Rechtssache C-2/08

Amministrazione dell’Economia e delle Finanze
und
Agenzia delle Entrate

gegen

Fallimento Olimpiclub Srl

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione)

„Mehrwertsteuer – Vorrang des Gemeinschaftsrechts – Vorschrift des nationalen Rechts, in der der Grundsatz der Rechtskraft verankert ist“

Leitsätze des Urteils

Gemeinschaftsrecht – Unmittelbare Wirkung – Vorrang – Vorschrift des nationalen Rechts, in der der Grundsatz der Rechtskraft verankert ist


Das Gemeinschaftsrecht gebietet einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch ein Verstoß dieser Entscheidung gegen Gemeinschaftsrecht abgestellt werden könnte. Die Modalitäten der Umsetzung des Grundsatzes der Rechtskraft, deren Festlegung nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ist, dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als die, die bei ähnlichen internen Sachverhalten gelten (Grundsatz der Gleichwertigkeit), und nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität).

In diesem Zusammenhang ist eine Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft, wonach in Steuerstreitigkeiten die Entscheidung in einer bestimmten Rechtssache, wenn sie einen auch für andere Rechtssachen grundlegenden Punkt betrifft, hinsichtlich dieses Punktes Bindungswirkung entfaltet, selbst wenn die aus diesem Anlass getroffenen Feststellungen einen anderen Veranlagungszeitraum betreffen, mit dem Grundsatz der Effektivität nicht vereinbar. Eine solche Auslegung verhindert es nicht nur, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, selbst wenn sie zu einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts führt, nochmals in Frage zu stellen, sondern verhindert es ebenso, anlässlich der gerichtlichen Überprüfung einer anderen Entscheidung der zuständigen Finanzbehörde, die denselben Steuerschuldner oder Steuerpflichtigen, aber ein anderes Steuerjahr betrifft, in einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung enthaltene Feststellungen zu einem gemeinsamen grundlegenden Punkt in Frage zu stellen. Eine solche Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft hätte daher zur Folge, dass in dem Fall, dass eine in Rechtskraft erwachsene gerichtliche Entscheidung auf einer gemeinschaftsrechtswidrigen Auslegung der gemeinschaftlichen Regeln zu missbräuchlichen Praktiken auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer beruht, sich die unrichtige Anwendung dieser Regeln für jeden neuen Veranlagungszeitraum wiederholte, ohne dass diese fehlerhafte Auslegung korrigiert werden könnte. Eine Behinderung der effektiven Anwendung der gemeinschaftlichen Regeln auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer von solcher Reichweite kann nicht durch den Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt werden und muss daher als dem Effektivitätsgrundsatz widersprechend angesehen werden.

Daher steht das Gemeinschaftsrecht bei einer solchen Sachlage der Anwendung einer den Grundsatz der Rechtskraft verankernden Vorschrift des nationalen Rechts in einem die Mehrwertsteuer betreffenden Rechtsstreit, der ein Veranlagungsjahr betrifft, für das noch keine endgültige gerichtliche Entscheidung ergangen ist, entgegen, soweit diese Vorschrift das mit dem Rechtsstreit befasste Gericht an der Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen zu missbräuchlichen Praktiken auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer hindert.

(vgl. Randnrn. 23-24, 26, 29-32 und Tenor)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

3. September 2009(*)

„Mehrwertsteuer – Vorrang des Gemeinschaftsrechts – Vorschrift des nationalen Rechts, in der der Grundsatz der Rechtskraft verankert ist“

In der Rechtssache C‑2/08

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Italien) mit Entscheidung vom 10. Oktober 2007, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Januar 2008, in dem Verfahren

Amministrazione dell’Economia e delle Finanze,

Agenzia delle Entrate

gegen

Fallimento Olimpiclub Srl

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans, der Richter K. Schiemann (Berichterstatter), P. Kūris und L. Bay Larsen sowie der Richterin C. Toader,

Generalanwalt: J. Mazák,

Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Januar 2009,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Fallimento Olimpiclub Srl, vertreten durch Rechtsanwalt G. Tinelli,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch I. Bruni als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili und W. Ferrante, avvocati dello Stato,

–        der slowakischen Regierung, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,

–        der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Traversa und M. Afonso als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. März 2009

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Anwendung des Grundsatzes der Rechtskraft in einer Mehrwertsteuerstreitigkeit.

