URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

23. Januar 2014 ( *1 )

„Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung — Richtlinien 72/166/EWG, 84/5/EWG, 90/232/EWG und 2009/103/EWG — Verkehrsunfall — Immaterieller Schaden — Entschädigung — Nationale Rechtsvorschriften, mit denen besondere Berechnungsmodalitäten für Verkehrsunfälle eingeführt werden, die für die Geschädigten weniger günstig sind als die Modalitäten der allgemeinen Haftpflichtregelung — Vereinbarkeit mit diesen Richtlinien“

In der Rechtssache C‑371/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Tivoli (Italien) mit Entscheidung vom 20. Juni 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 3. August 2012, in dem Verfahren

Enrico Petillo,

Carlo Petillo

gegen

Unipol Assicurazioni SpA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, G. Arestis, J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev (Berichterstatter),

Generalanwalt: N. Wahl,

Kanzlerin: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Juli 2013,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Unipol Assicurazioni SpA, vertreten durch A. Frignani und G. Ponzanelli, avvocati,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, J. Kemper und F. Wannek als Bevollmächtigte,

der griechischen Regierung, vertreten durch L. Pnevmatikou als Bevollmächtigte,

der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Santoro, avvocato dello Stato,

der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kalniņš und I. Ņesterova als Bevollmächtigte,

der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas sowie durch R. Janeckaitė und A. Svinkūnaitė als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und K.-P. Wojcik als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Oktober 2013

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. L 103, S. 1, im Folgenden: Erste Richtlinie), der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. 1984, L 8, S. 17) in der durch die Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 (ABl. L 149, S. 14) geänderten Fassung (im Folgenden: Zweite Richtlinie), der Dritten Richtlinie 90/232/EWG des Rates vom 14. Mai 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. L 129, S. 33) in der durch die Richtlinie 2005/14 geänderten Fassung (im Folgenden: Dritte Richtlinie) sowie der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. L 263, S. 11).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Enrico Petillo und Herrn Carlo Petillo auf der einen Seite und der Unipol Assicurazioni SpA (im Folgenden: Unipol) auf der anderen Seite wegen Ersatzes des von Herrn Enrico Petillo bei einem Verkehrsunfall erlittenen Schadens durch Unipol im Rahmen der Kraftfahrzeug-Haftpflicht.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 1 der Ersten Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie ist zu verstehen unter:

2.

Geschädigter: jede Person, die ein Recht auf Ersatz eines von einem Fahrzeug verursachten Schadens hat;

…“

4

Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Jeder Mitgliedstaat trifft … alle zweckdienlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist. Die Schadensdeckung sowie die Modalitäten dieser Versicherung werden im Rahmen dieser Maßnahmen bestimmt.“

5

Art. 1 Abs. 1 und 2 der Zweiten Richtlinie bestimmt:

„(1)   Die in Art. 3 Abs. 1 der [Ersten Richtlinie] bezeichnete Versicherung hat sowohl Sachschäden als auch Personenschäden zu umfassen.

(2)   Unbeschadet höherer Deckungssummen, die von den Mitgliedstaaten gegebenenfalls vorgeschrieben werden, schreibt jeder Mitgliedstaat die Pflichtversicherung mindestens für folgende Beträge vor:

a)

für Personenschäden einen Mindestdeckungsbetrag von 1000000 EUR je Unfallopfer und von 5000000 EUR je Schadensfall, ungeachtet der Anzahl der Geschädigten;

b)

für Sachschäden ungeachtet der Anzahl der Geschädigten 1000000 EUR je Schadensfall.

Falls erforderlich, können die Mitgliedstaaten eine Übergangszeit von bis zu fünf Jahren nach Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie [2005/14] festlegen, um ihre Mindestdeckungssummen an das in diesem Absatz geforderte Niveau anzupassen.

Die Mitgliedstaaten, die eine solche Übergangszeit festlegen, unterrichten die Kommission davon und geben die Dauer der Übergangszeit an.

Binnen 30 Monaten nach Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie [2005/14] heben die Mitgliedstaaten die Deckungssummen auf mindestens die Hälfte der in diesem Absatz vorgesehenen Beträge an.“

6

Art. 1 der Dritten Richtlinie sieht u. a. vor, dass „die in Art. 3 Abs. 1 der [Ersten Richtlinie] genannte Versicherung die Haftpflicht für aus der Nutzung eines Fahrzeugs resultierende Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers [deckt]“.

