Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor
In der Rechtssache C‑314/06
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht von der Cour de cassation (Frankreich) mit Entscheidung vom 11. Juli 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juli 2006, in dem Verfahren
Société Pipeline Méditerranée et Rhône (SPMR)
gegen
Administration des douanes et droits indirects,
Direction nationale du renseignement et des enquêtes douanières (DNRED)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans (Berichterstatter), der Richter L. Bay Larsen, K. Schiemann und P. Kūris sowie der Richterin C. Toader,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M.-A. Gaudissart, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. Juni 2007,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Société Pipeline Méditerranée et Rhône (SPMR), vertreten durch H. Hazan, avocat,
– der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und J.‑C. Gracia als Bevollmächtigte,
– der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von G. Albenzio, avvocato dello Stato,
– der polnischen Regierung, vertreten durch E. Ośniecka-Tamecka als Bevollmächtigte,
– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch J.‑P. Keppenne und W. Mölls als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 18. Juli 2007
folgendes
Urteil
1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren (ABl. L 76, S. 1) in der durch die Richtlinie 94/74/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 (ABl. L 365 S. 46) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 92/12 oder Richtlinie).
2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Société Pipeline Méditerranée et Rhône (im Folgenden: SPMR) einerseits und der Administration des douanes et droits indirects (Verwaltungsbehörde für Zölle und indirekte Abgaben, im Folgenden: Zollverwaltung) und der Direction nationale du renseignement et des enquêtes douanières (DNRED) (Nationale Direktion für Zollauskünfte und -untersuchungen) andererseits wegen der von der Zollverwaltung gegen die SPMR erhobenen Forderung von Verbrauchsteuer auf Mineralöl, das unter Aussetzung der Verbrauchsteuer durch eine Pipeline geleitet wurde und aus dieser entwich, weil in der Pipeline zunächst Undichtigkeiten entstanden und sie dann zerbarst.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3. Nach dem ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 92/12 setzen „[d]ie Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes … den freien Verkehr der Waren einschließlich der verbrauchsteuerpflichtigen Waren voraus“. Laut dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie muss, „[u]m die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts sicherzustellen, … der Steueranspruch in allen Mitgliedstaaten identisch sein“.
4. Die Richtlinie 92/12 regelt nach ihrem Art. 1 Abs. 1 „die Verbrauchsteuern und die anderen indirekten Steuern, die unmittelbar oder mittelbar auf den Verbrauch von Waren erhoben werden, mit Ausnahme der Mehrwertsteuer und der von der Gemeinschaft festgelegten Abgaben“.
5. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 bestimmt:
„Diese Richtlinie findet auf Gemeinschaftsebene Anwendung auf die folgenden in den einschlägigen Richtlinien definierten Waren:
– Mineralöle,
…“
6. Nach Art. 4 der Richtlinie gelten in Zusammenhang mit dieser als
„a) zugelassener Lagerinhaber : die natürliche oder juristische Person, die von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ermächtigt wurde, in Ausübung ihres Berufs unter Steueraussetzung verbrauchsteuerpflichtige Waren in einem Steuerlager herzustellen, zu bearbeiten, zu lagern, zu empfangen und zu versenden;
b) Steuerlager : jeder Ort, an dem unter bestimmten, von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem sich das Steuerlager befindet, festgelegten Voraussetzungen verbrauchsteuerpflichtige Waren unter Steueraussetzung vom zugelassenen Lagerinhaber hergestellt, bearbeitet, gelagert, empfangen oder versandt werden;
c) Verfahren der Steueraussetzung : die steuerliche Regelung, die auf die Herstellung, die Verarbeitung, die Lagerung sowie die Beförderung der Waren unter Steueraussetzung Anwendung findet;
…“
7. Art. 5 der Richtlinie sieht vor:
„(1) Die in Artikel 3 Absatz 1 genannten Waren werden verbrauchsteuerpflichtig mit ihrer Herstellung im Gebiet der Gemeinschaft, wie es in Artikel 2 festgelegt ist, oder mit ihrer Einfuhr in dieses Gebiet.
Als Einfuhr einer verbrauchsteuerpflichtigen Ware gilt das Verbringen dieser Ware in die Gemeinschaft …
Wird diese Ware jedoch bei ihrem Verbringen in die Gemeinschaft einem gemeinschaftlichen Zollverfahren unterworfen, so gilt ihre Einfuhr als zu dem Zeitpunkt erfolgt, an dem sie aus dem gemeinschaftlichen Zollverfahren entnommen wird.
