Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor

Parteien

In der Rechtssache C‑154/05

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht von der Rechtbank Amsterdam (Niederlande) mit Entscheidung vom 4. April 2005, beim Gerichtshof eingegangen am 6. April 2005, in dem Verfahren

J. J. Kersbergen-Lap,

D. Dams-Schipper

gegen

Raad van Bestuur van het Uitvoeringsinstituut Werknemersverzekeringen

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas sowie der Richter J. Malenovský, J.‑P. Puissochet (Berichterstatter), A. Borg Barthet und A. Ó Caoimh,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: R. Grass,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von J. J. Kersbergen-Lap,

– des Raad van Bestuur van het Uitvoeringsinstituut Werknemersverzekeringen, vertreten durch I. F. Pardaan als Bevollmächtigten,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster als Bevollmächtigte,

– der finnischen Regierung, vertreten durch A. Guimaraes-Purokoski als Bevollmächtigte,

– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Nwaokolo als Bevollmächtigte im Beistand von E. Sharpston, QC,

– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch D. Martin und P. van Nuffel als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Artikel 4 Absatz 2a und 10a sowie des Anhangs IIa der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 307/1999 des Rates vom 8. Februar 1999 (ABl. L 38, S. 1) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71).

2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten, in denen zum einen Frau Kersbergen-Lap und zum anderen Frau Dams-Schipper dem Raad van Bestuur (Vorstand) des Uitvoeringsinstituut Werknemersverzekeringen (Durchführungsinstitut für Arbeitnehmer-Sozialversicherungen, im Folgenden: UWV) wegen dessen Weigerung gegenüberstehen, ihnen außerhalb der Niederlande die Beihilfe nach dem Gesetz über die Arbeitsunfähigkeitsversicherung junger Behinderter vom 24. April 1997 (Wet arbeidsongeschiktheidsvoorziening jonggehandicapten, Stb. 1997, Nr. 177, im Folgenden: WAJong) zu gewähren.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

3. Artikel 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

„Für die Anwendung dieser Verordnung werden die nachstehenden Begriffe wie folgt definiert:

a) ‚Arbeitnehmer‘ oder ‚Selbständiger‘: jede Person,

i) die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist;

…“

4. Artikel 2 der Verordnung Nr. 1408/71, der den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung bestimmt, führt in seinem Absatz 1 näher aus:

„Diese Verordnung gilt für Arbeitnehmer und Selbständige sowie für Studierende, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind …, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene.“

5. Artikel 4 der Verordnung Nr. 1408/71 („Sachlicher Geltungsbereich“) bestimmt:

„(1) Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen:

a) Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft,

b) Leistungen bei Invalidität einschließlich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind,

(2) Diese Verordnung gilt für die allgemeinen und die besonderen, die auf Beiträgen beruhenden und die beitragsfreien Systeme der sozialen Sicherheit sowie für die Systeme, nach denen die Arbeitgeber, einschließlich der Reeder, zu Leistungen gemäß Absatz 1 verpflichtet sind.

(2a) Diese Verordnung gilt auch für beitragsunabhängige Sonderleistungen, die unter andere als die in Absatz 1 erfassten oder die nach Absatz 4 ausgeschlossenen Rechtsvorschriften oder Systeme fallen, sofern sie

a) entweder in Versicherungsfällen, die den in Absatz 1 Buchstaben a) bis h) aufgeführten Zweigen entsprechen, ersatzweise, ergänzend oder zusätzlich gewährt werden

b) oder allein zum besonderen Schutz der Behinderten bestimmt sind.

(4) Diese Verordnung ist … [nicht] auf die Sozialhilfe … anzuwenden.“

6. In Bezug auf die beitragsfreien Sonderleistungen nach Artikel 4 Absatz 2a der Verordnung Nr. 1408/71 sieht Artikel 10a Absatz 1 dieser Verordnung Folgendes vor:

„Ungeachtet der Bestimmungen in Artikel 10 und Titel III erhalten die Personen, für die diese Verordnung gilt, die in Artikel 4 Absatz 2a aufgeführten beitragsunabhängigen Sonderleistungen in bar ausschließlich in dem Wohnmitgliedstaat gemäß dessen Rechtsvorschriften, sofern diese Leistungen in Anhang IIa aufgeführt sind. Diese Leistungen werden vom Träger des Wohnorts zu seinen Lasten gewährt.“

7. In Anhang IIa, Abschnitt J, werden die Leistungen, die jungen Behinderten nach der WAJong in den Niederlanden bei Berufsunfähigkeit gewährt werden, als beitragsunabhängige Sonderleistungen qualifiziert.