2        Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der Fallimento Olimpiclub Srl (Olimpiclub Srl im Konkurs, im Folgenden: Olimpiclub) und der Amministrazione dell’Economia e delle Finanze (Wirtschafts- und Finanzverwaltung, im Folgenden: Finanzverwaltung) wegen vier an Olimpiclub gerichteter Mehrwertsteuer-Berichtigungsbescheide für die Veranlagungsjahre 1988–1991.

 Nationales Recht

3        Art. 2909 („Rechtskraft“) des italienischen Zivilgesetzbuchs (Codice civile) sieht Folgendes vor:

„In rechtskräftigen Urteilen enthaltene Feststellungen sind für die Parteien, ihre Erben oder Rechtsnachfolger in jeder Hinsicht bindend.“

4        Dieser Artikel wurde von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) in ihrem Urteil Nr. 13916/06 wie folgt ausgelegt:

„… wenn zwei Verfahren zwischen denselben Parteien dasselbe Rechtsverhältnis betreffen und eines von ihnen durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung beendet wurde, stehen die in ihr getroffenen Feststellungen zur Rechtslage oder zur Lösung von Sach- und Rechtsfragen, die einen für beide Rechtssachen grundlegenden Punkt betreffen und somit die notwendige logische Prämisse für die im Tenor des Urteils enthaltene Entscheidung bilden, einer nochmaligen Prüfung derselben, nunmehr geklärten Rechtsfrage auch dann entgegen, wenn das zweite Verfahren andere Ziele als die verfolgt, die den Gegenstand des ersten Verfahrens und das dortige Begehren bildeten.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

5        Olimpiclub, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren Geschäftszweck der Bau und Betrieb von Sporteinrichtungen ist, ist Eigentümerin einer Sportanlage auf einem dem italienischen Staat gehörenden Grundstück. Am 27. Dezember 1985 schloss sie mit der Associazione Polisportiva Olimpiclub (im Folgenden: Associazione), einer Personenvereinigung ohne Gewinnzweck, deren Gründungsmitglieder überwiegend auch Anteile an Olimpiclub hielten, einen Vertrag, der der Associazione gestattete, sämtliche Einrichtungen dieser Sportanlage zu nutzen (im Folgenden: Nutzungsvertrag). Als Gegenleistung musste die Associazione erstens die Zahlung der Gebühr (aufgrund der Überlassung der Nutzung des Grundstücks zu zahlender Betrag) an den italienischen Staat übernehmen, zweitens jedes Jahr eine Kostenerstattungspauschale von 5 000 000 ITL zahlen und drittens die gesamten Bruttoeinnahmen der Associazione, bestehend im Gesamtbetrag der jährlichen Mitgliedsbeiträge, an Olimpiclub abführen.

6        1992 nahm die Finanzverwaltung hinsichtlich dieses Nutzungsvertrags Überprüfungen vor und gelangte zu dem Ergebnis, dass die Parteien dieses Vertrags durch eine formal zulässige Handlung in Wirklichkeit eine Gesetzesumgehung bezweckt hätten, um einen Steuervorteil zu erzielen. Olimpiclub habe auf diese Weise alle Lasten der Verwaltung und Geschäftsführung der Sportanlage auf eine Personenvereinigung ohne Gewinnzweck übertragen und die von dieser erzielten Einnahmen, die in den Mitgliedsbeiträgen ihrer Mitglieder bestanden und daher nicht der Mehrwertsteuer unterlegen hätten, erhalten. Da die Finanzverwaltung daher den Nutzungsvertrag für steuerlich unwirksam erachtete, rechnete sie die gesamten Bruttoeinnahmen, die die Associazione in den Jahren erzielt hatte, auf die sich die Steuerprüfung bezog, Olimpiclub zu und korrigierte daher mit vier Berichtigungsbescheiden die von Olimpiclub für die Veranlagungsjahre 1988–1991 eingereichten Mehrwertsteuererklärungen.

7        Olimpiclub erhob gegen die Berichtigungsbescheide Klage vor der Commissione tributaria provinciale di primo grado di Roma (Provinz-Steuerkommission erster Instanz Rom), die dieser Klage stattgab und entschied, dass die Finanzverwaltung zu Unrecht die Rechtswirksamkeit des Nutzungsvertrags verneint habe, da sie nicht unter Beweis gestellt habe, dass eine betrügerische Vereinbarung vorliege.

