URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
17. Dezember 2020 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung – Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 – Art. 4 Abs. 1 – Pflicht, Tiere vor der Tötung zu betäuben – Art. 4 Abs. 4 – Ausnahme im Rahmen der rituellen Schlachtung – Art. 26 Abs. 2 – Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, nationale Vorschriften zu erlassen, die einen umfassenderen Schutz von Tieren bei der rituellen Schlachtung bezwecken – Auslegung – Nationale Regelung, die für die rituelle Schlachtung eine Betäubung vorschreibt, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod herbeizuführen – Art. 13 AEUV – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 10 – Religionsfreiheit – Freiheit, seine Religion zu bekennen – Beschränkung – Verhältnismäßigkeit – Fehlender Konsens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – Den Mitgliedstaaten zuerkannter Wertungsspielraum – Subsidiaritätsprinzip – Gültigkeit – Unterschiedliche Behandlung der rituellen Schlachtung und der Tötung von Tieren bei der Jagd oder bei der Fischerei sowie bei kulturellen oder Sportveranstaltungen – Keine Diskriminierung – Art. 20, 21 und 22 der Charta der Grundrechte“
In der Rechtssache C‑336/19
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien) mit Entscheidung vom 4. April 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 18. April 2019, in dem Verfahren
Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a.,
Unie Moskeeën Antwerpen VZW,
Islamitisch Offerfeest Antwerpen VZW,
JG,
KH,
Executief van de Moslims van België u. a.,
Coördinatie Comité van Joodse Organisaties van België – Section belge du Congrès juif mondial et Congrès juif européen VZW u. a.
gegen
Vlaamse Regering,
Beteiligte:
LI,
Waalse Regering,
Kosher Poultry BVBA u. a.,
Global Action in the Interest of Animals VZW (GAIA),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten E. Regan, M. Ilešič, L. Bay Larsen und A. Kumin, des Richters T. von Danwitz, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan und D. Šváby (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi sowie der Richter I. Jarukaitis und N. Jääskinen,
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Juli 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
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des Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a. sowie der Kosher Poultry BVBA u. a., vertreten durch E. Maes und C. Caillet, advocaten, sowie durch E. Jacubowitz, avocat, |
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der Unie Moskeeën Antwerpen VZW und der Islamitisch Offerfeest Antwerpen VZW, vertreten durch I. Akrouh, advocaat, |
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des Executief van de Moslims van België u. a., vertreten durch J. Roets, advocaat, |
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des Coördinatie Comité van Joodse Organisaties van België – Section belge du Congrès juif mondial et Congrès juif européen VZW u. a., vertreten durch E. Cloots, advocaat, |
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von LI, vertreten durch sich selbst, |
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der Vlaamse Regering, vertreten durch V. De Schepper und J.‑F. De Bock, advocaten, |
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der Waalse Regering, vertreten durch X. Drion, advocaat, |
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der Global Action in the Interest of Animals VZW (GAIA), vertreten durch A. Godfroid, advocaat, |
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der dänischen Regierung, vertreten durch J. Nymann-Lindegren, M. P. Jespersen, P. Ngo und M. Wolff als Bevollmächtigte, |
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der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski und H. Leppo als Bevollmächtigte, |
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der schwedischen Regierung, vertreten durch H. Eklinder, C. Meyer-Seitz, H. Shev, J. Lundberg und A. Falk als Bevollmächtigte, |
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des Rates der Europäischen Union, vertreten durch F. Naert und E. Karlsson als Bevollmächtigte, |
– |
der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Krämer, A. Bouquet und B. Eggers als Bevollmächtigte, |
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. September 2020
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 des Rates vom 24. September 2009 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung (ABl. 2009, L 303, S. 1) sowie die Gültigkeit dieser Bestimmung im Hinblick auf die Art. 10 sowie 20, 21 und 22 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). |
2 |
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a. (im Folgenden zusammen: CICB u. a.), der Unie Moskeeën Antwerpen VZW und der Islamitisch Offerfeest Antwerpen VZW, JG und KH, dem Executief van de Moslims van België u. a. sowie dem Coördinatie Comité van Joodse Organisaties van België – Section belge du Congrès juif mondial et Congrès juif européen VZW u. a. auf der einen und der Vlaamse Regering (Flämische Regierung, Belgien) auf der anderen Seite über die Gültigkeit des Decreet houdende wijziging van de wet van 14 augustus 1986 betreffende de bescherming en het welzijn der dieren, wat de toegelaten methodes voor het slachten van dieren betreft (Dekret zur Änderung des Gesetzes vom 14. August 1986 über den Schutz und das Wohlbefinden der Tiere, was die zugelassenen Methoden für die Schlachtung von Tieren betrifft) vom 7. Juli 2017 (Belgisch Staatsblad vom 18. Juli 2017, S. 73318). |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 |
In den Erwägungsgründen 2, 4, 6, 11, 14 bis 16, 18, 20, 21, 43, 57 und 58 der Verordnung Nr. 1099/2009 heißt es:
…
…
…
…
…
…
…
…
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4 |
Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) dieser Verordnung bestimmt: „(1) Diese Verordnung enthält Vorschriften über die Tötung von Tieren, die zur Herstellung von Lebensmitteln, Wolle, Häuten, Pelzen oder anderen Erzeugnissen gezüchtet oder gehalten werden sowie über die Tötung von Tieren zum Zwecke der Bestandsräumung und damit zusammenhängende Tätigkeiten. Für Fische gelten jedoch nur die in Artikel 3 Absatz 1 festgelegten Anforderungen. … (3) Diese Verordnung gilt nicht für
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5 |
Art. 2 („Definitionen“) der Verordnung sieht vor: „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck …
…
…
…“ |
6 |
Art. 3 („Allgemeine Anforderungen in Bezug auf die Tötung und damit zusammenhängende Tätigkeiten“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1: „Bei der Tötung und damit zusammenhängenden Tätigkeiten werden die Tiere von jedem vermeidbarem Schmerz, Stress und Leiden verschont.“ |
7 |
Art. 4 („Betäubungsverfahren“) der Verordnung Nr. 1099/2009 sieht vor: „(1) Tiere werden nur nach einer Betäubung im Einklang mit den Verfahren und den speziellen Anforderungen in Bezug auf die Anwendung dieser Verfahren gemäß Anhang I getötet. Die Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit muss bis zum Tod des Tieres anhalten. Im Anschluss an die in Anhang I genannten Verfahren, die nicht zum sofortigen Tod führen …, wird so rasch wie möglich ein den Tod herbeiführendes Verfahren, wie z. B. Entblutung, Rückenmarkszerstörung, Tötung durch elektrischen Strom oder längerer Sauerstoffentzug, angewandt. … (4) Für Tiere, die speziellen Schlachtmethoden unterliegen, die durch bestimmte religiöse Riten vorgeschrieben sind, gelten die Anforderungen gemäß Absatz 1 nicht, sofern die Schlachtung in einem Schlachthof erfolgt.“ |