7

Art. 1a der Dritten Richtlinie bestimmt:

„Die in Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] genannte Versicherung deckt Personen- und Sachschäden von Fußgängern, Radfahrern und anderen nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern, die nach einzelstaatlichem Zivilrecht einen Anspruch auf Schadenersatz aus einem Unfall haben, an dem ein Kraftfahrzeug beteiligt ist. Der vorliegende Artikel lässt die zivilrechtliche Haftung und die Höhe des Schadenersatzes unberührt.“

8

Nach Art. 30 der Richtlinie 2009/103 trat diese am 20. Tag nach ihrer – am 7. Oktober 2009 erfolgten – Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.

Italienisches Recht

9

Art. 139 des Decreto legislativo Nr. 209 vom 7. September 2005 betreffend den Codice delle assicurazioni [Privatversicherungsgesetzbuch] (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 239 vom 13. Oktober 2005) in der durch das Decreto ministeriale vom 17. Juni 2011 (GURI Nr. 147 vom 27. Juni 2011) geänderten Fassung (im Folgenden: Privatversicherungsgesetzbuch) sieht vor:

„(1)   Der Gesundheitsschaden durch leichte Verletzungen infolge von Unfällen aufgrund des Betriebs von Kraftfahrzeugen und Wasserfahrzeugen ist nach folgenden Kriterien und in folgendem Umfang zu ersetzen:

a)

Für einen permanenten Gesundheitsschaden wird für Verletzungsfolgen bis höchstens 9 % ein Betrag gezahlt, der pro Prozentpunkt der Invalidität überproportional ansteigt; zur Berechnung dieses Betrags wird auf jeden Prozentpunkt der Invalidität der gemäß Abs. 6 damit korrelierende Koeffizient angewandt. Der auf diese Weise ermittelte Betrag wird entsprechend dem Alter der Person um 0,5 % für jedes Lebensjahr ab dem elften Lebensjahr herabgesetzt. Der Wert des ersten Punkts beträgt 759,04 Euro.

b)

Für einen vorübergehenden Gesundheitsschaden wird für jeden Tag vollständiger Arbeitsunfähigkeit ein Betrag von 44,28 Euro gezahlt; bei einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit von unter 100 % erfolgt die Regulierung entsprechend dem anerkannten Prozentsatz der Arbeitsunfähigkeit pro Tag.

(2)   Als Gesundheitsschaden im Sinne von Abs. 1 gilt die rechtsmedizinisch feststellbare vorübergehende oder dauerhafte Beeinträchtigung der geistig-körperlichen Unversehrtheit der Person, die sich auf die täglichen Aktivitäten und die dynamisch-zwischenmenschlichen Aspekte des Lebens des Geschädigten negativ auswirkt, unabhängig von etwaigen Auswirkungen auf seine Erwerbsfähigkeit. …

(3)   Der Betrag des nach Abs. 1 regulierten Gesundheitsschadens kann vom Gericht im Wege einer der Billigkeit entsprechenden und mit Gründen versehenen Beurteilung der persönlichen Umstände des Geschädigten um höchstens ein Fünftel erhöht werden.

(4)   Durch Dekret des Präsidenten der Republik, das nach Beratung des Ministerrats auf Vorschlag des Gesundheitsministers im Einvernehmen mit dem Minister für Arbeit und Sozialpolitik, dem Justizminister und dem Minister für Produktionstätigkeiten ergeht, wird eine spezielle Tabelle erstellt, in der die von einem bis neun Invaliditätspunkten reichenden Beeinträchtigungen der geistig-körperlichen Unversehrtheit aufgeführt sind.

(5)   Die in Abs. 1 angegebenen Beträge werden jährlich durch Dekret des Ministers für Produktionstätigkeiten entsprechend den Änderungen des vom ISTAT [Istituto nazionale di statistica] erstellten nationalen Verbraucherpreisindex für Arbeiter- und Angestelltenfamilien aktualisiert.

