Rechtssache C‑901/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 29. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Dezember 2019, in dem Verfahren

CF,

DN

gegen

Bundesrepublik Deutschland

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter N. Wahl und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) und des Richters J. Passer,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. November 2020,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von CF und DN, vertreten durch Rechtsanwältin A. Kazak,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier und D. Dubois als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und M. Noort als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Tomkin und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Februar 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. f und Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9, Berichtigung ABl. 2017, L 167, S. 58).

2

Es ergeht im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen CF und DN, zwei afghanischen Staatsangehörigen, auf der einen und der Bundesrepublik Deutschland – vertreten durch den Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat (Deutschland), seinerseits vertreten durch den Leiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) – auf der anderen Seite wegen der Ablehnung der Asylanträge von CF und von DN.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 6, 12, 13 und 33 bis 35 der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„(6)

In den Schlussfolgerungen von Tampere ist … festgehalten, dass die Vorschriften über die Flüchtlingseigenschaft durch Maßnahmen zu den Formen des subsidiären Schutzes ergänzt werden sollten, die einer Person, die eines solchen Schutzes bedarf, einen angemessenen Status verleihen.

...

(12)

Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

(13)

Die Angleichung der Rechtsvorschriften über die Zuerkennung und den Inhalt der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes sollte dazu beitragen, die Sekundärmigration von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, zwischen Mitgliedstaaten einzudämmen, soweit sie ausschließlich auf unterschiedlichen Rechtsvorschriften beruht.

(33)

Ferner sollten Normen für die Bestimmung und die Merkmale des subsidiären Schutzstatus festgelegt werden. Der subsidiäre Schutzstatus sollte den in [dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge] festgelegten Schutz für Flüchtlinge ergänzen.

(34)

Es müssen gemeinsame Kriterien eingeführt werden, die als Grundlage für die Anerkennung von Personen, die internationalen Schutz beantragen, als Anspruchsberechtigte auf subsidiären Schutz dienen. Diese Kriterien sollten völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus Rechtsakten im Bereich der Menschenrechte und bestehenden Praktiken in den Mitgliedstaaten entsprechen.

(35)

Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, stellen für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre.“

4

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)

‚internationaler Schutz‘ die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus im Sinne der Buchstaben e und g;

b)

‚Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde‘ eine Person, der die Flüchtlingseigenschaft gemäß Buchstabe e oder der subsidiäre Schutzstatus gemäß Buchstabe g zuerkannt wurde;

f)

‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel 15 zu erleiden, und auf den Artikel 17 Absätze 1 und 2 keine Anwendung findet und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will;

g)

‚subsidiärer Schutzstatus‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen durch einen Mitgliedstaat als Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat;

…“

5

Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.

(3)   Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

a)

alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, …

b)

die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;

c)

die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;

(4)   Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

…“

6

Art. 8 („Interner Schutz“) der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„(1)   Bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz können die Mitgliedstaaten feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern er in einem Teil seines Herkunftslandes

a)

keine begründete Furcht vor Verfolgung hat oder keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht oder

b)

Zugang zu Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden gemäß Artikel 7 hat,

und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2)   Bei Prüfung der Frage, ob ein Antragsteller begründete Furcht vor Verfolgung hat oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht, oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden in einem Teil seines Herkunftslandes gemäß Absatz 1 in Anspruch nehmen kann, berücksichtigen die Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Antragstellers gemäß Artikel 4. …“

7

Art. 15 („Ernsthafter Schaden“) der Richtlinie 2011/95 lautet:

„Als ernsthafter Schaden gilt

a)

die Todesstrafe oder Hinrichtung oder

b)

Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder

c)

eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“

8

Art. 18 („Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und V erfüllt, den subsidiären Schutzstatus zu.“

Deutsches Recht

9

Die Richtlinie 2011/95 wurde durch das Asylgesetz (BGBl. 2008 I S. 1798) in seiner für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (im Folgenden: AsylG) in deutsches Recht umgesetzt.

10

§ 3e („Interner Schutz“) AsylG nennt die Voraussetzungen, unter denen interner Schutz möglich ist, und sieht vor:

„(1)   Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1.

in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und

2.

sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2)   Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.“

11

§ 4 Abs. 1 und 3 AsylG legt in Umsetzung der Art. 2 und 15 der Richtlinie 2011/95 die Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz wie folgt fest:

„(1)   Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.

die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,

2.

Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder

3.

eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(3)   Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.“

Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

12

CF und DN sind zwei afghanische Zivilpersonen und stammen aus der Provinz Nangarhar. Ihre Asylanträge wurden durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt. Die von den Betroffenen vor den Verwaltungsgerichten Karlsruhe und Freiburg (Deutschland) erhobenen Klagen blieben erfolglos.

13

CF und DN legten Berufung zum Verwaltungsgerichtshof Baden‑Württemberg (Deutschland) ein und beantragten die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.

14

In diesem Zusammenhang erstrebt der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Klarstellungen zu den Kriterien für die Gewährung subsidiären Schutzes in Fällen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge „willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts“ im Sinne von Art. 15 Buchst. c in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95.

15

Trotz der Erläuterungen in seinem Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji (C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 35), habe sich der Gerichtshof nämlich noch nicht dazu geäußert, nach welchen Kriterien zu bestimmen sei, ob das für die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts erforderliche Gewaltniveau vorliege. Zudem sei die Rechtsprechung anderer Gerichte auf dem Gebiet uneinheitlich. Während teilweise eine umfassende Beurteilung auf Grundlage aller Umstände des Einzelfalls vorgenommen werde, stellten andere Ansätze primär auf die Anzahl an zivilen Opfern ab.

16

Das vorlegende Gericht weist insbesondere darauf hin, dass die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Deutschland) zu § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AsylG, der Art. 15 Buchst. c in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 umsetze, zur Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung von Personen, die nicht aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen seien, erheblich von der auf einer umfassenden Beurteilung der besonderen Umstände jedes Einzelfalls beruhenden Rechtsprechung abweiche, die von den Gerichten anderer Mitgliedstaaten und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angewendet werde.

17

Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts setzt die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung zwingend eine quantitative Ermittlung des „Tötungs- und Verletzungsrisikos“ voraus, ausgedrückt durch das Verhältnis der Zahl der Opfer in dem betreffenden Gebiet zur Gesamtzahl der Bevölkerung dieses Gebiets; dabei müsse das Ergebnis zwingend einen bestimmten Mindestwert erreichen. Werde dieser Wert nicht erreicht, bedürfe es keiner weiteren Ermittlungen zur Gefahrendichte und könne selbst eine umfassende Beurteilung der besonderen Umstände des Einzelfalls nicht zur Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung führen.

18

Zur Situation von CF und von DN führt das vorlegende Gericht aus, es habe nicht die Überzeugung gewonnen, dass diese aufgrund ihrer persönlichen Umstände von der in der Provinz Nangarhar herrschenden Gewalt spezifisch betroffen seien. Unter Berücksichtigung der allgemeinen Sicherheitslage in dieser Provinz, insbesondere in Anbetracht des Umstands, dass in dieser Region Kämpfe zwischen verschiedenen, stark fragmentierten Konfliktparteien (einschließlich Terrorgruppen), die stark mit der Zivilbevölkerung verwoben seien, stattfänden und dass keine Partei in der Lage sei, die Region effektiv zu kontrollieren oder die Zivilbevölkerung, die Opfer sowohl der Aufständischen als auch der staatlichen Kräfte sei, zu schützen, liefen CF und DN im Fall ihrer Rückkehr dorthin jedoch tatsächlich Gefahr, durch konfliktbedingte willkürliche Gewalt allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Außerdem verfügten CF und DN, wenn sie nach Afghanistan zurückkehren müssten, angesichts ihres besonders vulnerablen Profils auch über keine akzeptable Zufluchtsalternative im Inneren des Landes, da es allgemein unzumutbar wäre, dass sie sich an anderen in Betracht kommenden Orten (wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif) niederließen.

19

Auf Grundlage einer umfassenden Beurteilung unter Berücksichtigung auch anderer gefahrbegründender Umstände müsse daher das in der Provinz Nangarhar gegenwärtig herrschende Gewaltniveau als derart hoch angesehen werden, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens, denen interner Schutz nicht zur Verfügung stehe, allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem fraglichen Gebiet ernsthaft bedroht wären. Wenn hingegen die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung maßgeblich von der Zahl ziviler Opfer abhinge, müssten die Anträge der Kläger des Ausgangsverfahrens auf subsidiären Schutz zurückgewiesen werden.