(2) Unbeschadet der einzelstaatlichen oder gemeinschaftlichen Bestimmungen im Bereich der Zollregelungen gelten verbrauchsteuerpflichtige Waren als unter Steueraussetzung stehend,
– wenn ihr Herkunfts- oder Bestimmungsort in einem Drittland … liegt und sie sich in einem der in Artikel 84 Absatz 1 Buchstabe a) der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 … genannten Nichterhebungsverfahren oder in einer Freizone oder in einem Freilager befinden;
...“
8. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Die Verbrauchsteuer entsteht mit der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr oder mit der Feststellung von Fehlmengen gemäß Artikel 14 Absatz 3.
Als Überführung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr gelten:
a) jede – auch unrechtmäßige – Entnahme der Ware aus dem Verfahren der Steueraussetzung;
...“
9. Art. 12 der Richtlinie sieht vor:
„Die Einrichtung und der Betrieb eines Steuerlagers bedürfen der Zulassung durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten.“
10. In Art. 13 der Richtlinie heißt es:
„Der zugelassene Lagerinhaber muss
a) vorbehaltlich des Artikels 15 Absatz 3 eine Sicherheit in Bezug auf die Beförderung sowie gegebenenfalls eine Sicherheit in Bezug auf die Herstellung, die Verarbeitung und die Lagerung leisten …
b) den von dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich das Steuerlager befindet, vorgeschriebenen Verpflichtungen nachkommen;
…
e) alle Maßnahmen zur Überwachung oder zur amtlichen Bestandsaufnahme dulden.
…“
11. Art. 14 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Der zugelassene Lagerinhaber wird für Verluste von der Steuer befreit, die während des Verfahrens der Steueraussetzung durch Untergang oder infolge höherer Gewalt entstanden und von den Behörden des jeweiligen Mitgliedstaats festgestellt worden sind. Während des Verfahrens der Steueraussetzung wird er ebenfalls für den Schwund von der Steuer befreit, der während der Herstellung und Verarbeitung sowie der Lagerung und der Beförderung aus Gründen, die sich aus der Eigenart der Waren ergeben, eintritt. Jeder Mitgliedstaat legt die Bedingungen fest, unter denen diese Steuerbefreiungen gewährt werden. Diese Steuerbefreiungen für Verluste gelten für die in Artikel 16 genannten Wirtschaftsbeteiligten bei der Beförderung von Waren im Verfahren der Steueraussetzung.
...
(3) Unbeschadet des Artikels 20 werden bei Fehlmengen, die nicht unter die Verluste gemäß Absatz 1 fallen, sowie bei Fehlmengen, für die keine Steuerbefreiung gemäß Absatz 1 gewährt wurde, die Abgaben nach den Steuersätzen erhoben, die in dem betreffenden Mitgliedstaat in dem Zeitpunkt anwendbar waren, zu dem sich die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß ermittelten Fehlmengen ergeben haben, bzw. in dem die Fehlmengen festgestellt worden sind.
…“
12. Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie bestimmt:
„Die mit der innergemeinschaftlichen Warenbeförderung verbundenen Risiken werden von der Sicherheit gemäß Artikel 13, die der Verwender in seiner Eigenschaft als zugelassener Lagerinhaber geleistet hat, … gedeckt. …
Werden verbrauchsteuerpflichtige Mineralöle innerhalb der Gemeinschaft auf dem Seeweg oder durch feste Rohrleitungen befördert, können die Mitgliedstaaten die zugelassenen Lagerinhaber als Versender von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung nach dem ersten Unterabsatz entbinden.