(6)   Zur Berechnung des in Abs. 1 Buchst. a genannten Betrags wird für einen Invaliditätsgrad von 1 Prozent ein Multiplikator von 1,0, für einen Invaliditätsgrad von 2 Prozent ein Multiplikator von 1,1, für einen Invaliditätsgrad von 3 Prozent ein Multiplikator von 1,2, für einen Invaliditätsgrad von 4 Prozent ein Multiplikator von 1,3, für einen Invaliditätsgrad von 5 Prozent ein Multiplikator von 1,5, für einen Invaliditätsgrad von 6 Prozent ein Multiplikator von 1,7, für einen Invaliditätsgrad von 7 Prozent ein Multiplikator von 1,9, für einen Invaliditätsgrad von 8 Prozent ein Multiplikator von 2,1 und für einen Invaliditätsgrad von 9 Prozent ein Multiplikator von 2,3 angewandt.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

10

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass das von Herrn Mauro Recchioni gelenkte Fahrzeug am 21. September 2007 von hinten auf das Herrn Carlo Petillo gehörende und von Herrn Enrico Petillo gelenkte Fahrzeug auffuhr. Letzterer trug dabei Körperverletzungen davon.

11

Herr Carlo Petillo und Herr Enrico Petillo verklagten Unipol, den Versicherer von Herrn Recchioni, beim Tribunale di Tivoli und beantragten, die Alleinschuld von Herrn Recchioni am Unfall festzustellen und Unipol über den bereits ausgezahlten Betrag von 6700 Euro hinaus zur Zahlung eines Betrags von 3350 Euro für den erlittenen Vermögensschaden sowie anstelle des bereits ausgezahlten Betrags von 2700 Euro zur Zahlung eines Gesamtbetrags von 14155,37 Euro für den Herrn Enrico Petillo entstandenen Nichtvermögensschaden zu verurteilen.

12

Dem vorlegenden Gericht zufolge sieht das italienische Recht in Art. 2043 des Zivilgesetzbuchs (Codice civile) für die Vermögensschäden und in Art. 2059 des Zivilgesetzbuchs für die Nichtvermögensschäden einen Anspruch auf vollen Ersatz des durch eine unerlaubte Handlung verursachten Schadens vor.

13

Nach ständiger Rechtsprechung der italienischen Gerichte bestehe der Nichtvermögensschaden aus dem Gesundheitsschaden, der durch die Beeinträchtigung der geistig-körperlichen Unversehrtheit entstehe, dem seelischen Schaden, der aus dem durch diese Beeinträchtigung verursachten seelischen Leiden resultiere, und Restschäden, die insbesondere auf Behinderungen der normalen Alltagstätigkeiten oder einer über das durchschnittliche Maß hinausgehenden Persönlichkeitsentfaltung beruhten.

14

Die Corte costituzionale habe in einem Urteil von 2003 festgestellt, dass der Nichtvermögensschaden eine einheitliche Struktur aufweise und nicht in Kategorien oder Rubriken unterteilt werde. Die Rechtsprechung unterscheide jedoch weiterhin zwischen den in der vorigen Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Komponenten. Außerdem überlasse die italienische Rechtsordnung die Bemessung dieses Schadens dem Richter.

15

Um die Kosten der Versicherungsleistungen zu begrenzen, habe der italienische Gesetzgeber in Art. 139 des Privatversicherungsgesetzbuchs eine Sonderregelung für die Bestimmung der Beträge vorgesehen, die für Nichtvermögensschäden zu zahlen seien, die Opfern von Unfällen im Straßenverkehr oder im Wasserstraßenverkehr entstanden seien. Diese Regelung sehe Einschränkungen gegenüber den in anderen Rechtsstreitigkeiten angewandten Bemessungskriterien vor und begrenze die Möglichkeit des Richters, den Entschädigungsbetrag im Einzelfall zu erhöhen, auf ein Fünftel des auf der Grundlage von Art. 139 des Privatversicherungsgesetzbuchs bestimmten Betrags.

16

Das vorlegende Gericht erläutert, dass der von Herrn Enrico Petillo erlittene Nichtvermögensschaden, wäre er aus einem anderen Grund als durch einen Straßenverkehrsunfall entstanden, nach den geltenden italienischen Rechtsvorschriften und der geltenden italienischen Rechtsprechung wie folgt bemessen worden wäre:

4%iger Gesundheitsschaden, der einer im Zeitpunkt des Schadensfalls 21-jährigen Person zugefügt wurde: 5407,55 Euro;

zehntägige vorübergehende Vollinvalidität, 20-tägige vorübergehende 50%ige Teilinvalidität und zehntägige vorübergehende 25%ige Teilinvalidität: 2250,00 Euro, und

seelischer Schaden in Höhe von einem Drittel des Gesundheitsschadens: 2252,00 Euro,

d. h. ein Gesamtbetrag von 10210,00 Euro für den Nichtvermögensschaden zuzüglich des Betrags von 445,00 Euro für Behandlungskosten.