20

Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Stehen Art. 15 Buchst. c und Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 der Auslegung und Anwendung einer Bestimmung des nationalen Rechts entgegen, wonach eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts (in dem Sinne, dass eine Zivilperson allein durch ihre Anwesenheit im betroffenen Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein) in denjenigen Fällen, in denen diese Person nicht aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist, nur vorliegen kann, wenn eine Mindestzahl an bereits zu beklagenden zivilen Opfern (Tote und Verletzte) festgestellt worden ist?

2.

Falls Frage 1 bejaht wird: Ist die Beurteilung, ob eine Bedrohung in diesem Sinne eintreten wird, auf Grundlage einer umfassenden Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu treffen? Wenn nicht: Welche anderen unionsrechtlichen Anforderungen bestehen an diese Beurteilung?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

21

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er der Auslegung einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge „willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts“ im Sinne dieser Bestimmung in Fällen, in denen diese Person nicht aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist, voraussetzt, dass das Verhältnis der Zahl der Opfer in dem betreffenden Gebiet zur Gesamtzahl der Bevölkerung dieses Gebiets eine bestimmte Schwelle erreicht.

22

Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2011/95, die insbesondere auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 Buchst. b AEUV erlassen wurde, u. a. eine einheitliche Regelung für den subsidiären Schutz eingeführt werden soll. Aus dem zwölften Erwägungsgrund dieser Richtlinie geht hierzu hervor, dass eines ihrer wesentlichen Ziele darin besteht, zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen (vgl. Urteil vom 23. Mai 2019, Bilali, C‑720/17, EU:C:2019:448, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23

Insoweit ergibt sich aus Art. 18 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit der Definition des Begriffs „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz“ in Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie und des Begriffs „subsidiärer Schutzstatus“ in Art. 2 Buchst. g der Richtlinie, dass der in dieser Richtlinie vorgesehene subsidiäre Schutzstatus grundsätzlich allen Drittstaatsangehörigen bzw. allen Staatenlosen zu gewähren ist, die bei ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland oder in das Land ihres gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr laufen, einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 der Richtlinie zu erleiden (vgl. Urteil vom 23. Mai 2019, Bilali, C‑720/17, EU:C:2019:448, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24

Zudem ist mit dem Generalanwalt (Nr. 16 der Schlussanträge) darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2011/95 die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12) mit Wirkung vom 21. Dezember 2013 aufgehoben und ersetzt hat und dass diese Normänderung weder an der gesetzlichen Regelung für die Gewährung von subsidiärem Schutz noch an der Nummerierung der betreffenden Bestimmungen etwas geändert hat. So hat Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 exakt denselben Wortlaut wie Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83, so dass die zu der letzteren Vorschrift ergangene Rechtsprechung für die Auslegung der ersteren relevant ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Januar 2021, Bundesrepublik Deutschland [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑507/19, EU:C:2021:3, Rn. 37).

25

Art. 15 der Richtlinie 2011/95 sieht drei Arten eines „ernsthaften Schadens“ vor, deren Vorliegen zur Folge hat, dass der Person, die ihnen ausgesetzt ist, subsidiärer Schutz zu gewähren ist. Was die Gründe in Buchst. a, „Todesstrafe oder Hinrichtung“, und in Buchst. b, Gefahr von „Folter oder unmenschliche[r] Behandlung“, betrifft, so erfassen diese Fälle eines „ernsthaften Schadens“ Situationen, in denen der den subsidiären Schutz Beantragende spezifisch der Gefahr ausgesetzt ist, einen Schaden ganz bestimmter Art zu erleiden (Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji, C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 32).

26

Hingegen umfasst, wie der Gerichtshof klargestellt hat, der in Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 definierte Schaden, der in „einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit“ des Antragstellers besteht, eine Schadensgefahr „allgemeinerer Art“ als die Schadensgefahren nach Art. 15 Buchst. a und b. So ist dort nämlich in einem weiteren Sinne von „eine[r] … Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit“ einer Zivilperson statt von bestimmten Gewalteinwirkungen die Rede. Außerdem ergibt sich diese Bedrohung aus einer allgemeinen Lage eines bewaffneten Konflikts, die zu „willkürlicher Gewalt“ führt, was impliziert, dass sie sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann (Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji, C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 33 und 34).

27

Mit anderen Worten setzt die Feststellung einer „ernsthaften individuellen Bedrohung“ im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 entsprechend den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 20 seiner Schlussanträge nicht voraus, dass die den subsidiären Schutz beantragende Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist.