…“
Nationales Recht
13. Art. 158 C des Code des douanes (Zollgesetzbuch), der Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 in das französische Recht umsetzt, bestimmt:
„Die Verluste von Erzeugnissen, die in einem Steuerlager für Erdölprodukte gelagert werden, sind nicht steuerpflichtig, wenn gegenüber der Verwaltung nachgewiesen wird,
1. dass sie auf Untergang oder höherer Gewalt beruhen
2. oder dass sie sich aus der Eigenart der Waren ergeben. Durch Erlass des Finanzministers kann zu diesem Zweck für jede Warenart und jeden Transportmodus eine pauschale Grenze für die zulässigen steuerbefreiten Verluste festgelegt werden.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
14. Die SPMR, eine zugelassene Lagerinhaberin, betreibt eine Ölpipeline, durch die unter Aussetzung der Verbrauchsteuer Mineralöl in die Schweiz geleitet wird. Nachdem die SPMR erst Undichtigkeiten der Pipeline und dann, am 1. Januar 1997, ein Zerbersten der Pipeline feststellen musste, beantragte sie für 795 201 Liter Erdölprodukte, die verloren gegangen sein sollen, nach Art. 158 C des Zollgesetzbuchs eine Befreiung von der Verbrauchsteuer. Da die Zollverwaltung der Auffassung war, dass die Voraussetzungen eines Falles höherer Gewalt nicht vorlägen, hielt sie an der Verbrauchsteuerforderung für die verloren gegangenen Mengen fest und zog von dieser nur die Mengen ab, die als Schadstoffe aus dem Erdreich entfernt wurden.
15. Die Zollverwaltung erhob gegen die SPMR Zahlungsklage vor dem Tribunal d’instance de Neuilly-sur-Seine. Dieses erklärte die Klage jedoch für verspätet.
16. Auf Berufung hob die Cour d’appel de Versailles mit Urteilen vom 17. Dezember 2002 und 23. März 2004 das erstinstanzliche Urteil mit der Begründung auf, dass die Anträge der Zollverwaltung zulässig seien und dass sich die SPMR nicht auf höhere Gewalt berufen könne, weil für diesen Begriff das Vorliegen von Umständen kennzeichnend sei, die unvorhersehbar und unabwendbar seien und auf einer aus der Sicht des zugelassenen Lagerinhabers äußeren Ursache beruhten.
17. Die SPMR legte gegen diese Urteile Rechtsmittel zur Cour de cassation ein. Sie macht insbesondere geltend, das Berufungsgericht sei zu Unrecht zu dem Ergebnis gelangt, dass sie sich nicht auf einen „Untergang“ oder auf „höhere Gewalt“ im Sinne von Art. 158 C des Zollgesetzbuchs berufen könne und deshalb zur Zahlung der Abgaben für das verloren gegangene Mineralöl verpflichtet sei. Die SPMR stützt dieses Vorbringen auf zwei Rechtsmittelgründe.
18. Sie macht zum einen geltend, dass die Cour d’appel unter Verstoß gegen Art. 158 C des Zollgesetzbuchs verlangt habe, dass der Verlust der Erdölprodukte auf unvorhersehbare und aus der Sicht der SPMR äußere Umstände zurückzuführen sei, und nicht geprüft habe, ob die Undichtigkeiten und das Zerbersten der Pipeline, die zu dem Verlust geführt hätten, nicht für die SPMR unabwendbar gewesen seien. Für den „Untergang“ oder die „höhere Gewalt“ im Sinne von Art. 158 C des Zollgesetzbuchs sei jedoch allein die Unabwendbarkeit maßgebend.
19. Die SPMR macht zum anderen geltend, dass sie eine Steuerbefreiung nach Art. 158 C auch deshalb beanspruchen könne, weil sich die Verluste an dem durch die defekte Pipeline geleiteten Mineralöl aus dessen Eigenart, nämlich seinem flüssigen Zustand, ergäben. Dass die Zollverwaltung die aus dem Erdreich entfernten Schadstoffe nicht besteuert habe, impliziere angesichts dieser Eigenart von Erdölprodukten, dass auch die Schadstoffe, die wegen der Beschaffenheit des Bodens nicht mehr hätten entfernt werden können, nicht besteuert werden dürften.
20. Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass der Code des douanes die Richtlinie 92/12 in das französische Recht umsetze, und bezieht sich sodann auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, der zufolge der Begriff der höheren Gewalt auf den verschiedenen Anwendungsgebieten des Gemeinschaftsrechts nicht den gleichen Inhalt habe und seine Bedeutung daher anhand des rechtlichen Rahmens zu bestimmen sei, innerhalb dessen er seine Wirkungen entfalten solle. Die Cour de cassation hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist unter höherer Gewalt als Ursache von während des Verfahrens der Steueraussetzung eingetretenen Verlusten im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 zu verstehen, dass es sich um Umstände handeln muss, die unvorhersehbar und unabwendbar sind und die durch eine aus der Sicht des zugelassenen Lagerinhabers, der seinen Befreiungsantrag auf diese Umstände stützt, äußere Ursache hervorgerufen worden sind, oder genügt es, dass diese Umstände für den zugelassenen Lagerinhaber unabwendbar waren?