8 |
Art. 5 („Betäubungskontrollen“) der Verordnung sieht in Abs. 2 vor: „Werden Tiere für die Zwecke des Artikels 4 Absatz 4 ohne vorherige Betäubung getötet, so müssen die für die Schlachtung zuständigen Personen systematische Kontrollen durchführen, um sicherzustellen, dass die Tiere keine Anzeichen von Wahrnehmung oder Empfindung aufweisen, bevor ihre Ruhigstellung beendet wird, und kein Lebenszeichen aufweisen, bevor sie zugerichtet oder gebrüht werden.“ |
9 |
Art. 26 („Strengere nationale Vorschriften“) der Verordnung Nr. 1099/2009 bestimmt: „(1) Diese Verordnung hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung geltende nationale Vorschriften beizubehalten, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung sichergestellt werden soll. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die entsprechenden nationalen Vorschriften vor dem 1. Januar 2013 mit. Die Kommission unterrichtet die anderen Mitgliedstaaten hiervon. (2) Die Mitgliedstaaten können nationale Vorschriften, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung als in dieser Verordnung vorgesehen sichergestellt werden soll, in folgenden Bereichen erlassen: …
Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die entsprechenden nationalen Vorschriften mit. Die Kommission unterrichtet die anderen Mitgliedstaaten hiervon. … (4) Ein Mitgliedstaat kann jedoch das Inverkehrbringen von Erzeugnissen tierischen Ursprungs, die von in anderen Mitgliedstaaten getöteten Tieren stammen, in seinem Hoheitsgebiet nicht mit der Begründung verbieten oder behindern, dass die betreffenden Tiere nicht nach seinen nationalen Vorschriften, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung sichergestellt werden soll, getötet wurden.“ |
10 |
Art. 27 („Berichterstattung“) Abs. 1 dieser Verordnung lautet: „Spätestens bis 8. Dezember 2014 unterbreitet die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Bericht, in dem sie unter Berücksichtigung der Tierschutzaspekte sowie der sozioökonomischen und ökologischen Auswirkungen der Frage nachgeht, ob gewisse Anforderungen für den Schutz von Fischen zum Zeitpunkt der Tötung eingeführt werden können. Diesem Bericht fügt sie gegebenenfalls Legislativvorschläge bei, mit denen diese Verordnung durch die Aufnahme besonderer Vorschriften für den Schutz von Fischen zum Zeitpunkt der Tötung geändert werden soll. Bis zur Annahme dieser Rechtsakte können die Mitgliedstaaten nationale Vorschriften für den Schutz von Fischen zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung erlassen bzw. beibehalten; sie teilen der Kommission diese Vorschriften mit.“ |
Belgisches Recht
11 |
Art. 16 § 1 der Wet betreffende de bescherming en het welzijn der dieren (Gesetz über den Schutz und das Wohlbefinden der Tiere) vom 14. August 1986 (Belgisch Staatsblad vom 3. Dezember 1986, S. 16382) in der Fassung vor Erlass des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekrets sah in Unterabs. 1 die Verpflichtung vor, das Tier erst nach erfolgter Betäubung oder im Fall höherer Gewalt nach der schmerzlosesten Methode zu schlachten. In Art. 16 § 1 Unterabs. 2 wurde jedoch klargestellt, dass diese Verpflichtung ausnahmsweise keine Anwendung fand „auf Schlachtungen, die durch einen religiösen Ritus vorgeschrieben sind“. |
12 |
Mit dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekret, das am 1. Januar 2019 in Kraft getreten ist, wurde diese Ausnahme für die Flämische Region aufgehoben. Art. 15 § 2 des Gesetzes über den Schutz und das Wohlbefinden der Tiere in der durch Art. 3 dieses Dekrets geänderten Fassung sieht nämlich vor, dass „[wenn] Tiere nach besonderen, durch religiöse Riten vorgeschriebenen Methoden geschlachtet [werden], … die Betäubung umkehrbar sein [muss] und … nicht den Tod des Tieres herbeiführen [darf]“. |
13 |
In den Vorarbeiten zu diesem Dekret heißt es: „Flandern misst dem Wohlbefinden der Tiere große Bedeutung bei. Ziel ist es daher, alles vermeidbare Tierleid in Flandern zu bannen. Das Schlachten von Tieren ohne Betäubung ist mit diesem Grundsatz unvereinbar. Zwar könnten andere Maßnahmen, die weniger eingreifend sind als ein Verbot der Schlachtung ohne vorherige Betäubung, die negativen Auswirkungen dieser Schlachtmethode auf das Wohlbefinden der Tiere etwas begrenzen, jedoch können solche Maßnahmen nicht verhindern, dass das Wohlbefinden der Tiere weiterhin sehr schwerwiegend beeinträchtigt wird. Die Diskrepanz zwischen der Beseitigung vermeidbaren Tierleids auf der einen und der Schlachtung ohne vorherige Betäubung auf der anderen Seite wird immer noch sehr groß sein, selbst wenn weniger einschneidende Maßnahmen ergriffen werden, um die Beeinträchtigung des Wohlbefindens der Tiere größtmöglich zu beschränken. Gleichwohl wird ein Gleichgewicht zwischen dem Schutz des Wohlbefindens der Tiere und der Religionsfreiheit angestrebt. Sowohl der jüdische als auch der islamische Ritus verlangen ein maximales Entbluten des Tieres. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass die Befürchtung, die Betäubung würde sich negativ auf das Entbluten auswirken, unbegründet ist. Darüber hinaus verlangen beide Riten, dass das Tier zum Zeitpunkt des Schlachtens unversehrt und gesund ist und am Blutverlust stirbt. … [Die] Elektronarkose ist eine umkehrbare (nicht tödliche) Betäubung, bei der das Tier, wenn ihm nicht zwischenzeitlich die Kehle durchtrennt wird, nach kurzer Zeit das Bewusstsein wiedererlangt und keine negativen Auswirkungen der Betäubung erfährt. Wird dem Tier unmittelbar nach der Betäubung die Kehle durchtrennt, so ist sein Tod allein auf das Entbluten zurückzuführen. In Anbetracht dessen kann der Schlussfolgerung im Bericht von Herrn Vanthemsche gefolgt werden. Nach dieser Schlussfolgerung stellt die Anwendung der umkehrbaren, nicht tödlichen Betäubung bei der Praxis der rituellen Schlachtung eine verhältnismäßige Maßnahme dar, die den Geist der rituellen Schlachtung im Rahmen der Religionsfreiheit achtet und dem Wohlbefinden der betroffenen Tiere maximal Rechnung trägt. Die Verpflichtung zur Verwendung der Elektronarkose für Schlachtungen nach besonderen, von religiösen Riten vorgeschriebenen Methoden greift daher zumindest nicht in unverhältnismäßiger Weise in die Religionsfreiheit ein.“ |
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
14 |
Mit Klageschriften, die am 17. und am 18. Januar 2018 eingereicht wurden, erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens beim Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien), dem vorlegenden Gericht, Klagen auf Nichtigerklärung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekrets mit der Begründung, dass dieses u. a. gegen Art. 4 Abs. 4 und Art. 26 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1099/2009 verstoße, da es den jüdischen und muslimischen Gläubigen die Garantie nehme, dass rituelle Schlachtungen nicht von der Bedingung der vorherigen Betäubung abhängig gemacht werden könnten. Dieses Dekret hindere nämlich alle und nicht nur eine Minderheit dieser Gläubigen daran, ihre Religion auszuüben, indem es ihnen durch dieses Dekret unmöglich gemacht werde, sich mit Fleisch zu versorgen, das von Tieren stamme, die gemäß ihren religiösen Geboten geschlachtet worden seien, da diese Gebote der Technik der umkehrbaren Betäubung entgegenstünden. |
15 |
Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, führen die Kläger des Ausgangsverfahrens aus, dass Tiere nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1099/2009 in Verbindung mit deren 20. Erwägungsgrund vor der Schlachtung grundsätzlich betäubt werden müssten, wobei die Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit bis zum Tod des Tieres anhalten müsse. |
16 |
Nach Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung gelte die Verpflichtung zur Betäubung jedoch nicht für die Schlachtung von Tieren, die nach speziellen, durch religiöse Riten vorgeschriebenen Methoden durchgeführt werde. Nach dem 18. Erwägungsgrund dieser Verordnung sei diese Ausnahme durch das Ziel der Achtung der in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierten Religionsfreiheit vorgegeben, wie der Gerichtshof im Urteil vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2018:335, Rn. 56 und 57), festgestellt habe. |
17 |
Der Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof) weist insoweit darauf hin, dass das in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Recht dem in Art. 9 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verbürgten Recht entspreche, und der Gerichtshof daraus abgeleitet habe, dass der Begriff „Religion“ sowohl das forum internum, d. h. den Umstand, Überzeugungen zu haben, als auch das forum externum, d. h. die Bekundung des religiösen Glaubens in der Öffentlichkeit, umfassen könne. |
18 |
Die durch religiöse Riten vorgeschriebenen speziellen Schlachtmethoden und die Achtung religiöser Lebensmittelgebote fielen in den Anwendungsbereich der Religionsfreiheit und könnten als öffentliches Bekennen einer religiösen Überzeugung im Sinne von Art. 9 EMRK und Art. 10 Abs. 1 der Charta angesehen werden. Insbesondere habe die rituelle Schlachtung zum Ziel, die betroffenen Gläubigen mit Fleisch zu versorgen, das von Tieren stamme, die gemäß ihren religiösen Überzeugungen geschlachtet worden seien. Zwar habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte insoweit im Urteil vom 27. Juni 2000, Cha’are Shalom Ve Tsedek/Frankreich (CE:ECHR:2000:0627JUD002741795‚ § 82), entschieden, dass, wenn es den Gläubigen nicht unmöglich sei, sich mit Fleisch, das von Tieren stamme, die gemäß ihren religiösen Überzeugungen geschlachtet worden seien, zu versorgen und solches Fleisch zu verzehren, das Recht auf Religionsfreiheit nicht so weit reiche, dass es auch das Recht umfassen würde, eine rituelle Schlachtung persönlich vorzunehmen. |
19 |
Die Kläger des Ausgangsverfahrens machen geltend, dass die Mitgliedstaaten Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 jedoch nicht anwenden könnten, um die in Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung geregelte Ausnahme von der Pflicht einer Betäubung bei der rituellen Schlachtung auszuhöhlen. |
20 |
Außerdem machen die Kläger des Ausgangsverfahrens geltend, das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret beschränke die Religionsfreiheit unverhältnismäßig, zumal Fleisch von Rindern, die gemäß religiösen Geboten geschlachtet worden seien, nur 0,1 % der gesamten in Belgien erzeugten Fleischmenge ausmache und die Fälle, in denen keine vorherige Betäubung erfolge, über diesem Prozentsatz lägen. Außerdem habe die jüdische Gemeinschaft keine Gewissheit, sich ausreichend mit Fleisch von Tieren versorgen zu können, die gemäß den Geboten der jüdischen Religion geschlachtet worden seien. Die Gesetzgebungsabteilung des Raad van State (Staatsrat, Belgien) habe daraus im Übrigen abgeleitet, dass das Verbot der Schlachtung ohne Betäubung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Religionsfreiheit darstelle. |
21 |
Das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret stelle auch einen Eingriff in die Religionsfreiheit dar, da es die Anhänger der jüdischen Religion daran hindere, Tiere gemäß der Schechita, d. h. dem dieser Religion eigenen Schlachtritus, zu töten. Insoweit könne der Umstand, dass Fleisch von Tieren, die gemäß den religiösen Geboten geschlachtet würden, aus dem Ausland eingeführt werden könne, nicht berücksichtigt werden. |
22 |
Schließlich stellen die Kläger des Ausgangsverfahrens die Prämisse des flämischen Gesetzgebers in Frage, wonach das Verfahren einer umkehrbaren Betäubung, die nicht den Tod des Tieres herbeiführe, den religiösen Anforderungen an die Schlachtung entspreche. |
23 |
Die flämische und die wallonische Regierung sind hingegen der Auffassung, dass Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 die Mitgliedstaaten ausdrücklich dazu ermächtige, von Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung abzuweichen. |
24 |
Das vorlegende Gericht weist zum einen darauf hin, dass die in Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 vorgesehene Ausnahme von der grundsätzlichen Verpflichtung zur Betäubung vor der Tötung zum Ziel habe, die in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Religionsfreiheit zu wahren, und zum anderen darauf, dass Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c dieser Verordnung in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 18 und 57 die Mitgliedstaaten ermächtige, zur Förderung des Tierschutzes von diesem Art. 4 Abs. 4 abzuweichen, ohne dass jedoch die Grenzen konkretisiert würden, die die Mitgliedstaaten dabei zu beachten hätten. |
25 |
Folglich stelle sich die Frage, ob Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 dahin ausgelegt werden könne, dass es den Mitgliedstaaten erlaubt sei, nationale Vorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu erlassen, und, bejahendenfalls, ob diese Bestimmung mit der in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierten Religionsfreiheit vereinbar sei. |
26 |
Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Ausnahme für die rituelle Schlachtung von der Verpflichtung zur vorherigen Betäubung durch das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret mit Wirkung vom 1. Januar 2019 aufgehoben worden sei. Aus den Vorarbeiten zu diesem Dekret gehe außerdem hervor, dass der flämische Gesetzgeber davon ausgegangen sei, dass die Schlachtung ohne Betäubung dem Tier vermeidbares Leiden zufüge. Er habe daher versucht, das Wohlbefinden der Tiere zu fördern und ein Gleichgewicht zwischen dem Ziel der Förderung des Wohlbefindens der Tiere einerseits und dem Ziel der Gewährleistung der Religionsfreiheit andererseits herzustellen. |
27 |
Um den Wünschen der betroffenen Religionsgemeinschaften so weit wie möglich zu entsprechen, schreibe Art. 15 Abs. 2 des Gesetzes vom 14. August 1986 in der durch das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret geänderten Fassung im Rahmen der rituellen Schlachtung nunmehr eine Betäubung vor, die umkehrbar und nicht geeignet sei, den Tod des Tieres herbeizuführen. Den Vorarbeiten zu diesem Dekret lasse sich somit entnehmen, dass der flämische Gesetzgeber der Ansicht gewesen sei, dass diese Bestimmung den Wünschen der betroffenen Religionsgemeinschaften entgegenkomme, weil durch die Anwendung der Technik der umkehrbaren Betäubung die religiösen Gebote, nach denen das Tier zum Zeitpunkt der Schlachtung nicht tot sein dürfe und vollständig ausbluten müsse, geachtet würden. |
28 |