8        Die Finanzverwaltung legte gegen das Urteil Berufung bei der Commissione tributaria regionale del Lazio (Regional-Steuerkommission Lazio) ein, die das Urteil bestätigte. Nach Auffassung dieses Gerichts hatte die Finanzverwaltung keinen Nachweis für eine betrügerische Absicht der beiden Parteien des Nutzungsvertrags erbracht, da der Grund für dessen Abschluss durch die Parteien in zulässiger Weise darauf zurückgeführt werden könne, dass die unmittelbare Verwaltung von im Wesentlichen sportlichen Tätigkeiten eine wirtschaftsfremde Tätigkeit für eine Handelsgesellschaft sei.

9        Die Finanzverwaltung legte gegen das letztgenannte Urteil Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht ein. Nach dem Konkurs von Olimpiclub trat der Konkursverwalter in das Kassationsverfahren als Beklagter ein.

10      Der Konkursverwalter stützte sich im Verfahren auf zwei rechtskräftige Urteile der Commissione tributaria regionale del Lazio, die Mehrwertsteuer-Berichtigungsbescheide betrafen, die aufgrund derselben Steuerprüfung bei Olimpiclub ergangen waren, aber andere Veranlagungsjahre betrafen, nämlich die Urteile Nr. 138/43/00 betreffend das Jahr 1992 und Nr. 67/01/03 betreffend das Jahr 1987.

11      Auch wenn diese Urteile andere Veranlagungszeiträume betroffen hätten, seien die in ihnen enthaltenen Feststellungen und die getroffene Entscheidung nach Art. 2909 des Codice civile, der den Grundsatz der Rechtskraft enthalte, für das Ausgangsverfahren bindend.

12      In der Vorlageentscheidung wird dargelegt, dass die italienischen Gerichte in Abgabensachen bei der Auslegung von Art. 2909 des Codice civile lange dem Grundsatz der „Frammentazione dei Giudicati“ (Fragmentierung der Urteile) gefolgt seien, wonach jedes Veranlagungsjahr losgelöst von den anderen Veranlagungsjahren zu betrachten und Gegenstand eines gegenüber den vorangegangenen und den nachfolgenden Veranlagungsjahren getrennten Rechtsverhältnisses zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Fiskus gewesen sei, so dass Streitigkeiten, die mehrere Jahre derselben Steuer (sogar ähnliche Fragen) betroffen hätten, in gesonderten Urteilen entschieden worden seien, jede Streitigkeit getrennt zu betrachten gewesen sei und der eine Streitigkeit abschließenden Entscheidung keine Bindungswirkung betreffend die Streitigkeiten über andere Veranlagungsjahre zugekommen sei.

13      Dieser Ansatz habe jedoch vor Kurzem eine Änderung erfahren, insbesondere durch die Aufgabe des Grundsatzes der Fragmentierung der Urteile. Seitdem könne das in einem Rechtsstreit ergangene Urteil auch in einem anderen Rechtsstreit Wirkung entfalten, obwohl dieses Urteil einen anderen Abgabenzeitraum als den betreffe, der Gegenstand des Verfahrens sei, in dem es eingewendet werde.

14      Da in den beiden in Randnr. 10 des vorliegenden Urteils angeführten Urteilen festgestellt worden sei, dass tragfähige wirtschaftliche Gründe für den Abschluss des Nutzungsvertrags zwischen der Associazione und Olimpiclub vorlägen, und diese Urteile daher günstig für Olimpiclub gewesen seien, habe der Beklagte im Ausgangsverfahren eingewendet, die Kassationsbeschwerde sei für unzulässig zu erklären, da sie auf eine erneute Entscheidung derselben Rechts- und Sachfragen abziele.

15      In Anbetracht dieser Umstände sieht sich das vorlegende Gericht an die genannten Urteile gebunden, in denen rechtskräftig festgestellt worden sei, dass der Nutzungsvertrag real, zulässig und nicht betrügerisch sei. Es führt jedoch aus, dass dies bedeuten könnte, dass es ihm nicht möglich sei, die Rechtssache des Ausgangsverfahrens im Licht des Gemeinschaftsrechts und der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, insbesondere des Urteils vom 21. Februar 2006, Halifax u. a. (C‑255/02, Slg. 2006, I‑1609), zu prüfen und gegebenenfalls einen Rechtsmissbrauch festzustellen.