2. Kann der Verlust eines Teils der aus einer Erdölpipeline entwichenen Erzeugnisse, der auf der Tatsache beruht, dass diese Erzeugnisse flüssig sind und dass der Boden, auf dem sie sich ausgebreitet haben, so beschaffen ist, dass er ihre Wiedergewinnung verhindert und zu ihrer Besteuerung geführt hat, als Schwund, der sich aus der Eigenart des Erzeugnisses ergibt, im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 angesehen werden?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage: Begriff der „höheren Gewalt“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12
21. Die Gemeinschaftsrechtsordnung definiert ihre Begriffe grundsätzlich nicht in Anlehnung an eine oder mehrere nationale Rechtsordnungen, sofern dies nicht ausdrücklich vorgesehen ist (vgl. Urteile vom 14. Januar 1982, Corman, 64/81, Slg. 1982, 13, Randnr. 8, vom 2. April 1998, EMU Tabac u. a., C‑296/95, Slg. 1998, I‑1605, Randnr. 30, und vom 22. Mai 2003, Kommission/Deutschland, C‑103/01, Slg. 2003, I‑5369, Randnr. 33). Soweit Art. 14 Abs. 1 Satz 3 der Richtlinie 92/12 bestimmt, dass jeder Mitgliedstaat die Bedingungen festlegt, unter denen die in Satz 1 der Vorschrift vorgesehenen Steuerbefreiungen gewährt werden, betrifft dieser Verweis auf das nationale Recht nicht den Inhalt oder die Tragweite des in Satz 1 enthaltenen Begriffs der „höheren Gewalt“.
22. Laut dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 92/12 muss nämlich, um die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts sicherzustellen, der Steueranspruch in allen Mitgliedstaaten identisch sein. Da der Inhalt des Begriffs der höheren Gewalt ein Faktor ist, der gegebenenfalls dazu beitragen kann, den Steueranspruch zu bestimmen, ist dieser Begriff notwendig eigenständig, und es muss gewährleistet werden, dass er in allen Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt wird.
23. Nach ständiger Rechtsprechung in verschiedenen Zusammenhängen wie dem Agrarrecht oder den in Art. 45 der Satzung des Gerichtshofs festgelegten Rechtsbehelfsfristen erfasst der Begriff der höheren Gewalt nicht nur die absolute Unmöglichkeit, sondern ist im Sinne von außerhalb der Sphäre des Wirtschaftsteilnehmers liegenden Umständen zu verstehen, die ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Dezember 1994, Bayer/Kommission, C‑195/91 P, Slg. 1994, I‑5619, Randnr. 31, und vom 17. Oktober 2002, Parras Medina, C‑208/01, Slg. 2002, I‑8955, Randnr. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24. Wie der Gerichtshof bereits klargestellt hat, umfasst der Begriff der höheren Gewalt demgemäß ein objektives Merkmal, das sich auf ungewöhnliche, außerhalb der Sphäre des Betroffenen liegende Umstände bezieht, und ein subjektives Merkmal, das mit der Verpflichtung des Betroffenen zusammenhängt, sich gegen die Folgen ungewöhnlicher Ereignisse zu wappnen, indem er, ohne übermäßige Opfer zu bringen, geeignete Maßnahmen trifft (vgl. in diesem Sinne Urteil Bayer/Kommission, Randnr. 32, und Beschluss vom 18. Januar 2005, Zuazaga Meabe/HABM, C‑325/03 P, Slg. 2005, I‑403, Randnr. 25).
25. Da indessen nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung der Begriff der höheren Gewalt auf den verschiedenen Anwendungsgebieten des Gemeinschaftsrechts nicht den gleichen Inhalt hat, ist seine Bedeutung anhand des rechtlichen Rahmens zu bestimmen, innerhalb dessen er seine Wirkungen entfalten soll (vgl. Urteile vom 13. Oktober 1993, An Bord Bainne Co-operative und Compagnie Inter-Agra, C‑124/92, Slg. 1993, I‑5061, Randnr. 10, und vom 29. September 1998, First City Trading u. a., C‑263/97, Slg. 1998, I‑5537, Randnr. 41).