Die erfolgte Gesetzesänderung könne jedoch nicht dahin ausgelegt werden, dass sie alle Religionsgemeinschaften verpflichte, die Technik der umkehrbaren Betäubung zu akzeptieren. Außerdem wirke sich das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret, wie aus den Vorarbeiten dazu hervorgehe, nicht auf die Möglichkeit für die Gläubigen aus, sich mit Fleisch zu versorgen, das von Tieren stamme, die ohne vorherige Betäubung geschlachtet worden seien, da keine Bestimmung die Einfuhr solchen Fleisches in die Flämische Region verbiete. Ein solches Einfuhrverbot verstieße jedenfalls gegen Art. 26 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009. |
29 |
Die Kläger des Ausgangsverfahrens machen hingegen geltend, dass immer mehr Mitgliedstaaten, wie die Flämische Region, die Schlachtung von Tieren ohne Betäubung oder zumindest die Ausfuhr von Fleisch von Tieren, die gemäß religiösen Geboten geschlachtet worden seien, untersagten, was die Versorgung mit solchem Fleisch in der Flämischen Region gefährde. Außerdem sei anhand der Zertifizierung von eingeführtem Fleisch nicht mit Sicherheit festzustellen, ob das Fleisch tatsächlich von Tieren stamme, die gemäß den religiösen Geboten geschlachtet worden seien. |
30 |
Die flämische und die wallonische Regierung wenden ein, dass eine Reihe von Mitgliedstaaten ein solches generelles Verbot der Tötung ohne vorherige Betäubung nicht kennten und dass der Handel mit Fleisch nicht an den Grenzen der Union ende. |
31 |
Schließlich machen die Kläger des Ausgangsverfahrens geltend, dass Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009, sollte er dahin auszulegen sein, dass er es den Mitgliedstaaten gestatte, Maßnahmen wie die in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekret vorgesehenen zu erlassen, gegen die Grundsätze der Gleichheit, der Nichtdiskriminierung und der Vielfalt der Religionen verstoße, die in den Art. 20, 21 bzw. 22 der Charta garantiert seien. In diesem Zusammenhang weisen sie darauf hin, dass dieses Dekret, das in Anwendung dieser Verordnung erlassen worden sei, ohne sachliche Rechtfertigung Personen, die Tiere bei der Jagd oder der Fischerei oder bei der Schädlingsbekämpfung töteten, auf der einen und Personen, die Tiere gemäß den speziellen Schlachtmethoden töteten, die durch einen religiösen Ritus vorgeschrieben seien, auf der anderen Seite unterschiedlich behandle. |
32 |
Unter diesen Umständen hat der Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
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Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
33 |
Mit Schriftsatz, der am 2. Oktober 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, haben CICB u. a. sowie Kosher Poultry u. a. beantragt, nach Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zu beschließen. |
34 |
Zur Stützung ihres Antrags machen CICB u. a. sowie Kosher Poultry u. a. im Wesentlichen geltend, dass der Sejm (Unterhaus des Parlaments, Polen) am 18. September 2020 einen Gesetzentwurf angenommen habe, der die Ausfuhr von Fleisch von Tieren, die im Rahmen der rituellen Schlachtung getötet worden seien, untersage. Da dieser Mitgliedstaat für die jüdische Gemeinschaft Belgiens der wichtigste Lieferant von koscherem Fleisch sei und es keine konkrete Ersatzlösung gebe, verstärke die Annahme eines solchen Gesetzentwurfs die Unverhältnismäßigkeit des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekrets noch und stelle daher eine neue Tatsache dar, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs sei. |
35 |
Nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist. |
36 |
Dies ist hier nicht der Fall. |
37 |
In der mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof nämlich durch eine an die Flämische Region gerichtete Frage, auf die alle teilnehmenden Parteien reagieren konnten, die Situation in Betracht gezogen, die über die von CICB u. a. sowie Kosher Poultry u. a. in ihrem Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens geltend gemachte Situation hinausgeht, dass nämlich in allen Mitgliedstaaten eine Maßnahme erlassen würde, die wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret die Tötung von Tieren ohne vorherige Betäubung im Rahmen der rituellen Schlachtung verböte. |
38 |
In Anbetracht des Vorstehenden ist der Gerichtshof aufgrund dessen, dass der in Rn. 34 des vorliegenden Urteils genannte Gesetzentwurf weder eine neue Tatsache im Sinne von Art. 83 der Verfahrensordnung darstellen kann, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs wäre, noch eine Tatsache in Bezug auf ein Vorbringen, das im Sinne der genannten Vorschrift zwischen den beteiligten Parteien nicht erörtert worden wäre, nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass kein Anlass besteht, die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zu beschließen. |
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage
39 |
Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 im Licht von Art. 13 AEUV und Art. 10 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die im Rahmen der rituellen Schlachtung ein Verfahren einer Betäubung vorschreibt, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen. |
40 |
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1099/2009, die ihre Rechtsgrundlage in Art. 37 EG (jetzt Art. 43 AEUV) hat und Teil des Aktionsplans der Gemeinschaft für den Schutz und das Wohlbefinden von Tieren 2006-2010 (KOM[2006] 13 endg. vom 23. Januar 2006) ist, darauf abzielt, gemeinsame Regeln für den Schutz des Tierwohls zum Zeitpunkt der Schlachtung bzw. Tötung von Tieren in der Union festzulegen, und, wie es in ihrem vierten Erwägungsgrund heißt, auf dem Gedanken beruht, dass der Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung im Interesse der Allgemeinheit ist. |
41 |
Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1099/2009 in Verbindung mit dem 20. Erwägungsgrund dieser Verordnung den Grundsatz der Betäubung des Tieres vor seiner Tötung aufstellt und ihn sogar zur Pflicht erhebt, da wissenschaftliche Studien gezeigt haben, dass die Betäubung die Technik darstellt, die das Tierwohl zum Zeitpunkt der Schlachtung am wenigsten beeinträchtigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2019, Œuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs, C‑497/17, EU:C:2019:137, Rn. 47). Wie sich aus dem vierten Erwägungsgrund der genannten Verordnung ergibt, spiegelt der in dieser Bestimmung vorgesehene Grundsatz der vorherigen Betäubung diesen Wert der Union, das Tierwohl, wider, wie er nunmehr in Art. 13 AEUV verankert ist, wonach die Union und die Mitgliedstaaten bei der Festlegung und Durchführung der Politik der Union den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere in vollem Umfang Rechnung tragen müssen. |
42 |
Dieser Grundsatz entspricht dem Tierschutz als Hauptziel, das mit der Verordnung Nr. 1099/2009 verfolgt wird und das bereits aus dem Titel dieser Verordnung und ihrem zweiten Erwägungsgrund hervorgeht, und zwar im Einklang mit Art. 13 AEUV (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a., C‑426/16, EU:C:2018:335‚ Rn. 63 und 64). |
43 |
Sodann bestimmt Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009, dass der Grundsatz der vorherigen Betäubung nicht für Tiere gilt, die speziellen, durch religiöse Riten vorgeschriebenen Schlachtmethoden unterliegen, sofern die Schlachtung in einem Schlachthof erfolgt. Zwar lässt die letztgenannte Bestimmung in Verbindung mit dem 18. Erwägungsgrund der Verordnung die Praxis der rituellen Schlachtung zu, in deren Rahmen das Tier ohne vorherige Betäubung getötet werden kann, jedoch ist diese Form der Schlachtung, die in der Union nur ausnahmsweise erlaubt ist, um die Beachtung der Religionsfreiheit sicherzustellen, nicht geeignet, Schmerzen, Stress oder Leiden des Tieres genauso wirksam zu mildern wie eine Schlachtung, der eine Betäubung vorausgeht, die gemäß Art. 2 Buchst. f der genannten Verordnung in Verbindung mit ihrem 20. Erwägungsgrund erforderlich ist, um beim Tier eine Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit herbeizuführen, mit der sein Leiden erheblich verringert werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2019, Œuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs, C‑497/17, EU:C:2019:137, Rn. 48). |