16      Das vorlegende Gericht geht insbesondere auf das Urteil vom 18. Juli 2007, Lucchini (C-119/05, Slg. 2007, I-6199), ein, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass das Gemeinschaftsrecht der Anwendung einer den Grundsatz der Rechtskraft verankernden Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 2909 des Codice civile entgegensteht, wenn ihre Anwendung die Rückforderung einer unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gewährten staatlichen Beihilfe behindert. Dieses Urteil scheine einer gewissen Tendenz in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entsprechen, den Stellenwert des Grundsatzes der Rechtskraft zu relativieren und zu fordern, dass ein solcher Grundsatz außer Acht gelassen werde, um den Vorrang des Gemeinschaftsrechts zu beachten und einen Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht zu verhindern. Das vorlegende Gericht verweist in diesem Zusammenhang auf die Urteile vom 1. Juni 1999, Eco Swiss (C‑126/97, Slg. 1999, I‑3055), vom 28. Juni 2001, Larsy (C‑118/00, Slg. 2001, I‑5063), vom 7. Januar 2004, Wells (C‑201/02, Slg. 2004, I‑723), und vom 13. Januar 2004, Kühne & Heitz (C‑453/00, Slg. 2004, I‑837).

17      Da die Erhebung der Mehrwertsteuer eine wichtige Rolle bei der Bildung der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaft spiele, fragt sich das vorlegende Gericht, ob es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erforderlich sei, der Bindungswirkung eines nach innerstaatlichem Recht rechtskräftigen Urteils die Anerkennung zu versagen. Im Ausgangsverfahren verhindere die Anwendung von Art. 2909 des Codice civile die volle Umsetzung des Grundsatzes der Bekämpfung des Rechtsmissbrauchs, den der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer als Mittel zur Gewährleistung der vollständigen Anwendung des gemeinschaftlichen Mehrwertsteuersystems erarbeitet habe. Das vorlegende Gericht verweist dazu auf das Urteil Halifax u. a.

18      Vor diesem Hintergrund hat die Corte suprema di cassazione beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht das Gemeinschaftsrecht auch in anderen Bereichen als dem der staatlichen Beihilfen (zu dem das Urteil Lucchini ergangen ist), insbesondere im Bereich der Mehrwertsteuer und des Rechtsmissbrauchs zwecks Erlangung rechtsgrundloser Steuerersparnisse – unter besonderer Beachtung auch des Kriteriums des nationalen Rechts, wie es in der Rechtsprechung der Corte suprema di cassazione ausgelegt wird, wonach in Abgabenstreitigkeiten das Urteil eines anderen Gerichts, sofern die damit bestätigte Veranlagung einen grundlegenden Punkt betrifft, den sie mit anderen Verfahren gemeinsam hat, in Bezug auf diesen Punkt auch dann Bindungswirkung entfaltet, wenn es sich auf einen anderen Abgabenzeitraum bezieht – der Anwendung einer den Grundsatz der Rechtskraft aufstellenden Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 2909 des Codice civile entgegen, wenn diese Anwendung ein dem Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufendes Ergebnis bestätigt und die Anwendung des Gemeinschaftsrechts verhindert?

 Zur Vorlagefrage

19      Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob das Gemeinschaftsrecht bei einer Sachlage wie der des Ausgangsverfahrens der Anwendung einer Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 2909 des Codice civile in einem die Mehrwertsteuer betreffenden Rechtsstreit, der ein Veranlagungsjahr betrifft, für das noch keine endgültige gerichtliche Entscheidung ergangen ist, entgegensteht, wenn diese Vorschrift das Gericht an der Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen zu missbräuchlichen Praktiken auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer hindert.

20      Es ist zunächst hervorzuheben, dass es für die Beantwortung dieser Frage ohne Bedeutung ist, dass das vorlegende Gericht nicht im Einzelnen dargelegt hat, warum der reale, zulässige und nicht betrügerische Charakter des Nutzungsvertrags bezweifelt werden könnte.

21      Olimpiclub leitet aus dem Grundsatz der Rechtskraft, wie er in der italienischen Rechtsordnung ausgelegt und in Randnr. 13 des vorliegenden Urteils beschrieben wird, ab, dass die in den älteren Urteilen zu anderen Veranlagungszeiträumen enthaltene Feststellung, der Nutzungsvertrag habe realen, zulässigen und nicht betrügerischen Charakter, bindend und endgültig sei.

22      Hierzu ist auf die Bedeutung hinzuweisen, die der Grundsatz der Rechtskraft sowohl in der Gemeinschaftsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen hat. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich die nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordenen Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können (Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, Slg. 2003, I-10239, Randnr. 38, und vom 16. März 2006, Kapferer, C‑234/04, Slg. 2006, I‑2585, Randnr. 20).

23      Somit gebietet es das Gemeinschaftsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch ein Verstoß dieser Entscheidung gegen Gemeinschaftsrecht abgestellt werden könnte (vgl. Urteil Kapferer, Randnr. 21).