26. Es ist deshalb zu prüfen, ob im Hinblick auf den Begriff der „höheren Gewalt“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 der Aufbau und der Zweck der Richtlinie dazu Anlass geben, die Tatbestandsmerkmale der höheren Gewalt, wie sie sich aus der oben in Randnr. 23 angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben, in besonderer Weise auszulegen und anzuwenden.
27. Insoweit folgt aus dem ersten und dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 92/12, dass diese die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts im Hinblick auf verbrauchsteuerpflichtige Waren gewährleisten soll und hierfür eine allgemeine Regelung schafft, nach der der Steueranspruch in allen Mitgliedstaaten identisch sein soll.
28. Nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 werden die in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie genannten Waren, darunter Mineralöle, mit ihrer Herstellung im Gebiet der Gemeinschaft oder mit ihrer Einfuhr in dieses Gebiet verbrauchsteuerpflichtig. Während der Entstehungstatbestand für die Verbrauchsteuer in der Herstellung der Waren im Gemeinschaftsgebiet oder in ihrer Einfuhr dorthin liegt, entsteht der Steueranspruch nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie erst dann, wenn die Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr übergeführt oder wenn Fehlmengen festgestellt werden, die nach Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie zu besteuern sind. Als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr gilt nach Art. 6 Abs. 1 u. a. jede – auch unrechtmäßige – Entnahme der Ware aus dem Verfahren der Steueraussetzung.
29. Gemäß Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 92/12 werden unbeschadet des Art. 20 der Richtlinie bei Fehlmengen, die nicht unter die Verluste gemäß Art. 14 Abs. 1 fallen, sowie bei Fehlmengen, für die keine Steuerbefreiung gemäß Art. 14 Abs. 1 gewährt wurde, die Abgaben nach den Steuersätzen erhoben, die in dem betreffenden Mitgliedstaat zu dem Zeitpunkt anwendbar waren, zu dem sich die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß ermittelten Fehlmengen ergeben haben oder zu dem die Fehlmengen festgestellt worden sind.
30. Aus der Gesamtschau der vorstehend in den Randnrn. 28 und 29 genannten Bestimmungen ergibt sich, dass Mineralöle allein durch ihre Herstellung im Gemeinschaftsgebiet oder ihre Einfuhr in dieses Gebiet verbrauchsteuerpflichtig werden und dass der Steueranspruch grundsätzlich auch bei Fehlbeträgen oder Verlusten entsteht, für die die zuständigen Behörden keine Befreiung gewährt haben. Die in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 vorgesehene Befreiung für Verluste infolge höherer Gewalt bildet von dieser allgemeinen Regel eine Ausnahme, die daher, wie die Generalanwältin in Nr. 43 ihrer Schlussanträge hervorgehoben hat, eng auszulegen ist.
31. Die vom Gerichtshof in anderen Bereichen des Gemeinschaftsrechts gewählte, oben in Randnr. 23 in Erinnerung gebrachte Auslegung des Begriffs der höheren Gewalt ist daher auch im Rahmen von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 zugrunde zu legen. Ein zugelassener Lagerinhaber kann demnach die Vergünstigung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Befreiung nur beanspruchen, wenn er das Bestehen von außerhalb seiner Sphäre liegenden Umständen nachweist, die ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können.
32. Insoweit ist jedoch zu beachten, dass die Anwendung dieser Voraussetzungen im Zusammenhang des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12, wie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften vorgetragen hat, nicht dazu führen darf, dass dem zugelassenen Lagerinhaber eine absolute Haftung für die Verluste von Waren auferlegt wird, die der Steueraussetzung unterliegen.
33. Insbesondere ist die Voraussetzung, wonach die für diese Verluste maßgebenden Umstände außerhalb der Sphäre des zugelassenen Lagerinhabers liegen müssen, nicht auf Umstände beschränkt, die aus seiner Sicht in einem materiellen oder physischen Sinne äußere Umstände sind. Diese Voraussetzung ist vielmehr dahin auszulegen, dass sie solche Umstände erfasst, die objektiv der Kontrolle durch den zugelassenen Lagerinhaber entzogen sind oder außerhalb seines Verantwortungsbereichs liegen (vgl. zum letztgenannten Aspekt entsprechend Urteil vom 5. Februar 1987, Denkavit, 145/85, Slg. 1987, 565, Randnr. 16).