Nationales Recht

8. In den Niederlanden gibt es verschiedene Formen der Arbeitsunfähigkeitsversicherung.

9. Nach dem Gesetz über die Arbeitsunfähigkeit vom 18. Februar 1966 (Wet op de arbeidsongeschiktheidsverzerkering, Stb. 1966, Nr. 84, im Folgenden: WAO) sind Arbeitnehmer gegen das Risiko des Lohnausfalls als Folge einer lang andauernden Arbeitsunfähigkeit versichert. Diese Versicherung wird durch Beiträge finanziert, die die Arbeitgeber nach Maßgabe des Lohnes, den sie ihren Arbeitnehmern zahlen, abzuführen haben. Für eine Leistung nach der WAO kommt in Betracht, wer zum Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit versichert war.

10. Zudem bestand aufgrund des Allgemeinen Arbeitsunfähigkeitsgesetzes vom 11. Dezember 1975 (Algemene Arbeidsongeschiktheidswet, Stb. 1975, Nr. 674, im Folgenden: AAW) bis zum 1. Januar 1998 für die gesamte Bevölkerung eine Pflichtversicherung gegen die finanziellen Folgen einer lang andauernden Arbeitsunfähigkeit.

11. Zum 1. Januar 1998 wurde die AAW durch das Gesetz über die Arbeitsunfähigkeitsversicherung für Selbständige vom 24. April 1997 (Wet arbeidsongeschiktheids‑verzekering zelfstandigen, Stb. 1997, Nr. 176) und durch die WAJong ersetzt, die dem Schutz junger Behinderter gegen die finanziellen Folgen einer lang andauernden Arbeitsunfähigkeit dient.

12. Die Die WAJong sieht eine Mindestleistung an die jungen Menschen vor, die bereits vor ihrem Eintritt in den Arbeitsmarkt ganz oder teilweise lang andauernd arbeitsunfähig geworden sind. Als junge Behinderte gelten die Einwohner, die bereits an ihrem 17. Geburtstag arbeitsunfähig waren, oder die, wenn sie danach arbeitsunfähig geworden sind, in dem Jahr, das dem Tag des Eintritts ihrer Arbeitsunfähigkeit unmittelbar vorausging, mindestens sechs Monate lang studiert hatten. Die Leistung kann nicht vor dem 18. Geburtstag ausgezahlt werden.

13. Die Höhe der nach der WAJong gezahlten Leistung hängt vom Grad der Arbeitsunfähigkeit ab und beträgt bei voller Arbeitsunfähigkeit 70 % des gesetzlichen Mindestlohns. Der Anspruch auf diese Leistung setzt nicht die Zahlung einer Prämie oder eines Beitrags voraus. Er hängt auch nicht von einer die eigenen Mittel des Empfängers betreffenden Voraussetzung ab, wobei die Leistung jedoch gekürzt werden kann, wenn Einkünfte aus Arbeit erzielt werden oder die Leistung mit bestimmten anderen Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit zusammentrifft.

14. Die Leistung nach der WAJong wird vom Arbeidsongeschiktheidsfonds jonggehandicapten (Fonds für arbeitsunfähige junge Behinderte) ausgezahlt und gemäß Artikel 64 Buchstabe a dieses Gesetzes von der Staatskasse finanziert.

15. Anders als bei der AAW, die keinerlei Beschränkung vorsah, ist die Exportierbarkeit einer Leistung nach der WAJong beschränkt. Artikel 17 Absatz 1 WAJong bestimmt, dass „der Anspruch auf die Leistung bei Arbeitsunfähigkeit … am ersten Tag des Monats [erlischt], der auf den Monat folgt, in dem der junge Behinderte seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt hat“.

