Rechtssache C-234/02 P
Europäischer Bürgerbeauftragter
gegen
Frank Lamberts
«Rechtsmittel – Unzulässigkeit – Außervertragliche Haftung – Behandlung einer Beschwerde betreffend ein internes Auswahlverfahren für die Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit durch den
Bürgerbeauftragten»
|
Schlussanträge des Generalanwalts L. A. Geelhoed vom 3. Juli 2003 |
|
|
|
|
|
|
|
|
Urteil des Gerichtshofes (Plenum) vom 23. März 2004 |
|
|
|
|
|
|
|
Leitsätze des Urteils
- 1.
- Schadensersatzklage – Gegenstand – Antrag auf Ersatz eines wegen angeblich fehlerhafter Behandlung einer Beschwerde durch den Europäischen Bürgerbeauftragten
entstandenen Schadens – Zulässigkeit – Mit den Kontrollbefugnissen des Parlaments vereinbare Zuständigkeit des Gemeinschaftsrichters – Fehlende Beanstandung der Unabhängigkeit des Bürgerbeauftragten
(Artikel 195 EG, 235 EG und 288 Absatz 2 EG; Regelungen für den Europäischen Bürgerbeauftragten, Artikel 3 Absätze 7 und 8
sowie Artikel 8)
- 2.
- Schadensersatzklage – Selbständigkeit gegenüber der Nichtigkeits- und der Untätigkeitsklage – Notwendigkeit, die Rechtmäßigkeit des den Schaden begründenden Verhaltens des Organs oder der Einrichtung der Gemeinschaft
zu prüfen, um die Haftung festzustellen – Klage auf Ersatz eines Schadens, der aus einer angeblich fehlerhaften Behandlung einer Beschwerde durch den Europäischen
Bürgerbeauftragten folgt – Prüfung der Rechtmäßigkeit des Verhaltens des Bürgerbeauftragten bei der Ausübung seines Amtes
(Artikel 235 EG und 288 Absatz 2 EG )
- 3.
- Rechtsmittel – Gründe – Bloße Wiederholung der vor dem Gericht vorgetragenen Gründe und Argumente – Fehlende Bezeichnung des gerügten Rechtsfehlers – Unzulässigkeit
(Artikel 225 EG; Artikel 58 Absatz 1 der Satzung des Gerichtshofes; Artikel 112 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung des
Gerichtshofes)
- 4.
- Europäischer Bürgerbeauftragter – Keine allgemeine Verpflichtung, die Beschwerdeführer über die Rechtsbehelfe und Fristen zu belehren
(Regelungen für den Europäischen Bürgerbeauftragten, Artikel 2 Absatz 5)
- 5.
- Europäischer Bürgerbeauftragter – Suche nach einer Lösung, die dem konkreten Interesse des betroffenen Bürgers entspricht – Pflicht zur Zusammenarbeit mit dem betreffenden Organ – Ermessen des Bürgerbeauftragten – Entscheidung mit dem Ergebnis, dass eine den Beschwerdeführer zufrieden stellende Lösung nicht gefunden werden könne – Amtsfehler – Nichtvorliegen
(Regelungen für den Europäischen Bürgerbeauftragten, Artikel 3 Absatz 5)
- 1.
- Der Europäische Bürgerbeauftragte verfügt zwar hinsichtlich der Begründetheit von bei ihm eingegangenen Beschwerden der Bürger
und der im Anschluss an diese Beschwerden zu ergreifenden Maßnahmen über ein weites Ermessen, und in diesem Zusammenhang ist
er nicht verpflichtet, ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, so dass die Kontrolle des Gemeinschaftsrichters beschränkt sein
muss, aber es ist nicht auszuschließen, dass ein Bürger unter ganz außerordentlichen Umständen nachweisen kann, dass der Bürgerbeauftragte
bei der Ausübung seines Amtes einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht begangen hat, der geeignet
ist, dem betroffenen Bürger einen Schaden zu verursachen. Daher ist eine Schadensersatzklage, die auf die außervertragliche
Haftung der Gemeinschaft wegen fehlerhafter Behandlung einer Beschwerde durch den Bürgerbeauftragten gestützt ist, grundsätzlich
zulässig.