34. Hinsichtlich der im Ausgangsverfahren in Frage stehenden Umstände ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass die SPMR vor den nationalen Gerichten geltend machte, dass die Undichtigkeiten der Pipeline und deren anschließendes Zerbersten, die zu den Verlusten führten, für die die SPMR eine Steuerbefreiung begehrt, auf eine Haarrisse verursachende Korrosion zurückzuführen seien, die im Zeitpunkt der fraglichen Vorgänge nicht bekannt gewesen sei und deshalb nicht mit einem damals verfügbaren technischen Gerät hätte entdeckt werden können.
35. Selbst wenn sich die Haftung des Betreibers einer Anlage grundsätzlich auf deren technische Defekte erstreckt, lässt sich nicht ausschließen, dass ein Phänomen der Korrosion wie das in der vorstehenden Randnummer genannte als ein Fall „höherer Gewalt“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 anzusehen sein kann, sofern sein Eintritt unter Berücksichtigung des damals gegebenen technologischen Erkenntnisstands in keiner Weise vorhersehbar und daher jeder Möglichkeit der Kontrolle durch den zugelassenen Lagerinhaber entzogen war. Es ist Sache der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsfall gegeben sind.
36. Zu der Voraussetzung, dass der zugelassene Lagerinhaber die erforderliche Sorgfalt aufgebracht haben muss, machen die SPMR und die Kommission geltend, dass diese Voraussetzung dann erfüllt sei, wenn der Betreiber nachweislich die geltenden technischen Vorschriften eingehalten habe.
37. Auch wenn die Einhaltung der technischen Vorschriften über die Qualität, den Bau, die Wartung und das Betreiben einer Pipeline als eine Voraussetzung für die Feststellung sorgfältigen Verhaltens angesehen werden kann, ist diese Einhaltung als solche nicht entscheidend. Denn eine genügende Sorgfalt verlangt zusätzlich ein ständiges aktives Verhalten, das auf die Identifizierung und Bewertung potenzieller Risiken gerichtet ist, sowie die Fähigkeit, angemessene und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um dem Eintritt solcher Risiken vorzubeugen.
38. Im Übrigen bilden weder der Umstand, dass nach Art. 12 der Richtlinie 92/12 die Einrichtung und der Betrieb eines Steuerlagers, wie unter den im Ausgangsfall gegebenen Umständen einer Pipeline, der Zulassung durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bedürfen, noch der Umstand, dass ein zugelassener Lagerinhaber den in Art. 13 der Richtlinie aufgeführten Verpflichtungen, darunter der zur Duldung von Kontrollmaßnahmen, unterliegt, noch der Umstand, dass Art. 15 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie, wonach für die Beförderung von Mineralölen durch Rohrleitungen die Möglichkeit einer Entbindung von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung für die Deckung der mit der innergemeinschaftlichen Warenbeförderung verbundenen Risiken besteht, erkennen lässt, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber die Beförderung in Rohrleitungen für sicher erachtet, relevante Faktoren für die Feststellung, ob die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Falles höherer Gewalt gegeben sind. Wie die Generalanwältin in den Nrn. 46 und 47 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, sollen nämlich sowohl die Zulassung als Lagerinhaber als auch dessen in Art. 13 der Richtlinie vorgesehene Überwachung lediglich sicherstellen, dass der Lagerinhaber den erforderlichen Grad von Zuverlässigkeit für das Verfahren der Steueraussetzung besitzt, und auch die von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats erteilte Zulassung für die Errichtung und den Betrieb eines zugelassenen Steuerlagers begründet keine Mithaftung dieses Mitgliedstaats für die Verbrauchsteuer auf Fehlmengen, die infolge eines technischen Defekts des zugelassenen Beförderungsmittels entstehen.