16. Artikel 17 Absatz 7 WAJong gestattet dem UWV jedoch, von dieser Bestimmung abzuweichen, wenn der Ausschluss vom Rechtsanspruch auf die Leistung zu einer „erheblichen Unbilligkeit“ führt. In einem Beschluss zu den Leitlinien über die Weitergewährung von WAJong-Leistungen außerhalb der Niederlande (Beleidsregels voortzetting WAJong-uitkering buiten Nederland, Stcrt. 2003, Nr. 84), der am 2. Mai 2003 in Kraft getreten ist, führte der Raad van Bestuur des UWV aus, dass dieser Begriff der erheblichen Unbilligkeit den Fall betreffe, dass zum einen ein junger Behinderter seinen Wohnsitz aus schwerwiegenden Gründen ins Ausland verlege und zum anderen davon auszugehen sei, dass, wenn die Zahlung der Leistung eingestellt würde, dies einen erheblichen Nachteil für den Behinderten zur Folge hätte. Um schwerwiegende Gründe handele es sich etwa, wenn sich der junge Behinderte einer medizinischen Behandlung von gewisser Dauer unterziehe, eine Arbeit aufnehme, die eine Wiedereingliederungsperspektive biete, oder Personen folge, von denen er für seine Versorgung abhängig sei, falls diese gezwungen seien, außerhalb der Niederlande zu wohnen.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

17. Frau Kersbergen-Lap, geboren am 15. Januar 1964, und Frau Dams-Schipper, geboren am 19. Januar 1970, sind beide von einer lang andauernden Arbeitsunfähigkeit mit einem Grad von 80 % bis 100 % betroffen. Vor 1998 war ihnen eine Leistung bei Arbeitsunfähigkeit nach der AAW bewilligt worden. Am 1. Januar 1998 wurde diese Leistung auf eine Leistung nach der WAJong umgestellt. Im Jahr 2002 zog Frau Kersbergen-Lap nach Frankreich und Frau Dams-Schipper nach Deutschland. Beiden wurde die Leistung infolge ihres Umzugs durch den UWV aberkannt.

18. Frau Kersbergen-Lap und Frau Dams-Schipper legten gegen diese Bescheide Widerspruch ein. In beiden Fällen erklärte der Raad van Bestuur des UWV den Widerspruch für unbegründet und führte weiter aus, dass sich die beiden Betroffenen nicht auf einen Fall „erheblicher Unbilligkeit“ berufen könnten.

19. Frau Kersbergen-Lap und Frau Dams-Schipper erhoben beide gegen diese Bescheide Klage vor der Rechtbank Amsterdam.

20. Diese hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist eine Leistung nach der WAJong, die in Anhang IIa der Verordnung Nr. 1408/71 aufgeführt ist, als beitragsunabhängige Sonderleistung im Sinne des Artikels 4 Absatz 2a der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen, so dass auf Personen wie die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens ausschließlich die durch Artikel 10a der Verordnung Nr. 1408/71 eingeführte Koordinierungsregelung anzuwenden ist und diese WAJong-Leistung deshalb jemandem, der außerhalb der Niederlande wohnt, nicht gewährt werden kann?

Zur Vorlagefrage

21. Es ist allein Sache des vorlegenden Gerichts, den Gegenstand der Fragen festzulegen, die es dem Gerichtshof vorlegen möchte. Denn nur die mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichte, die über den Rechtsstreit entscheiden müssen, haben im jeweiligen Einzelfall sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass ihres Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen (vgl. Urteile vom 27. Februar 1997 in der Rechtssache C‑220/95, Van den Boogaard, Slg. 1997, I‑1147, Randnr. 16, vom 20. März 1997 in der Rechtssache C‑295/95, Farrell, Slg. 1997, I‑1683, Randnr. 11, vom 16. März 1999 in der Rechtssache C‑159/97, Castelletti, Slg. 1999, I‑1597, Randnr. 14, und vom 8. Mai 2003 in der Rechtssache C‑111/01, Gantner Electronic, Slg. 2003, I‑4207, Randnr. 34).

22. Frau Kersbergen-Lap stellt dem Gerichtshof am Ende ihrer schriftlichen Erklärungen über die im Vorlagebeschluss des nationalen Gerichts genannte Frage hinaus weitere Fragen und fügt diesen in ihren ergänzenden Erklärungen weitere Fragen hinzu. Angesichts der Ausführungen in der vorstehenden Randnummer sind solche Fragen nicht zu prüfen, da sie über den Rahmen der vom nationalen Gericht gestellten Frage hinausgehen.

23. Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob es sich bei der Leistung für junge Behinderte nach der WAJong, die im Anhang IIa der Verordnung Nr. 1408/71 aufgeführt ist, um eine beitragsunabhängige Sonderleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 2a dieser Verordnung handelt, so dass auf eine Person, die sich in derselben Lage befindet wie die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, ausschließlich die durch Artikel 10a der Verordnung geschaffene Koordinierungsregelung anzuwenden ist und die Leistung folglich nur einer Person gewährt werden kann, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden hat.

24. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens fallen unter die Verordnung Nr. 1408/71, soweit für sie in den Niederlanden ein System der sozialen Sicherheit maßgebend war und sie als Versicherte Anspruch auf Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit hätten, wenn sie in diesem Mitgliedstaat wohnten (vgl. entsprechend u. a. die Urteile vom 31. Mai 1979 in der Rechtssache 182/78, Pierik, Slg. 1979, 1977, Randnr. 4, und vom 10. März 1992 in der Rechtssache C‑215/90, Twomey, Slg. 1992, I‑1823, Randnr. 13).

25. Die Ausnahmen vom Grundsatz der Exportierbarkeit von Leistungen der sozialen Sicherheit nach Artikel 10a der Verordnung Nr. 1408/71 sind eng auszulegen. Diese Vorschrift erfasst folglich nur die Leistungen, die den Tatbestand des Artikels 4 Absatz 2a dieser Verordnung erfüllen, d. h. Leistungen, die sowohl Sonderleistungscharakter haben al s auch beitragsunabhängig sind und die zudem in Anhang IIa dieser Verordnung aufgeführt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. März 2001 in der Rechtssache C‑215/99, Jauch, Slg. 2001, I‑1901, Randnr. 21).

26. Wie in Randnummer 7 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, ist die Leistung nach der WAJong in der Liste der beitragsunabhängigen Sonderleistungen im Sinne von Artikel 4 Absatz 2a der Verordnung Nr. 1408/71 aufgeführt, die Gegenstand von Anhang IIa der Verordnung ist.

27. Somit bleibt zum einen zu prüfen, ob die streitige Leistung Sonderleistungscharakter hat und ob sie ersatzweise, ergänzend oder zusätzlich Versicherungsfälle erfasst, die den in Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgeführten Zweigen entsprechen, und zum anderen, ob eine solche Leistung beitragsunabhängig ist.

Zum Sonderleistungscharakter der Leistung nach der WAJong

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

28. Nach Ansicht des UWV, aller Regierungen, die schriftliche Erklärungen abgegeben haben, und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften sind die Sonderleistungen, die Gegenstand von Artikel 4 Absatz 2a der Verordnung Nr. 1408/71 sind, Mischleistungen.

29. Nach Ansicht dieser Beteiligten, mit Ausnahme der Regierung des Vereinigten Königreichs, die sich nicht ausdrücklich zum Status der Leistung nach der WAJong geäußert hat, weist diese Leistung die typischen Eigenschaften einer Leistung mit Mischcharakter auf. Sie sei zum einen der sozialen Sicherheit zuzuordnen, weil jeder, bei dem sich ein Risiko (Arbeitsunfähigkeit) verwirkliche, das normalerweise durch eine Leistung der sozialen Sicherheit gedeckt sei, nach Maßgabe der auf diesem Gebiet anwendbaren Bewilligungskriterien Anspruch auf sie habe, und zum anderen sei sie der Sozialhilfe zuzuordnen, weil sie nicht von bestimmten Beschäftigungs- oder Beitragszeiten abhänge und zum Ziel habe, einen Zustand der Bedürftigkeit zu lindern, indem den jungen Behinderten ein Mindesteinkommen garantiert werde. Eine solche Leistung hänge immer eng mit der sozioökonomischen Lage des betreffenden Landes zusammen, und ihre Höhe berücksichtige den Lebensstandard in den Niederlanden, da sie auf der Grundlage des dort geltenden Mindestlohns berechnet werde.