28

In diesem Zusammenhang ist das Adjektiv „individuell“ dahin zu verstehen, dass es sich auf schädigende Eingriffe bezieht, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richten, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden, die mit einem Antrag auf subsidiären Schutz befasst sind, oder der Gerichte eines Mitgliedstaats, bei denen eine Klage gegen die Ablehnung eines solchen Antrags anhängig ist, ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung im Sinne des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie ausgesetzt zu sein (Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji, C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 35).

29

Wie in Rn. 18 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, hat das vorlegende Gericht in diesem Fall nicht die Überzeugung gewonnen, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens aufgrund ihrer persönlichen Umstände von der in der Provinz Nangarhar herrschenden Gewalt spezifisch betroffen sind. Dagegen ist es der Ansicht, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens unter Berücksichtigung der allgemeinen Sicherheitslage in dieser Provinz im Fall ihrer Rückkehr dorthin tatsächlich Gefahr liefen, durch konfliktbedingte willkürliche Gewalt allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein.

30

Wie darüber hinaus in Rn. 17 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, setzt jedoch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Feststellung einer solchen ernsthaften individuellen Bedrohung zwingend eine quantitative Ermittlung des „Tötungs- und Verletzungsrisikos“ voraus, ausgedrückt durch das Verhältnis der Zahl der Opfer in dem betroffenen Gebiet zur Gesamtzahl der Bevölkerung in diesem Gebiet; der Anteil der Opfer muss dabei zwingend eine bestimmte Mindestschwelle erreichen. Wird diese Mindestschwelle nicht erreicht, wird keine umfassende Beurteilung der besonderen Umstände des Einzelfalls vorgenommen.

31

Insoweit ist einerseits festzustellen, dass das vom Bundesverwaltungsgericht herangezogene Kriterium, wonach die Feststellung einer „ernsthaften individuellen Bedrohung“ im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 voraussetzt, dass die Anzahl der bereits festgestellten Opfer bezogen auf die Gesamtbevölkerung in der betreffenden Region eine bestimmte Schwelle erreicht, zwar als für die Feststellung einer solchen Bedrohung relevant angesehen werden kann.

32

Wenn die tatsächlichen Opfer der Gewaltakte, die von den Konfliktparteien gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit der in der betreffenden Region lebenden Zivilpersonen verübt werden, einen hohen Anteil an deren Gesamtzahl ausmachen, ist nämlich der Schluss zulässig, dass es in der Zukunft weitere zivile Opfer in der Region geben könnte. Eine solche Feststellung könnte somit belegen, dass eine ernsthafte Bedrohung im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 gegeben ist.

33

Andererseits kann jedoch diese Feststellung nicht das einzige ausschlaggebende Kriterium für die Feststellung einer „ernsthaften individuellen Bedrohung“ im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 sein. Insbesondere kann das Fehlen einer solchen Feststellung für sich genommen nicht ausreichen, um systematisch und unter allen Umständen die Gefahr einer solchen Bedrohung im Sinne dieser Bestimmung auszuschließen und um damit automatisch und ausnahmslos zu einem Ausschluss des subsidiären Schutzes zu führen.

34

Ein solcher Ansatz stünde nämlich erstens im Widerspruch zu den Zielen der Richtlinie 2011/95, allen Personen, die subsidiären Schutz benötigen, einen solchen Schutz zu gewähren. Insbesondere besteht, wie aus den Erwägungsgründen 6 und 12 dieser Richtlinie hervorgeht, das wesentliche Ziel der Richtlinie namentlich darin, zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen, indem ihnen ein angemessener Status verliehen wird.

35

Die systematische Anwendung eines einzigen quantitativen Kriteriums durch die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats, das angesichts der konkreten Schwierigkeit, objektive und unabhängige Informationsquellen nahe der Gebiete eines bewaffneten Konflikts zu ermitteln, im Hinblick auf seine Zuverlässigkeit fragwürdig sein kann, wie etwa eine Mindestzahl ziviler Opfer (Verletzte oder Tote), um die Gewährung subsidiären Schutzes zu verweigern, kann dazu führen, dass die nationalen Behörden die Gewährung internationalen Schutzes unter Verstoß gegen die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Bestimmung der Personen, die diesen subsidiären Schutz tatsächlich benötigen, verweigern.