17

Da aber der betreffende Schaden durch einen Straßenverkehrsunfall verursacht worden sei, müsse der gemäß Art. 139 des Privatversicherungsgesetzbuchs zu zahlende Betrag wie folgt bemessen werden:

a)

4%iger Gesundheitsschaden, der einer im Zeitpunkt des Schadensfalls 21-jährigen Person zugefügt wurde: 3729,92 Euro, und

b)

zehntägige vorübergehende Vollinvalidität, 20-tägige vorübergehende 50%ige Teilinvalidität und zehntägige vorübergehende 25%ige Teilinvalidität: 996,00 Euro,

d. h. ein Gesamtbetrag von 4725,00 Euro für den Nichtvermögensschaden zuzüglich des Betrags von 445,00 Euro für Behandlungskosten. Der Ersatz des seelischen Schadens sei ausgeschlossen, da er im Privatversicherungsgesetzbuch nicht vorgesehen sei, auch wenn in dieser Hinsicht eine opferfreundlichere Rechtsprechungslinie in Entwicklung begriffen sei.

18

Die durch Anwendung der verschiedenen Berechnungsmethoden bestimmten Beträge wiesen bei gleichem Schaden eine Differenz von 5485,00 Euro auf. Außerdem lasse Art. 139 des Privatversicherungsgesetzbuchs dem Richter keine Möglichkeit, seine Bemessung auf den Einzelfall abzustimmen, da er eine simple Berechnung vornehmen müsse, die seine Befugnis, nach Billigkeit zu entscheiden, einschränke.

19

Unter Verweis u. a. auf das Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 20. Juni 2008, Celina Nguyen/The Norwegian State (E-8/07, EFTA Court Report 2008, S. 224), äußert das Tribunale di Tivoli Zweifel, ob mit der Ersten, der Zweiten und der Dritten Richtlinie sowie mit der Richtlinie 2009/103 eine nationale Rechtsvorschrift vereinbar ist, die für den Ersatz eines durch einen Straßenverkehrsunfall verursachten Schadens die Versicherung des Nichtvermögensschadens nicht ausschließt, aber den Ersatz des seelischen Schadens nicht zulässt und die Entschädigung für die Beeinträchtigung der geistig-körperlichen Unversehrtheit im Verhältnis zu dem, was nach ständiger Rechtsprechung der nationalen Gerichte als Entschädigung zuerkannt wird, begrenzt.

20

Insbesondere ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass Art. 139 des Privatversicherungsgesetzbuchs gegen den Grundsatz des vollen Ersatzes des Nichtvermögensschadens verstoße, dessen Berücksichtigung keinesfalls je nach Art des Vorfalls, auf dem die Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit beruhe, eingeschränkt werden dürfe.

21

Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Tivoli das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist es unter Berücksichtigung der Ersten, der Zweiten und der Dritten Richtlinie sowie der Richtlinie 2009/103, die die obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung regeln, zulässig, dass in den nationalen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats mittels einer ausschließlich für Verkehrsunfallschäden geltenden, gesetzlich zwingend vorgeschriebenen Quantifizierung eine faktische Begrenzung (unter dem Gesichtspunkt der Quantifizierung) der Haftung für Nichtvermögensschäden vorgesehen wird, die gegenüber den nach diesen Richtlinien zur Gewährleistung der obligatorischen Versicherung für durch Kraftfahrzeuge verursachte Schäden Verpflichteten (den Versicherungsunternehmen) geltend gemacht werden?

Zur Zulässigkeit der Vorlagefrage

22

Unipol und die italienische Regierung halten die Vorlagefrage für unzulässig. Ihrer Ansicht nach erklärt das vorlegende Gericht nicht, inwiefern die erbetene Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften für die Entscheidung des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens von Nutzen wäre. Außerdem enthalte die Vorlageentscheidung weder Erläuterungen dazu, nach welchen Gesichtspunkten die unionsrechtlichen Vorschriften, um deren Auslegung ersucht werde, ausgewählt worden seien, noch dazu, welcher Zusammenhang zwischen diesen Vorschriften und den auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften bestehe.