Würdigung durch den Gerichtshof

30. Eine Sonderleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 2a der Verordnung Nr. 1408/71 wird durch ihren Zweck definiert. Sie muss eine Leistung der sozialen Sicherheit ersetzen oder ergänzen und den Charakter einer Sozialhilfeleistung aufweisen, die aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen gerechtfertigt ist, und es muss nach einer Regelung, die objektive Kriterien festlegt, über sie entschieden werden (vgl. Urteil vom 29. April 2004 in der Rechtssache C‑160/02, Skalka, Slg. 2004, I‑5613, Randnr. 25 und die zitierte Rechtsprechung).

31. Wie die niederländische Regierung betont, handelt es sich bei der Leistung nach der WAJong um eine Ersatzleistung, die für diejenigen bestimmt ist, die nicht die Versicherungsbedingungen erfüllen, um eine Leistung bei Invalidität im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 zu erhalten. Die Leistung nach der WAJong weist dadurch, dass sie einer sozial schwachen Gruppe (jungen Behinderten) ein Mindesteinkommen garantiert, den Charakter einer Sozialhilfeleistung auf, die aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen gerechtfertigt ist. Ihre Gewährung beruht zudem auf objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien.

32. Die im Ausgangsverfahren streitige Leistung wird zwar, wie die Kommission vorträgt, gewährt, ohne dass die Bedürftigkeit oder das Vermögen der Betroffenen geprüft werden, doch würden die meisten der jungen Behinderten, wenn sie diese Leistung nicht erhielten, nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen.

33. Außerdem ist diese Leistung eng mit dem sozialen und wirtschaftlichen Kontext der Niederlande verbunden, da sie vom dortigen Mindestlohn und Lebensstandard abhängt. Der Gerichtshof hat bereits anerkannt, dass die Gewährung von eng an das soziale Umfeld gebundenen Leistungen davon abhängig gemacht werden kann, dass der Empfänger im Staat des zuständigen Trägers wohnt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. September 1988 in der Rechtssache 313/86, Lenoir, Slg. 1988, 5391, Randnr. 16, vom 4. November 1997 in der Rechtssache C‑20/96, Snares, Slg. 1997, I‑6057, Randnr. 42, und vom 31. Mai 2001 in der Rechtssache C‑43/99, Leclere und Deaconescu, Slg. 2001, I‑4265, Randnr. 32).

34. Folglich ist die Leistung nach der WAJong als Sonderleistung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 zu qualifizieren.

Zur Beitragsunabhängigkeit der Leistung nach der WAJong

35. Nach Ansicht des UWV, aller Regierungen, die schriftliche Erklärungen abgegeben haben, und der Kommission ist die WAJong-Leistung beitragsunabhängig.

36. Das maßgebende Kriterium in diesem Zusammenhang ist die tatsächliche Finanzierung der Leistung (vgl. in diesem Sinne Urteil Jauch, Randnrn. 32 und 33). Der Gerichtshof prüft, ob diese Finanzierung unmittelbar oder mittelbar durch Sozialbeiträge oder durch öffentliche Mittel sichergestellt wird.

37. Die Mittel, die zur Finanzierung der Leistung nach der WAJong erforderlich sind, werden von der Staatskasse, also von der öffentlichen Hand aufgebracht. Außerdem ist die Gewährung dieser Leistung nicht davon abhängig, dass der Empfänger auch Anspruch auf eine andere beitragsabhängige Leistung der sozialen Sicherheit hat. Angesichts der Gruppe, zu der diese Empfänger gehören, kann daher auch nicht von einer mittelbaren Finanzierung durch Beiträge gesprochen werden.

38. Folglich steht fest, dass die Leistung nach der WAJong als beitragsunabhängige Leistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 2a der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen ist.

Zur Verletzung eines wohlerworbenen Rechts

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

39. Frau Kersbergen-Lap macht geltend, dass den Betroffenen, die die Leistung vor 1998 nach der AAW erhalten hätten, nicht die Nichtexportierbarkeit der in Artikel 10a der Verordnung Nr. 1408/71 genannten Leistungen entgegengehalten werden könne. Dies verletze ihre wohlerworbenen Rechte.