44 |
Diese Ausnahme beruht, wie aus dem 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 hervorgeht, darauf, dass bei der Festlegung und Durchführung der Politik der Gemeinschaft, unter anderem in den Bereichen Landwirtschaft und Binnenmarkt, die Rechts- und Verwaltungsvorschriften und die Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten insbesondere in Bezug auf religiöse Riten, kulturelle Traditionen und das regionale Erbe zu berücksichtigen sind. Damit konkretisiert sie gemäß Art. 10 Abs. 1 der Charta das Bestreben des Unionsgesetzgebers, die effektive Wahrung der Religionsfreiheit und des Rechts, seine Religion oder Weltanschauung durch Bräuche und Riten zu bekennen, insbesondere zugunsten von praktizierenden Muslimen und Juden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a., C‑426/16, EU:C:2018:335‚ Rn. 56 und 57). |
45 |
Des Weiteren geht aus dem 18. Erwägungsgrund der genannten Verordnung hervor, dass der Unionsgesetzgeber in Anbetracht dessen, dass „[d]ie [Unions]vorschriften über die rituelle Schlachtung [die aus der Richtlinie 93/119 hervorgegangen sind] je nach den einzelstaatlichen Bedingungen unterschiedlich umgesetzt [wurden], und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften … Faktoren [berücksichtigen], die über den Anwendungsbereich dieser Verordnung hinausgehen“, entschieden hat, „dass die Ausnahme von der Verpflichtung zur Betäubung von Tieren vor der Schlachtung aufrechterhalten wird, wobei den Mitgliedstaaten jedoch ein gewisses Maß an Subsidiarität eingeräumt wird“. Zu diesem Zweck ermächtigt Art. 26 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1099/2009 die Mitgliedstaaten, zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung geltende nationale Vorschriften beizubehalten, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung sichergestellt werden soll, während Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der genannten Verordnung bestimmt, dass die Mitgliedstaaten nationale Vorschriften erlassen können, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung als in dieser Verordnung vorgesehen sichergestellt werden soll, insbesondere im Bereich der „Schlachtung von Tieren gemäß Artikel 4 Absatz 4 und damit zusammenhängende[n] Tätigkeiten“, wobei klarstellend darauf hinzuweisen ist, dass diese damit zusammenhängenden Tätigkeiten nach Art. 2 Buchst. b der Verordnung die Betäubung umfassen. |
46 |
Art. 26 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 schließlich stellt klar, dass ein Mitgliedstaat das Inverkehrbringen von Erzeugnissen tierischen Ursprungs, die von in anderen Mitgliedstaaten getöteten Tieren stammen, in seinem Hoheitsgebiet nicht mit der Begründung verbieten oder behindern kann, dass die betreffenden Tiere nicht nach seinen nationalen Vorschriften, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung sichergestellt werden soll, getötet wurden. |
47 |
Somit spiegelt der durch die Verordnung Nr. 1099/2009 geschaffene Rahmen die Vorgabe des Art. 13 AEUV wider, wonach „die Mitgliedstaaten den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung [tragen und hierbei] die Rechts- und Verwaltungsvorschriften und die Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten insbesondere in Bezug auf religiöse Riten, kulturelle Traditionen und das regionale Erbe [berücksichtigen]“. Dieser Rahmen zeigt, dass diese Verordnung nicht selbst den erforderlichen Einklang zwischen dem Wohlergehen der Tiere und der Freiheit, seine Religion zu bekennen, herstellt, sondern sich darauf beschränkt, den Rahmen für den Einklang vorzugeben, den die Mitgliedstaaten zwischen diesen beiden Werten herzustellen haben. |
48 |
Aus den Erwägungen in den Rn. 44 bis 47 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass zum einen Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 nicht gegen die Freiheit verstößt, seine Religion zu bekennen, wie sie in Art. 10 Abs. 1 der Charta gewährleistet ist, und dass zum anderen die Mitgliedstaaten im Rahmen der ihnen nach dieser Bestimmung eingeräumten Möglichkeit, zusätzliche Vorschriften zu erlassen, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren als in dieser Verordnung vorgesehen sichergestellt werden soll, u. a. eine Verpflichtung zur Betäubung der Tiere vor der Tötung auferlegen können, die auch im Rahmen einer durch religiöse Riten vorgeschriebenen Schlachtung gilt, allerdings vorbehaltlich der Achtung der in der Charta verankerten Grundrechte. |
49 |
Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta sind die Mitgliedstaaten nämlich verpflichtet, die in der Charta verankerten Grundrechte zu beachten, wenn sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. |
50 |
Was die Vereinbarkeit von auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 erlassenen nationalen Maßnahmen mit der Freiheit, seine Religion zu bekennen, anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 10 Abs. 1 der Charta vorsieht, dass jede Person das Recht auf Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit hat, und klarstellt, dass dieses Recht die Freiheit umfasst, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen. |
51 |
Insoweit fällt eine nationale Regelung, die auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c dieser Verordnung erlassen wurde und im Rahmen einer rituellen Schlachtung eine Betäubung vorschreibt, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen, in den Anwendungsbereich der in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierten Freiheit, seine Religion zu bekennen. |
52 |
Die Charta legt dem in dieser Vorschrift genannten Begriff „Religion“ nämlich eine weite Bedeutung bei, die sowohl das forum internum, d. h. den Umstand, Überzeugungen zu haben, als auch das forum externum, d. h. die Bekundung des religiösen Glaubens in der Öffentlichkeit, umfassen kann, und der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die rituelle Schlachtung unter die in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Freiheit, seine Religion zu bekennen, fällt (Urteil vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a., C‑426/16, EU:C:2018:335‚ Rn. 44 und 49). |
53 |
Wie die Kläger des Ausgangsverfahrens vortragen, scheint das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 erlassene Dekret, indem es die Verpflichtung zur vorherigen Betäubung des Tieres bei der rituellen Schlachtung auferlegt, dabei aber zugleich vorschreibt, dass diese Betäubung umkehrbar sein muss und nicht den Tod des Tieres herbeiführen darf, mit bestimmten jüdischen und islamischen religiösen Geboten unvereinbar zu sein. |
54 |
Insoweit geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass für die Kläger des Ausgangsverfahrens die rituelle Schlachtung bestimmten religiösen Geboten entspricht, die im Wesentlichen vorsehen, dass die Gläubigen nur Fleisch von Tieren verzehren dürfen, die ohne vorherige Betäubung geschlachtet wurden, um sicherzustellen, dass diese keinem Verfahren unterzogen werden, das vor der Schlachtung zum Tod führen kann, und dass sie ausbluten. |
55 |