36

Zweitens wäre eine solche Auslegung geeignet, Personen, die internationalen Schutz beantragen, zu veranlassen, sich in Mitgliedstaaten zu begeben, die das Kriterium einer bestimmten Schwelle hinsichtlich der bereits festgestellten Opfer nicht anwenden oder diesbezüglich eine niedrigere Schwelle heranziehen, was eine Praxis des forum shopping begünstigen könnte, die darauf abzielt, die durch die Richtlinie 2011/95 aufgestellten Regeln zu umgehen. Nach dem Wortlaut des 13. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie sollte jedoch die Angleichung der Rechtsvorschriften über die Zuerkennung und den Inhalt der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes insbesondere dazu beitragen, „die Sekundärmigration von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, zwischen Mitgliedstaaten einzudämmen“, soweit sie ausschließlich auf unterschiedlichen Rechtsvorschriften beruht.

37

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er der Auslegung einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge „willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts“ im Sinne dieser Bestimmung in Fällen, in denen diese Person nicht aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist, voraussetzt, dass das Verhältnis der Zahl der Opfer in dem betreffenden Gebiet zur Gesamtzahl der Bevölkerung dieses Gebiets eine bestimmte Schwelle erreicht.

Zur zweiten Frage

38

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass zur Feststellung, ob eine „ernsthafte individuelle Bedrohung“ im Sinne dieser Bestimmung gegeben ist, eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls erforderlich ist, und, sollte dies nicht der Fall sein, welche weiteren Anforderungen hierfür erfüllt sein müssen.

39

Zur Beantwortung dieser Frage ist vorab festzustellen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 56 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, der Begriff „ernsthafte individuelle Bedrohung“ des Lebens oder der Unversehrtheit der Person, die subsidiären Schutz beantragt, im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 weit auszulegen ist.

40

Um festzustellen, ob eine „ernsthafte individuelle Bedrohung“ im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 vorliegt, ist daher eine umfassende Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation des Herkunftslands des Antragstellers kennzeichnen, erforderlich.

41

Hinsichtlich eines Antrags auf internationalen Schutz nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 ergibt sich nämlich aus Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie, dass ein solcher Antrag, auch wenn darin keine der Situation des Antragstellers innewohnenden Umstände geltend gemacht werden, Gegenstand einer individuellen Prüfung sein muss, bei der eine ganze Reihe von Gesichtspunkten zu berücksichtigen ist.

42

Dazu gehören nach Art. 4 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 u. a. „alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind“.

43

Konkret können, wie der Generalanwalt in den Nrn. 56 und 59 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, auch insbesondere die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts als Faktoren berücksichtigt werden, die bei der Beurteilung der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 2014, Diakité, C‑285/12, EU:C:2014:39, Rn. 35), ebenso wie andere Gesichtspunkte, etwa das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, der tatsächliche Zielort des Antragstellers bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen, die eventuell mit Absicht erfolgt.

44

Folglich steht es im Widerspruch zu den Bestimmungen der Richtlinie 2011/95, wenn die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats zur Feststellung des Grades der Intensität eines bewaffneten Konflikts ohne Prüfung sämtlicher relevanten Umstände, die die Situation des Herkunftslands der den subsidiären Schutz beantragenden Person kennzeichnen, systematisch ein Kriterium wie die Mindestzahl ziviler Opfer (Verletzte oder Tote) anwenden, da dies dazu führen kann, dass die betreffenden Behörden unter Verstoß gegen die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Bestimmung der Personen, die tatsächlich subsidiären Schutz benötigen, die Gewährung dieses Schutzes verweigern.

45

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass zur Feststellung, ob eine „ernsthafte individuelle Bedrohung“ im Sinne dieser Bestimmung gegeben ist, eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der die Situation des Herkunftslands des Antragstellers kennzeichnenden Umstände, erforderlich ist.

Kosten

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Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass er der Auslegung einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge „willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts“ im Sinne dieser Bestimmung in Fällen, in denen diese Person nicht aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist, voraussetzt, dass das Verhältnis der Zahl der Opfer in dem betreffenden Gebiet zur Gesamtzahl der Bevölkerung dieses Gebiets eine bestimmte Schwelle erreicht.

 

2.

Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 ist dahin auszulegen, dass zur Feststellung, ob eine „ernsthafte individuelle Bedrohung “ im Sinne dieser Vorschrift gegeben ist, eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der die Situation des Herkunftslands des Antragstellers kennzeichnenden Umstände, erforderlich ist.

 

Prechal

Wahl

Biltgen

Rossi

Passer

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. Juni 2021.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Die Präsidentin der Dritten Kammer

A. Prechal


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.