24      Da auf diesem Gebiet gemeinschaftsrechtliche Vorschriften fehlen, ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die Modalitäten der Umsetzung des Grundsatzes der Rechtskraft festzulegen. Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als die, die bei ähnlichen internen Sachverhalten gelten (Grundsatz der Äquivalenz), und nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (vgl. in diesem Sinne Urteil Kapferer, Randnr. 22).

25      Dieser Beurteilung steht auch das Urteil Lucchini nicht entgegen. Dieses Urteil betraf nämlich einen ganz besonderen Sachverhalt, in dem einige Grundsätze der Verteilung der Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft auf dem Gebiet staatlicher Beihilfen in Frage standen, wobei ausschließlich die Kommission für die Beurteilung der Vereinbarkeit von Beihilfemaßnahmen mit dem Gemeinsamen Markt zuständig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Lucchini, Randnrn. 52 und 62). Die vorliegende Rechtssache wirft keine solchen Kompetenzverteilungsfragen auf.

26      Im vorliegenden Fall stellt sich insbesondere die Frage, ob die Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft, auf die das vorlegende Gericht Bezug nimmt, wonach in Steuerstreitigkeiten die Entscheidung in einer bestimmten Rechtssache, wenn sie einen auch für andere Rechtssachen grundlegenden Punkt betrifft, hinsichtlich dieses Punktes Bindungswirkung entfaltet, selbst wenn die aus diesem Anlass getroffenen Feststellungen einen anderen Veranlagungszeitraum betreffen, mit dem Grundsatz der Effektivität vereinbar ist.

27      Hierzu ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Gemeinschaftsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (Urteil vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck, C-312/93, Slg. 1995, I‑4599, Randnr. 14).

28      Es ist daher insbesondere zu untersuchen, ob die oben angeführte Auslegung von Art. 2909 des Codice civile in Anbetracht ihrer Konsequenzen für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts aus dem Blickwinkel der Wahrung des Grundsatzes der Rechtssicherheit gerechtfertigt werden kann.

29      Hierzu ist festzustellen, wie dies im Übrigen auch das vorlegende Gericht selbst getan hat, dass diese Auslegung es nicht nur verhindert, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, selbst wenn sie zu einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts führt, nochmals in Frage zu stellen, sondern es ebenso verhindert, anlässlich der gerichtlichen Überprüfung einer anderen Entscheidung der zuständigen Finanzbehörde, die denselben Steuerschuldner oder Steuerpflichtigen, aber ein anderes Steuerjahr betrifft, in einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung enthaltene Feststellungen zu einem gemeinsamen grundlegenden Punkt in Frage zu stellen.

30      Eine solche Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft hätte daher zur Folge, dass in dem Fall, dass eine in Rechtskraft erwachsene gerichtliche Entscheidung auf einer gemeinschaftsrechtswidrigen Auslegung der gemeinschaftlichen Regeln zu missbräuchlichen Praktiken auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer beruht, sich die unrichtige Anwendung dieser Regeln für jeden neuen Veranlagungszeitraum wiederholte, ohne dass diese fehlerhafte Auslegung korrigiert werden könnte.

31      Vor diesem Hintergrund ist daher die Schlussfolgerung zu ziehen, dass eine Behinderung der effektiven Anwendung der gemeinschaftlichen Regeln auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer von solcher Reichweite nicht durch den Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt werden kann und daher als dem Effektivitätsgrundsatz widersprechend angesehen werden muss.

32      Daher ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass das Gemeinschaftsrecht bei einer Sachlage wie der des Ausgangsverfahrens der Anwendung einer Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 2909 des Codice civile in einem die Mehrwertsteuer betreffenden Rechtsstreit, der ein Veranlagungsjahr betrifft, für das noch keine endgültige gerichtliche Entscheidung ergangen ist, entgegensteht, soweit diese Vorschrift das mit dem Rechtsstreit befasste Gericht an der Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen zu missbräuchlichen Praktiken auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer hindert.

 Kosten

33      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Das Gemeinschaftsrecht steht bei einer Sachlage wie der des Ausgangsverfahrens der Anwendung einer Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 2909 des Codice civile in einem die Mehrwertsteuer betreffenden Rechtsstreit, der ein Veranlagungsjahr betrifft, für das noch keine endgültige gerichtliche Entscheidung ergangen ist, entgegen, soweit diese Vorschrift das mit dem Rechtsstreit befasste Gericht an der Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen zu missbräuchlichen Praktiken auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer hindert.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Italienisch.