Folglich bringt dieses Dekret für jüdische und muslimische Gläubige eine Einschränkung der Ausübung des Rechts auf die Freiheit mit sich, ihre Religion zu bekennen, wie es in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantiert ist. |
56 |
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass mit Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den entsprechenden durch die EMRK garantierten Rechten gewährleistet werden soll, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird. Bei der Auslegung der Charta sind somit die entsprechenden Rechte der EMRK als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn [Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen], C‑235/17, EU:C:2019:432‚ Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791‚ Rn. 124). Da aus den Erläuterungen zu Art. 10 der Charta hervorgeht, dass die in Abs. 1 dieser Vorschrift garantierte Freiheit der durch Art. 9 EMRK garantierten Freiheit entspricht, ist jene Freiheit bei der Auslegung von Art. 10 Abs. 1 der Charta zu berücksichtigen. |
57 |
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist die durch Art. 9 EMRK geschützte Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit aber eine der Grundfesten einer „demokratischen Gesellschaft“ im Sinne dieser Konvention, da der Pluralismus, der mit einer solchen Gesellschaft untrennbar verbunden ist, von dieser Freiheit abhängt (vgl. in diesem Sinne EGMR, 18. Februar 1999, Buscarini u. a./San Marino, CE:ECHR:1999:0218JUD002464594‚ § 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 17. Februar 2011, Wasmuth/Deutschland, CE:ECHR:2011:0217JUD001288403‚ § 50). So bestimmt Art. 9 Abs. 2 EMRK, dass „[d]ie Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, … nur Einschränkungen unterworfen werden [darf], die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“. |
58 |
Im gleichen Sinne muss gemäß Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta bestimmt sodann, dass Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden dürfen, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. |
59 |
Im Licht dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob eine nationale Regelung, die eine Verpflichtung zur vorherigen Betäubung des Tieres bei der rituellen Schlachtung vorsieht, dabei aber zugleich vorschreibt, dass diese Betäubung umkehrbar sein muss und nicht den Tod dieses Tieres herbeiführen darf, die Voraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 und 3 der Charta in Verbindung mit Art. 13 AEUV erfüllt. |
60 |
Erstens ist die Beschränkung der Ausübung des in Rn. 55 des vorliegenden Urteils genannten Rechts auf die Freiheit, seine Religion zu bekennen, gesetzlich im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehen, da sie sich aus dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekret ergibt. |
61 |
Zweitens achtet eine nationale Regelung, die die Verpflichtung zur vorherigen Betäubung des Tieres bei der rituellen Schlachtung auferlegt, dabei aber zugleich vorschreibt, dass diese Betäubung umkehrbar sein muss und nicht den Tod des Tieres herbeiführen darf, den Wesensgehalt von Art. 10 der Charta, da nach den in Rn. 54 des vorliegenden Urteils angeführten Angaben in der dem Gerichtshof vorliegenden Akte der Eingriff, der sich aus einer solchen Regelung ergibt, auf einen Aspekt der spezifischen rituellen Handlung, die diese Schlachtung darstellt, beschränkt ist, die jedoch als solche nicht verboten ist. |
62 |
Was drittens die Frage anbelangt, ob die Beschränkung des durch Art. 10 der Charta garantierten Rechts, die sich aus einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ergibt, einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht, ergibt sich aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen, dass der flämische Gesetzgeber das Wohlbefinden der Tiere fördern wollte. So heißt es in den Vorarbeiten zu dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekret, dass „Flandern … dem Wohlbefinden der Tiere große Bedeutung bei[misst]“, dass „Ziel … daher [ist], alles vermeidbare Tierleid in Flandern zu bannen“, dass „[d]as Schlachten von Tieren ohne Betäubung … mit diesem Grundsatz unvereinbar [ist]“ und dass „[z]war … andere Maßnahmen, die weniger eingreifend sind als ein Verbot der Schlachtung ohne vorherige Betäubung, die negativen Auswirkungen dieser Schlachtmethode auf das Wohlbefinden der Tiere etwas begrenzen [könnten], … solche Maßnahmen [jedoch] nicht verhindern [können], dass das Wohlbefinden der Tiere weiterhin sehr schwerwiegend beeinträchtigt wird“. |
63 |
Sowohl aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Januar 2008, Viamex Agrar Handel und ZVK, C‑37/06 und C‑58/06, EU:C:2008:18, Rn. 22, vom 19. Juni 2008, Nationale Raad van Dierenkwekers en Liefhebbers und Andibel, C‑219/07, EU:C:2008:353‚ Rn. 27, vom 10. September 2009, Kommission/Belgien, C‑100/08, nicht veröffentlicht, EU:C:2009:537‚ Rn. 91, und vom 23. April 2015, Zuchtvieh-Export, C‑424/13, EU:C:2015:259‚ Rn. 35) als auch aus Art. 13 AEUV ergibt sich aber, dass der Schutz des Wohlergehens der Tiere eine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung darstellt. |
64 |
Viertens ist, was die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit anbelangt, festzustellen, dass dieser Grundsatz verlangt, dass die Beschränkungen, die durch das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret an der Freiheit, seine Religion zu bekennen, vorgenommen werden, nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197‚ Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 30. April 2019, Italien/Rat [Fangquoten für Schwertfisch im Mittelmeer], C‑611/17, EU:C:2019:332‚ Rn. 55). |
65 |
Sind mehrere in den Verträgen verankerte Grundrechte und Grundsätze betroffen, wie im vorliegenden Fall das in Art. 10 der Charta garantierte Recht und das in Art. 13 AEUV verankerte Wohlergehen der Tiere, so ist bei der Beurteilung der Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit darauf zu achten, dass die mit dem Schutz der verschiedenen Rechte und Grundsätze verbundenen Erfordernisse miteinander in Einklang gebracht werden und dass zwischen ihnen ein angemessenes Gleichgewicht besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Deutsche Umwelthilfe, C‑752/18, EU:C:2019:1114‚ Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
66 |
Hierzu ist festzustellen, dass eine nationale Regelung, die die Verpflichtung zur vorherigen Betäubung des Tieres bei der rituellen Schlachtung auferlegt, dabei aber zugleich vorschreibt, dass diese Betäubung umkehrbar sein muss und nicht den Tod dieses Tieres herbeiführen darf, geeignet ist, das in Rn. 62 des vorliegenden Urteils genannte Ziel der Förderung des Wohlbefindens der Tiere zu erreichen. |
67 |
Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geht hervor, dass der Rolle des nationalen Entscheidungsträgers besondere Bedeutung beizumessen ist, wenn es um allgemeine politische Fragen wie die Bestimmung der Beziehungen zwischen Staat und Religion geht, über die in einem demokratischen Staat vernünftigerweise erhebliche Meinungsunterschiede bestehen können. Daher ist dem Staat im Anwendungsbereich des Art. 9 EMRK grundsätzlich ein weiter Wertungsspielraum bei der Entscheidung zuzuerkennen, ob und inwieweit eine Beschränkung des Rechts, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, „notwendig“ ist. Der den Mitgliedstaaten damit zuerkannte Wertungsspielraum bei fehlendem Konsens auf Unionsebene muss jedoch mit einer europäischen Kontrolle einhergehen, die insbesondere darin besteht, zu prüfen, ob die auf nationaler Ebene getroffenen Maßnahmen grundsätzlich gerechtfertigt sind und ob sie verhältnismäßig sind (vgl. in diesem Sinne EGMR, 1. Juli 2014, S.A.S./Frankreich, CE:ECHR:2014:0701JUD004383511‚ §§ 129 und 131 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