23

Hierzu genügt die Feststellung, dass aus der Darstellung des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens in der Vorlageentscheidung, ergänzt durch die Antwort auf das Klarstellungsersuchen des Gerichtshofs nach Art. 101 seiner Verfahrensordnung, sowie aus der Darlegung der Gründe, die das vorlegende Gericht veranlasst haben, den Gerichtshof mit der vorliegenden Frage zu befassen, ersichtlich ist, dass die Beantwortung dieser Frage für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von Nutzen und diese Frage daher zulässig ist.

Zur Vorlagefrage

24

Eingangs ist zu festzustellen, dass die Richtlinie 2009/103, wie die deutsche und die spanische Regierung zutreffend vorgetragen haben, angesichts des Zeitpunkts des dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegenden Unfalls in zeitlicher Hinsicht auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar ist. Außerdem ist die Dritte Richtlinie auf diesen Rechtsstreit sachlich nicht anwendbar, da Herr Carlo Petillo und Herr Enrico Petillo keines der Merkmale besonders gefährdeter Opfer aufweisen, die unter diese Richtlinie fallen. Die Vorlagefrage muss deshalb dahin verstanden werden, dass sie sich nur auf die Auslegung der Ersten und der Zweiten Richtlinie richtet.

25

Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage wissen möchte, ob Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie und Art. 1 Abs. 1 und 2 der Zweiten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die in Bezug auf die Entschädigung für immaterielle Schäden, die auf leichte Körperverletzungen aufgrund von Straßenverkehrsunfällen zurückzuführen sind, eine Sonderregelung vorsieht, in der die Entschädigung für diese Schäden im Verhältnis zu der Entschädigung begrenzt wird, die für gleiche Schäden aufgrund anderer Ursachen als solcher Unfälle zuerkannt wird.

26

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass mit der Ersten und der Zweiten Richtlinie nach ihren Erwägungsgründen zum einen der freie Verkehr der Kraftfahrzeuge mit gewöhnlichem Standort im Gebiet der Union sowie der Fahrzeuginsassen gewährleistet und zum anderen den bei durch diese Kraftfahrzeuge verursachten Unfällen Geschädigten unabhängig davon, an welchem Ort innerhalb der Union sich der Unfall ereignet hat, eine vergleichbare Behandlung garantiert werden soll (Urteile vom 23. Oktober 2012, Marques Almeida, C‑300/10, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Die Erste Richtlinie in der u. a. durch die Zweite Richtlinie erläuterten und ergänzten Fassung schreibt deshalb den Mitgliedstaaten vor, sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Kraftfahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist, und gibt insbesondere an, welche Arten von Schäden diese Versicherung zu decken hat (Urteil vom 24. Oktober 2013, Haasová, C‑22/12, Rn. 38).

28

Jedoch ist zwischen der Pflicht zur Deckung von Schäden, die Dritten durch Kraftfahrzeuge entstehen, durch die Haftpflichtversicherung auf der einen und dem Umfang ihrer Entschädigung im Rahmen der Haftpflicht des Versicherten auf der anderen Seite zu unterscheiden. Erstere ist nämlich durch die Unionsregelung festgelegt und garantiert, Letzterer hingegen im Wesentlichen durch das nationale Recht geregelt (Urteil vom 24. Oktober 2013, Drozdovs, C‑277/12, Rn. 30).

29

Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits festgestellt, dass sich aus dem Zweck u. a. der Ersten und der Zweiten Richtlinie und aus ihrem Wortlaut ergibt, dass sie nicht die Haftpflichtregelungen der Mitgliedstaaten harmonisieren sollen und dass es diesen beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nach wie vor freisteht, die Haftpflicht für Schäden aus Verkehrsunfällen mit Kraftfahrzeugen selbst zu regeln (Urteil Marques Almeida, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Demnach steht es den Mitgliedstaaten in Anbetracht insbesondere des Art. 1 Nr. 2 der Ersten Richtlinie beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nach wie vor grundsätzlich frei, im Rahmen ihrer Haftpflichtvorschriften insbesondere zu regeln, welche von Kraftfahrzeugen verursachten Schäden zu ersetzen sind, welchen Umfang dieser Schadensersatz hat und welche Personen Anspruch darauf haben (Urteile Haasová, Rn. 41, und Drozdovs, Rn. 32).