39. Schließlich lässt sich nicht geltend machen, dass die Steuer für abhanden gekommene Produkte deshalb nicht anfalle, weil diese niemals, wie es Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 als Voraussetzung für den Steueranspruch verlange, in den steuerrechtlich freien Verkehr übergeführt worden seien. Wie nämlich oben in Randnr. 30 dargelegt, werden Mineralöle allein durch ihre Herstellung im Gemeinschaftsgebiet oder ihre Einfuhr in dieses Gebiet verbrauchsteuerpflichtig, und der Steueranspruch entsteht grundsätzlich auch bei Fehlmengen oder Verlusten, für die die zuständigen Behörden keine Befreiung gewährt haben. Die Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr ist deshalb für die Entstehung der Steuerschuld nicht ausschlaggebend.
40. Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass sich der Begriff der „höheren Gewalt“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 auf außerhalb der Sphäre des zugelassenen Lagerinhabers liegende Umstände bezieht, die ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller von ihm aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können. Die Voraussetzung, dass es sich um außerhalb der Sphäre des zugelassenen Lagerinhabers liegende Umstände handeln muss, ist nicht auf aus seiner Sicht in einem materiellen oder physischen Sinne äußere Umstände beschränkt, sondern erfasst auch solche Umstände, die objektiv der Kontrolle durch den zugelassenen Lagerinhaber entzogen sind oder außerhalb seines Verantwortungsbereichs liegen.
Zur zweiten Frage: Begriff des „Schwunds, der sich aus der Eigenart der Waren ergibt“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 92/12
41. Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Verluste, die dadurch entstehen, dass Erdölprodukte infolge ihres flüssigen Zustands zu einem Teil aus einer Rohrleitung ausgetreten sind und dass die Beschaffenheit des Bodens, in dem sie sich ausgebreitet haben, ihre Rückgewinnung verhindert hat, als „Schwund, der sich aus der Eigenart der Waren ergibt“, im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 92/12 angesehen werden können.
42. Nach ihrem Wortlaut gilt diese Bestimmung nur für einen Schwund, der sich aus der Eigenart der Waren ergibt und im Rahmen bestimmter, abschließend aufgeführter Tätigkeiten, darunter der Beförderung, eintritt. Während der Begriff des sich aus der Eigenart der Waren ergebenden Schwunds, wie die italienische Regierung bemerkt, sogenannte „technische“ Verluste einschließen kann, lässt er sich nicht auf unfallbedingte Verluste erstrecken.
43. Da die für einen derartigen natürlichen Schwund vorgesehene Steuerbefreiung außerdem zu unterscheiden ist von der Steuerbefreiung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 für Verluste durch Untergang oder höhere Gewalt, lässt sich die erstgenannte Steuerbefreiung nicht extensiv dahin auslegen, dass sie auch Fälle erfasst, in denen die Voraussetzungen für die letztgenannte Steuerbefreiung nicht vorliegen.
44. Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, dass die Verluste, die dadurch entstehen, dass Erdölprodukte infolge ihres flüssigen Zustands zu einem Teil aus einer Rohrleitung ausgetreten sind und dass die Beschaffenheit des Bodens, in dem sie sich ausgebreitet haben, ihre Rückgewinnung verhindert hat, nicht als „Schwund, der sich aus der Eigenart der Waren ergibt“, im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 92/12 angesehen werden können.
Kosten
45. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1. Der Begriff der „höheren Gewalt“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren in der durch die Richtlinie 94/74/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 geänderten Fassung bezieht sich auf außerhalb der Sphäre des zugelassenen Lagerinhabers liegende Umstände, die ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller von ihm aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können. Die Voraussetzung, dass es sich um außerhalb der Sphäre des zugelassenen Lagerinhabers liegende Umstände handeln muss, ist nicht auf aus seiner Sicht in einem materiellen oder physischen Sinne äußere Umstände beschränkt, sondern erfasst auch solche Umstände, die objektiv der Kontrolle durch den zugelassenen Lagerinhaber entzogen sind oder außerhalb seines Verantwortungsbereichs liegen.
2. Die Verluste, die dadurch entstehen, dass Erdölprodukte infolge ihres flüssigen Zustands zu einem Teil aus einer Rohrleitung ausgetreten sind und dass die Beschaffenheit des Bodens, in dem sie sich ausgebreitet haben, ihre Rückgewinnung verhindert hat, können nicht als „Schwund, der sich aus der Eigenart der Waren ergibt“, im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 92/12 in der durch die Richtlinie 94/74 geänderten Fassung angesehen werden.