68 |
Wie sich aus den Erwägungsgründen 18 und 57 der Verordnung Nr. 1099/2009 ergibt, war es gerade der fehlende Konsens zwischen den Mitgliedstaaten hinsichtlich ihres Vorgehens bezüglich der rituellen Schlachtung, der zur Annahme der Art. 4 und 26 dieser Verordnung führte. |
69 |
Im 18. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 heißt es nämlich, wie in Rn. 45 des vorliegenden Urteils ausgeführt, dass es wichtig ist, dass die Ausnahme von der Verpflichtung zur Betäubung von Tieren vor der Schlachtung aufrechterhalten wird, wobei den Mitgliedstaaten jedoch ein gewisses Maß an Subsidiarität eingeräumt wird. |
70 |
Was den 57. Erwägungsgrund dieser Verordnung anbelangt, so wird darin zunächst darauf hingewiesen, dass die Europäischen Bürger erwarten, dass bei der Schlachtung von Tieren Mindestvorschriften für den Tierschutz eingehalten werden, und sodann betont, dass in bestimmten Bereichen die Einstellung zu Tieren auch von der Wahrnehmung in dem jeweiligen Mitgliedstaat abhängt, und in einigen Mitgliedstaaten die Beibehaltung oder die Annahme umfassenderer Tierschutzvorschriften als die in der Union festgelegten gefordert wird. Weiter heißt es in diesem Erwägungsgrund, dass es im Interesse der Tiere unter der Voraussetzung, dass das Funktionieren des Binnenmarktes nicht beeinträchtigt wird, angebracht ist, den Mitgliedstaaten eine gewisse Flexibilität einzuräumen, was die Beibehaltung oder in bestimmten spezifischen Bereichen den Erlass umfassenderer nationaler Vorschriften anbelangt. |
71 |
Mit dem Hinweis auf die „Wahrnehmung in dem jeweiligen Mitgliedstaat“, was Tiere anbelangt, und auf die Notwendigkeit, den Mitgliedstaaten „eine gewisse Flexibilität“ oder „ein gewisses Maß an Subsidiarität“ einzuräumen, wollte der Unionsgesetzgeber daher den insoweit jedem Mitgliedstaat eigenen sozialen Kontext wahren und jedem Mitgliedstaat im Rahmen des notwendigen Einklangs von Art. 13 AEUV und Art. 10 der Charta einen weiten Wertungsspielraum einräumen, um ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Schutz des Tierwohls bei der Tötung der Tiere auf der einen und der Wahrung der Freiheit, seine Religion zu bekennen, auf der anderen Seite herzustellen. |
72 |
Was insbesondere die Erforderlichkeit des Eingriffs in die Freiheit, seine Religion zu bekennen, anbelangt, die sich aus dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekret ergibt, ist darauf hinzuweisen, dass aus den im sechsten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 angeführten wissenschaftlichen Gutachten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hervorgeht, dass ein wissenschaftlicher Konsens darüber entstanden ist, dass die vorherige Betäubung das beste Mittel ist, um das Leiden des Tieres zum Zeitpunkt seiner Tötung zu verringern. |
73 |
Unter diesem Blickwinkel hat der flämische Gesetzgeber in den Vorarbeiten zu dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekret ausgeführt, dass „[d]ie Diskrepanz zwischen der Beseitigung vermeidbaren Tierleids auf der einen und der Schlachtung ohne vorherige Betäubung auf der anderen Seite … immer noch sehr groß sein [wird], selbst wenn weniger einschneidende Maßnahmen ergriffen werden, um die Beeinträchtigung des Wohlbefindens der Tiere größtmöglich zu beschränken“. |
74 |
Folglich konnte der flämische Gesetzgeber, ohne den in Rn. 67 des vorliegenden Urteils genannten Wertungsspielraum zu überschreiten, davon ausgehen, dass die Beschränkungen, die durch das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret an der Freiheit, seine Religion zu bekennen, vorgenommen werden, indem es eine vorherige Betäubung vorschreibt, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen, die Voraussetzung der Erforderlichkeit erfüllen. |
75 |
Was schließlich die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Freiheit, seine Religion zu bekennen, anbelangt, der sich aus dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekret ergibt, ist erstens festzustellen, dass sich der flämische Gesetzgeber, wie aus den in Rn. 13 des vorliegenden Urteils angeführten Vorarbeiten zu diesem Dekret hervorgeht, auf wissenschaftliche Untersuchungen gestützt hat, die gezeigt haben, dass die Befürchtung, dass die Betäubung die Entblutung negativ beeinflussen würde, unbegründet ist. Außerdem geht aus diesen Vorarbeiten hervor, dass die Elektronarkose eine nicht tödliche und umkehrbare Betäubungsmethode ist, so dass der Tod des Tieres, wenn ihm unmittelbar nach der Betäubung die Kehle durchtrennt wird, allein auf das Entbluten zurückzuführen ist. |
76 |
Zudem wollte sich der flämische Gesetzgeber, indem er im Rahmen der rituellen Schlachtung eine vorherige Betäubung vorschreibt, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen, auch am zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 orientieren, in dessen Licht Art. 4 dieser Verordnung in seiner Gesamtheit zu lesen ist und der im Wesentlichen besagt, dass, um die Tiere bei der Tötung von vermeidbaren Schmerzen, vermeidbarem Stress oder vermeidbarem Leiden zu verschonen, dem modernsten erlaubten Tötungsverfahren der Vorzug zu geben ist, wenn bedeutende wissenschaftliche Fortschritte es ermöglichen, ihr Leiden zum Zeitpunkt der Tötung zu verringern. |
77 |
Zweitens ist die Charta, wie die EMRK, ein lebendiges Instrument, das im Licht der gegenwärtigen Lebensbedingungen und der heute in demokratischen Staaten vorherrschenden Vorstellungen auszulegen ist (vgl. entsprechend EGMR, 7. Juli 2011, Bayatyan/Armenien [GC], CE:ECHR:2011:0707JUD002345903‚ § 102 und die dort angeführte Rechtsprechung), so dass die Entwicklung der Werte und Vorstellungen, sowohl in gesellschaftlicher als auch in normativer Hinsicht, in den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen ist. Der Tierschutz als Wert, dem die heutigen demokratischen Gesellschaften seit einigen Jahren größere Bedeutung beimessen, kann aber in Anbetracht der Entwicklung der Gesellschaft im Rahmen der rituellen Schlachtung stärker berücksichtigt werden und somit dazu beitragen, die Verhältnismäßigkeit einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu rechtfertigen. |
78 |
Drittens verbietet oder behindert dieses Dekret nach der in Art. 26 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 festgelegten Regel in seinem räumlichen Geltungsbereich nicht das Inverkehrbringen von Erzeugnissen tierischen Ursprungs, die von in anderen Mitgliedstaaten rituell und ohne vorherige Betäubung geschlachteten Tieren stammen. Die Kommission hat hierzu im Übrigen in ihren beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen darauf hingewiesen, dass die Mehrheit der Mitgliedstaaten die Schlachtung ohne vorherige Betäubung nach Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung erlaube. Darüber hinaus verbietet oder behindert eine nationale Regelung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret, wie die flämische und die wallonische Regierung im Wesentlichen geltend gemacht haben, nicht das Inverkehrbringen von Erzeugnissen tierischen Ursprungs, die von rituell geschlachteten Tieren stammen, wenn diese Erzeugnisse ihren Ursprung in einem Drittstaat haben. |
79 |