31

Der Gerichtshof hat jedoch unterstrichen, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass die nach ihrem nationalen Recht geltende Kraftfahrzeug-Haftpflicht durch eine Versicherung gedeckt ist, die mit den Bestimmungen u. a. der Ersten und der Zweiten Richtlinie im Einklang steht (Urteil Marques Almeida, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich außerdem, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Befugnisse in diesem Bereich das Unionsrecht beachten müssen und dass die nationalen Vorschriften über den Ersatz von Verkehrsunfallschäden u. a. die Erste und die Zweite Richtlinie nicht ihrer praktischen Wirksamkeit berauben dürfen (Urteil Marques Almeida, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Daraus folgt, dass die Freiheit der Mitgliedstaaten zur Bestimmung der Schadensdeckung und der Modalitäten der Pflichtversicherung u. a. durch die Zweite Richtlinie insoweit beschränkt wurde, als mit ihr die Deckung bestimmter Schäden in bestimmter Mindesthöhe vorgeschrieben wurde. Zu diesen unter die Deckungspflicht fallenden Schäden gehören nach Art. 1 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie u. a. Personenschäden (Urteile Haasová, Rn. 46, und Drozdovs, Rn. 37).

34

Vom Begriff des Personenschadens wird jeder Schaden erfasst, dessen Ersatz aufgrund der Haftpflicht des Versicherten durch das auf den Rechtsstreit anwendbare nationale Recht vorgesehen ist und der aus einer Beeinträchtigung der Unversehrtheit der Person herrührt, was körperliche wie seelische Leiden umfasst (Urteile Haasová, Rn. 47, und Drozdovs, Rn. 38).

35

Folglich gehören zu den u. a. nach der Ersten und der Zweiten Richtlinie zu ersetzenden Schäden die immateriellen Schäden, für die eine Entschädigung aufgrund der Haftpflicht des Versicherten durch das auf den Rechtsstreit anwendbare nationale Recht vorgesehen ist (Urteile Haasová, Rn. 50, und Drozdovs, Rn. 41).

36

Im vorliegenden Fall ergibt sich erstens aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung wie in dem Fall, der dem Urteil Marques Almeida zugrunde lag, den Umfang des Entschädigungsanspruchs des Geschädigten im Rahmen der Haftpflicht des Versicherten festlegen soll und nicht die Versicherungsdeckung der Haftpflicht begrenzt.

37

Das italienische Recht enthält nach der Darstellung des vorlegenden Gerichts zum einen in Art. 2059 des Zivilgesetzbuchs die Rechtsgrundlage für den Ersatz immaterieller Schäden, die auf Straßenverkehrsunfälle zurückzuführen sind, und zum anderen in Art. 139 des Privatversicherungsgesetzbuchs die Modalitäten für die Bestimmung des Umfangs des Anspruchs auf Entschädigung für den Gesundheitsschaden, der aus u. a. durch solche Unfälle verursachten leichten Verletzungen resultiert.

38

Außerdem hat das vorlegende Gericht in seiner Antwort auf das Klarstellungsersuchen des Gerichtshofs nach Art. 101 seiner Verfahrensordnung erläutert – und die italienische Regierung hat dies in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof bestätigt –, dass nach italienischem Recht die Haftpflicht des Versicherten für immaterielle Schäden, die Personen aufgrund eines Verkehrsunfalls entstanden sind, die nach Art. 139 des Privatversicherungsgesetzbuchs durch die Pflichtversicherung gedeckten Beträge nicht übersteigen darf.

39

Daher ist zum einen festzustellen, dass diese nationale Regelung unter das nationale materielle Haftpflichtrecht fällt, auf das die Erste und die Zweite Richtlinie verweisen (vgl. entsprechend Urteil Haasová, Rn. 58), und zum anderen, dass sie nicht dahin ausgestaltet ist, dass die Versicherungsdeckung der bei einem Versicherten festgestellten Haftpflicht begrenzt wird (vgl. entsprechend Urteil Marques Almeida, Rn. 35).

40

Hinzuzufügen ist, dass hinsichtlich der obligatorischen Deckung von Sach- und Personenschäden durch die in Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie genannte Versicherung nichts in der Akte darauf hindeutet, dass die betreffende nationale Regelung keine Beträge vorsieht, die dem in Art. 1 der Zweiten Richtlinie festgelegten Mindestdeckungsbetrag entsprechen.