- Insoweit ist eine gerichtliche Überprüfung der Tätigkeit des Bürgerbeauftragten nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Parlament
ihm gegenüber über Kontrollbefugnisse verfügt. Zum einen kann nämlich die Berichtspflicht des Bürgerbeauftragten gegenüber
dem Parlament nicht so verstanden werden, dass damit das Parlament kontrollierte, ob der Bürgerbeauftragte seine Aufgaben
bei der Behandlung von Beschwerden der Bürger ordnungsgemäß wahrgenommen hat. Zum anderen ist das Verfahren der Amtsenthebung
des Bürgerbeauftragten auf eine Gesamtwürdigung seiner Tätigkeit gerichtet und nicht auf eine Kontrolle durch das Parlament,
ob der Bürgerbeauftrage seine Aufgaben bei der Behandlung der Beschwerde eines Bürgers erfüllt hat. Jedenfalls stehen die
Befugnisse, über die das Parlament gegenüber dem Bürgerbeauftragten verfügt, einer Befugnis zur gerichtlichen Kontrolle nicht
gleich. Demnach stellt eine gerichtliche Überprüfung der Tätigkeit des Bürgerbeauftragten keine Verdopplung der vom Parlament
ausgeübten Kontrolle dar.
- Im Übrigen ist nicht erkennbar, dass die Möglichkeit, dass wegen eines gemeinschaftsrechtswidrigen Verhaltens des Bürgerbeauftragten
bei der Ausübung seines Amtes unter bestimmten Voraussetzungen die Haftung der Gemeinschaft ausgelöst wird, geeignet wäre,
die Unabhängigkeit des Bürgerbeauftragten in Frage zu stellen.
(vgl. Randnrn. 43-48, 52)
- 2.
- Die Haftungsklage ist ein selbständiger Rechtsbehelf mit eigener Funktion im System der Klagemöglichkeiten und von Voraussetzungen
abhängig, die ihrem besonderen Zweck angepasst sind. Während Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen die Ahndung der Rechtswidrigkeit
zwingender Rechtsakte oder des Fehlens eines solchen Rechtsakts zum Ziel haben, ist eine Haftungsklage auf Ersatz des Schadens
gerichtet, der sich aus einer Handlung oder einer unzulässigen Verhaltensweise ergibt, die einem Organ oder einer Einrichtung
der Gemeinschaft zuzurechnen ist.
- Da in dieser Hinsicht eine der Voraussetzungen des Ersatzanspruchs das Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes
gegen eine Rechtsnorm ist, die dem Einzelnen Rechte verleiht, ist auf dem Gebiet der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft
das den Schaden begründende Verhalten zu prüfen, um die Haftung eines Organs oder einer Einrichtung der Gemeinschaft festzustellen.
Könnte ein Gemeinschaftsgericht nicht die Rechtmäßigkeit des Verhaltens eines Organs oder einer Einrichtung der Gemeinschaft
prüfen, wäre dem in Artikel 235 EG vorgesehenen Verfahren die praktische Wirksamkeit entzogen.
- Daher ist insbesondere im Rahmen einer auf die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft gestützten Klage, die den Ersatz
eines Schadens zum Ziel hat, der durch die Art und Weise entstanden sein soll, in der der Bürgerbeauftragte eine Beschwerde
behandelt hat, die Rechtmäßigkeit des Verhaltens des Bürgerbeauftragten bei der Ausübung seines Amtes zu prüfen.
(vgl. Randnrn. 59-62)
- 3.