Somit konnte der flämische Gesetzgeber in einem sich sowohl in gesellschaftlicher als auch in normativer Hinsicht entwickelnden Kontext, der, wie in Rn. 77 des vorliegenden Urteils ausgeführt, durch eine zunehmende Sensibilisierung für die Problematik des Tierschutzes gekennzeichnet ist, nach einer auf der Ebene der Flämischen Region organisierten umfassenden Debatte das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret erlassen, ohne den Wertungsspielraum zu überschreiten, den das Unionsrecht den Mitgliedstaaten hinsichtlich des erforderlichen Einklangs von Art. 10 Abs. 1 der Charta und Art. 13 AEUV einräumt. |
80 |
Somit ist davon auszugehen, dass die Maßnahmen, die das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dekret umfasst, es ermöglichen, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Bedeutung, die dem Tierschutz beigemessen wird, und der Freiheit der jüdischen und muslimischen Gläubigen, ihre Religion zu bekennen, zu gewährleisten, und daher verhältnismäßig sind. |
81 |
Unter diesen Umständen ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 im Licht von Art. 13 AEUV und Art. 10 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats, die im Rahmen der rituellen Schlachtung ein Verfahren einer Betäubung vorschreibt, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen, nicht entgegensteht. |
Zur dritten Frage
82 |
Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 im Hinblick auf die Grundsätze der Gleichheit, der Nichtdiskriminierung sowie der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen, wie sie in den Art. 20, 21 und 22 der Charta garantiert sind, gültig ist. Sollte diese Bestimmung die Mitgliedstaaten nämlich ermächtigen, Maßnahmen wie die verpflichtende Betäubung bei der Tötung von Tieren im Rahmen der rituellen Schlachtung zu treffen, so enthielte diese Verordnung keine vergleichbare Bestimmung für die Tötung von Tieren bei der Jagd oder der Fischerei oder bei kulturellen oder Sportveranstaltungen. |
83 |
Aus dem Wortlaut dieser Frage ergibt sich, dass das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Bestimmung der Verordnung Nr. 1099/2009 mit den Art. 20, 21 und 22 der Charta hat, da diese Verordnung nur eine an Bedingungen geknüpfte Ausnahme von der vorherigen Betäubung des Tieres im Rahmen der rituellen Schlachtung vorsieht, die Tötung von Tieren bei der Jagd oder der Fischerei oder bei kulturellen oder Sportveranstaltungen aber von ihrem Anwendungsbereich ausnimmt oder von der Pflicht zur vorherigen Betäubung befreit. |
84 |
Insoweit ist erstens das Argument zu würdigen, mit dem geltend gemacht wird, die rituelle Schlachtung werde in der Verordnung Nr. 1099/2009 gegenüber der Tötung von Tieren im Rahmen von kulturellen oder Sportveranstaltungen diskriminierend behandelt. |
85 |
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Diskriminierungsverbot lediglich ein besonderer Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes ist, und dass dieser Grundsatz besagt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Oktober 1977, Ruckdeschel u. a., 117/76 und 16/77, EU:C:1977:160‚ Rn. 7, und vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, EU:C:2008:728‚ Rn. 23). |
86 |
Im vorliegenden Fall bestimmt die Verordnung Nr. 1099/2009 in ihrem Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1, dass mit ihr „Vorschriften über die Tötung von Tieren, die zur Herstellung von Lebensmitteln, Wolle, Häuten, Pelzen oder anderen Erzeugnissen gezüchtet oder gehalten werden[,] sowie über die Tötung von Tieren zum Zwecke der Bestandsräumung und damit zusammenhängende Tätigkeiten“ festgelegt werden sollen, und stellt in Art. 1 Abs. 3 Buchst. a Ziff. iii klar, dass sie nicht gilt für eine bestimmte Anzahl von Tätigkeiten, zu denen die Tötung von Tieren bei kulturellen oder Sportveranstaltungen gehört. |
87 |
Art. 2 Buchst. h dieser Verordnung definiert „kulturelle oder Sportveranstaltungen“ als „Veranstaltungen in Verbindung mit lange bestehenden kulturellen Traditionen oder Sportereignisse, einschließlich Rennen oder anderer Wettbewerbe, bei denen weder Fleisch noch andere tierische Erzeugnisse hergestellt werden oder deren Herstellung im Vergleich zur Veranstaltung selbst unwichtig und wirtschaftlich unbedeutend ist“. |
88 |
Aus dieser Definition geht hervor, dass kulturelle und Sportveranstaltungen im Sinne von Art. 2 Buchst. h der genannten Verordnung allenfalls zu einer im Vergleich zur Veranstaltung selbst unwichtigen Erzeugung von Fleisch oder Erzeugnissen tierischen Ursprungs führen, und dass diese Erzeugung wirtschaftlich unbedeutend ist. |
89 |
Diese Auslegung wird durch den 16. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 bestätigt, wonach der Umstand, dass diese Veranstaltungen weder den Markt für Erzeugnisse tierischen Ursprungs beeinflussen noch kommerzielle Gründe haben, es rechtfertigt, sie vom Anwendungsbereich dieser Verordnung auszunehmen. |
90 |
Unter diesen Umständen kann eine kulturelle Veranstaltung oder eine Sportveranstaltung vernünftigerweise nicht als eine Tätigkeit der Herstellung von Lebensmitteln im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1099/2009 angesehen werden. Der Unionsgesetzgeber hat somit in Anbetracht dieses Unterschieds kulturelle oder Sportveranstaltungen ohne gegen das Diskriminierungsverbot zu verstoßen nicht einer Schlachtung gleichgestellt, für die als solche eine Betäubung vorgeschrieben ist, und diese Sachverhalte damit unterschiedlich behandelt. |
91 |
Zweitens kann nicht ohne die Begriffe „Jagd“ und „Freizeitfischerei“ ihres Sinns zu entleeren geltend gemacht werden, dass diese Tätigkeiten an zuvor betäubten Tieren ausgeübt werden können. Wie im 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 ausgeführt wird, sind die Umstände der Tötung bei diesen Tätigkeiten nämlich ganz anders als im Fall von Nutztieren. |
92 |
Unter diesen Umständen hat der Unionsgesetzgeber auch nicht gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung verstoßen, indem er die in der vorstehenden Randnummer angeführten nicht vergleichbaren Tötungssachverhalte vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen hat. |
93 |
Drittens hat der Unionsgesetzgeber sowohl in Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1099/2009 als auch in den Erwägungsgründen 6, 11 und 58 dieser Verordnung ausführlich dargelegt, dass die wissenschaftlichen Gutachten in Bezug auf Zuchtfische unzureichend waren und dass außerdem eine Bewertung aus wirtschaftlicher Sicht in diesem Bereich erforderlich war, was es rechtfertigte, über die Behandlung von Zuchtfischen gesondert zu entscheiden. |
94 |
Viertens ist in Anbetracht der Erwägungen in den Rn. 84 bis 93 des vorliegenden Urteils festzustellen, dass die Verordnung Nr. 1099/2009 ohne die durch Art. 22 der Charta garantierte Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen zu verkennen nur eine an Bedingungen geknüpfte Ausnahme von der vorherigen Betäubung des Tieres im Rahmen der rituellen Schlachtung vorsieht, die Tötung von Tieren bei der Jagd und der Fischerei sowie bei kulturellen oder Sportveranstaltungen aber von ihrem Anwendungsbereich ausnimmt oder von der Pflicht zur vorherigen Betäubung befreit. |
95 |
Die Prüfung der dritten Vorlagefrage hat somit nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 beeinträchtigen könnte. |
Kosten
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Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: |
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Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.