41

Zweitens ist zu prüfen, ob diese nationale Regelung bewirkt, dass der Anspruch des Geschädigten auf eine Entschädigung aus der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung von Amts wegen ausgeschlossen oder unverhältnismäßig begrenzt wird.

42

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 69 bis 74 sowie 82 und 83 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich hierzu aus der in den Rn. 30 bis 32 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung, dass die Erste und die Zweite Richtlinie die Mitgliedstaaten nicht verpflichten, sich für eine bestimmte Regelung zu entscheiden, um den Umfang des Anspruchs des Geschädigten auf eine Entschädigung im Rahmen der Haftpflicht des Versicherten zu bestimmen.

43

Daher stehen diese Richtlinien grundsätzlich weder einer nationalen Regelung entgegen, die nationalen Gerichten zwingende Kriterien für die Bestimmung der zu ersetzenden immateriellen Schäden vorschreibt, noch stehen sie Sonderregelungen entgegen, die den Besonderheiten von Verkehrsunfällen Rechnung tragen, auch wenn diese Regelungen bei gewissen immateriellen Schäden eine Art und Weise der Bestimmung des Umfangs des Entschädigungsanspruchs vorsehen, die für den Geschädigten weniger günstig ist als diejenige, die für Opfer anderer Unfälle als Straßenverkehrsunfälle gilt.

44

Insbesondere hat der Umstand, dass bei der Bemessung des Entschädigungsbetrags für einen durch leichte Verletzungen verursachten immateriellen Schaden Teile der Berechnung, die bei der Entschädigung von Opfern anderer Unfälle als Straßenverkehrsunfälle vorgenommen wird, ausgelassen oder beschränkt werden, keine Auswirkungen auf die Vereinbarkeit einer solchen nationalen Regelung mit den oben genannten Richtlinien, da diese Regelung nicht bewirkt, dass der Entschädigungsanspruch des Geschädigten von Amts wegen ausgeschlossen oder unverhältnismäßig begrenzt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Juni 2011, Ambrósio Lavrador und Olival Ferreira Bonifácio, C-409/09, Slg. 2011, I-4955, Rn. 29, und Marques Almeida, Rn. 32).

45

Im vorliegenden Fall weist in den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nichts darauf hin, dass der Entschädigungsanspruch von Amts wegen ausgeschlossen oder unverhältnismäßig begrenzt wird. Aus den Akten geht nämlich erstens hervor, dass eine Entschädigung gewährt wird, zweitens, dass die für diese Entschädigung vorgesehene restriktivere Berechnungsart nur für durch leichte Körperverletzungen verursachte Schäden gilt, und drittens, dass der sich aus dieser Berechnung ergebende Betrag insbesondere zur Schwere der erlittenen Verletzungen und zur Dauer der verursachten Invalidität in einem angemessenen Verhältnis steht. Überdies ermöglicht diese Regelung dem Richter, den zuzuerkennenden Entschädigungsbetrag anzupassen, indem er ihn um bis zu einem Fünftel des berechneten Betrags erhöht.

46

Nach alledem ist festzustellen, dass im vorliegenden Fall die im Unionsrecht vorgesehene Gewähr, dass die im anwendbaren nationalen Recht vorgesehene Kraftfahrzeug-Haftpflicht durch eine u. a. mit der Ersten und der Zweiten Richtlinie vereinbare Versicherung gedeckt sein muss, nicht berührt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Marques Almeida, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47

Daher ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie und Art. 1 Abs. 1 und 2 der Zweiten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, die in Bezug auf die Entschädigung für immaterielle Schäden, die auf leichte Körperverletzungen aufgrund von Straßenverkehrsunfällen zurückzuführen sind, eine Sonderregelung vorsieht, in der die Entschädigung für diese Schäden im Verhältnis zu der Entschädigung begrenzt wird, die für gleiche Schäden aufgrund anderer Ursachen als solcher Unfälle zuerkannt wird.

Kosten

48

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug- Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht und Art. 1 Abs. 1 und 2 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung in der durch die Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, die in Bezug auf die Entschädigung für immaterielle Schäden, die auf leichte Körperverletzungen aufgrund von Straßenverkehrsunfällen zurückzuführen sind, eine Sonderregelung vorsieht, in der die Entschädigung für diese Schäden im Verhältnis zu der Entschädigung begrenzt wird, die für gleiche Schäden aufgrund anderer Ursachen als solcher Unfälle zuerkannt wird.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.