40. Als die WAJong 1998 in Kraft getreten und in den Anhang IIa der Verordnung Nr. 1408/71 aufgenommen worden sei, hätten die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens eine Leistung für junge Behinderte nach der AAW erhalten, deren Export nicht beschränkt gewesen sei.

Würdigung durch den Gerichtshof

41. Ohne dass geprüft zu werden braucht, ob die Leistung nach der WAJong unter einem anderen Namen effektiv die Kontinuität der Leistung nach der AAW sicherstellen sollte, kann sich eine Person, die sich in derselben Lage wie die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens befindet, im Gegensatz zum Vorbringen von Frau Kersbergen-Lap nicht auf den Grundsatz der Wahrung wohlerworbener Rechte berufen, um die im Ausgangsverfahren streitige Leistung zu erhalten, obwohl sie ihren Wohnsitz im Ausland begründet hat.

42. Der Grundsatz der Rechtssicherheit lässt keine rückwirkende Anwendung einer Verordnung zu, unabhängig davon, ob sich eine solche Anwendung für den Betroffenen günstig oder ungünstig auswirkt, es sei denn, dass es im Wortlaut oder in der Zweckrichtung einen hinreichend klaren Anhaltspunkt gibt, der die Annahme zulässt, dass die Verordnung nicht nur für die Zukunft gilt (Urteil vom 12. Oktober 1978 in der Rechtssache 10/78, Belbouab, Slg. 1978, 1915, Randnr. 7). Zwar gilt die neue Regelung nur für die Zukunft, doch ist sie, soweit nichts Abweichendes bestimmt ist, auch auf die künftigen Wirkungen von unter dem alten Recht entstandenen Sachverhalten anwendbar (siehe in diesem Sinne Urteile vom 15. Februar 1978 in der Rechtssache 96/77, Bauche und Delquignies, Slg. 1978, 383, Randnr. 48, vom 25. Oktober 1978 in der Rechtssache 125/77, Koninklijke Scholten-Honig und De Bijenkorf, Slg. 1978, 1991, Randnr. 37, vom 5. Februar 1981 in der Rechtssache 40/79, P./Kommission, Slg. 1981, 361, Randnr. 12, vom 10. Juli 1986 in der Rechtssache 270/84, Licata/Wirtschafts- und Sozialausschuss, Slg. 1986, 2305, Randnr. 31, und vom 7. Februar 2002 in der Rechtssache C‑28/00, Kauer, Slg. 2002, I‑1343, Randnr. 20).

43. Im Ausgangsverfahren trat die WAJong vor dem Umzug der Klägerinnen ins Ausland in Kraft und wurde auch davor in den Anhang IIa der Verordnung Nr. 1408/71 aufgenommen. Mangels einer anders lautenden Übergangsbestimmung u. a. in der Verordnung Nr. 1223/98 des Rates vom 4. Juni 1998 zur Änderung der Verordnung Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. L 168, S. 1) sind die sich aus diesem Sachverhalt (Begründung des Wohnsitzes im Ausland) ergebenden Rechtsfolgen (Exportierbarkeit oder Nichtexportierbarkeit der Leistung nach der WAJong) anhand der Regelungen zu prüfen, die zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Sachverhalts galten, also anhand der neuen Bestimmungen.

44. Folglich ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass es sich bei einer Leistung nach der WAJong um eine beitragsunabhängige Sonderleistung im Sinne des Artikels 4 Absatz 2a der Verordnung Nr. 1408/71 handelt, so dass allein die Koordinierungsregelung des Artikels 10a dieser Verordnung anzuwenden ist und die Leistung nur denjenigen zugute kommen kann, die in den Niederlanden wohnen.

Kosten

45. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Bei der nach dem niederländischen Gesetz über die Arbeitsunfähigkeitsversicherung junger Behinderter vom 24. April 1997 (Wet arbeidsongeschiktheidsvoorziening jonggehandicapten) gewährten Leistung handelt es sich um eine beitragsunabhängige Sonderleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 2a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 307/1999 des Rates vom 8. Februar 1999, so dass allein die Koordinierungsregelung des Artikels 10a dieser Verordnung anzuwenden ist und die Leistung nur denjenigen zugute kommen kann, die in den Niederlanden wohnen.