- Im ersten Rechtszug geprüfte Rechtsfragen können in einem Rechtsmittelverfahren erneut aufgeworfen werden, wenn der Rechtsmittelführer
die Auslegung oder Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch das Gericht beanstandet. Denn wenn Rechtsmittelführer ihr Rechtsmittel
nicht in dieser Weise auf bereits vor dem Gericht geltend gemachte Klagegründe und Argumente stützen könnten, würde dem Rechtsmittelverfahren
ein Teil seiner Bedeutung genommen. Aus den Artikeln 225 EG, 58 Absatz 1 der Satzung des Gerichtshofes und 112 § 1 Buchstabe
c der Verfahrensordnung des Gerichtshofes folgt allerdings, dass ein Rechtsmittel die beanstandeten Teile des Urteils, dessen
Aufhebung beantragt wird, sowie die rechtlichen Argumente, die diesen Antrag speziell stützen, genau bezeichnen muss. Ein
Rechtsmittel, das nur die bereits vor dem Gericht geltend gemachten Klagegründe und Argumente wiederholt und nicht einmal
Ausführungen enthält, in denen speziell der Rechtsfehler herausgearbeitet wird, mit dem das angefochtene Urteil behaftet sein
soll, genügt diesem Erfordernis nicht. Denn ein solches Rechtsmittel stellt in Wirklichkeit einen Antrag auf bloße erneute
Prüfung der Klage dar, die nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofes fällt.
(vgl. Randnrn. 75-77)
- 4.
- Die Bestimmungen über die Ausübung des Amtes des Bürgerbeauftragten, insbesondere Artikel 2 Absatz 5 des Beschlusses 94/262
über die Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Bürgerbeauftragten, verpflichten den Bürgerbeauftragten
nicht, den Beschwerdeführer über andere sich ihm bietende Rechtsbehelfe und die Fristen in Kenntnis zu setzen, die für deren
Inanspruchnahme zu beachten sind. Er braucht dem Beschwerdeführer erst recht nicht zu empfehlen, irgendeinen bestimmten Rechtsbehelf
zu ergreifen. Auch wenn es im Interesse einer ordnungsgemäßen Erfüllung der ihm durch den EG-Vertrag übertragenen Aufgabe
liegen kann, dass der Bürgerbeauftragte gegebenenfalls den betroffenen Bürger über die Rechtsbehelfe informiert, mit denen
er seine Interessen am wirksamsten wahrnimmt, kann Artikel 2 Absatz 5 des Beschlusses 94/262 nicht so ausgelegt werden, als
begründe er einen Anspruch des Beschwerdeführers, an das Gericht verwiesen zu werden, um dort gegen die Entscheidung des Organs,
die Gegenstand der Beschwerde ist, eine Anfechtungsklage zu erheben.
(vgl. Randnrn. 80-81)
- 5.
- Im Hinblick auf das Bemühen um eine gütliche Lösung in dem Streit zwischen der Person, die ihn mit einer Beschwerde befasst
hat, und dem betreffenden Gemeinschaftsorgan ist der Europäische Bürgerbeauftragte gemäß Artikel 3 Absatz 5 des Beschlusses
94/262 über die Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Bürgerbeauftragten lediglich verpflichtet,
mit diesem Organ zusammenzuarbeiten, um eine Lösung zu suchen, durch die der Missstand beseitigt und der Beschwerdeführer
zufrieden gestellt werden kann. Hierzu verfügt er über ein sehr weites Ermessen. Er muss insbesondere prüfen, ob eine den
Beschwerdeführer zufrieden stellende gütliche Regelung in Betracht gezogen werden kann, wobei es Fälle gibt, in denen – wie
aus Artikel 6 Absatz 3 der Durchführungsbestimmungen zu diesen Regelungen hervorgeht – eine solche Regelung nicht möglich
ist und in denen der Bürgerbeauftragte die Sache mit einer mit Gründen versehenen Entscheidung abschließt. Jedenfalls kann
dem Bürgerbeauftragten nicht vorgeworfen werden, er habe die ihm übertragene Aufgabe nur deshalb nicht ordnungsgemäß wahrgenommen,
weil er zu dem Ergebnis gelangt ist, dass eine den Beschwerdeführer zufrieden stellende Lösung nicht zu finden sei. Folglich
kann der Bürgerbeauftragte in der eine bestimmte Untersuchung abschließenden Entscheidung, ohne einen Fehler zu begehen, zu
dem Ergebnis gelangen, dass eine den Beschwerdeführer zufrieden stellende gütliche Lösung nicht gefunden werden könne.
(vgl. Randnr. 82)